Rabenkinder - Birgit Henriette Lutherer - E-Book

Rabenkinder E-Book

Birgit Henriette Lutherer

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Beschreibung

Wir lieben unsere Kinder. Sie sind ein Geschenk. Kinder bereichern unser Leben. Wir sehen sie aufwachsen – begleiten sie ins Erwachsen-Werden. Und dann? In der Regel nabelt sich ein Kind von seinen Eltern ab und gründet irgendwann eine eigene Familie. Aus Eltern werden Großeltern. Eine neue Generation betritt die Bühne des Familienlebens. Großeltern, Eltern und Kinder leben in Synergie miteinander. – So der Plan. Doch leider geht es oftmals nicht nach diesem Plan, denn das Leben ist facettenreich und keinesfalls ein Wunschkonzert. Was ist, wenn der Sohn oder die Tochter sich nicht nur abnabelt, sondern, aus welchem Grund auch immer, abwendet? Wenn plötzlich alle Kontakte gekappt werden? Wenn das Kind aus der Reihe tanzt? "Warum geschieht mir das? – Wieso mein Kind? – Was habe ich falsch gemacht?" und weitere Fragen schwirren dann im Kopf der Verlassenen umher. Das Buch "Rabenkinder" beschäftigt sich genau mit diesem Thema: Verlassen werden.

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Birgit Henriette Lutherer

Rabenkinder

Wenn aus Abnabeln Abwenden wird

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Autorin

Vorwort

Helga und Tobias

ADHS, ADS, HSS, ASS

Alexandra und Melanie 1/3

„Verlassene stehen am Pranger“

Alexandra und Melanie 2/3

Mechanismen im Familiensystem

Alexandra und Melanie 3/3

Selbstbeschuldigungs-Falle

Karin und Anika 1/5

Gefühlsketten

Karin und Anika 2/5

Mentalisieren und Empathie

Karin und Anika 3/5

Hochsensibilität

Karin und Anika 4/5

Broken-Heart-Syndrom

Karin und Anika 5/5

Veronikas Sicht auf Anikas Kontaktabbruch

Raumschiff Enterprise-Paradoxon

Karin meldet sich

Andrea und Anna

Vier Phasen der Trennung

Jens und Margret 1/4

Bindung im Familiensystem

Jens und Margret 2/4

Dilemmata in Familienunternehmen

Jens und Margret 3/4

Schwiegermutter vs. Schwiegertochter

Jens und Margret 4/4

Eine Frage der Generationen – ein soziologischer Erklärungsversuch für den Kontaktabbruch

Von Wölfen und Menschen

Und jetzt?

Literatur

Impressum neobooks

Die Autorin

Birgit Henriette Lutherer

Rabenkinder

Wenn aus Abnabeln Abwenden wird

Gespräche mit Betroffenen

Über die Autorin:

Birgit Henriette Lutherer ist Dozentin für Paar- und Beziehungsthemen an den Paracelsus Schulen Düsseldorf, Tübingen und Mönchengladbach.

Sie arbeitet zusammen mit ihrem Ehemann in eigener Praxis in Mönchengladbach.

www.ipb-Lutherer.de

Wichtiger Hinweis

Die in diesem Buch vorgestellten Informationen sind sorgfältig und gewissenhaft recherchiert und wurden nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernimmt die Autorin keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwertung der Angaben in diesem Buch entstehen. Insbesondere kann das Lesen dieses Buches weder Arztbesuch noch Psychotherapie ersetzen.

Vorwort

Wir lieben unsere Kinder. Sie sind ein Geschenk. Kinder bereichern unser Leben. Wir sehen sie aufwachsen – begleiten sie ins Erwachsen-Werden. Und dann?

