Rachulle - Hinrich Lühmann - E-Book

Rachulle E-Book

Hinrich Lühmann

0,0

Beschreibung

Wie wird man ein deutscher Held? Fritz Eckhoff versucht sich daran. In einer Zeit, als man das von Jungen erwartete, in einer zerrissenen Epoche voller Widersprüche von Kaiserreich über Republik zur Diktatur. Fritz kämpft, glaubt, entwickelt sich, wird fallengelassen, verschwindet. Wir fiebern mit Fritz, lachen mit ihm, erkennen seine unheilvolle Welt: Die Berliner Familie Eckhoff gehört zum deutschen Bildungsbürgertum, das einen engen Kulturkanon pflegt. "Moderne Musik", Bertolt Brecht, Thomas Mann werden abgelehnt. Eckhoffs fremdeln mit der Republik, schwärmen von deutscher Größe und von der Weltbedeutung des deutschen Geistes, der sich für sie in der Weimarer Klassik offenbart hat. Und doch entgleitet ihnen das Leben. Bildungsbürgerlicher Kosmos und Nationalsozialismus Meisterhaft erzählt Hinrich Lühmann von den Träumen, Brüchen und Verletzungen einer "guten deutschen Familie", er fächert eine sensible Geschichte auf, die den Abgrund nachempfinden lässt, auf den alle "Helden" dieses Romans hinsteuern. Lühmann, langjähriger Berliner Schuldirektor und Psychoanalytiker, gelingt es dabei, die Feinheiten eines Familiensystems in Zeit und Raum mit beeindruckender Sprachgewalt herauszuarbeiten. Eine deutsche Familiensaga. Ein Roman über die Lebenswirklichkeit von Ideologien und die Zerstörungskraft absolut gesetzter Ideale. Memoir, Collage, Roman Hinrich Lühmann gelingt eine vielschichtige Erzählung, in der er die Sprache seiner Protagonisten aus den realen Quellen herleitet und so eine verblüffende Authentizität herstellt. Quelle und Erfindung, Briefe und Roman verschmelzen. Hinrich Lühmanns Ich-Erzähler erklärt: "Ich bin der Enkel, ich heiße Hans-Christian Eckhoff, ich weiß von nix. Die Großeltern haben geschwiegen. Mutter machte den Mund nicht auf. Jetzt sind sie tot, ich bin übrig. Ich habe gesucht, gefunden, habe erfunden. Ich erzähle, was sie mir hätten erzählen müssen." Wieviel Verständnis kann man für einen jungen Menschen und Nazi haben? Die meisten Handlungsorte des Romans befinden sich in Berlin-Frohnau und auf der Schulinsel Scharfenberg, einer reformpädagogischen Schulgründung von 1920, auf der auch Lühmanns "Held" prägende Zeiten verbringt, eh er sich von Familie und Freunden trennt und auf einem Gut in Schlesien eine Lehre antritt, besoffen von der NS-Ideologie, getrieben davon, als "Mann" Hitlers "Reich" seine Dienste zu erweisen, gleichzeitig angezogen vom Glauben und den Ideen der Bekennenden Kirche – letztlich ein Konflikt, der unauflösbar dasteht, Lühmanns Geschichte aber umso komplexer werden lässt. Fritz ist ein Verführter, ein Suchender, ein Glaubender, kein Gottloser, ein "kleiner" Täter, in dem man so vieles von den schlechten deutschen Eigenschaften sieht, und der uns vorschnell moralisieren lässt: So verschlingen nationalistische Ideologien ihre Kinder. Aber Lühmanns Roman ist eben zu widersprüchlich. Gekonnt verwebt er klassische Bildungsideale, reformpädagogische Visionen, nationalistische Umtriebe, männerbündische Selbstspiegelungen und Irrungen, Kirche und Berlin als Bühnenbild so dicht, dass einfache Lehren eben nicht gezogen werden können und der Autor sogar das Kunststück vollbringt, seine Leserinnen und Leser Sympathie für einen Jungen, der Nazi wird, verspüren, sie selbst zu Verführten und schließlich Beschämten werden zu lassen. Nach einem solchen Wechselbad der Gefühle könnte man am Ende dieses bei aller Komplexität sprachlich so leichten Romans nicht nachdenklicher sein. Ein Buch, das ins Herz geht und den Kopf beschäftigt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 601

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-317-4 (Print)

eISBN: 978-3-86408-325-9

Korrektorat: Ralf Diesel

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2024

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten.

