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So werden aus Worten Daten
Sie wollen bei einer Untersuchung mehr über Motive und Anliegen der zu untersuchenden Gruppe wissen? Dann helfen Ihnen die Methoden der qualitativen Forschung weiter. Hendrik Godbersen erklärt Ihnen von der Pike auf, was Sie über qualitative Forschung wissen müssen, um selbst eine Untersuchung vorzunehmen. Er erläutert dabei den qualitativen Forschungsansatz, Ziele und Designs sowie die Gütekriterien. Außerdem vermittelt er Ihnen, wie Sie Forschungsarbeiten strukturieren, Daten erheben und auswerten und zuletzt die Ergebnisse interpretieren. So wird Ihre Untersuchung gewiss ein Erfolg.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2023
Qualitative Forschung für Dummies
In der Regel ist es ein komplexes und anspruchsvolles Unterfangen, ein qualitatives Forschungsprojekt zu konzipieren und umzusetzen. Gleiches gilt auch für das Schreiben einer qualitativen Forschungsarbeit. Diese Schummelseite gibt Ihnen in kompakter Form einen Überblick über die wichtigsten Punkte, die Sie in Ihrer qualitativen Forschung auf jeden Fall beachten sollten.
Wenn Sie ein qualitatives Forschungsprojekt konzipieren und umsetzen, sollten Sie sich immer bewusst sein, was das Ziel der qualitativen Forschung ist und welche Voraussetzung dafür notwendig ist (vgl. auch Kapitel 1):
Das Ziel der qualitativen Forschung ist es, auf der Grundlage von lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen und unter Berücksichtigung möglichst aller Details das Typische in den kontextbezogenen Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen der Menschen zu entdecken und zu verstehen, um auf dieser Grundlage verallgemeinerbare Theorien zu entwickeln.Die Voraussetzung dafür ist, dass der bestehende Wissensstand rudimentär ist. Dies bedeutet, dass aus der bestehenden Literatur keine Theorie in ausreichender Breite und Tiefe entwickelt werden kann.Qualitative Forschungsarbeiten folgen in der Regel immer einer gleichen Struktur, die Sie auch in Ihrer Forschungsarbeit berücksichtigen sollten (vgl. auch Kapitel 2):
EinleitungTheorie und Stand der ForschungForschungsfragenMethodikErgebnisseDiskussionUm die Qualität Ihrer Forschungsfragen in Ihrer qualitativen Forschungsarbeit zu sichern, sollten Sie sich an den folgenden Merkmalen guter Forschungsfragen orientieren (vgl. auch Kapitel 3):
Die Forschungsfragen müssen nachvollziehbar und intersubjektiv logisch aus der Theorie abgeleitet sein.Qualitative Forschungsfragen zielen darauf ab, auf der Grundlage eines rudimentären Wissensstandes Neues zu entdecken.Die Forschungsfragen müssen einen fokussierten Untersuchungsgegenstand erschöpfend und differenziert abdecken.Die Forschungsfragen müssen offen formuliert sein und durch eine qualitative Methodik beantwortbar sein.Sie werden an ein qualitatives Forschungsprojekt zwangsläufig mit bestimmten Vorannahmen herangehen. Dabei müssen Sie das Prinzip der theoretischen Sensibilität berücksichtigen, indem Sie auf die folgenden Aspekte achten (vgl. auch Kapitel 4):
Seien Sie sich Ihrer theoretischen Vorannahmen bewusst und reflektieren Sie diese.Lassen Sie mehrere theoretische Perspektiven auf Ihren Untersuchungsgegenstand zu.Finden Sie die Balance zwischen den abstrakten Konstrukten der Theorie und den lebensweltlichen Phänomenen der Probanden.Beim Schreiben Ihrer qualitativen Forschungsarbeit sollten Sie für die Qualitätssicherung die folgenden Charakteristika berücksichtigen (vgl. auch Kapitel 5):
In einer akademischen Forschungsarbeit müssen neue Erkenntnisse gewonnen werden.In einer akademischen Forschungsarbeit müssen generalisierbare Erkenntnisse gewonnen werden.Die neuen und generalisierten Erkenntnisse müssen mit einer nachvollziehbaren und überprüfbaren Methodik gewonnen werden.Die Ergebnisse einer akademischen Forschungsarbeit müssen intersubjektiv logisch gewonnen werden.Das Thema einer akademischen Forschungsarbeit muss erschöpfend behandelt werden.In der qualitativen Forschung findet eine bewusste Fallauswahl statt. Dabei sollten Sie die beiden folgenden Aspekte berücksichtigen (vgl. auch Kapitel 6):
In qualitativen Studien sollten Probanden rekrutiert werden, für die das zu untersuchende Phänomen eine hohe subjektive Relevanz hat, sodass ein hoher Erkenntnisgewinn zu erwarten ist.In qualitativen Studien sollten Probanden rekrutiert werden, die bereit und in der Lage sind, über das zu untersuchende Phänomen Auskunft zu geben.Das teilstrukturierte Leitfadeninterview ist ein zentrales Verfahren der qualitativen Datenerhebung. Wenn Sie teilstrukturierte Interviews in Ihrem qualitativen Forschungsprojekt einsetzen, sollten Sie ein klares Verständnis von der Definition und dem Erkenntnisziel eines teilstrukturierten Interviews haben (vgl. auch Kapitel 7):
Definition: Das teilstandardisierte Interview ist die Befragung eines Probanden durch einen Forscher, die auf vorab definierten und in einem Leitfaden festgehaltenen offenen Fragen basiert. In den Interviews selbst sind die Reihenfolge und konkrete Formulierung der Fragen flexibel einzusetzen, um sich dem Probanden und seinem lebensweltlichen Verständnis anzupassen.Erkenntnisziel: In teilstandardisierten Interviews soll herausgefunden werden, wie Menschen einen Untersuchungsgegenstand wahrnehmen, bewerten und sich diesem gegenüber verhalten.Die Gruppendiskussion ist ein zentrales Verfahren der qualitativen Datenerhebung. Wenn Sie Gruppendiskussionen in Ihrem qualitativen Forschungsprojekt einsetzen, sollten Sie ein klares Verständnis von der Definition und dem Erkenntnisziel von Gruppendiskussionen haben (vgl. auch Kapitel 8):
Definition: Die Gruppendiskussion, auch als Fokusgruppe oder Focus Group bezeichnet, ist ein qualitatives Verfahren der Datenerhebung, bei dem mehrere Probanden unter der Moderation eines Forschers über ein vorgegebenes Thema diskutieren.Erkenntnisziel: Gruppendiskussionen werden dazu eingesetzt, kollektive Wissenstatbestände und Einstellungen sowie soziale Prozesse und Strukturen zu entdecken.Wenn Sie in Ihrem qualitativen Forschungsprojekt Daten mithilfe von qualitativen Interviews, Gruppendiskussionen etc. erheben, müssen diese Daten festgehalten werden. Dabei sollten Sie die folgenden Punkte beachten (vgl. auch Kapitel 10):
In (fast) jedem qualitativen Forschungsprojekt ist eine Audio- oder Videoaufzeichnung der Datenerhebung zwingend erforderlich.Die Audio- oder Videoaufzeichnungen müssen transkribiert, also wörtlich abgeschrieben werden.In den Transkripten müssen alle Inhalte festgehalten werden, die für die Beantwortung der Forschungsfragen notwendig sind.Wenn Sie Ihre qualitativen Daten mit der Grounded Theory Methodology auswerten, entwickeln Sie Theorien mittlerer Reichweite über die Codierung. Dabei werden drei Codier-Arten unterschieden (vgl. auch Kapitel 11):
Offenes Codieren: Beim offenen Codieren werden Inhalten der Transkripte Bedeutungen in induktiver Weise zugeordnet. Die so gebildeten Codes werden dann zu abstrakteren Kategorien zusammengefasst.Axiales Codieren: Beim axialen Codieren werden die zuvor gebildeten Kategorien in deduktiver Weise in Beziehung zueinander gestellt und gegebenenfalls anhand der Daten »angereichert«.Selektives Codieren: Beim selektiven Codieren wird das zuvor entwickelte Gesamtmodell in deduktiver Weise auf Logik und Konsistenz geprüft.Wenn Sie Ihre qualitativen Daten mit der qualitativen Inhaltsanalyse auswerten, entwickeln Sie normalerweise ein hierarchisches Kategoriensystem, das aus deduktiv gebildeten Kategorien und induktiv gebildeten Kategorien besteht (vgl. auch Kapitel 12):
Deduktive Kategorienbildung: Deduktive Kategorien werden vor der Datenanalyse aus der bestehenden Literatur abgeleitet.Induktive Kategorienbildung: Induktive Kategorien werden während der Datenanalyse aus den Transkripten gebildet.In Kapitel 13 dieses Buches finden Sie einen anwendungsorientierten Leitfaden für die qualitative Analyse, Modellentwicklung und Ergebnisdarstellung in einer qualitativen Forschungsarbeit. Diesen im Folgenden skizzierten Prozess können Sie als Rahmen für Ihr qualitatives Forschungsprojekt nutzen:
Phase 1: Vorbereitende Schritte Arbeitsschritt 1.1: Festlegen des Analyserahmens auf der Basis von Theorie, Forschungsfragen und LeitfadenArbeitsschritt 1.2: Transkription der Interviews oder GruppendiskussionenPhase 2: Codierung und Kategoriensystem Arbeitsschritt 2.1: Ganzheitliches Vertrautmachen mit den TranskriptenArbeitsschritt 2.2: Bildung der deduktiven Kategorien auf der Basis von Theorie, Forschungsfragen und LeitfadenArbeitsschritt 2.3: Deduktive und induktive Codierung der Transkripte sowie Entwicklung eines (hierarchischen) KategoriensystemsPhase 3: Modellentwicklung Arbeitsschritt 3.1: Analyse des Kontexts der KategorienArbeitsschritt 3.2: Ableitung eines theoretischen Modells aus dem Kategoriensystem und dem Kontext der KategorienPhase 4: Ergebnisdokumentation in der Forschungsarbeit Arbeitsschritt 4.1: Dokumentation der KategorienArbeitsschritt 4.2: Dokumentation des entwickelten Modells
Qualitative Forschung für Dummies
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2024
© 2024 Wiley-VCH GmbH, Boschstraße 12, 69469 Weinheim, Germany.