In der Regel nabelt sich ein Kind von seinen Eltern ab und gründet irgendwann eine eigene Familie. Aus Eltern werden Großeltern. Eine neue Generation betritt die Bühne des Familienlebens. Großeltern, Eltern und Kinder leben in Synergie miteinander. – So der Plan. Doch leider geht es oftmals nicht nach diesem Plan, denn das Leben ist facettenreich und keinesfalls ein Wunschkonzert.

Was ist, wenn der Sohn oder die Tochter sich nicht nur abnabelt, sondern, aus welchem Grund auch immer, abwendet?

Wenn plötzlich alle Kontakte gekappt werden? Wenn das Kind aus der Reihe tanzt?

„Warum geschieht mir das? – Wieso mein Kind? – Was habe ich falsch gemacht?“ und weitere Fragen schwirren dann im Kopf der Verlassenen umher. Das Buch „Rabenkinder“ beschäftigt sich genau mit diesem Thema: Verlassen werden.

Es deckt auf, macht Zusammenhänge sichtbar und gibt Erklärungsansätze.

Es geht Fragen nach: Wie kommt es immer wieder dazu, dass Kinder sich plötzlich von ihren Eltern abwenden, sobald sie erwachsen sind? Was passiert da? Was ist da los?

Gerade noch war die Tochter oder der Sohn ein ganz umgängliches, nettes Kind. Selbst in der „Sturmphase“ der Pubertät war der Nachwuchs einigermaßen erreichbar für die Eltern.

Doch plötzlich ist alles anders: Kaum erwachsen geworden, werden alle Ver-Bindungen abgebrochen, jeder Kontakt wird unterbunden. Es herrscht Sendepause. Gespräche werden verweigert, erst recht eine Aussprache. Nicht selten spricht das eigene Kind sogar ein rigoroses Kontaktverbot aus.

Die Eltern sind von jetzt auf gleich getrennt vom Kind. Wie bei jeder Trennung bildet sich ein Vakuum. Eine Leere, die nicht auszuhalten ist. Vor allem die Mütter leiden extrem darunter.

Bei ihnen bleibt ein immenser Schmerz und große Fassungslosigkeit zurück. Sie wissen meist nicht, was geschehen ist. Sie sind verzweifelt.

Leider handelt es sich hierbei nicht um wenige Einzelfälle.

In meiner Praxis als Beziehungsberaterin begegnen mir diese Fälle häufig. Mütter oder nahestehende, überwiegend weibliche Betroffene melden sich bei mir, weil sie mit der emotional stark belastenden Situation überfordert sind und der Schmerz sie überwältigt.

Quer durch alle Gesellschaftsschichten ziehen sich diese Familiengeschichten, in denen ein Kontaktabbruch Thema ist. Auch betrifft dies keine spezielle Familienkonstellation. Einige Betroffene sind geschieden, andere sind zum Teil sehr lange verheiratet, die einen sind verwitwet, die anderen von jeher alleinerziehend.

Die familiäre und soziale Situation sowie der Beziehungsstatus der verlassenen Mütter sind so unterschiedlich wie das Leben selbst.

Alle Frauen haben aber eins gemeinsam: Ihnen wurde von ihrem Kind „das Herz gebrochen“.

Alle Frauen leiden. Die eine leidet still, die andere reagiert wütend. Alle haben das Gefühl, als hätte ihnen jemand das Herz herausgerissen oder sie wären hinterrücks erdolcht worden.

Einige betroffene Frauen haben sich bereiterklärt, über ihren Schmerz und ihre Schmach zu berichten. Allesamt sind sie liebevolle Mütter und Frauen, die alles für ihre Kinder getan haben.

Die Mütter suchen nach Antworten. Antworten auf die Fragen: „Warum? Warum ich? Was habe ich nur falsch gemacht?“

Häufig denken sie, sie seien schuld. Sie schämen sich und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

Es gilt als absolutes Tabu, dieses Thema. Schließlich, so glaubt jede der verlassenen Mütter, passieren diese Geschichten in anderen Familien - auf gar keinen Fall in der eigenen.

