Queer*Welten 11-2023 - Jasper Nicolaisen - E-Book

Queer*Welten 11-2023 E-Book

Jasper Nicolaisen

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Beschreibung

Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: Mein schönster Hexenprozess von Lünn(Kurzgeschichte) Grüne Herzen von Charline Winter (Kurzgeschichte) Rausfinden vonJasper Nicolaisen(Kurzgeschichte) Das Geheimnis der Puddingteilchen von Chris* Lawaai (Kurzgeschichte) Hans und Gerthold von Iris Leander Villiam (Kurzgeschichte) Ein Mädchen und sein Tod von Anna Zabini (Kurzgeschichte) Magisch-systemische Unordnung: Hexen als disruptives Element in Erzählwelten von Iva Moor (Essay) Der Queertalsbericht 02/2023 Queerfeministische Zaubersprüche von: Jassi Etter, Christian Vogt, Teresa Teske, Amalia Zeichnerin, Jeannie Marschall, kvmw, Alex, Illi Anna Heger

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Herausgeber*innen: Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan

1. Auflage

© 2023 Ach je Verlag

ein Imprint des Amrûn Verlag, Traunstein

Layout: Judith Vogt

Coverillustration: Alissa

Umschlaggestaltung im Verlag

Queer*Welten Logo: Milan Dangol (https://milandangol.de)

Printed in the EU

ISBN 9783958695320

https://queerwelten.de

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Tags und Inhaltshinweise
Vorwort
Zauberspruch: Als Druckausgleich
Mein schönster Hexenprozess
Zauberspruch: Merseburger queerfeministischer Zauberspruch
Grüne Herzen
Zauberspruch: Brot und Salz
Zauberspruch: Social-Justice-Zauberspruch
Rausfinden
Zauberspruch: Ein letzter Schutzzauber
Das Geheimnis der Puddingteilchen
Zauberspruch: Die Fluchtafel
Hans und Gerthold
Zauberspruch: Lass mich treiben uferlos
Ein Mädchen und sein Tod
Zauberspruch: Selbstwirksamer Notzauber
Essay: Magisch-systemische Unordnung
Zauberspruch: Queer-Welten-Wunder(n)
Queertalsbericht
Coverkünstlerin

Inhalt

Vorwort 7

Zauberspruch 1: Als Druckausgleich 11

Kurzgeschichte

Mein schönster Hexenprozess 12

von Lünn

Zauberspruch 2: Merseburger queerfeministischer Zauberspruch 25

Kurzgeschichte

Grüne Herzen 26

von Charline Winter

Zauberspruch 3: Brot und Salz 34

Zauberspruch 4: Social-Justice-Zauberspruch 35

Kurzgeschichte

Rausfinden 36

von Jasper Nicolaisen

Zauberspruch 5: Ein letzter Schutzzauber 43

Kurzgeschichte

Das Geheimnis der Puddingteilchen 44

von Chris* Lawaai

Zauberspruch 6: Die Fluchtafel 54

Kurzgeschichte

Hans und Gerthold 55

von Iris Leander Villiam

Zauberspruch 7: Lass mich treiben uferlos 63

Kurzgeschichte

Ein Mädchen und sein Tod 64

von Anna Zabini

Zauberspruch 8: Selbstwirksamer Notzauber 79

Essay

Magisch-systemische Unordnung: Hexen als disruptives Element in Erzählwelten 80

von Iva Moor

Redaktionszauberspruch: Queer*welten*wunder(n) 94

Der Queertalsbericht 95

Tags und Inhaltshinweise

Ihr findet vor jeder Kurzgeschichte Inhaltshinweise und Tags.

Die Tags dienen dazu, euch einen Überblick über die Themen der Kurzgeschichte zu geben – sie sind an Fanfictionportale wie Archive of Our Own angelehnt und geben Handlungselemente, Motive und Genrekategorisierungen wieder, damit ihr einschätzen könnt, was euch in der Geschichte erwartet.

Bei den Inhaltshinweisen versuchen wir, Elemente der Geschichte zu sammeln, von denen wir wissen, dass manche Lesenden sie lieber vermeiden würden oder vorgewarnt wären.

Die Listen sind in Zusammenarbeit mit den Autor*innen entstanden, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Feedback und Wünsche zu Tags und Inhaltshinweisen sind wir immer offen.