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This book published by arrangement with John Wiley and Sons, Inc.
Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechtes auf Reproduktion im Ganzen oder in Teilen und in jeglicher Form. Dieses Buch wird mit Genehmigung von John Wiley and Sons, Inc. publiziert.
Wiley, the Wiley logo, Für Dummies, the Dummies Man logo, and related trademarks and trade dress are trademarks or registered trademarks of John Wiley & Sons, Inc. and/or its affiliates, in the United States and other countries. Used by permission.
Wiley, die Bezeichnung »Für Dummies«, das Dummies-Mann-Logo und darauf bezogene Gestaltungen sind Marken oder eingetragene Marken von John Wiley & Sons, Inc., USA, Deutschland und in anderen Ländern.
Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie eventuelle Druckfehler keine Haftung.
Coverfoto: Yori Hirokawa – stock.adobe.comKorrektur: Petra Heubach-Erdmann
Print ISBN: 978-3-527-72107-8ePub ISBN: 978-3-527-84347-3
Cover
Titelblatt
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Ziel dieses Buches
Aufbau dieses Buches
Wie Sie dieses Buch lesen sollten
Symbole, die in diesem Buch verwendet werden
Teil I: Der qualitative Forschungsansatz
Kapitel 1: Grundverständnis und Erkenntnisziel der qualitativen Forschung
Grundverständnis von Wissenschaft und Realität im Allgemeinen
Ausflug in den quantitativen Forschungsansatz
Wissenschaftstheoretische Grundlagen der qualitativen Forschung
Erkenntnisziel der qualitativen Forschung
Qualitative Forschung als Entdeckungs- und Interpretationsverfahren
Prinzipien der qualitativen Forschung für die praktische Anwendung
Zusammenfassung: Grundverständnis und Erkenntnisziel der qualitativen Forschung
Anwendungsbeispiel Moral Dilemma Decisions – Grundverständnis und Erkenntnisziel von qualitativer Forschung
Übungsaufgaben zu Kapitel 1
Kapitel 2: Struktur von qualitativen Forschungsarbeiten
Gliederung von qualitativen Forschungsarbeiten im Überblick
Standardgliederung und ihre Kapitel
Übungsaufgaben zu Kapitel 2
Kapitel 3: Forschungsfragen und Herangehensweise an qualitative Forschungsprojekte
Forschungsfragen in qualitativen Forschungsarbeiten
Herangehensweise an qualitative Forschungsprojekte
Übungsaufgaben zu Kapitel 3
Kapitel 4: Theorieteil in qualitativen Forschungsarbeiten
»Aufgaben« von Theoriekapiteln in qualitativen Forschungsarbeiten
Inhalt und Aufbau von Theoriekapiteln
Theoretische Sensibilität als zwingende Voraussetzung für die qualitative Forschungstätigkeit
Literaturrecherche in der Forschungspraxis
Übungsaufgaben zu Kapitel 4
Kapitel 5: Qualität und Gütekriterien der qualitativen Forschung
Charakteristika einer guten akademischen Forschungsarbeit im Allgemeinen
Klassische Gütekriterien und qualitative Forschung
Drei Kataloge von Gütekriterien in der qualitativen Forschung
Zusammenfassung: Gütekriterien und forschungspraktische Empfehlungen zur Qualitätssicherung
Übungsaufgaben zu Kapitel 5
Teil II: Erhebung qualitativer Daten
Kapitel 6: Stichprobe und Fallauswahl in der qualitativen Forschung
Stichprobenziehung als bewusste Fallauswahl
Stichprobenzusammensetzung und Fallarten
Verfahren der Fallauswahl
Besonderheiten bei der Fallauswahl für Experteninterviews
Zusammenfassung und forschungspraktische Hinweise
Übungsaufgaben zu Kapitel 6
Kapitel 7: Qualitative Interviews
Einführung und Überblick zu den qualitativen Interviews
Teilstandardisiertes Leitfadeninterview
Narratives Interview als offene Interviewform
Experteninterview als Spezialfall des Leitfadeninterviews
Übungsaufgaben zu Kapitel 7
Kapitel 8: Gruppendiskussionen
Grundlegende Charakteristika von Gruppendiskussionen
Settings von Gruppendiskussionen
Phasen von Gruppendiskussionen
Rolle des Diskussionsleiters und seine Aufgaben
Übungsaufgaben zu Kapitel 8
Kapitel 9: Weitere Verfahren der qualitativen Datenerhebung
Schriftliche und Online-Befragungen
Lautes Denken
Rollenspiele
Beobachtungen
Auswertung von Sekundärdaten
Übungsaufgaben zu Kapitel 9
Teil III: Auswertung und Interpretation qualitativer Daten
Kapitel 10: Aufzeichnung und Transkription von qualitativen Daten
Dokumentation der Daten mittels Audio- oder Videoaufnahme
Transkripte als Datenmaterial und erste Interpretation
Methodische Entscheidungen bei der Transkription
Etablierte Transkriptionssysteme und Transkriptionsregeln
Organisation und »technische« Umsetzung der Transkription
Anonymisierung der Transkripte
Übungsaufgaben zu Kapitel 10
Kapitel 11: Auswertung mit der Grounded Theory Methodology
Methodologische Grundlagen der Grounded Theory Methodology
Codierung als Auswertungskern der Grounded Theory Methodology
Übungsaufgaben zu Kapitel 11
Kapitel 12: Auswertung mit der qualitativen Inhaltsanalyse
Grundlagen der qualitativen Inhaltsanalyse
Kategorien als Auswertungskern der Inhaltsanalyse
Techniken und Basismethoden der qualitativen Inhaltsanalyse
Übungsaufgaben zu Kapitel 12
Kapitel 13: Anwendungsorientierter Leitfaden für die qualitative Analyse, Modellentwicklung und Ergebnisdarstellung
Vorbereitende Schritte
Codierung und Kategoriensystem
Modellentwicklung
Ergebnisdokumentation in der Forschungsarbeit
Übungsaufgaben zu Kapitel 13
Kapitel 14: CAQDA – Computerunterstützung bei der Auswertung
Auswertung mit Paper-Pencil vs. Auswertung mit Computerunterstützung
Computerunterstützung bei den einzelnen Auswertungsschritten
Teil IV: Der Top-Ten-Teil
Kapitel 15: Zehn »Grundregeln« für qualitative Forschungsprojekte
Qualitative Methodik muss den Forschungsfragen und der Theorie folgen
Qualitative Forschung bedeutet Entdecken und Interpretieren
Die Grundlage für den Forschungserfolg wird am Anfang gelegt
Qualitative Forschungsarbeiten folgen einer klaren Struktur
Offenheit in allen Forschungsphasen ist das A und O
Forschung sollte zu plausiblen und klaren Schlussfolgerungen kommen
Ein guter roter Faden wertet eine Forschungsarbeit auf
Eigene Meinungen gehören nicht in eine Forschungsarbeit
Qualitative Forschung muss nachvollziehbar und im Detail dokumentiert werden
Ohne Disziplin und harte, ehrliche Forscherarbeit geht es nicht
Kapitel 16: Zehn Punkte, die bei der Fallauswahl beachtet werden sollten
Ohne gute Fallauswahl keine guten Ergebnisse
Statistische Repräsentativität ist kein Kriterium für die Fallauswahl
Ein guter Fall verspricht Erkenntnisgewinn
Heterogene Stichproben sind (fast immer) besser als homogene Stichproben
Diskussionsgruppen sind zugleich heterogen und homogen
Für qualitative Stichprobenpläne gilt »keep it simple and strong«
Das Prinzip der Sättigung ist eine gute Orientierung für die Fallauswahl
»Ersatzspieler« für nicht funktionierende Interviews sollten geplant werden
Experteninterviews benötigen »echte« Experten
Experten haben mehr als nur Wissen
Kapitel 17: Zehn Tipps für die Durchführung von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen
Das einzige Ziel eines Forschers in qualitativen Interviews ist der Erkenntnisgewinn
In qualitativen Interviews wird überwiegend offen gefragt
Interviewleitfäden dienen nur der Orientierung und sind keine Fragebögen
Für Interviewleitfäden gilt »weniger ist mehr«
Vor den »eigentlichen« Fragen steht der Beziehungsaufbau
Forscher sollten in der Regel als »interessierte Laien« in Experteninterviews gehen
Mit Gruppendiskussionen sollten kollektive Einstellungen oder soziale Prozesse und Strukturen erforscht werden
Diskussionsgruppen sollten normalerweise aus acht bis zwölf Teilnehmern bestehen
Der Diskussionsleiter ist ein zurückhaltender und neutraler Moderator
Qualitative Interviews und Gruppendiskussionen müssen aufgezeichnet werden
Kapitel 18: Zehn Hinweise für die qualitative Datenauswertung und Ergebnisdarstellung
Einfache Transkripte im Wortlaut der Probanden sind normalerweise die beste Lösung
Nicht das Gefühl kommt zu guten Ergebnissen, sondern eine solide qualitative Analyse
»Standard-Verfahren« der qualitativen Analyse müssen für jedes Forschungsprojekt angepasst und konkretisiert werden
Die »Richtung« der Analyse wird durch die Forschungsfragen und die Theorie vorgegeben
Der Kern der qualitativen Analyse ist das Codieren und Kategorisieren
Konstruierte Kategorien sollten mit Benennung, Definition und Beispiel beschrieben werden
In der Regel sollte ein hierarchisches Kategoriensystem gebildet werden
Qualitative Analyse ist ein zirkulärer Prozess
Ziel von qualitativer Analyse ist in der Regel die Modellentwicklung
Das entwickelte Modell sollte normalerweise als Grafik dargestellt werden
Anhang: Lösungen zu den Übungsaufgaben und Literaturverzeichnis
Anhang A: Lösungen zu den Übungsaufgaben
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 1
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 2
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 3
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 4
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 5
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 6
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 7
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 8
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 9
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 10
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 11
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 12
Lösungen zu den Übungsaufgaben aus Kapitel 13
Anhang B: Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
End User License Agreement
Kapitel 6
Tabelle 6.1: Stichprobenplan des Forschungsprojekts »Subjective Decision-making ...