Das Geschehene wird geheim gehalten. Es wird vertuscht.

Wenn es geschieht erfährt die Außenwelt wenig oder nichts davon.

Wie ein Vergehen, eine Missetat wird es von den Verlassenen versteckt.

Vom eigenen Kind verstoßen zu werden, ist ein absolutes No-Go in unserer Gesellschaft. Gäbe es einen Familien-Knigge mit einer Rankingliste der No-Gos, würde dieses Verhalten des eigenen Kindes wohl auf Platz eins rangieren.

Die Frage, was in einer Beziehung zwischen Mutter und Kind geschieht, damit es zum Abbruch des Kontakts kommt, beschäftigte mich mit jedem weiteren Fall aufs Neue. Daher beschloss ich eines Tages dem Umstand nachzuspüren.

Als ich mit den Recherchen begann, meldeten sich sehr schnell viele Betroffene. Plötzlich fanden sich vermehrt Menschen, die mir von solchen Fällen, die sich im Freundeskreis, im weiteren Familienumfeld oder bei ihren Kollegen ereigneten, erzählten. Jeder schien jemanden zu kennen, der den Abbruch des Kontakts vom eigenen Kind erlebt oder ihn selbst vollzogen hat.

Insgesamt werden in diesem Buch fünf Fallstudien beschrieben, anhand derer Erklärungsansätze gegeben werden.

Es berichten Mütter, sowie ein Geschwisterkind, wie sie den schmerzlichen Abbruch erleben und wie das Verhältnis vorher war. Auch ein Sohn, der selbst den Kontakt zu seiner Mutter abbrach, berichtet aus seiner Perspektive und wie es soweit kommen konnte - also sozusagen aus seiner Sicht als Rabenkind.

Neben der Frage: „Wie konnte das geschehen?“, suchen die Betroffenen Antworten darauf, wie sie mit der Situation umgehen sollen und was sie tun können, um diesen schier unerträglichen Trennungsschmerz zu überwinden.

An dieser Stelle ein Wort zu den Vätern, die nicht übergangen werden sollen: Sie waren auf mein Nachfragen hin nicht bereit, sich zu äußern. Sie leiden auch, jedoch oft, selbst für ihre Partnerin, nicht erkennbar. Oft fühlen sie sich außerstande, sich zu diesem Thema zu äußern. Sie verdrängen eher. Sie trauern auf ihre Weise: still und für sich.

Anhand der Fallstudien werden in diesem Buch entsprechende Erklärungsansätze aufgezeigt, die darlegen, was in der jeweiligen familiären Vorgeschichte relevant gewesen sein könnte, sodass die Situation schließlich im Kontaktabbruch gipfelte. Daraus ergeben sich mögliche Antworten auf die über allem schwebende Frage nach dem „Warum?“. Es sollen dem Leser und Betroffenen, mit den Fallbeispielen Denkanregungen gegeben und mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der schwierigen Situation angeboten werden. Es soll auch, vielleicht Trost zusprechend, gezeigt werden: „Du bist nicht allein!“.

Effektive Lösungen können und sollen hier nicht gegeben werden, da jede Familiensituation individuell ist. Oftmals ist eine Situation wegen fehlender Stellungnahme des Kontaktabbrechers auch nicht lösbar. Das Kind, welches sich abwendet, benennt für seine Eltern nicht klar erkennbar, warum kein Kontakt mehr gewünscht wird. Insofern ist immer nur eine einseitige Sicht und Deutung möglich – was sehr frustrierend für die Betroffenen sein kann.

Daher ist es meist, über die angebotene Hilfestellung des Buches hinaus, ratsam, in der schwierigen Situation professionelle Hilfe in Form einer Beziehungsberatung oder in schwerwiegenden Fällen einer Psychotherapie in Erwägung zu ziehen.