Hinrich Lühmann

Rachulle

Roman

Inhalt

1910: Auguste und ihr Bauer

1911–1914: Ehebehagen, Schülerzweifel

1914–1918: Weltkrieg

1919–1924: Karriere

1923: Friederike verliert alles

1924: Eckhoffs Inauguration

1924–1933: Eckhoff als Schulleiter

1927: Sängerkrieg im Hause Eckhoff

Inge gehört in die Heide

Auguste und ihre Söhne

1929: Deutschstunde

1930: Auf oder mit

1931: Saalschlacht in Friedrichshain

1931: Fritz muss ins Exil

1931: Scharfenberg wird besucht

1931: Erstes Trimester auf Scharfenberg

1931: Zweites Trimester auf Scharfenberg

1931: Drittes Trimester auf Scharfenberg

1932–1933: Restitutio in integrum

1933: „Rachulle“

1933: Eckhoff wird abgesetzt

1933–1934: Eleve in Eckersdorf – Abbruch

1933: Heinrich – Hajo – Ömchen

1934: Eleve in Klein-Kothau

1934: Bekennende Kirche

1934: Heinrich wird denunziert

1934: Vanitas und Carpe diem

1935: Fahnenweihe am Humboldtgrab

1935–1938: Freiwilliger Wehrdienst

1935–1938: Hajo und die Biebersteins

1938–1939: Zehn gute Monate

1939–1940: Die Daheimgebliebenen

1939–1940: Magda und Friedrich im Krieg

1940: Narvik – Friedrichs Kriegstagebuch

1940–1943: Freunde, Familie, Falle

1943: Ein Erpressungsversuch

1944–1945: Bombenkrieg – Fritz vermisst

1945–1965: Rachulles Schatten

Nachwort

1910: Auguste und ihr Bauer

Ich bin der Enkel, ich heiße Hans-Christian Eckhoff, ich weiß von nix. Die Großeltern haben geschwiegen. Mutter machte den Mund nicht auf. Jetzt sind sie tot, ich bin übrig. Ich habe gesucht, gefunden, habe erfunden. Ich erzähle, was sie mir hätten erzählen müssen. Beginnen wir mit der Großmutter, mit Auguste Eckhoff. 1910 hieß sie noch Auguste Schnoor und war, worauf sie entschieden Wert legte, Jungfrau.

Die Schnoors lebten komfortabel in Potsdam, große Wohnung, Beletage, nicht weit vom Schloss. Die kleine Auguste sah mit aufgerissenen Augen den Vorbeiritt des Kaisers und seiner Paladine. Stählerner Gegenblick. Unvergesslich. Baucherschütternd, ohrenkitzelnd: Krachbumm-Tüdelüt. In schneeigen Wellen schäumen Federbüsche. Bonbonbeklebte Operettenuniformen, Schnüre gülden und grün, silberne Epauletten. Pferdekacke. Hurragebrüll, hoch in die Luft die Bürgerhüte!

Ja, die Schnoors waren vermögend. Sie besaßen Mietshäuser und Wertpapiere. Die wurden von Friederike verwaltet. Vater Albert kümmerte sich nicht darum. Man sah ihn nur zum Abendbrot. Anscheinend war er hinreichend mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigt – „Ich habe das ganze Empire in meinen Alben!“

Dass er auch über eine schöne Sammlung von Fotografien sizilianischer Knaben verfügte, sollte sich erst 1943 nach seinem Ableben herausstellen. Auguste hatte alle Hände voll zu tun, sie unbemerkt beiseitezuschaffen und zu verbrennen. Dabei ging auch die Briefmarkensammlung in Flammen auf. Dass sie wertvoll sein könne, zog die sonst so Praktische leider nicht in Betracht.

An ihrem 18. Geburtstag, das war am 11. November 1910, wurde Auguste in das Schnoor’sche Schandgeheimnis eingeweiht. An einer kleinen Kaffee-Einladung zu ihren Ehren nahmen zwei Freundinnen mit ihren Müttern teil. Vater Albert durchirrte kurz den Raum – „lasst mich, ich störe hier nur!“ – und verschwand wieder. Ihr Bruder Konrad, zwei Jahre älter, Medizinstudent, war nicht dabei. „Habe Verpflichtungen!“ Wahrscheinlich war er bei seiner Burschenschaft. Stramm im Wichs. Schmisse. Kaiserlich-national.

Man saß im Salon am runden Tisch, der mit besticktem Damast und Meissener Porzellan gedeckt war, in der Mitte prangte ein Kuchen, den die Perle des Hauses bereitet und an den Mutter Friederike letztgestaltende Hand angelegt hatte. Dem kunstvollen Aufbau hatte sie eine Zuckergusslilienblüte aufgesetzt, schneeweiß, umrandet von grünen Ranken.

Als die Gäste gegangen waren, setzte sie sich mit Auguste in einen Erker des Salons. Was sie zu sagen hatte, war heikel und verstörend. Sie drückte das Kreuz durch und sagte: „Auguste! Queen Victoria ist deine Tante.“

Englands Königin war seit zehn Jahren tot. Auguste erinnerte sich sehr gut, wie erschüttert alle waren. „Die Queen ist tot! In des Kaisers Armen gestorben!“ – den Aufschrei ihrer Mutter vergaß sie nicht. Die Trauer im Haus. Die leisen Schritte. Die zuckenden Schultern. Das an den Mund gepresste Taschentuch. Der Vater versteinert am Fenster.