Kapitel 9
Tabelle 9.1: Typische Entwicklung von Forscherrolle, Forscherperspektiven und Be...
Kapitel 10
Tabelle 10.1: Transkriptionsregeln nach Jefferson (1984)
Kapitel 1
Abbildung 1.1: Vereinfachtes Verständnis von Wissenschaft und Realität im Allgem...
Abbildung 1.2: Beispiel einer Theorie, die als grafisches Modell dargestellt ist
Abbildung 1.3: Grundprinzip des hermeneutischen Zirkels
Abbildung 1.4: Grafische Darstellung des grundlegenden Trolly-Dilemmas
Kapitel 2
Abbildung 2.1: Kapitel und Inhalte einer qualitativen Forschungsarbeit
Kapitel 3
Abbildung 3.1: Hierarchisches System von Forschungsfragen
Abbildung 3.2: Idealtypische Struktur der grundsätzlichen Forschungsansätze in d...
Abbildung 3.3: Entwicklung der Forschungsfragen als zirkulärer Prozess zu Beginn...
Kapitel 4
Abbildung 4.1: »Aufgaben« des Theoriekapitels in qualitativen Forschungsarbeiten
Abbildung 4.2: Inhalte des Theoriekapitels und Aufgaben der Literaturrecherche i...
Abbildung 4.3: Verhältnis von bestehenden Definitionen und Theorien und eigenen ...
Abbildung 4.4: Suchergebnis von Google Scholar zum Suchbegriff »moral dilemma de...
Abbildung 4.5: Beispiel für ein über Google Scholar gefundenes Abstract (
https:/
...
Abbildung 4.6: Die wichtigsten Zusatzfunktionen von Google Scholar bei der Liter...
Kapitel 6
Abbildung 6.1: Grundsätzliches Vorgehen beim Theoretical Sampling
Abbildung 6.2: Auszug aus dem Screening-Fragebogen »Switch« des Forschungsprojek...
Kapitel 7
Abbildung 7.1: Allgemeine Informationen am Anfang des Interviewleitfadens des Fo...
Abbildung 7.2: Interviewleitfaden für die Interviews mit Probanden, die eine uti...
Kapitel 10
Abbildung 10.1: App Whisper Transcription – Auswahl des Sprachmodells, das der T...
Abbildung 10.2: App Whisper Transcription – Benutzeroberfläche für die Auswahl v...
Abbildung 10.3: Beispiel einer ersten Transkription mit Whisper und der dafür no...
Kapitel 11
Abbildung 11.1: Mögliche Vergleiche im Rahmen der Grounded Theory Methodology am...
Abbildung 11.2: Grundsätzliche Struktur von Daten, Codes und Kategorien in der G...
Abbildung 11.3: Offenes, axiales und selektives Codieren in der Struktur von Dat...
Kapitel 12
Abbildung 12.1: Schematische Darstellung von Kategoriensystemen
Kapitel 13
Abbildung 13.1: Forschungspraktische Phasen und Arbeitsschritte für die Analyse ...
Abbildung 13.2: Grafische Darstellung des im Forschungsprojekt »Subjective Decis...
Abbildung 13.3: Grafische Darstellung des im Forschungsprojekt »Subjective Decis...
Kapitel 14
Abbildung 14.1: MAXQDA User Interface mit Document System (1), Code System (2), ...
Abbildung 14.2: MAXQDA User Interface – geladene Transkripte und Anlegen von fal...
Abbildung 14.3: MAXQDA User Interface – Erstellen von Kategorien (Codes) und daz...
Abbildung 14.4: MAXQDA Smart Coding Tool – Überprüfung und Anpassung des Kategor...
Abbildung 14.5: MAXQDA User Interface – Export des Kategoriensystems und der Kat...
Cover
Titelblatt
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Fangen Sie an zu lesen
Anhang A: Lösungen zu den Übungsaufgaben
Anhang B: Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Die qualitative Forschung musste über weite Teile des 20. Jahrhunderts in vielen Disziplinen ein »Schattendasein« fristen. Sozialwissenschaftliche Forschung erfolgte fast ausschließlich quantitativ. Es wurden Theorien aus bestehender Literatur abgeleitet und dann vorwiegend durch standardisierte Befragungen oder Experimente in der Realität getestet.
Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn besteht jedoch aus mehr als nur dem Testen von Theorien an der Realität. Und hier kommt die qualitative Forschung ins Spiel. Qualitative Forschung zielt – wie Sie im Verlauf dieses Buches lernen werden – darauf ab, die Lebenswelt von Menschen zu erklären und zu verstehen, um auf dieser Grundlage Theorien zu entwickeln.
Dieses für den Wissensfortschritt sinnvolle und auch notwendige Erkenntnisziel lässt es wenig verwunderlich erscheinen, dass die qualitative Forschung in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung und Popularität gewonnen hat. Immer mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen basieren auf einer qualitativen Methodik. Auch in der kommerziellen Marktforschung werden immer häufiger qualitative Verfahren eingesetzt. Und nicht zuletzt nimmt die Zahl an qualitativen Haus- und Abschlussarbeiten an Hochschulen zu.
Dies bedeutet, dass ein »guter« Forscher – sei es ein Wissenschaftler, Marktforscher oder Student – heutzutage nicht mehr an der qualitativen Forschung vorbeikommt.
Die qualitative Forschung sollte zum methodischen Repertoire jedes ganzheitlich ausgebildeten Forschers und damit auch jedes Studenten der Sozialwissenschaften gehören.
Dementsprechend richtet sich dieses Buch insbesondere an Studenten, die zum ersten Mal ein qualitatives Forschungsprojekt konzipieren und umsetzen müssen. Es soll aber auch Wissenschaftlern und Marktforschern, die bisher überwiegend quantitativ geforscht haben, die qualitative Forschung näherbringen.
Das Ziel ist es, dass Sie, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, das Know-how haben, um Ihr eigenes qualitatives Forschungsprojekt eigenständig konzipieren und umsetzen zu können. Darüber hinaus sollen Sie in die Lage versetzt werden, einen qualitativen Forschungsartikel oder eine qualitative Haus- oder Abschlussarbeit zu schreiben.
Um dieses Ziel – Sie können Ihr eigenes qualitatives Forschungsprojekt konzipieren, umsetzen und in Ihrer Forschungsarbeit dokumentieren – bestmöglich zu erreichen, besteht dieses Buch aus fünf Teilen.
Im ersten Teil dieses Buches stehen die methodologischen Grundlagen der qualitativen Forschung und die qualitativen Forschungsarbeiten, die das letztendliche Ergebnis Ihrer Forschung sind, im Mittelpunkt. Ziel ist es, dass Sie mit einer soliden Basis und klarer Zielorientierung in Ihr eigenes qualitatives Forschungsprojekt gehen können. Zu diesem Zweck lernen Sie im ersten Teil dieses Buches, …
… welches methodologische Verständnis und Erkenntnisziel der qualitativen Forschung zugrunde liegt (
Kapitel 1
).