An dieser Stelle möchte ich mich bei den in diesem Buch beschriebenen Betroffenen für ihre freundliche Mitarbeit bedanken. Ihre Bereitschaft, über ihre sehr persönliche Situation zu berichten, ist keinesfalls selbstverständlich. Für jede und jeden von ihnen war es eine große Herausforderung, sich öffentlich zu bekennen. Nach gründlichem Abwägen entschlossen sie sich jedoch mitzuwirken.

Ihr Beweggrund war immer derselbe: Anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Geschichte. Zeigen, dass es keine Schande ist, wenn es in der eigenen Familie passiert. Und vielleicht auch ein bisschen Hoffnung geben und Anregung, wie man mit der Situation umgehen könnte.

Selbstverständlich wurden alle Namen geändert.

Mir ist bewusst, dass sich ähnliche oder fast identische Geschichten auch in anderen Familien, als den hier beschrieben, zutragen. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich alleine schon aus der Häufigkeit der Vorkommnisse.

Falls sich die eine oder andere Parallele zu einer Geschichte ergeben sollte, ist diese rein zufällig und unbeabsichtigt.

Helga und Tobias

Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.

Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.

Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga resümiere ich, was sie mir berichtet hat. Im Rahmen meiner Arbeit zu diesem Buch sind mir so einige dramatische Familiengeschichten erzählt worden. Alle sind unterschiedlich, haben aber eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.

Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.

Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche“ öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.

Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.

„Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?“

„Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen.“

Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.

Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.

„Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?“

„Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.“

Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.

„Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?“

„Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?“

Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.

„Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?“

„Ach so, Frau Lutherer, das meinen Sie.“

Helga beruhigt sich. Ihre zuvor deutlich spürbare Anspannung lässt merklich nach. Es ist, als hätte es Entwarnung für sie gegeben.

„Also, mein Tobias war ein ganz entzückendes Kind. Schon bei seiner Geburt war er so hübsch. Die Schwestern auf der Entbindungsstation sagten immerzu: ´Das ist ein Kind zum Klauen´. Sie waren ganz hin und weg. Alle, die ihn sahen, waren sofort ganz vernarrt in ihn. Er hatte diesen ganz besonderen Charme. Ich kann Ihnen das gar nicht so richtig in Worte fassen. Am besten zeige ich Ihnen ein Foto.“

Helga greift in ihre Handtasche und nimmt ihr Portemonnaie heraus. Sie klappt es auf und zeigt mir stolz eine Fotogalerie, die sich in der Innenseite befindet.

„Schauen Sie mal, das hier ist Dörte, unsere Erstgeborene. Und der hier, das ist mein Tobias. Ist der nicht süß?“

Helga strahlt über ihr ganzes Gesicht, als sie mir Tobias zeigt. Auf dem Foto ist ihr Sohn ungefähr drei Jahre alt - ein netter kleiner Kerl mit blonden Haaren, rosigen Pausbacken und freundlichem Lachen.

„Ja, Ihr Tobias ist ein hübsches Kind“, bestätige ich Helga.

„Nicht wahr? Er sieht aus wie ein kleiner Engel.“

„Benahm sich Tobias denn als Kind auch wie ein kleiner Engel?“

„Das kann ich leider nicht behaupten. Ich will damit nicht sagen, dass er böse war oder so. Es war nicht einfach mit ihm. Nichts war vor ihm sicher: Er musste alles untersuchen, anfassen oder auseinandernehmen. Dabei war er auch so tollpatschig. Er musste nur etwas anfassen und schon war es zu spät. Wenn Tobias etwas kaputt gemacht hatte, und ich mit ihm schimpfte, dann hat er mich angeguckt und gelacht. Sein Lachen war so süß, da konnte ich ihm nichts übelnehmen. Niemand konnte ihm da böse sein. Er war ja auch noch so klein.“

„Als Tobias dann etwas größer wurde, sagen wir mal so acht Jahre alt, ging er da mit den Dingen umsichtiger um?“