Friederike informierte ihre Tochter, dass Albert Schnoor, Augustes Vater, die Frucht eines Seitensprunges sei. „Queen Victorias Gatte, Prinzgemahl Albert, der Frühverstorbene, er hatte einen Bruder: Ernst, Herzog von Coburg-Gotha. Der hat sich, zu Besuch in Potsdam, hier nebenan, sagen wir: vergessen, und zwar mit einer leider sehr einfachen Bediensteten des Hofes. Nun ja, einem Zimmermädchen aus dem Brandenburgischen. Ein Malheur, dessen Ergebnis dein lieber Vater ist. Er ist fürstlichen Geblüts, wenn auch nur zur Hälfte. Herzog Ernst, der Bruder des britischen Prinzgemahls Albert, ist dein Großvater. Du bist eine Coburg-Gotha, unseres Kaisers Cousine.“

Zu einem Viertel, präzisierte Auguste, zu einem anderen Viertel Brandenburger Landei, behielt diese Berechnung aber für sich. Friederike fuhr fort: Die gastgebende Hohenzollernfamilie habe das für diese Fälle übliche Verfahren angewandt, und einen mittleren Hofbeamten, Tobias Schnoor mit Namen, dem in seinem langen Leben aus eigener Kraft keine Eheverbindung und auch kein Kind geglückt waren, dafür gewonnen, das verführte Mädchen zu ehelichen, das leider bald nach der Geburt ihres Sohnes Albert verstarb. „Coburg-Gotha trug Sorge, dass der Vaterstellvertreter und nach seinem Hinschied sein Ziehsohn, dein Vater, sehr großzügig alimentiert wurden. Albert heißt er nach dem Prinzgemahl der Queen, Schnoor nach dem beamteten Ersatzpapa.“

Auguste, die die planende Resolutheit ihrer Mutter längst übernommen hatte, nahm diese Eröffnung gefasst auf. Ihre Hoffnung, in die Ebene des Potsdamer Rates hineinzuheiraten, ganz nach oben – der Sohn des Bürgermeisters suchte ihre Nähe –, hatte sich erledigt. Ihr Familienschaden bedeutete eine nicht durch Geld zu heilende Ehrengrenze und machte sie in den höchsten Kreisen als Partie unmöglich. Auguste weinte nicht. Sie sagte leise vor sich hin: „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann.“ Und nach einer Pause: „Also dann der Bauer?“

„Dann wohl der Bauer!“, antwortete ihre Mutter, „Bettelmann ist er hoffentlich nicht.“

Bälle waren der Potsdamer Heiratsmarkt. Sie wurden reihum in den Salons der führenden Familien veranstaltet. Auguste war in Begleitung ihrer Mutter eine der vielen jungen Damen, die dort auf geeignete Ehekandidaten warteten. Unter dem Gesichtspunkt der Einheirat in das Potsdamer Patriziat war sie am Sohn des Bürgermeisters interessiert, der sich sehr um sie bemühte. Das Schnoor’sche Vermögen war ein starkes Motiv seiner Zuneigung. Ein sehr stämmiger, blonder Offizier. Körperlich passten die beiden nicht zueinander, sie war zu hüfthoch. Mit ihrem Vogelköpfchen blickte sie auf ihn nieder, er glupschte zu ihr auf. Weniger interessiert, obwohl sie seine kräftige Körperlichkeit mochte, war sie am Oberlehrer Dr. Johannes Eckhoff, dem es gelungen war, zu einem dieser Bälle eingeladen zu werden. So recht passte er dort nicht hin, wer für seine Einladung gesorgt hatte, blieb im Verborgenen. Vielleicht war es Augustes Mutter Friederike gewesen, die sich in realistischer Einschätzung der Chancen ihrer Tochter frühzeitig nach geeigneten Kandidaten umsah und dabei der Tatsache Rechnung trug, dass dieser noch unbeweibte Lehrer am Potsdamer Oberlyzeum immerhin ein Doktor und Staatsbeamter und bereits Oberlehrer war. Auguste schwärmte von seiner würdigen Erscheinung und seiner klugen Suada, als er vertretungsweise für einige Stunden die Unterprima des Lyzeums übernommen hatte. Unter den taxierenden Blicken ihrer Mutter hatte er Auguste zu einigen Tänzen aufgefordert und mit ihr unfallfrei die Tanzfläche umrundet. Ein Tänzer war er nicht, seinen Schritten war das schnell Einstudierte anzumerken: stampfendes Schreiten. Er wirkte gleichwohl durch seine Körpergröße sowie durch einen hervorstehenden tiefschwarzen Kastenbart, hinter dem sich ein kleingekrümmtes Mündchen verbarg, und die Fähigkeit zu weitausgreifender, überwiegend belehrender und fromm grundierter Konversation.

Ein Lehrer, und sei er auch bereits Oberlehrer, war nicht Augustes Wunschkandidat, auch wenn sie für seinen Unterricht schwärmen mochte und ihn sehr ansehnlich fand. Zudem stammte er, wie Friederike erkundet hatte, aus einer Bauernfamilie. Der also kam für Auguste nicht infrage. Eigentlich. Nun aber doch. Er würde wollen. Ein Lehrer, dazu noch Bauernsohn, musste dankbar sein, in eine so wohlsituierte Familie, wie es die Schnoors nun einmal waren, einheiraten zu dürfen. Die Problematik ihrer Herkunft wäre da wohl zu vernachlässigen. Und so kam es denn auch.

Der Oberlehrer Dr. Johannes Eckhoff wurde zu einem Besuch ermuntert. Nachdem er der Mutter einen etwas zu üppigen Blumenstrauß in die Hand gedrückt hatte – sie lobte das Gebinde und reichte es rückwärts an das Dienstmädchen weiter –, und nachdem er eine halbstündige Kaffeetischkonversation mit ihr und Auguste hinter sich gebracht hatte, wurde Auguste in ihr Zimmer geschickt, und er wurde von Friederike nach der Ernsthaftigkeit seiner Absichten befragt. Sie nahm seinen Antrag mit Kopfnicken entgegen, sie hatte nichts anderes erwartet.