… wie Sie qualitative Forschungsarbeiten aufbauen (
Kapitel 2
).
… wie Sie an qualitative Forschungsprojekte herangehen und Ihre Forschungsfragen formulieren (
Kapitel 3
).
… wie Sie den Theorieteil in Ihrer qualitativen Forschungsarbeit schreiben (
Kapitel 4
).
… wie Sie die Qualität Ihrer qualitativen Forschung sichern (
Kapitel 5
).
Die Grundlage von empirischer Forschung und damit auch von Ihrer qualitativen Forschung sind Daten. Dementsprechend erfahren Sie im zweiten Teil dieses Buches, …
… wie Sie die Probanden für Ihre Datenerhebung auswählen (
Kapitel 6
).
… wie Sie qualitative Interviews konzipieren und führen (
Kapitel 7
).
… wie Sie Gruppendiskussionen planen und umsetzen (
Kapitel 8
).
… welche weiteren Verfahren der qualitativen Datenerhebung Sie einsetzen können (
Kapitel 9
).
Im dritten Teil dieses Buches wird erläutert, wie Sie qualitative Daten auswerten und interpretieren können. Sie lernen im Speziellen, …
… wie Sie qualitative Daten aufzeichnen und transkribieren (
Kapitel 10
).
… wie Sie qualitative Daten mit der Grounded Theory Methodology analysieren (
Kapitel 11
).
… wie Sie eine Auswertung mit der qualitativen Inhaltsanalyse vornehmen (
Kapitel 12
).
… wie Sie auf der Basis eines anwendungsorientierten Leitfadens in Ihrer qualitativen Analyse, Interpretation und Ergebnisdarstellung konkret vorgehen (
Kapitel 13
).
… wie Sie Software bei Ihrer qualitativen Auswertung als Unterstützung nutzen (
Kapitel 14
).
Wie in jedem für Dummies-Buch darf der Top-Ten-Teil nicht fehlen. Hier erhalten Sie einige forschungspraktische Tipps, …
… die Sie grundsätzlich bei qualitativen Forschungsprojekten berücksichtigen sollten (
Kapitel 15
).
… die Ihnen bei der Fallauswahl helfen (
Kapitel 16
).
… die Sie bei der Durchführung von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen unterstützen können (
Kapitel 17
).
… die Ihre qualitative Auswertung erleichtern können (
Kapitel 18
).
Am Ende der ersten 13 Kapitel finden Sie Übungsaufgaben, mit denen Sie überprüfen können, ob Sie alles verstanden haben. Die Lösungen zu diesen Übungsaufgaben finden Sie in Anhang A. Darüber hinaus finden Sie in Anhang B dort die Literatur, auf die in diesem Buch verwiesen wurde.
Wenn Sie als Anfänger oder nur mit wenigen Vorkenntnissen zur qualitativen Forschung gekommen sind, sollten Sie alle Kapitel Schritt für Schritt gründlich nacheinander durcharbeiten. Wie Sie im vorherigen Abschnitt sehen konnten, bauen die einzelnen Teile dieses Buches aufeinander auf. Sie werden vom methodologischen Grundverständnis über die Datenerhebung zur Datenauswertung und Ergebnisdarstellung geführt.
In den meisten Kapiteln werden Sie Querverweise auf andere Kapitel finden. An diesen Stellen sollten Sie kurz innehalten und sich bewusst machen, auf welchen anderen Inhalten die jeweiligen Textstellen aufbauen und mit welchen anderen Inhalten sie zusammenhängen. Sie werden so ein umfassendes und konsistentes Verständnis für die qualitative Forschung entwickeln.
Nachdem Sie ein Kapitel gelesen haben, sollten Sie die Übungsaufgaben lösen, die Sie jeweils am Ende des Kapitels finden. Ihre Lösungen können Sie mit den richtigen Antworten abgleichen, die in Anhang A dargestellt sind. Sie können so Ihr Wissen und Ihr Verständnis der qualitativen Forschung kontinuierlich überprüfen und herausfinden, ob Sie sich einzelne Inhalte noch einmal genauer anschauen sollten.
Nachdem Sie dieses Buch Kapitel für Kapitel gelesen und seine Inhalte verstanden haben, sollten Sie in der Lage sein, Ihr eigenes qualitatives Forschungsprojekt zu konzipieren und umzusetzen. Wenn Sie dann an Ihrem qualitativen Forschungsprojekt arbeiten, können Sie dieses Buch als eine Art Nachschlagewerk und Leitfaden nutzen. Schauen Sie sich dann gezielt die einzelnen Kapitel an, die zu dem jeweiligen Forschungsschritt passen, an dem Sie sich gerade befinden.
Um Ihnen beim Lesen den Überblick über die erläuterten Inhalte zu erleichtern, finden Sie in diesem Buch – wie in allen Dummies-Büchern – Textstellen, die mit den folgenden Symbolen gekennzeichnet sind:
Dieses Icon gibt hilfreiche Tipps, mit denen Sie Zeit und Gehirnschmalz sparen können.
Diese Textstellen sind wirklich wichtig! Sie enthalten Infos, die Sie auch dann noch wissen sollten, wenn Sie das Buch wieder zugeklappt haben.
Dieses Symbol kennzeichnet Fallen, in die Anfänger oft tappen.
Hier finden Sie ausführliche Informationen zu Themen, die im Text nur am Rande behandelt werden.
Hier finden Sie Beispiele, die Ihnen helfen können, sich einen abstrakten Sachverhalt zu veranschaulichen.
Teil I
IN DIESEM TEIL ERFAHREN SIE, …
… was der grundlegende Charakter der qualitativen Forschung ist.… welche Erkenntnisziele Sie mit qualitativer Forschung verfolgen.… wie Sie qualitative Forschungsarbeiten strukturieren.… wie Sie an ein qualitatives Forschungsprojekt herangehen.… wie Sie die Forschungsfragen in der qualitativen Forschung formulieren.… wie Sie das Theoriekapitel einer qualitativen Forschungsarbeit schreiben.… was eine gute qualitative Forschungsarbeit ausmacht.… wie Sie die Qualität Ihrer qualitativen Forschung sichern.Kapitel 1
IN DIESEM KAPITEL LERNEN SIE, …
… welches Verständnis der qualitativen Forschung zugrunde liegt.… welches Erkenntnisziel Sie mit qualitativer Forschung verfolgen… welche Prinzipien Sie in der qualitativen Forschung beachten müssen.Das Ziel dieses Kapitels ist es, dass Sie ein Grundverständnis des qualitativen Forschungsansatzes erhalten und das zentrale Erkenntnisziel von qualitativen Forschungsprojekten kennen. Ferner sollen Sie verstehen, was dies für Ihre konkrete qualitative Forschung in der Anwendung bedeutet.
Zu diesem Zweck werden im Folgenden zunächst das allgemeine Verständnis von Wissenschaft und Realität sowie der quantitative Forschungsansatz erläutert. Davon ausgehend werden dann die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und das zentrale Erkenntnisziel der qualitativen Forschung dargestellt. Anschließend erfahren Sie, was Sie in Ihrer eigenen qualitativen Forschung beachten müssen, um das zentrale qualitative Erkenntnisziel zu erreichen. Abschließend soll ein konkretes qualitatives Forschungsprojekt zur Veranschaulichung dienen.
Bevor wir zum Grundverständnis der qualitativen Forschung kommen, soll in diesem Abschnitt die Rolle der Wissenschaft im Allgemeinen erläutert werden.
Manche Menschen argumentieren, dass der Wissens- und Erkenntnisfortschritt an sich sinnvoll ist und aus sich selbst heraus Sinn ergibt. Diese Auffassung soll hier nicht abgewertet werden, jedoch wird gemeinhin die Wissenschaft nicht als Selbstzweck betrachtet. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Wissenschaft einen Nutzen für unser Leben haben soll.
Kommen wir zuerst zur Realität, also unserem »normalen« Leben. Sie kennen wahrscheinlich viele Beispiele aus Ihrem eigenen Leben, die zeigen, wie komplex und schwer beherrschbar vieles ist – seien es Beziehungsprobleme, gesellschaftliche Konstellationen, Situationen im Studium oder bei der Arbeit. Dies bedeutet, dass wir in einer komplexen, nicht immer offen sichtbaren und sich ständig verändernden Welt leben. Wissenschaft soll nun dabei helfen, diese komplexe Realität ein wenig besser zu erklären und zu verstehen, indem die Realität als wissenschaftliche Theorie abgebildet wird. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse über die Realität sollen dann Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie diese Realität verbessert werden kann. Dies heißt, dass Wissenschaft durch die bessere Erklärung der Realität die Grundlage liefert, »unser Leben« für uns besser zu gestalten. Diesen Zusammenhang finden Sie auch in grafischer Darstellung in Abbildung 1.1.