„Nun ja, Umsicht und Tobias – das sind zwei Worte, die nicht wirklich zueinander passen. In vielen Dingen ist er so grob und unvorsichtig und leider immer noch sehr tollpatschig. Das ist bis heute so.“

„Mir fällt da gerade noch eine Anekdote ein“, fährt Helga fort. „Tobias war vier, nein fünf Jahre alt. Eines Nachmittags schlich er sich unbemerkt in unseren Keller und holte dort aus einer Werkzeugkiste einen Hammer und ein Stemmeisen heraus. Mit dem Werkzeug bewaffnet, ging er in sein Kinderzimmer und begann die Wand damit zu bearbeiten. Von dem Radau aufgeschreckt, schaute ich natürlich sofort nach, was los ist. Da entdeckte ich Tobias in seinem Zimmer. Er kniete neben der Zimmertüre vor einer Steckdose. Tobias war gerade im Begriff mit Meißel und Hammer die Steckdose aus der Wand herauszubrechen. Ich war Gott sei Dank rechtzeitig da und konnte ihn noch davon abhalten. Natürlich stellte ich ihn, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, sofort zur Rede. Er lächelte mich nur an und erklärte mir dann mit der größten Selbstverständlichkeit, dass er nur mal gucken wollte, wie eine Steckdose in der Wand aussieht und wo die Kabel sind.“

„Helga, Tobias hatte zu diesem Zeitpunkt ein Alter, in dem Kinder doch schon ganz gut empfänglich sind für Hinweise auf Gefahren. Ich nehme an, Sie haben mit ihm über alle möglichen Gefahren gesprochen.“

„Ja, natürlich. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als würde ich gegen eine Wand reden. Tobias nickte zwar immer zustimmend, als ob er verstanden hätte, was ich ihm gesagt habe. Doch es kam häufig vor, dass er kurze Zeit später wieder irgendeinen gefährlichen Blödsinn verzapfte. Es war geradezu so, als hätte er alles wieder vergessen, was ich ihm gesagt habe.“

„Sie meinen, Sie erreichten Tobias nicht mit Ihren Worten? Oder gab es keine Einsicht?“

„Auf eine Art glaube ich schon, dass er verstand, was ich von ihm wollte. Manchmal kam es mir vor, als ob er mir zuhörte, aber gleichzeitig irgendwie schon wieder mit einer anderen, neuen Sache beschäftigt war.“

„Gab es in Tobias´ Tagesverlauf auch mal Ruhephasen in denen er sich erholen konnte? Hielt er zum Beispiel Mittagsschlaf?“

„Nein. Tobias war den ganzen Tag aktiv. Nachdem ich ihn vom Kindergarten abholte, aß er sein Mittagessen und war im Anschluss sofort wieder beschäftigt. Mittags schlafen wollte er nie. Seine Lieblingsbeschäftigung am Nachmittag war es, den großen Sandkasten vom Spielplatz umzugraben. Daran hatte er die größte Freude. Das machte er stundenlang. Glücklicherweise befand sich der Spielplatz direkt vor unserer Wohnung. So konnte ich vom Küchenfenster aus immer mal nach Tobias schauen.“

„Dann konnten Sie Tobias mit gutem Gewissen draußen spielen lassen. Spielte Tobias mit anderen Kindern?“

„Ja, gewiss. Er liebt es im Mittelpunkt zu stehen oder einfach nur mittendrin zu sein.“

„Helga, Sie sagen, dass Tobias immer in Aktion war. Wie kam er in der Schule zurecht? Dort musste er ja plötzlich stillsitzen.“

„Die Schule ist so ein Kapitel für sich. Natürlich hatte Tobias Schwierigkeiten still zu sitzen und dem Unterricht zu folgen. Jede Woche wurde ich von seiner Lehrerin zum Gespräch gebeten. Es gelang ihr nicht, Tobias zur Ruhe zu bringen. Sie hatte schon einiges ausprobiert, aber nichts half. Frau K. stellte Regeln in der Klasse auf für das Verhalten der Kinder im Unterricht. Alle hielten sich an diese Regeln. Nur mein Tobias nicht. Er war nicht zu bändigen. Ständig stand er mitten im Unterricht auf und rannte herum. Er störte seine Mitschüler beim Lernen, indem er sie ärgerte. Fast täglich bekam Tobias Strafarbeiten auf oder musste nachsitzen.“

„Wie schlug sich das in den Schulnoten nieder?“, möchte ich von Helga erfahren.