Vorwort

Liebe Leser*innen von Queer*Welten,

willkommen zu unserer neuen, elften Ausgabe! Wie die neunte Ausgabe mit dem Oberthema „Meer“ und der Mikrofiction-Ausschreibung „Queer Merfolk“ ist auch dieses Heft eine Themenausgabe. Wir haben nicht aktiv nach einem Thema gesucht, aber es hat uns gefunden, oder genauer: Allerlei Hexen haben uns gefunden, denn im Laufe des letzten Jahres sind immer wieder Hexen-Geschichten bei uns eingetrudelt, bis wir den Wink mit dem Besenstiel begriffen haben. Wir haben die Sonderausschreibung für diese Ausgabe unter das Thema „queerfeministische Zaubersprüche“ gestellt und acht vielseitige Zauber von Alex, Jassi Etter, Illi Anna Heger, kvmw, Jeannie Marschall, Teresa Teske, Christian Vogt und Amalia Zeichnerin für den Alltagsgebrauch ausgesucht. Damit verhext ihr Kapitalismus, Queerfeindlichkeit, Patriarchat, TERFs, Engstirnigkeit und Leistungsgedanken und zaubert eine gerechtere Welt herbei!

Anders als in der Meeres-Ausgabe konzentrieren wir uns diesmal aber auch im Queertalsbericht ganz auf das Thema Hexen und empfehlen euch Bücher mit Hexen, Magie und Mystik – netterweise mit der Hilfe von drei Gastrezensent*innen! Aber nun Vorhang auf für die Kurzgeschichten und den Essay zum Thema Hexen:

Mein schönster Hexenprozess von Lünn ist rotzige und im besten Sinne aufrührerische Historische Fantasy und erzählt von drei Frauen, die sich, alle der Hexerei bezichtigt, gemeinsam in derselben Kerkerzelle wiederfinden.

In der Solarpunk-Geschichte Grüne Herzen von Charline Winter wird eine zurückgezogen lebende Person, die Dinge reparieren kann, von einer Androidin aufgesucht, die einen ungewöhnlichen Wunsch hat.

Von Jasper Nicolaisen stammt Rausfinden, ein wilder Ritt durch Genres und Dimensionen, der Science-Fiction, Magie und kosmischen Horror in einer Geschichte verbindet, die Lovecraft hoffentlich richtig scheiße fände.

In Das Geheimnis der Puddingteilchen nimmt Chris* Lawaai die Lesenden mit in ein Eifeldorf in den 1990er-Jahren. Die Protagonistin zieht bei ihrer Tante ein und lernt alles über deren Backhandwerk – und ein bisschen was über Magie.

Hans und Gerthold von Iris Leander Villiam ist eine Märchenadaption von Hänsel und Gretel mit unerwarteten Verbündeten, einer genderfluiden Hexe und vielen Reflexionen über toxische Männlichkeit.

Mit Ein Mädchen und sein Tod von Anna Zabini endet die Ausgabe dann mit einer Geschichte, die tatsächlich aus einer unserer Anregungen entstanden ist: Cyberpunk-Hexen! Ein unsterbliches Mädchen und ein langsam sterbender Tod versuchen darin, dem Hexenzirkel zu entkommen, der konzerngleich über die Welt herrscht.

Im Essay dieser Ausgabe widmet sich Iva Moor dem Thema Magisch-systemische Unordnung: Hexen als disruptives Element in Erzählwelten. Mit Beispielen aus Der Zauberer von Oz, der Locked Tombed-Reihe, dem Grishaverse und vielen mehr geht sie der Frage auf den Grund, was Hexen in Erzählungen eigentlich ausmacht und welche neuen Hexen-Erzählungen es noch zu erforschen gibt.

Wir sind sehr begeistert von der Vielseitigkeit dieser Ausgabe, den vielen verschiedenen Genres, über deren Grenzen sich zaunreitende Hexen hinwegsetzen, und der progressiven Auseinandersetzung mit einem klassischen Märchen- und Fantasyelement.

Vielen Dank an alle Beteiligten, viel Spaß euch beim Lesen,

Eure Queer*Welten-Redaktion

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Als Druckausgleich

(braucht mind. 2 Personen, funktioniert gut mit Lärm)

Was soll‘n wir denn schon wieder leisten?

Haben wir nicht genug gegeben?

Dürfen wir endlich einmal scheitern?

Wir woll‘n nicht brechen, wir woll‘n beben!

Erinnern woll‘n wir und uns merken:

dass wir mehr sind als nur Schall und Rauch

auch an unbenannten Orten!

dass uns‘re Feuer brennen und uns‘re Stimmen auch!

Alle! Alle!

auch in Verstecken woll‘n wir wecken

zu genießen und zu fallen!

Wir woll‘n heut und hier beschließen,

dass wir fließen, dass wir knallen!