Abbildung 1.1: Vereinfachtes Verständnis von Wissenschaft und Realität im Allgemeinen
Ein Teil der Wissenschaft ist die empirische Forschung, zu der die quantitative und qualitative Forschung gehören. In beiden Forschungsrichtungen – quantitativ und qualitativ – geht es darum, empirische Sachverhalte in Theorien abzubilden. Empirische Sachverhalte sind Merkmalsausprägungen, Prozesse etc., die Sie in der Realität finden, zum Beispiel Ihre Motivation, qualitative Forschung zu verstehen und dann in einem eigenen Forschungsprojekt erfolgreich anzuwenden. Theorien bestehen aus vereinfachten und verallgemeinerten Konzepten und deren Beziehungen zueinander. Im gerade genannten Beispiel würden Ihre Motivation, das Verstehen und die erfolgreiche Anwendung von qualitativer Forschung die drei Konzepte einer Theorie darstellen. Die Beziehungen zwischen diesen Konzepten könnten zum Beispiel so aussehen: Wenn Sie hoch motiviert sind, werden Sie die qualitative Forschung besser verstehen; wenn Sie die qualitative Forschung besser verstehen, werden Sie Ihr eigenes Forschungsprojekt erfolgreicher umsetzen. Diese Theorie ist grafisch in Abbildung 1.2 dargestellt.
Abbildung 1.2: Beispiel einer Theorie, die als grafisches Modell dargestellt ist
Im wissenschaftlichen Kontext können Sie die Begriffe Theorie und Modell als austauschbar auffassen, da sie im Kern das Gleiche beschreiben. Ein Modell und damit auch eine Theorie wird als vereinfachtes Abbild der Realität verstanden, das aus Konzepten und deren Beziehungen zueinander besteht.
Das soeben dargestellte allgemeine Grundverständnis von Wissenschaft gilt für die qualitative und quantitative Forschung. Jedoch bestehen zwischen beiden Ansätzen Unterschiede im Hinblick auf das Verständnis von Realität sowie im Hinblick auf die Art und Weise der Erkenntnisgewinnung. Diese Unterschiede müssen im jeweiligen Forschungsprozess berücksichtigt werden.
In der Wissenschaft hat sich im 20. Jahrhundert der quantitative Forschungsansatz »durchgesetzt« und den qualitativen Forschungsansatz »an den Rand gedrängt«, auch wenn in den letzten Jahrzehnten eine »Rehabilitation« und »Wiederbelebung« der qualitativen Forschung zu erkennen ist. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, den quantitativen Forschungsansatz in seinen Grundzügen zu verstehen, um auf dieser Grundlage ein besseres Verständnis für den qualitativen Forschungsansatz entwickeln zu können.
Sie werden vermutlich schon mit quantitativer Forschung in Berührung gekommen sein. Man bekommt üblicherweise einen Fragebogen, in dem man Antwortmöglichkeiten ankreuzt. Diesen Fragebogen bekommen nicht nur Sie, sondern in der Regel mehrere Hundert oder sogar mehrere Tausend Personen. Die so gewonnene große Anzahl von Daten wird dann statistisch ausgewertet und es werden Tabellen und Schaubilder der Ergebnisse veröffentlicht.
Die wissenschaftstheoretische Grundlage für dieses quantitative Vorgehen liegt im Kritischen Rationalismus nach Karl Popper (1934/1989).
Im Rahmen des Kritischen Rationalismus wird davon ausgegangen, dass es eine objektiv existierende Welt gibt. Diese Realität ist vor allem durch drei Merkmale gekennzeichnet:
Die Realität ist komplex
– Beispiel: Denken Sie an ein modernes Auto. Die Vielzahl an elektronischen und digitalen Einzelteilen macht es auch für sehr gut geschulte Mechaniker häufig unmöglich, alle möglichen Probleme, die Sie mit Ihrem Auto haben könnten, alleine zu lösen.
Die Realität ist nicht vollständig sichtbar
– Beispiel: Denken Sie unter anderem an Motive oder Einstellungen. Solche psychologischen Konstrukte können Sie den Menschen nicht direkt ansehen.
D
ie Realität ist dynamisch, das heißt, sie verändert sich
– Beispiel: Denken Sie hier an die Regierung in Ihrem Land. Momentan wird ein anderer Premierminister, Präsident oder Kanzler Ihrem Land vorstehen als noch vor 20 Jahren.
Diese Eigenschaften der Realität bedeuten, dass wir sie nicht vollständig erfassen können. Auch können wir nicht sicher sein, dass wir die objektive Realität auch »wirklich richtig« erfasst haben. Dementsprechend geht man im Rahmen des Kritischen Rationalismus davon aus, dass alles Wissen nur Vermutungswissen ist und keinen »absoluten« Wahrheitsanspruch hat.
Die Annahme im Rahmen des Kritischen Rationalismus, dass Menschen ein Abbild einer komplexen, nicht vollständig erfassbaren und dynamischen sowie objektiv existierenden Realität haben, nennt man in der Fachsprache Kritischer Realismus oder Wissenschaftlicher Realismus.
Die Auffassung, dass alles Wissen nur Vermutungswissen und nicht »wahres« Wissen über die Realität ist, hat auch Auswirkungen auf den Weg des Erkenntnisgewinns. So geht man im Kritischen Rationalismus davon aus, dass man nicht beweisen kann, dass etwas richtig ist, sondern nur beweisen kann, dass etwas nicht richtig ist. Das klassische Beispiel ist das Schwanenbeispiel: Sie können nicht mit Sicherheit sagen, dass alle Schwäne weiß sind, gleichgültig wie viele weiße Schwäne Sie gesehen haben. Wenn Sie jedoch einen schwarzen oder bunten Schwan sehen, haben Sie bewiesen, dass nicht alle Schwäne weiß sind. Diesen Ansatz nennt man Falsifikation, der Folgendes aussagt: Man kann nicht beweisen, dass eine Theorie wahr ist – man kann nur beweisen, dass eine Theorie falsch ist, also falsifiziert wurde.
Vor diesem Hintergrund gibt es nach der Auffassung des Kritischen Rationalismus eine Vielzahl von Theorien über die Realität, die geprüft werden müssen. Eine Theorie gilt zwar nie als »absolut« wahr, sie gilt aber als vorläufig bestätigt oder bewährt, bis sie falsifiziert, also widerlegt wurde. Das heißt, wir können unsere Realität besser begreifen, indem wir wissen, welche Theorien vorläufig bestätigt wurden und welche Theorien verworfen werden mussten.
Die Theorien im Kritischen Rationalismus haben den Stellenwert von »Gesetzen«. Mit Gesetzen sind hier allgemeine Regeln gemeint. Zum Beispiel könnte eine solche allgemeine Regel sein: Die Arbeitszufriedenheit hat einen Einfluss auf die Mitarbeiterbindung. Solche allgemeinen Regeln müssen sich dann in der Realität bewähren. Das heißt, sie müssen empirisch getestet werden. Dies bringt uns zur quantitativen Forschung zurück. Der empirische Test erfolgt dann durch eine Befragung von in der Regel mehreren Hundert oder Tausend Menschen und der statistischen Auswertung der Daten.
In der wissenschaftlichen Sprache nennt man ein solches Vorgehen deduktiv. Deduktiv bedeutet: von allgemeinen Regeln auf besondere Situationen zu schließen. Ein Beispiel für eine deduktive Schlussfolgerung wäre:
Allgemeine Regel:
Leser des Buches »Qualitative Forschung für Dummies« führen ihre qualitativen Forschungsprojekte erfolgreich durch.
Konkrete Schlussfolgerung:
Sie lesen das Buch »Qualitative Forschung für Dummies«, also werden Sie Ihr qualitatives Forschungsprojekt erfolgreich durchführen.
Das beschriebene Vorgehen, allgemeine Regeln deduktiv zu prüfen, nennt man in der wissenschaftlichen Sprache deduktiv-nomologische Erklärung der Realität. Deduktiv bedeutet, wie oben geschrieben, dass vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen wird. Nomologisch kommt von dem griechischen Wort nomos, das Gesetz bedeutet.
Im Gegensatz zur zuvor dargestellten quantitativen Forschung und zum Kritischen Rationalismus liegt der qualitativen Forschung ein anderes Verständnis von Realität sowie der Beziehung von Wissenschaft und Realität zugrunde. Es gibt vielfältige philosophische und wissenschaftstheoretische Ursprünge der qualitativen Forschung. Hier sollen lediglich die beiden wohl wichtigsten vorgestellt werden:
Sozialkonstruktivismus
Phänomenologie
In der qualitativen Forschung geht man normalerweise nicht davon aus, dass es eine »objektiv« gegebene Realität gibt. Die Realität wird vielmehr als eine von Menschen geschaffene Wirklichkeit verstanden.
Zum einen bedeutet dies, dass jeder Mensch seine eigene Realität konstruiert. Die Realität ist damit das, was ein Mensch individuell unter der Realität versteht. So kann man zum Beispiel nicht für alle Menschen allgemeingültig sagen, was ein guter Film ist, da der eine eher spannende Krimis mag, der andere eher romantische Liebesfilme und wieder ein anderer eher epische Dramen bevorzugt.
Zum anderen bedeutet dies aber auch, dass die Realität zwischen den Menschen im sozialen Austausch geschaffen wird. Dies kann man so verstehen, dass unsere Welt nicht per se existiert, sondern wir unsere Welt durch gegenseitige Übereinkünfte schaffen. Ein Beispiel dafür wären Gesetze, die »nicht vom Himmel gefallen sind«, sondern in Parlamenten beschlossen wurden.