„Fragen Sie besser nicht. Die Noten waren eine Katastrophe. Rechnen, Sachkunde und Sport waren noch ganz in Ordnung. Schreiben und Lesen hingegen waren eine Qual für Tobias. Es wollte ihm nicht gelingen. Wir alle waren verzweifelt. Nach einiger Zeit schlug seine Lehrerin vor, Tobias auf Legasthenie testen zu lassen. Der Test fiel, wie zu erwarten war, positiv aus. Tobias wurde als hochgradiger Legastheniker erkannt. Von da an bekam er eine spezielle Förderung. So konnte Tobias zumindest die Schulzeit mit einem ganz passablen Hauptschulabschluss beenden.“

„Ich kann mir vorstellen, Helga, dass es eine sehr anstrengende Zeit für Sie gewesen sein muss.“

„Das stimmt. Nonstop war ich mit Tobias beschäftigt. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Dörte gegenüber. Meine Große musste immer zurückstecken. Tobias hat all meine Kraft und meine ständige Aufmerksamkeit gebraucht. Ich habe alles gegeben. Und jetzt das! Wieso bestraft mich Tobias so sehr? Ich verstehe es nicht. Ich bin verzweifelt. Zwischendurch habe ich sogar darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden, weil ich diesen Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Doch dann dachte ich an Dörte, mein Enkelkind und an Dieter. So etwas könnte ich ihnen nicht antun. Ich liebe sie zu sehr. Ich möchte nicht, dass sie wie ich diese Höllenqualen erleiden müssen.“

„Tobias hat sozusagen Ihre volle Aufmerksamkeit gefordert?“

„So ist es. Ich bin froh, dass unsere Dörte ein so ruhiges Kind war. Sie war sehr genügsam. Wenn die Kleine ein Buch in den Fingern hatte, war sie glücklich. Dörte hatte selten das Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Sie wollte auch keine Kontakte zu anderen Kindern haben. In der Schule kam sie ganz gut zurecht, verbrachte die Pausenzeit aber immer alleine. Während andere Kinder auf dem Pausenhof herumtobten und spielten, saß sie auf einem Mäuerchen mit einem Buch in der Hand und las. Sie war froh, wenn ihre Mitschüler sie in Ruhe ließen. Wenn ich so zurückblicke, brauchte Dörte überhaupt viel Ruhe. Auch brauchte sie für alles sehr viel Zeit. Bis heute macht sie alles mit Bedacht.“

„Helga, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken als Ihre Kinder klein waren, würden Sie sagen, dass Dörte und Tobias auch in ihrer Entwicklung unterschiedlich waren?“

„Auf jeden Fall! Unsere Dörte ist, wie ich bereits erwähnte, ruhig und in allem eher langsam. Als Kind brauchte sie viel Schlaf. Bis zum Ende der Grundschulzeit hielt sie noch regelmäßig Mittagsschlaf. Sie begann auch, erst weit nach ihrem zweiten Geburtstag zu laufen. Trocken werden dauerte bei ihr auch sehr lange. Mit neun Jahren kam es immer noch vor, dass Dörte vor allem nachts einnässte. Tobias hingegen ist ganz anders. Er wollte nie schlafen. Er brauchte immer Action. Mit dreizehn Monaten konnte Tobias schon laufen. Wenn ich es so recht bedenke, hat Tobias seine große Schwester dazu animiert, auch mit dem Laufen zu beginnen.