Dann sagte sie: „Bevor Sie sich mit Ihrem Anliegen an meinen Gatten wenden, der natürlich darüber zu entscheiden hat, muss ich Sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit noch über einen besonderen Umstand in Kenntnis setzen.“ In wenigen Worten informierte sie ihn über den Familienmakel. Er sagte, dass er für das Vertrauen danke, aber in dem mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Fehltritt des fürstlichen Großvaters kein Ehehindernis sehe. Was daran sündhaft sei, möge der seit Langem verblichene Fürst Ernst mit seinem Herrgott ausmachen, Albert Schnoor, dem Sohn des Fürsten, und seiner Tochter, dem verehrten Fräulein Auguste, sei das nicht anzulasten. Gewiss, es gebe die Erbsünde, die sei aber anders gemeint und beziehe sich keinesfalls auf solche Fälle. Er erweiterte das Thema noch durch Hinweise auf das Spektrum der Todsünden und fügte abrundend hinzu: „Johannes 8, Vers 7: Der werfe den ersten Stein!“ Diese milde und gelehrte, wenn auch umfangreiche Antwort war erwartet worden. Augustes Vater, der fürstliche Bankert, wurde von Friederike zügig in Kenntnis gesetzt. Johannes suchte ihn am nächsten Vormittag auf und hielt um Augustes Hand an, die ihm ohne Umschweife gewährt wurde.

Der Alte empfing ihn in seinem „Kabuff“ – so nannte er das keineswegs kleine Gemach. In der Mitte aneinandergeschoben Tische, auf denen aufgeschlagene Alben und Atlanten lagen. Ein sehr großer Globus. Auf einem Beistelltisch die Reste seines Frühstücks. An den Wänden goldgerahmte, für das Zimmer viel zu große Fürstenportraits, in einer Vitrine dräute ein Segelschiff der Royal Navy. „Nein, keine Erbstücke, leider, Zufallskäufe!“, sagte er, als er Eckhoffs erstaunten Blick bemerkte. „Und was meine hochgewachsene Auguste angeht – nur zu! Meinen Segen haben Sie für diese Alliance, ist ja keine miese Alliance, hoffe ich. Blödes Wortspiel, bitte um Nachsicht. Ihr Vater ist Bauer, sagt die allwaltende Friederike. Immerhin, da haben Sie doch was, ein Woher, einen Anfang, Ahnen, Urahnen, ein Stück Land. Ich habe nur Geld. Daran soll’s nicht fehlen. Viel Glück auf dem gemeinsamen Weg. Auguste kommt übrigens sehr nach Friederike. Na, Sie werden schon sehen.“ Er lachte knurrend und wandte sich seinen Alben zu.

Alsbald wurde die Verlobung bekannt gemacht. Das war keine brillante Partie, aber sie war im Potsdamer Milieu vertretbar. Immerhin war Johannes Eckhoff ein Beamter, mithin doch etwas Bürgerliches, vor allem: einziger Erbe eines, wie er schriftlich nachwies, sehr stattlichen Bauernhofes, den man fast einen Gutshof nennen konnte. „Keine Klitsche, Gott sei Dank!“, kommentierte Friederike das Dokument.

Ein Abitur wurde für unnötig erachtet. Auguste musste ihr Lyzeum verlassen. Sie fügte sich, haderte aber lebenslang mit dieser Entscheidung und zitierte noch als alte Frau den Direktor ihres Lyzeums, Professor Springpfuhl, der dem Kollegen Eckhoff scherzhaft vorgeworfen hatte: „Sie haben mir mein bestes Pferd aus dem Stall genommen!“ Stattdessen besuchte sie für ein halbes Jahr Johanna Justs Königliche Handels- und Gewerbeschule für Mädchen, eine Potsdamer Haushaltungsschule, um nun dort und im elterlichen Haushalt, von ihrer Mutter angeleitet, die Kunst der Aufsicht über Köchin und Stubenmädchen, das gewissenhafte und sparsame Wirtschaften sowie die Verwaltung der Familienfinanzen zu erlernen. Was diese betraf, war Friederike zuständig, Schnoor interessierte sich nicht dafür. „Wenn es irgend geht, Kind, mach es mit deinem Eckhoff ebenso. Er ist ein Mann der Wissenschaft, halte den Alltag und halte Rechnungen von ihm fern. Er wird es dir letztlich danken!“ Und sie zitierte Isa von der Lütts Die elegante Hausfrau: „Sei du die Herrin und Walterin des Hauses!“