Dieses sozialkonstruktivistische Verständnis der Realität hat auch Auswirkungen auf das Verständnis der Forschung. Man geht von Konstruktionen erster Ordnung und Konstruktionen zweiter Ordnung aus. Konstruktionen erster Ordnung sind die durch soziale Prozesse entstandenen Phänomene, die die Menschen erleben. Konstruktionen zweiter Ordnung sind die ebenfalls konstruierten Erkenntnisse der Wissenschaftler, mit denen die Konstruktionen erster Ordnung der »normalen« Menschen erklärt werden sollen.
Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Sozialkonstruktivismus sei auf Kukla (2000) verwiesen.
Soeben wurde darauf hingewiesen, dass qualitative Forscher in der Regel in sozialen Prozessen konstruierte Phänomene untersuchen. Dies führt uns zur zweiten wesentlichen philosophischen Grundlage der qualitativen Forschung – der Phänomenologie.
Das Wort Phänomenologie stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus dem Wort phainomenon, das Erscheinung bedeutet, und dem Wort logos, das Lehre bedeutet, zusammen.
Ein Phänomen ist die Erfahrung eines Menschen, die in seiner Umwelt und seiner Beziehung zu dieser Umwelt ihren Ursprung hat. So kann zum Beispiel das Erlebnis des ersten Kusses mit der Liebe Ihres Lebens als Phänomen aufgefasst werden. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Phänomene im wissenschaftlichen Sinne nichts Besonderes oder Außergewöhnliches sein müssen – anders als in der umgangssprachlichen Nutzung des Begriffs. So würde man im wissenschaftlichen Sinne auch die Erfahrung beim Binden der Schuhe als Phänomen bezeichnen. Darüber hinaus ist wichtig, dass Phänomene nicht die Sache an sich sind, sondern nur das subjektive Erleben dieser Sache widerspiegeln. In unserem obigen Beispiel ist also nicht der Kuss mit der Liebe Ihres Lebens das Phänomen, sondern das Erleben dieses Kusses.
Damit rückt die Phänomenologie die Erfahrungen der Menschen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Diese »natürlichen« menschlichen Erfahrungen werden häufig als Lebenswelt bezeichnet. Die Lebenswelt spiegelt dabei nicht die naturwissenschaftlich-analytische Erklärung der Welt, sondern das »vorwissenschaftliche« und ganzheitliche Erleben dieser Welt wider. Denken Sie zurück an das Kuss-Beispiel. Wenn Sie die Liebe Ihres Lebens zum ersten Mal küssen, werden Sie wahrscheinlich nicht im Nachgang analysieren, wie die Lippen gespitzt wurden, wie lange der Kuss in Sekunden oder Minuten gedauert hat oder in welchem Winkel die Arme gehalten wurden. Sie werden sich wahrscheinlich eher an ganzheitliche Gefühle von Romantik oder Leidenschaft erinnern.
Unter anderem aus der phänomenologischen Tradition heraus fokussiert die qualitative Forschung weniger auf eine naturwissenschaftliche Untersuchung von einzelnen Konzepten und deren Beziehungen zueinander, sondern auf die ganzheitliche Erfassung des lebensweltlichen Erlebens der Menschen.
Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Phänomenologie sei auf Zahavi (2007) verwiesen.
Nachdem zwei der wesentlichen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Forschung vorgestellt wurden, stellt sich die Frage, was vor diesem Hintergrund das zentrale Erkenntnisziel der qualitativen Forschung ist. Die folgende Ziel-Definition ist außerordentlich wichtig, um den Kern der qualitativen Forschung zu verstehen:
Das Ziel der qualitativen Forschung ist es, auf der Grundlage von alltagsweltlichen Erfahrungen der Menschen und unter Berücksichtigung möglichst aller lebensweltlichen Details das Typische in den kontextbezogenen Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen der Menschen zu entdecken und zu verstehen, um daraus verallgemeinerbare Theorien zu entwickeln.
Zugegebenermaßen ist das soeben definierte Ziel der qualitativen Forschung in einem Satz vielleicht etwas »sperrig«. Deshalb sollen die qualitative Forschung und ihr Erkenntnisziel anhand zweier wichtiger Merkmale näher erklärt werden:
Qualitative Forschung als Entdeckungsverfahren
Qualitative Forschung als Interpretationsverfahren
Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Breuer (2020).
Wie oben geschrieben, geht es in der qualitativen Forschung nicht darum, Theorien zu prüfen, sondern Theorien zu entwickeln. Sie können sich dies wie die Reisen der großen Entdecker vorstellen. So wusste Christopher Columbus auch nicht mit Sicherheit, was ihn auf seinen Reisen erwartet. Und am Ende entdeckte er Amerika, auch wenn er nicht gleich begriff, dass es Amerika war.
Die »Entdeckungsreise« in der qualitativen Forschung geht primär nicht davon aus, aus vorhandenen Theorien heraus Neues zu entdecken. Vielmehr geht es darum, aus den alltagsweltlichen Erfahrungen der Menschen neue Theorien zu entwickeln. Umgangssprachlich ausgedrückt: Sie kommen nicht durch abstrakte, »schlaue« Gedanken im »Elfenbeinturm« zu neuen Erkenntnissen über die Realität, sondern lassen sich die subjektive Realität von den Menschen selbst erklären.
Dies bedeutet, dass Sie in der qualitativen Forschung nicht deduktiv vorgehen – also von allgemeinen »Gesetzen« auf konkrete Situationen schließen, sondern von konkreten lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen auf allgemeine »Gesetze«. Sie schließen vom Konkreten auf das Allgemeine. Diesen Ansatz des Erkenntnisgewinns nennt man Induktion.
Der wesentliche Ansatz des Erkenntnisgewinns über die Realität ist in der qualitativen Forschung die Induktion, also das Entdecken von verallgemeinerbaren Theorien auf der Grundlage von konkreten lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen.
Diese induktive Vorgehensweise darf man aber nicht als absolut verstehen, da es die »reine« Induktion nicht gibt. »Reine« Induktion würde bedeuten, dass Sie ohne jegliches Wissen über den Untersuchungsgegenstand an Ihre Forschung herangehen. Wir haben jedoch immer mehr oder weniger konkrete Ziele, die wir mit unserer Forschung verfolgen. Ferner haben wir als qualitative Forscher auch immer mehr oder weniger konkrete Vorannahmen über den Untersuchungsgegenstand und die Personen, die wir untersuchen.
Denken Sie bitte an das Beispiel von Christopher Columbus zurück. Columbus ist auch nicht einfach so in den Atlantik hinausgefahren. Er hatte die Vorannahme, dass er einen westlichen Seeweg von Europa nach China und Japan finden würde. Wie wir wissen, war diese Vorannahme nicht gänzlich richtig, da er durch seine Reisen Amerika entdeckt hat – also etwas völlig Neues.
Dieses Beispiel können Sie auch auf die Herangehensweise an die qualitative Forschung übertragen. Sie haben zwar Vorannahmen, Sie müssen aber während Ihrer »Entdeckungsreise« offen für alle möglichen neuen und unerwarteten Erkenntnisse sein. Diese Herangehensweise lässt sich wie folgt zusammenfassen:
In der qualitativen Forschung müssen Sie sich Ihrer Vorannahmen bewusst sein, aber immer offen für neue Erkenntnisse sein. Diese Herangehensweise nennt man reflektierte Offenheit.
In diesem Abschnitt wurde dargestellt, dass Sie die qualitative Forschung als Entdeckungsverfahren auffassen sollten. Damit liegt der qualitativen Forschung unter anderem der wissenschaftstheoretische Ansatz der Heuristik zugrunde.
Heuristik kommt von dem griechischen Wort heuriskein, das entdecken bedeutet. Im sozialwissenschaftlichen Sinne zielt die heuristische Herangehensweise darauf ab, durch ein regelgeleitetes und systematisches Vorgehen neue Theorien aus den lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen zu entwickeln (vergleiche auch die bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel). Eine differenziertere Darstellung zur sozialwissenschaftlichen Heuristik findet sich bei Kleining (1995).
Wie in den bisherigen Abschnitten dieses Kapitels dargelegt wurde, geht es in der qualitativen Forschung nicht darum, eine objektive Welt zu erfassen. Vielmehr geht es darum, die subjektiven Erfahrungen in der Welt und damit das subjektive Verständnis der Welt herauszuarbeiten.
Denken Sie an unser vorheriges Beispiel vom ersten Kuss mit der Liebe Ihres Lebens zurück. Für Sie mag dieser Kuss Romantik, Zuneigung und Geborgenheit bedeuten; für die Liebe Ihres Lebens bedeutet der Kuss vielleicht Leidenschaft, Erregung und Hingabe.
Der Kuss in diesem Beispiel kann also von den Beteiligten subjektiv unterschiedlich verstanden werden. Entsprechend lässt sich auch das Verständnis von Erkenntnisgewinn in der qualitativen Forschung wie folgt formulieren:
Es geht nicht darum, wie die Dinge an sich sind.