Tobias kletterte auf alles hinauf. Ich erinnere mich, wie er eine Gelegenheit nutzte, um auf das Dach unseres dreistöckigen Wohnhauses zu steigen. Handwerker verrichteten einige Reparaturarbeiten an der Dachrinne. Sie hatten eine lange Leiter aufgestellt, die bis zum Dach hinauf reichte. Während einer Arbeitspause der Männer, kletterte Tobias von allen unbemerkt die Leiter hinauf und von da aus über das Dach des Hauses bis hin zum Schornstein. Dort angelangt, balancierte er über den Dachfirst hin und her. Weil keiner von Tobias´ Kletteraktion etwas mitbekommen hatte, er aber Aufmerksamkeit wollte, rief er von oben herunter: ´Fangt mich doch, wenn ihr mich kriegt´. Da erst bemerkten die Männer ihn. Sie riefen mich nach draußen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich wusste, ich durfte jetzt nicht in Panik geraten. Ich sprach so ruhig, wie es mir in diesem Moment nur möglich war mit ihm, während einer der Handwerker aufs Dach stieg, um ihn sicher herunterzuholen. Das war gar nicht so einfach, denn Tobias spielte tatsächlich Fangen mit seinem Retter. Nur unsere größte Überredungskunst konnte ihn dazu bringen, mit seinem Retter wieder zu uns herunterzukommen. Zum Glück blieben alle unversehrt bei dieser Aktion.“

„Wie alt war Tobias zu dem Zeitpunkt, Helga?“

„Er war noch nicht in der Schule. Also muss er ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.“

„Hat Dörte von der Kletterpartie ihres kleinen Bruders etwas mitbekommen?“

„Nein, Dörte schlief. Sie hielt ihren Mittagsschlaf, wie immer um diese Zeit.“

„Hielt Tobias Sie häufiger derart auf Trab, Helga?“

„Ja, leider. Immer wieder vollführte Tobias solch gefährliche Aktionen. Meistens gingen sie glimpflich aus. Wie durch ein Wunder passierte ihm selten was.“

„Tobias muss einen guten Schutzengel haben, der auf ihn aufpasst.“

„Das glaube ich auch. Tobias ist schon so oft von irgendwo heruntergefallen. Es ist ihm, Gott sei Dank, nie so richtig Schlimmes passiert. Er hatte mal ein Bein gebrochen und einmal seinen linken Arm. Das waren seine heftigsten Verletzungen. Meistens kam er mit einer Beule oder einer kleinen Platzwunde davon.“

„Ließen Tobias´ Eskapaden mit heranwachsendem Alter nach, Helga?“

„Ach was. Es änderte sich gar nichts. Lediglich die Möglichkeiten um Blödsinn zu machen, wurden anders.“

„Welche Gelegenheiten boten sich Tobias denn später? Wurde er mit der Zeit nicht langsam umsichtiger in seinem Handeln?“

„Ich wünschte, dass es so gewesen wäre. Wissen Sie, es wurde immer anstrengender für mich, Tobias´ Eskapaden auch gesellschaftlich zu rechtfertigen. Da war ich sehr froh, als der Sohn einer Freundin Tobias fragte, ob er nicht auch der Landjugend beitreten wolle. Tobias war sofort begeistert von der Idee. Ich selber war von dem Gedanken auch ganz angetan. Die örtliche Landjugend genießt bei uns einen guten Ruf, müssen Sie wissen. Ich dachte, Tobias findet dort nette Freunde, die vernünftigen Aktivitäten nachgehen. Deshalb habe ich guten Glaubens zugestimmt, als Tobias dort beitrat. Alle Mütter, mit denen ich zuvor gesprochen hatte, waren derselben Auffassung wie ich. Wir alle dachten ganz unbedarft, dass unsere Kinder dort gut aufgehoben seien und sich wirklich sinnvollen Dingen widmeten. Wie naiv und gutgläubig wir alle waren, herrje!“

Helga ist zerknirscht. Sie schüttelt ihren Kopf, um ihrem Unverständnis Ausdruck zu verleihen.