Über Teresa Teske

Teresa Teske (sie/ihr) schreibt Prosa und Lyrik und konnte in der 6. Klasse die Hälfte von Goethes Zauberlehrling auswendig. (Instagram: @resa_lyrisch)

Mein schönster Hexenprozess

von Lünn

Inhaltshinweise

Folter, Verfolgung, Misogynie, Erwähnung sexuell übertragbarer Krankheit, Misshandlung, Scheiterhaufen, Erwähnung von Kindesmisshandlung, misanthrope Erzählstimme

Tags

Hexen, Empowerment, Found Family, zweites Gesicht

Sie bringen das neue Mädchen gegen Mitternacht. Blauäugig ist sie und trägt ein dreckiges Kleid mit zerrissener Schürze. Ihr langer aschblonder Zopf hängt ihr straff den Rücken herunter wie ein Galgenstrick. Weil sie zittert, hält Liesl ihr ein Jäckchen hin, selbst gestrickt, das Letzte, was ihre Hände vor den Daumenschrauben herzustellen vermochten.

Das Mädchen aber schreckt davor zurück, und ich frage mich, ob ich sie nicht in der Menge gesehen habe, als wir am Pranger standen. Vielleicht mit einem fauligen Apfel in der Hand oder einer Rübe. Bestimmt nicht mit einem Ei, denn die sind zu kostbar.

„Wie heißt du?“, fragt Liesl mit der gleichen sanften Stimme, mit der sie die trächtigen Kühe beruhigte, was ihr zum Verhängnis wurde. Sie holte die Kälber lebend, obwohl man sie tot geglaubt hatte. Und wenn sie sie im Mutterleib drehen musste und sie danach nass und leblos ins Stroh fielen, rieb sie ihnen mit den Händen Herzschlag in die Brustkörbe und hauchte ihnen Atem in die Nüstern. Den Männern sparte es viel Geld, dass sie ihr Handwerk besser verstand, und ihnen war das Geld wichtig. Aber ihr verletzter Stolz wog mit der Zeit schwerer als die Münzen in der Hand. Als ein paar der Bauern nacheinander krank wurden, war es deshalb Liesls Schuld.

„Annemarie.“ Das Mädchen flüstert so leise, dass ihre Stimme kaum zu mir dringt.

„Was werfen sie dir vor?“

Unter der Folter hat Liesl keinen Namen genannt, und ich habe nur Flüche gespuckt und gelacht, deswegen sind wir überrascht von der Neuen. Hieß es nicht, wir hätten zu zweit unter dem Blutmond getanzt? Jetzt sind wir zu dritt.

„Sie behaupten, dass ich den Sohn des Bürgermeisters verzaubert und mit schwarzer Magie verführt habe.“ Die zitternden Arme des Mädchens schlingen sich um ihren Körper. „Es ist nicht wahr.“

Schamesröte kriecht ihren Hals hinauf, färbt die Haut über dem Rüschenkragen ihres Kleids rosa. Ich betrachte die Falten, die der Stoff wirft, und weiß, was für die Männer als Zauber und Verführung gilt.

„Ich heiße Daciana und ich soll auf einem Besen geritten sein“, sage ich, um ihr die Lächerlichkeit der Anschuldigungen bewusst zu machen. Natürlich muss es ein Besen gewesen sein. Etwas anderes können sie sich nicht vorstellen in der Hand einer Frau. Dabei beseitige ich meinen Schmutz seit jeher mit dem Schwert. „Sie nennen mich Teufelsbraut und behaupten, ich spräche die Sprache der Toten.“

„Ich bin Liesl, und ich soll mehrere Bauern verflucht haben, wodurch die Schwindsucht sie dahingerafft hat“, sagt Liesl, und ich muss grinsen. Wir beide wissen, dass diese Bauern nicht an Schwindsucht litten, sondern an der Syphilis, die sie sich nachts am Hafen geholt hatten.

Die feuchten Augen des Mädchens haben sich geweitet. Ich frage mich, wem sie glaubt. Doch wohl nicht den Männern, deren Handabdrücke violett auf ihrer Haut schimmern? Ich lehne mich gegen die Steinmauer, aus deren Ritzen die Schaben zischen. Ich müsste nur die Hand nach ihr ausstrecken, um es zu erfahren. Das ist meine Gabe. Das ist mein Fluch.

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Bin ich eine Hexe? Vielleicht. Vielmehr aber bin ich eine Unberührbare. Mit allem anderen liegen die Männer falsch. Ich bin keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Beelzebub besucht mich nicht, flüstert mir keine Anweisungen ins Ohr. Von Natur aus leer, geschaffen, um von Männern gefüllt zu werden, anders können sie einen weiblichen Körper nicht begreifen. Und immer glauben sie, ihn begreifen zu müssen. Sie irren. In mir ist nur Platz für mich.

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Ich traf Liesl zum ersten Mal hier unten in den Kerkern. Sie wurde zu mir in die Zelle geworfen, als der Horizont gerade die blutige Sonne hervorstieß. Seit sie mich eingesperrt haben, ist jeder Morgen eine qualvolle Geburt. Wie eins ihrer frischen Kälber fiel auch sie ins Stroh, erschrocken von der Härte und Kälte der Welt. Ich weiß nicht, was sie in mir sah, unter all dem Dreck, den Schürfwunden und Blutergüssen. Jedenfalls kroch sie, ohne zu zögern, zu mir. Ich werde nie vergessen, wie es sich anfühlte, als sie mir das verfilzte Haar aus dem Gesicht strich.