Bis zur Hochzeit verging ein Jahr. Es mussten ohnehin mindestens neun Monate eingehalten werden, um zu zeigen, dass die Braut sich noch als Jungfrau ihrem künftigen Eheherren angelobt hatte. Zudem war es schwer, einen früheren Termin zu finden – die bäuerlichen Eckhoff-Eltern waren, schrieben sie, der Landwirtschaft wegen im Sommer und Herbst unabkömmlich; auch war es selbstverständlich, dass der Zevener Fleckenvorsteher und Kirchenvorsteher, Inhaber zahlreicher Ämter sowie Vorsitzender mehrerer Genossenschaften, dass Heinrich Eckhoff und seine Frau am Heiligen Abend in der Dorfkirche vorne in der ersten Bank saßen. So verständigte man sich auf den ersten möglichen Tag nach den Weihnachtstagen, das war ein Montag. Friederike und Auguste hatten zunächst erwogen, mit der Hochzeitsfeier keinen großen Aufwand zu treiben, zumal es nach der offiziellen Verlobung hinter vorgehaltener Hand spitze Kommentare im Hinblick auf den sehr besonderen Kandidaten gegeben hatte. Dann aber entschieden sie sich, in die Offensive zu gehen. Mutter Friederike Schnoor hob in ihren Damenzirkeln hervor, dass Dr. Eckhoffs Vater immerhin ein Ortsvorsteher und damit gewissermaßen eine Art Bürgermeister, zudem recht vermögend sei, und dass es ohnehin an der Zeit sei, die im Bauernstande schlummernden Kräfte mit jenen des Bürgertums zu verbinden. So weckte sie Neugier in den besseren Kreisen der Stadt, die bereit waren, die Schnoor’sche Eheschließung als einen romantischen, wenn auch merkwürdigen, jedoch politisch vorausschauenden Akt zu verstehen. Mit nur leicht gekräuselter Lippe nannte man ihn kühn. Und so kam es, dass doch die wesentlichen Potsdamer Familien erschienen, wenn auch der Bürgermeister bedauern musste. Es herrschte ungemütliches Wetter, regnerisch, wenige Grade über Null, die Straßen und der Fußweg vor der Kirche waren von Schneematsch bedeckt. Trotz Schirm und Cape wurde Augustes Schleppe nass, und der Gelehrtenzwicker des Bräutigams beschlug, sodass er beim Einmarsch in die Kirche fehlzugehen drohte – aber Augustes Hand führte ihn in die richtige Richtung.

Im Nachlass meiner Großmutter Auguste gibt es ihre Schilderung der Hochzeitsfeier. Die Ausrufezeichen, zu denen sie auch im mündlichen Verkehr neigte, stammen von ihr:

„Am 29.12.1911 schritten in der Friedenskirche in Potsdam zum Trau-Altar: Die Jungfrau (!!) Auguste Schnoor und der Junggeselle Oberlehrer Dr. phil. Johannes Eckhoff. In diesem Augenblick also verflochten sich die Sippen Schnoor und Eckhoff, verbanden sich Potsdam und Coburg-Gotha mit dem Bauernland Norddeutschlands, anders gesagt: Durch Generationen gewandertes Bürgerblut (mit illegal eingeflossenem ‚blauen Blut‘) verband sich mit Nachkommenschaft bäuerlichen Blutes. Nun war es also so weit. Die Braut in weißer Seidenrobe jungferlicher Unberührtheit, umwallt von Kopf bis Zeh von Schleiergespinst, den unversehrten Myrthen-Kranz, das Zeichen kostbarer Keuschheit, auf dem wohlfrisierten Haupt und mit einer drei Meter langen Schleppe wahrlich einer Märchenprinzessin gleich, der Junggeselle im tadellosen Frack: So traten sie nun zum Altar, ihr Treuwort abzugeben. Gewaltig erklang der Gemeindegesang: ‚So nimm denn meine Hände und führe mich!‘

Der Pfarrer, ein echter Hof-Prediger, bedient bei seiner Zeremonie vom Herrn Hof-Küster, der seine Würde beim Ringe-Zureichen auffällig kundtat in langsamstem Schreiten, wozu ihn eine wallende Sammetschleppe nötigte, kerzenleuchtende Weihnachtsbäume im Hintergrunde, studentische Abordnungen aus der Verbindung meines Bruders Konrad in vollem Wichs, die ihre Rapiere zogen beim Erklingen des Jawortes, dies als Versprechen und Schwur, über der Ehre dieser Ehe zu wachen, evtl. blutig zu wachen – das war das Bild einer Eheschließung 1911, wie sie in Ehren und Züchten zu sein hatte: Eine zuschauende Menge ergötzte sich am 50 Personen umfassenden Brautzuge, an Seidenroben und studentischem Festgepränge, das seine „Farben“ zeigte, an Uniformen. Die beiden Hochzeiter ließen den ganzen Aufbau um sich herum mehr über sich ergehen, als dass sie ihn genossen, die Braut etwas ängstlich vor dem, was wohl noch kommen würde, der Bräutigam selbstbewusst froh, da dieses nun geschafft war und Besseres noch ausstand. Im Ganzen bei beiden aber eine ernsthaft religiöse Stimmung, die, trotz Protestantismus, die Ehe als ein Sakrament empfing. Bezeichnend die Art, wie der junge Ehemann die vom Pfarrer überreichte große Familienbibel so fest zur Hand nahm, dass diese auch nicht frei gemacht wurde, um der Braut beim Einstieg in die schimmelbespannte – wiederum innen und außen schneeweiße – Brautkutsche und bei der Bewältigung der riesigen, spitzenunterlegten Brautschleppe zu helfen. Bild seines Wesens: Verachtung allen äußeren Plunders, der doch nur für die anderen da war, Festigkeit in der Wertung wahrer Werte, zu denen die Bibel Zeit seines Lebens gehörte.“

Welch schönes Happy End! Höchster Fürst schwängert Mädchen vom Lande. Das gebiert einen Knaben. Der wächst auf in beamteter Obhut, ehelicht in vermögende Kreise. Seine Tochter wird von einem ehrenfesten und gottesfürchtigen Schulmann bäuerlichen Geblütes geehelicht. Alle Ständeschranken aufgehoben! Adel, Bürgertum und Bauerntum (Arbeiter dürfen noch nicht) versöhnt in diesem jungen Paar, eingesegnet von des Kaisers persönlichem Prediger in der Friedenskirche der Hohenzollern zu Potsdam. Gebete. Segen. Orgelbraus und frohe Zufriedenheit aller. In weißgoldener Hochzeitskutsche trabt das junge Paar, die Bibel fest in der Hand, ins Beamtenleben hinein.