„Helga, für mich hört sich das so an, als wäre das genaue Gegenteil der Fall gewesen.“

„So verhielt es sich auch. Es war nämlich so: Die Mitglieder der Landjugend sind zwischen dreizehn und etwa zwanzig Jahre alt. Was wir Mütter nicht wussten: Die Älteren von ihnen brachten regelmäßig Alkohol und Zigaretten mit zu den Vereinstreffen. Weil sie eine eingeschworene Gemeinschaft waren, hielten alle dicht - und natürlich machten auch die Jüngeren mit.“

„Sie wollen sagen, dass Tobias schon mit dreizehn Jahren Alkohol und Zigaretten konsumierte? Wie war das für Sie, Helga, als Sie davon erfuhren?“

„Ich war absolut fertig mit den Nerven. Wer weiß, was da sonst noch alles geraucht wurde. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.“

„Nun ja, manchmal kann es auch Teil einer Mutprobe oder eines Aufnahmerituals sein, eine Zigarette zu rauchen. Haben Sie daran schon mal gedacht?“, gebe ich zu bedenken.

„Ja, ich weiß. Das sagte Dieter auch, als ich ihm davon erzählte. Aber es war ja nicht nur einmal. Es kam mit der Zeit immer häufiger vor, dass Tobias nachts betrunken und nach Zigarettenqualm stinkend nach Hause kam.“

„Haben Sie mit Tobias über Ihre Sorge gesprochen?“

„Selbstverständlich!“

„Wie hat er reagiert?“

„Er hat mich ausgelacht. Er hat mir vorgeworfen, ich sei überängstlich und hinterwäldlerisch. Außerdem sei ich diejenige gewesen, die seinen Beitritt zur Landjugend so sehr befürwortet habe. Jetzt solle ich halt sehen, wie ich damit zurechtkäme. Dann ging er einfach weg und ließ mich stehen.“

„Wie alt war Tobias da?“

„Sechzehn.“

„Ging er zu diesem Zeitpunkt noch zur Schule?“

„Nein. Er hatte eine Lehre als Landschaftsgärtner begonnen. Tobias fühlte sich richtig erwachsen. Er ließ sich von mir nichts mehr sagen. Er kam, wann er wollte, er ging, wann er wollte und nicht selten brachte er nach zehn Uhr abends noch seine Kumpels mit nach Hause. Die blieben dann oft bis weit nach Mitternacht bei uns und machten Krach. Irgendwann tauchte auch die erste Freundin bei uns auf und blieb gleich über Nacht.“

„Versuchten Sie denn nicht dem turbulenten Treiben Einhalt zu gebieten?“

„Ja, natürlich. Doch es gelang nicht. Tobias hatte keinerlei Einsicht oder Unrechtsbewusstsein. Schließlich sagte ich mir, dass es vielleicht auch besser sei, wenn Tobias sich bei uns austobt. Wer weiß, wie er draußen unangenehm auffallen würde.“

„Wie lange lebten Sie so?“

„Eine gefühlte Ewigkeit. Ich hatte es irgendwann geschafft, mich mit dieser Situation zu arrangieren. Ich sah viele Freunde von Tobias kommen und gehen. Genauso verhielt es sich auch mit seinen Freundinnen. Er hat nie eine länger als drei Monate gehabt. Dann kam schon die nächste. Es war wirklich ein Kommen und Gehen. Ich hatte nur dann Ruhe in unseren eigenen vier Wänden, wenn Tobias mit den Kumpels von der Landjugend oder mit seinen Arbeitskollegen unterwegs war.“

„Hatten Sie und Dieter vielleicht auch einmal über die Möglichkeit nachgedacht, dass Tobias in eine eigene Wohnung ziehen könnte?“