Ich schloss die Augen und sah Liesl. Schon an der Brust ihrer Mutter verstand sie den Gesang der Vögel. Hörte ihre Warnungen. Sie war ein ängstlicher Säugling. Als Kind erzählten ihr die Mäuse und Ratten von den Katzen, die Katzen von den Hunden, die Hunde von den Menschen. Liesl wusste, wovor sie sich in Acht zu nehmen hatte. Sie war kräftig und geschickt, sie packte an, wo Not war, und freute sich heimlich der Haare, die ihr an Armen, Beinen, auf der Oberlippe und am Kinn sprossen, auch wenn ihre Mutter sie dafür schalt. Nicht zu gefallen war Unsichtbarkeit, und Unsichtbarkeit war ein Geschenk. Die Arbeit in den Ställen fiel ihr leicht. Liesl war nützlich und hässlich, deswegen ließ man sie in Ruhe. Doch dann starb ihre Mutter, und kaum war sie unter der schweren, feuchten Erde, vergaß Liesl die wichtigste Regel, die ihre Mutter sie gelehrt hatte: Gib dich dümmer als die, denen du zu dienen hast.

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Wir haben nur ein paar Stunden, bis der Meißner kommt. Immer vor Sonnenaufgang schreitet er herein, dieser kleine, aufgeblähte Mann. Der Bürgermeister selbst betritt die Kerker nicht, dafür hat er seinen Lakaien.

Meißner nennt sich Hexenjäger, hat es so lange getan, dass es die anderen jetzt für seinen offiziellen Titel halten und ihn auch so ansprechen. Weil er so ein ermüdender Mensch ist, muss er uns Nadeln unter die Fingernägel rammen, damit wir wach bleiben, während er ausufernd und selbstverliebt über die Beziehung zwischen Satan und den Weibern schwafelt, zu der er sich viele Gedanken macht, Tag und Nacht, wie es scheint, und blühende Fantasien spinnt.

Beim letzten Mal musste ich so gähnen, dass meine Kieferknochen knackten. Meißner ohrfeigte mich dafür. Die Abdrücke seiner Goldringe zieren noch immer meine Wange, vier rosa Kirschblütenblätter, die langsam verblassen. Es war das dritte Mal, dass seine Haut die meine berührte, deswegen sah ich einen Fetzen seiner Zukunft. Sein Gesicht im Schein des Feuers. Die Flammen tanzten in den Abgründen seiner schwarzen Pupillen, Schatten zuckten über seine Wangen, und seine fleischigen Lippen waren leicht geöffnet, als wolle er sie sich jeden Moment lecken.

Liesl hat mich zweimal berührt. Sie strich mir das Haar aus dem Gesicht und ich sah ihre Kindheit. Später nahm sie meine Hand, und ich sah mich durch ihre Augen. Ihre Gegenwart. Das dritte Mal würde mir einen Blick in ihre Zukunft gewähren, und deswegen weiche ich ihr nun aus. Ich will nicht wissen, ob sie es sein wird, die in Meißners Feuer brennt.

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Seit ich denken kann, habe ich diese seltsame Fähigkeit. Durch sie wusste ich schon als kleines Kind, dass meine Mutter mich nicht wollte. Sie war selbst eine Verstoßene und zog mit mir durchs Land, bis ich eine zu große Last für sie wurde.

Wie oft haben wir einander berührt? Ich habe nicht mitgezählt. Doch es hat gereicht, oder nicht? Jedenfalls tobt ihr ganzes Leben wie ein Sturm in mir.

Ich wusste immer, wie es ausgeht, und so weinte ich nicht, als sie mich in einem Stall zurückließ, und fragte nicht, wann sie mich holen würde. Ihre Faust hatte die Antwort schon vor langer Zeit in meinen Magen geschlagen.

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Nie.

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Meine Mutter brannte wie die meisten Beschuldigten in einem schwelenden, stockenden Feuer, das ihr Fleisch nicht bezwingen konnte. Ihr Tod war kein Spektakel, sondern eine heiße, stinkende Tortur. Kein Teufel fuhr aus der Hölle hinauf, um ihre schwarze Seele hinabzuziehen. Stattdessen stiegen Funken gen Himmel. Kleidung und Haar wurden zu glühender Asche und manchmal, wenn es regnet, bilde ich mir noch ein, dass ich sie schmecken kann, auf meiner Zunge, doch das meiste von ihr blieb auf der Erde, zur Unkenntlichkeit verbrannt, für immer in Eisenketten geschlagen.

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