Ein Happy End? Nicht so ganz! Nicht für Auguste Schnoor, nunmehr Eckhoff. Sie wusste ja, wie es wirklich war. Zwei Stachel hakten tief. Da war unleugbar die Unkeuschheit ihrer liederlichen Großmutter, die sich beim Bettenmachen dem hohen Fürsten hingegeben hatte. Das konnte nicht getilgt, nicht weggeredet, konnte nur ausgeglichen werden durch ihre, Augustes, Unschuld. Sie musste sie heraustrompeten, immer wieder, noch nach sechzig Jahren, die Ausrufezeichen bezeugen es. Der zweite Makel war, dass sie eigentlich königlicher Herkunft war – jedoch einem Bauern zur Frau gegeben! Einem Bauern! Zu reparieren war das nicht – oder vielleicht doch? War nicht der Eckhoff’sche Hof schon im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt worden? War er nicht deutlich älter als der Fürstenhof derer von Coburg-Gotha? Für Auguste war fortan ihr Johannes vor allem Erbhofbesitzer – ungeachtet seiner achtbaren Beamtenlaufbahn.

1911–1914: Ehebehagen, Schülerzweifel

Vergleichbare Makel hatte Johannes nicht zu bieten. Die Eckhoffs waren sehr fromm, aber keine Frömmler. Das „Bete und arbeite, so wird dich Gott segnen“, tief eingekerbt in den großen Torbogen ihres Hofes, inspiriert vom Zevener Benediktinerkloster nahebei, war keine Dekoration, es wurde gelebt: tags harte Arbeit im Stall und auf dem Feld, Gebete vor und nach jeder Mahlzeit, abends gegen alle Müdigkeit das Verlesen eines Bibelabschnittes durch den Vater. Segensbitte.

Johannes bewahrte sich diese Gottgeborgenheit, als er dreizehnjährig den Hof verlassen musste. Der Zevener Pfarrer war beeindruckt von Frömmigkeit, Intelligenz und Gedächtnis des Jungen, der bei ihm Latein, Griechisch und sogar die Anfangsgründe des Hebräischen lernte. „Eckhoff, im Namen Gottes: Dein Junge muss studieren! Schick ihn aufs Gymnasium!“ Die Eltern folgten dem Gebot des Gottesmannes. „Der Herr hat uns diesen Sohn nicht als Bauern geschenkt, sondern als künftigen Gelehrten. Mag er denn Pfarrer werden oder Lehrer. Wir aber wollen den Hof halten, solange wir können, vielleicht wird ein Enkel ihn übernehmen.“ Sie gaben Johannes gegen gutes Kostgeld in eine Lüneburger Pfarrersfamilie. Dort besuchte er bis zum Abitur das Johanneum. Theologie studierte er dann nicht, sondern Germanistik und Geschichte an der Marburger Alma Mater Philippina.

Es war üblich, in eine der zahlreichen Studentenverbindungen einzutreten – man fand Freunde und lebenslang förderliche Beziehungen. Die meisten Verbindungen waren schlagend. Da focht man mit scharfer Klinge, um Kameradschaftsgeist und Mannesmut zu beweisen, wofür Wangennarbe und Ohrenschlitz der stolz präsentierte Beweis waren. Johannes Eckhoff war das Säbelschwingen zuwider. Er wurde Mitglied einer ausdrücklich nichtschlagenden akademischen Turnverbindung. Sein Spitzname war „Eros“, warum auch immer. Freiübungen und Gesang: ja. Mensuren: nein. Das war sehr mutig, denn die Mannen der schlagenden Verbindungen blickten spöttisch auf nichtschlagende Memmen.

1907 wurde er promoviert, da war er sechsundzwanzig. Seine schmale Arbeit galt einem barocken Prediger namens Balthasar Schuppius und endete erbaulich: „So zeigt sich uns Schuppius als ein tiefreligiöser Mann, der in seiner Jugend vielleicht harte Kämpfe seines scharfen Verstandes mit dem in ihm nicht minder kräftigen Glauben zu bestehen hatte, bis er sich zu einer männlichen, kraftvollen Persönlichkeit durchrang, die allen Feinden und allen Widerwärtigkeiten tapfer standhielt, der es aber auch nicht an echter, warmer Herzensfrömmigkeit fehlte.“

Ein dünnes Forschungsergebnis – eher eine Selbstcharakterisierung des Johannes Eckhoff, der dreißig Jahre später „Feinden“ und „Widerwärtigkeiten“ tapfer standhalten wird.