Es geht darum, was die Dinge für uns bedeuten.
Diese Aussagen drücken aus, dass die qualitative Forschung herausfinden will, wie Menschen ihre Welt sehen und verstehen. Der qualitative Forscher will verstehen, welche Bedeutungen die Menschen der »Welt« und »ihren Teilen« zuschreiben. Man könnte es auch anders ausdrücken: Welchen Sinn schreiben die Menschen den erlebten Phänomenen zu?
Somit können soziale Konstruktionen erster Ordnung, wie sie im Abschnitt »Wissenschaftstheoretische Grundlagen der qualitativen Forschung« beschrieben wurden, als Gegenstand der qualitativen Forschung verstanden werden. In diesem Zusammenhang war oben auch von sozialen Konstruktionen zweiter Ordnung die Rede, also die Erklärungen der Konstruktionen erster Ordnung durch Wissenschaftler. Da Wissenschaftler aber »auch nur Menschen sind« und den gleichen Begrenzungen unterliegen wie alle anderen Menschen, gilt auch für Konstruktionen zweiter Ordnung, dass es um Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen geht – in diesem Fall durch qualitative Forscher –, und nicht um absolute Wahrheiten.
Die Fokussierung auf Bedeutungs- oder Sinnzuschreibungen zeigt, dass die qualitative Forschung als Interpretationsverfahren gesehen werden sollte. In der Regel werden dabei Protokolle von Interviews, Gruppendiskussionen oder Beobachtungen, also Texte interpretiert. Die Kunst oder die Lehre der Interpretation von Texten ist die Hermeneutik, die eine wesentliche Grundlage der qualitativen Forschung darstellt.
Hermeneutik kommt von dem griechischen Wort hermeneuein, das erklären oder auslegen bedeutet. Eine Zusammenfassung der Hermeneutik im Kontext der qualitativen Forschung findet sich bei Sichler (2020).
Für die qualitative Forschung ist in diesem Zusammenhang insbesondere der hermeneutische Zirkel von zentraler Bedeutung und kann auch als die zentrale Erkenntnisfigur der qualitativen Forschung betrachtet werden. Die Grundannahmen des hermeneutischen Zirkels sind:
Das Ganze kann nicht verstanden werden, wenn seine einzelnen Teile nicht verstanden werden.
Die einzelnen Teile können nicht verstanden werden, wenn das Ganze nicht verstanden wird.
Der Erkenntnisgewinn im Rahmen des hermeneutischen Zirkels, der eher als hermeneutische Spirale verstanden werden sollte, läuft wie folgt ab: Man betrachtet das Ganze eines Phänomens und schreibt diesem eine Bedeutung zu. Daraufhin betrachtet man einen Teil davon und schreibt diesem eine Bedeutung zu. Auf der Grundlage dieses Verständnisses betrachtet man wieder das Ganze und fokussiert danach wieder auf einzelne Teile. Dieses Vorgehen wird so lange wiederholt, bis man den Sinn des Ganzen und aller seiner Teile durchdrungen hat. Das Prinzip des hermeneutischen Zirkels ist auch in Abbildung 1.3 dargestellt.
Der hermeneutische Zirkel soll mit einem hypothetischen Beispiel verdeutlicht werden, das sich in ähnlicher Form auch bei Mayring (2022) findet. Stellen Sie sich vor, dass Sie auf einer Wanderung durch eine Schlucht in den Alpen unterwegs sind. Sie biegen in dieser Schlucht um eine Ecke und direkt vor Ihnen versperrt ein Meteorit den Weg. Wahrscheinlich werden Sie jetzt einige Meter zurückgehen und auf eine Anhöhe steigen, um sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Danach gehen Sie wieder näher an den Meteoriten heran, um zum Beispiel die Beschaffenheit des Gesteins aus der Nähe zu untersuchen. Dann treten Sie wieder einige Meter zurück, um Ihre Untersuchung der Gesteinsbeschaffenheit in Ihr Gesamtbild vom Meteoriten einzuordnen.
Abbildung 1.3: Grundprinzip des hermeneutischen Zirkels
Bisher haben Sie in diesem Kapitel die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Forschung, die Entdeckung von Theorien auf der Grundlage der lebensweltlichen Erfahrungen von Menschen als Ziel der qualitativen Forschung sowie den Charakter von qualitativer Forschung als Entdeckungs- und Interpretationsverfahren kennengelernt.
In diesem Abschnitt soll es etwas konkreter werden, indem gezeigt wird, was dies für die praktische Umsetzung in einem qualitativen Forschungsprojekt bedeutet. Es werden vier Prinzipien der qualitativen Forschung behandelt. Die folgenden Ausführungen orientieren sich dabei an Lamnek (1995).
Wenn Sie ein qualitatives Forschungsprojekt konzipieren und umsetzen, wollen Sie in der Regel einen Untersuchungsgegenstand erforschen, zum Beispiel bestimmte Einstellungen, Motive oder psychische Prozesse. Sie sollten aber darauf achten, dass Sie nicht diese Untersuchungsobjekte, sondern die Untersuchungssubjekte, also die Befragten oder Beobachteten in den Mittelpunkt Ihrer Forschung stellen. Wie oben dargestellt, geht es nicht um die »objektive« Realität, sondern um die Bedeutungen, die Menschen dieser subjektiv erlebten Realität zuordnen.
Damit zusammenhängend wollen Sie als qualitativer Forscher die Lebenswelt der Menschen untersuchen und erklären – also die alltagsweltlichen Erfahrungen der Menschen und nicht eine objektive oder zu stark abstrahierte Realität.
Um diese lebensweltlichen Erfahrungen und Deutungen einer subjektiven Realität durch Menschen erfassen zu können, sollten Sie versuchen, alle Details und Kontexte zu berücksichtigen, um diese Erfahrungen und Deutungen möglichst ganzheitlich interpretieren zu können.
Interpretieren heißt in diesem Zusammenhang insbesondere, dass eine reine Beschreibung der lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen nicht ausreicht. Ihr Ziel als qualitativer Forscher ist es, diese Erfahrungen auch zu verstehen.
Beachten Sie bei Ihrer qualitativen Forschung die folgenden Grundregeln:
Die Untersuchungssubjekte stehen im Mittelpunkt der qualitativen Forschung, nicht die Untersuchungsobjekte.Ziel der qualitativen Forschung ist die Beschreibung und Erklärung der Lebenswelt der Untersuchungssubjekte.Berücksichtigen Sie möglichst alle Details und entwickeln Sie ein ganzheitliches Verständnis der Untersuchungssubjekte.Fokussieren Sie nicht nur darauf, die Lebenswelt der Untersuchungssubjekte zu beschreiben, sondern legen Sie vor allem auch einen Schwerpunkt darauf, diese Lebenswelt zu verstehen.Oben wurde dargestellt, dass es in der qualitativen Forschung nicht darum geht, Theorien zu prüfen. Ziel ist es vielmehr, auf der Grundlage der lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen neue Theorien zu entdecken. Dies bedeutet, dass Sie mit Offenheit an Ihre Forschung herangehen müssen. Diese offene Herangehensweise umfasst alle Aspekte der qualitativen Forschung: Untersuchungssubjekte, Untersuchungsgegenstand, Methoden etc.
Insbesondere ist wichtig, dass Ihre Forschungsziele und Forschungsfragen offen formuliert sind. Sie fragen nicht nach dem »Ob«, sondern nach dem »Warum«, »Wie«, »Wozu« etc.
So wie Ihre Forschungsziele und Forschungsfragen offen formuliert sein sollten, sollten auch die Fragen in Ihren Interview- oder Gruppendiskussionsleitfäden in der Regel offen formuliert sein. Fragen Sie Ihre Interviewpartner nicht danach, ob sie etwas tun, denken oder fühlen, sondern wie, warum oder wozu sie etwas tun, denken oder fühlen.
Nicht nur die einzelnen Fragen sollten offen sein, auch die Struktur und der Ablauf von Interviews oder Gruppendiskussionen sollte nur wenig strukturiert sein. Dies bedeutet, dass es in der Regel keine absolut feste Reihenfolge der Fragen geben kann.
Beachten Sie bei Ihrer qualitativen Forschung die folgenden Grundregeln:
Die Forschungsfragen müssen offen formuliert sein.Die Fragen des Interview- oder Diskussionsleitfadens müssen offen formuliert sein.Der Interview- oder Diskussionsleitfaden ist wenig strukturiert.Oben wurde dargestellt, dass die qualitative Forschung als Entdeckungsverfahren zur Entwicklung neuer Theorien aufgefasst werden sollte. Damit können Sie nicht von vornherein wissen, welche Struktur die Ergebnisse haben werden. Es ist durchaus möglich, dass sich Ihr Forschungsprojekt während des Forschungsprozesses in eine andere als die erwartete Richtung entwickelt. Dies gilt vor allem, da die qualitative Forschung nicht auf die »reine« Beschreibung der Realität abzielt, sondern vielmehr auch auf deren Verständnis.
Dementsprechend müssen Sie mit einer hohen Flexibilität an Ihr qualitatives Forschungsprojekt herangehen. Dies betrifft sowohl die Datenerhebung als auch die Datenauswertung.