Nach Promotion und Staatsexamen hatte Johannes Eckhoff am Potsdamer Oberlyzeum Deutsch und Geschichte unterrichtet. Jetzt musste er es verlassen. Direktor und Eltern hatten nach seiner Verlobung mit Auguste darauf gedrungen. Die übermäßige Beliebtheit des jungen Kollegen bei seinen Schülerinnen entsprach nicht den Vorstellungen der Schulleitung, auch war es nicht wünschenswert, dass die Damen der Unterprima tuschelten, wie es wohl ihrer bisherigen Mitschülerin Auguste in des Oberlehrers Armen erging, wo und wie man so einen bärtigen Mann wohl küsste – „Das kitzelt doch!“ „Mit Bedauern lasse ich Sie ziehen, werter Kollege“, sagte der Anstaltsleiter Professor Springpfuhl. „Gleichwohl geht mein bescheidener Rat dahin, dass Sie ganz den Schauplatz wechseln – raus aus Potsdam, hier sind Sie zu bekannt, gehen Sie nach Berlin, da werden neue Schulen gegründet, vor allem im Norden der Stadt, wo Borsig neue Quartiere schafft, in Tegel zum Beispiel, schöne Gegend, die Humboldts lebten da – weht dort nicht der Geist, dem Sie sich zugehörig fühlen?“ Aber der Versuch, in Tegel unterzukommen, wo gerade ein Mädchengymnasium aufgebaut wurde, scheiterte daran, dass man den Ruf der jungen Schule nicht mit einem Kollegen gefährden wollte, der – „gewiss, gewiss in allen Ehren, ich bitte Sie!“ – eine elf Jahre jüngere Schülerin geheiratet hatte. Man verwies ihn an das junge Humboldt-Gymnasium um die Ecke, dessen Direktor Schreiber aber bedauern musste: „Wir sind komplett, leider!“ Glücklicherweise wurde am Friedenauer Pestalozzi-Gymnasium ein Deutschlehrer pensioniert, und seine Stelle war zu besetzen. Der Schulleiter Dr. Behrendt, Bundesbruder der akademischen Turnverbindung, ein kleiner, etwas lispelnder Herr mit Henriquatre-Bart und Spitzbauch, verkniff sich auf Eros anspielende Worte wie „Na, Sie Schwerenöter – dies ist ja nun ein normales Gymnasium, nur Jungs, keine Damen“, als er Eckhoff vor sich sah, der ihn ernst und streng von oben herab anblickte. Selbst in ehelicher Hinsicht zu kurz gekommen, hegte er durchaus Bewunderung für den neuen Kollegen, der sich bald als ein pädagogischer Gewinn und vor allem als Stütze der Schulleitung erwies.

In der ersten Januarwoche 1912 bezogen Auguste Eckhoff, geb. Schnoor, und Oberlehrer Dr. Johannes Eckhoff eine geräumige Wohnung in der Cranachstraße 31/32 in Berlin-Friedenau, wenige Gehminuten vom Pestalozzi-Gymnasium entfernt. Dort wurde er Behrendts Vertrauter und bald unverzichtbarer Organisator der Schule. Die Schüler mochten ihn. Die Kollegen nicht: „Er verdirbt die Preise!“ Bei ihm gab es keine Hausaufgaben vom Sonnabend zum Montag. „Genießt das Wochenende, lest mal was auf eigene Faust, zu eurem eigenen Vergnügen!“ Vergnügt waren die Schüler, aber sie lasen nicht. Nur Schüler Schellhaas, der angesichts seiner Leibesfülle, Bewegungsresistenz und Freundlosigkeit ohnehin nicht wusste, was er unternehmen sollte, las sonntags systematisch Seite für Seite Goethes Gesammelte Werke. Montags trat er unaufgefordert nach der Deutschstunde an das Pult und machte über seine Fortschritte Meldung.

Eckhoffs Vortrag war belebt und anschaulich, er dozierte nicht, wie eigentlich üblich, vom Katheder, stattdessen ging er durch die Reihen, ließ Fragen zu, wenn auch in Maßen. Prüfungen gestaltete er als Gespräch, anstatt nur Kenntnisse abzufragen. Vom Ochsen und Büffeln hielt er wenig und machte auch keinen Hehl daraus. Revolutionär war das nicht. Eckhoff war ein Milderer, ein Erträglichmacher, der der simplen Einsicht folgte, dass ohne Angst und mit Vertrauen mehr hängen bleibt und beide was davon haben – Schüler wie Lehrer. Kollegen waren verärgert. Doch Dr. Behrendt, der ihn mit vorgeschobenem Bauch von unten her listig anlächelte, lispelte mit hoher Stimme: „Machen Sie nur, lieber Bundesbruder und Kollege, wir müssen ja wohl mit der Zeit gehen! Vielleicht profitieren wir von Ihren Erfahrungen! Berichten Sie uns davon! Bitte, berichten Sie! Placet experiri!“