Seien Sie offen dafür, die Datenerhebung während Ihres qualitativen Forschungsprojekts anzupassen, falls dies erforderlich ist, zum Beispiel durch die Rekrutierung neuer Probanden oder die Anpassung des Interviewleitfadens.
Auch in der Datenauswertung müssen Sie flexibel sein. Diese Flexibilität in der Datenauswertung wird insbesondere im oben erläuterten hermeneutischen Zirkel deutlich. Sie sollten die qualitative Forschung nicht so sehr als linearen Prozess verstehen, sondern eher als zirkuläre oder spiralförmige Annäherung an die Beschreibung und das Verstehen der Realität.
Beachten Sie bei Ihrer qualitativen Forschung die folgenden Grundregeln:
Seien Sie flexibel bei der Datenerhebung und Datenauswertung und passen Sie Ihr Vorgehen, falls nötig, an.Verstehen Sie die qualitative Forschung vor allem bei der Datenauswertung als zirkulären Prozess und arbeiten Sie die einzelnen Forschungsschritte nicht »stur« nacheinander ab.Da es in der qualitativen Forschung um das Verstehen von subjektiven Phänomenen geht, muss sich der Forscher dem Untersuchungsgegenstand und den Erforschten, die ja diese Phänomene erleben, annähern. Dieses Hineinbegeben in die Forschungssituation ist auch notwendig, um ein ganzheitliches und vertieftes Verständnis zu erlangen. Damit ist die Interaktion zwischen Forscher und Erforschtem ein fester Bestandteil der qualitativen Forschung. Es ist wichtig, dass sich der qualitative Forscher über seine Rolle und die Rolle des Erforschten Klarheit verschafft.
Durch die Interaktion mit den Erforschten sind Sie als Forscher auf deren Kooperation angewiesen. Deshalb müssen Sie Ihren Probanden »auf Augenhöhe« begegnen und dürfen ihnen nicht »von oben herab« als »überschlauer« Forscher begegnen. Es geht um eine »gleichberechtigte« Forschungskooperation, aus der neue Erkenntnisse gewonnen werden sollen.
Dies sollten Sie aber nicht missverstehen im Sinne einer wissenschaftlichen Diskussion mit den Probanden. Wie oben geschrieben, sollen mit der qualitativen Forschung die lebensweltlichen und damit vorwissenschaftlichen Erfahrungen der Menschen untersucht werden. Dies bedeutet, dass die »Deutungshoheit«, wie die Realität zu begreifen und zu verstehen ist, immer bei den Erforschten liegen muss. Sie wollen als qualitativer Forscher nur verstehen und nicht mit Ihren Probanden diskutieren oder diese gar von einer Meinung überzeugen.
In den letzten beiden Absätzen wurde der Begriff Proband eingeführt. Als Proband bezeichnet man in der empirischen Forschung diejenigen Personen, mit denen und an denen man die Datenerhebung durchführt.
Beachten Sie bei Ihrer qualitativen Forschung die folgenden Grundregeln:
Verstehen Sie das Verhältnis von Ihnen als qualitativer Forscher und den Erforschten als Kooperation zum Erkenntnisgewinn.In der Interaktion mit den Erforschten liegt die »Deutungshoheit« über die Realität immer bei den Probanden.In der Interaktion mit den Erforschten liegt Ihre einzige Aufgabe darin, Informationen zu gewinnen und die lebensweltlichen Erfahrungen der Befragten zu verstehen.Aus diesem Kapitel sollten Sie auf jeden Fall das Ziel der qualitativen Forschung mitnehmen:
In der qualitativen Forschung geht es darum, Theorien auf der Grundlage von lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen zu entwickeln. Dabei sollten Sie möglichst alle Details und den Kontext der jeweiligen Lebenswelt berücksichtigen, damit Sie das Typische in den Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen der Menschen entdecken und verstehen.
Dabei gehen Sie als qualitativer Forscher davon aus, dass die Realität und das Wissen darüber nicht objektiv gegeben sind, sondern in sozialen Prozessen konstruiert werden. Dies bedeutet auch, dass die Theorien, die Sie entdecken, auf den lebensweltlichen Erfahrungen, also auf Phänomenen beruhen.
Wenn Sie ein qualitatives Forschungsprojekt umsetzen, sollten Sie die folgenden Prinzipien beachten:
Richten Sie Ihre Forschung auf die ganzheitliche Erfassung von lebensweltlichen Phänomenen aus.
Seien Sie bei Ihrer Vorgehensweise offen, damit Sie neue und vielleicht unerwartete Theorien entdecken können.
Seien Sie in der Erhebung und Auswertung Ihrer Daten flexibel und ergründen Sie Ihren Forschungsgegenstand in einem zirkulären Prozess bis zum »vollständigen« Verstehen.
Beachten Sie in Ihrer qualitativen Forschung, dass Sie neue Erkenntnisse nur durch die Interaktion mit den Erforschten gewinnen können.
Die bisherigen Ausführungen waren eher theoretischer Natur. Häufig ist es aber für ein »richtiges« Verständnis hilfreich, wenn man die Theorie mit einem konkreten Beispiel verbinden kann. Dementsprechend soll im Folgenden ein qualitatives Forschungsprojekt skizziert werden, das auch in den folgenden Kapiteln dieses Buches als Anwendungsbeispiel dienen wird: »Subjective Decision-making and Reasoning in Moral Dilemma Situations« (Godbersen & Ruiz Fernández, in preparation) – im Folgenden kurz »Moral Dilemma Decisions«.
Es gibt Situationen, in denen man einem moralischen Dilemma gegenübersteht. Man muss eine Entscheidung treffen, die nicht zu 100%ig guten Konsequenzen führt. In psychologischen Studien wurden solche Dilemma-Entscheidungen vielfach untersucht. Das »wissenschaftliche Ur-Dilemma« ist das Trolly-Dilemma, das auf Foot (1967) zurückgeht.
Im hypothetischen Trolly-Dilemma fährt ein führerloser Straßenbahnwagen auf fünf Gleisarbeiter zu, die auf dem Hauptgleis arbeiten. Vor diesen Gleisarbeitern geht ein Nebengleis ab, auf dem ein Gleisarbeiter arbeitet. Wenn nichts unternommen wird, wird der Straßenbahnwagen auf dem Hauptgleis bleiben und die fünf Gleisarbeiter töten. Es ist aber möglich, den Tod der fünf Gleisarbeiter zu vermeiden. Dazu muss der Proband einen Hebel bedienen, der den Straßenbahnwagen auf das Nebengleis umleitet. In diesem Fall tötet der Straßenbahnwagen aber den Gleisarbeiter, der auf dem Nebengleis arbeitet. Das Prinzip des hypothetischen Trolly-Dilemmas ist in Abbildung 1.4 dargestellt.
Abbildung 1.4: Grafische Darstellung des grundlegenden Trolly-Dilemmas
In dieser moralischen Dilemma-Situation gibt es nun zwei Entscheidungsmöglichkeiten. Entweder wird der Hebel umgelegt und der Straßenbahnwagen tötet den einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis oder der Hebel wird nicht umgelegt und der Straßenbahnwagen tötet die fünf Gleisarbeiter auf dem Hauptgleis.
Die erste Entscheidung, bei der die fünf Arbeiter auf dem Hauptgleis gerettet werden, aber der Arbeiter auf dem Nebengleis getötet wird, nennt man utilitaristische Entscheidung. Bei dieser utilitaristischen Entscheidung steht der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Anzahl an Menschen im Vordergrund. Nach utilitaristischer Logik hat das Überleben von fünf Menschen einen größeren Nutzen als das Überleben von einem Menschen.
Die zweite Entscheidung, bei der der Proband den Hebel nicht umlegt und die fünf Arbeiter auf dem Hauptgleis getötet werden und der Arbeiter auf dem Nebengleis überlebt, nennt man deontologische Entscheidung. Bei einer solchen deontologischen Entscheidung stehen gegebene Regeln, die auf die Rechte und Pflichten der Individuen fokussieren, im Vordergrund. Nach deontologischer Logik darf man die Rechte Einzelner, im Trolley-Dilemma die des einzelnen Gleisarbeiters, nicht gegen den Nutzen von anderen aufrechnen, im Trolley-Dilemma die fünf Gleisarbeiter auf dem Hauptgleis.
Das Ziel unseres qualitativen Forschungsbeispiels ist es, die subjektiven Gründe der Menschen für und gegen utilitaristische und deontologische Entscheidungen zu finden. Da Menschen bei moralischen Dilemma-Entscheidungen innere Konflikte erleben, soll darüber hinaus herausgefunden werden, wie Menschen mit diesen inneren Konflikten umgehen. Und als Letztes soll herausgefunden werden, wie Menschen utilitaristische und deontologische Entscheidungsfindungen im »normalen« Leben anwenden.
Lösen Sie nun die Übungsaufgaben zu diesem Kapitel. Bei jeder Frage ist immer nur eine Antwort richtig. Die Lösungen finden Sie in Anhang A.
Aufgabe 1.1: Theorien spielen sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Forschung eine zentrale Rolle. Welche der folgenden Aussagen beschreibt eine Theorie am besten?