Ostern 1913 erhielt Eckhoff von ihm die Genehmigung, in einem Nebenraum der Lehrerbibliothek einen philosophischen Gesprächskreis für Primaner einzurichten. Der Direktor hatte erkannt, dass der Zeitgeist nach neuen Unterrichtsformen, nach einer anderen Schule als seiner preußisch-disziplinierten Anstalt rief. Den Zug der Zeit wollte er nicht verpassen – zumal die Zahl der Anmeldungen für das Pestalozzi-Gymnasium rückläufig war. Das Erasmus-Gymnasium nebenan machte ihm Schüler abspenstig. In der Eingangshalle richtete er einen Schaukasten ein. Unter dem schönfärbenden Titel „Die freie Betätigung unserer Schüler“ wurde im Herbst 1913 auf das außerunterrichtliche Philosophie-Angebot der Anstalt hingewiesen. Ein großes Foto zeigt Primaner mit Schlips und Kragen im Kreis um einen großen Tisch sitzend, zwischen ihnen Eckhoff, zu erkennen am vorwallenden Schwarzbart, der ein Mündchen verdeckt. Der Raum ist klein, man sitzt eng, Schulter an Schulter. Deckenhohe Regale, gefüllt mit akkurat ausgerichteten Büchern, rahmen die Gruppe ein. Alle posieren mit einem Buch in der Hand, als ob sie läsen. Denkarbeit. Niemand blickt in die Kamera. „Freie Betätigung“, das war sitzende Beschäftigung in kleiner Runde und kleiner Kammer, eng eingehegt von Büchern. In dem Begleittext schwärmt der Autor davon, dass die Jugend unserer Zeit vor der Aufgabe stehe, neben der anspruchsvollen Unterweisung durch ihre Professoren nunmehr auch selbst welterkennend tätig zu werden. Das Pestalozzi-Gymnasium habe sich auf den Weg gemacht und stelle sich dieser Aufgabe – nicht ohne Wohlwollen und prüfende Aufmerksamkeit der Schulaufsicht. Die Aufgabe der Lehrkraft – in diesem Fall des an dieser Anstalt bereits reformpädagogisch hervorgetretenen Dr. Eckhoff – sei es, die Jugend unterstützend zu begleiten, statt sie nur zu belehren, ihr, wie einst Sokrates, durch mäeutisches Fragen in vernünftigen Grenzen zum eigenen Denken zu verhelfen. Damit hatte das Pestalozzi-Gymnasium über Nacht den Ruf einer Reformschule – und zwar auf die verträglichste Art und Weise: nichts in Frage stellend, aber im Umgang kommoder als die traditionellen Anstalten.

Nichts in Frage stellend – genau damit wird Johannes Eckhoff an seine Grenzen stoßen. Die deutsche Welt war von schlafschöner Stabilität. Nach außen schützte die Flotte, über die Bagdadbahn hatte man sich mit den Engländern geeinigt, schmuck uniformiert und brustrausgockelstolz demonstrierte der Kaiser die Weltansprüchlichkeit und Stärke des Reiches. Im Innern war alles friedlich, sonntags waren die Kirchen voll. Es gab keinen Anlass, diese Welt in Frage zu stellen. Konnte man glauben. Johannes Eckhoff hatte kein Organ für die Brüchigkeit des Bodens, auf dem sie lebten. Ganz anders einige seiner Schüler:

Auch Ostern 1914 wurde den Oberprimanern, die im nächsten Jahr das Abitur erwerben sollten, die Teilnahme am philosophischen Gesprächskreis des Dr. Eckhoff angeboten. Aus den beiden Klassen mit insgesamt 34 Schülern kamen immerhin sieben, gewiss nicht alle aus philosophischem Interesse, einige, unter ihnen der schon erwähnte Klaus-Dieter Schellhaas, weil sie sich eine Verbesserung ihrer Deutschnoten erhofften. Eckhoff eröffnete sein Seminar mit der Lektüre von Kants Was ist Aufklärung?. Die wichtigsten Sätze des ersten Absatzes mussten die Schüler auswendig lernen und dann deklamieren. Eckhoff rief sie auf und unterstrich mit leichtem Schwung aus dem linken Handgelenk dirigierend die Worte Kants.

„Der wichtige erste Satz! Gunter, Sie bitte!“ „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ „Und noch einmal, alle gemeinsam, ohne abzulesen, kräftig, bitte!“

Und im Chor erklang gehorsam und lautstark die Antwort: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit!“ „Und weiter, bitte, mit Ihnen, David!“ „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ „Richtig! Und jetzt Eduard, das ist Ihr Satz!“ „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ „Klaus-Dieter, zum Schluss, bitte!“ „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben.“

„Nun, meine Herren, sind Sie unmündig, sind Sie gar faul und feige?“, fragte Eckhoff in die Runde und überging kopfschüttelnd Klaus-Dieters Hinweis, dass Kant offensichtlich ein Grammatikfehler unterlaufen sei, es müsse doch wohl heißen: „… warum ein so großer Teil unmündig bleibt. Singular!“ Eckhoff wiederholte seine Frage.

Nach einem langen unbehaglichen Schweigen sprach Gunter Koch. Er war der Klügste der Runde, jemand, der das vom Lehrer Verabfolgte schnell erfasste und im vorgegebenen Rahmen gut einzuordnen verstand. Er hatte einen sehr kleinen Mund, mit zierlichem Lippenschwung und einem leichten Lächeln. Nach jedem Satz machte er eine Pause und bereitete schmackhaft den nächsten vor. Wichtiges pflegte er zu betonen. „Die Frage der Mündigkeit stellt sich für uns Schüler noch nicht. Denn wir erwerben unser Wissen ja noch: Präsens; damit wir später mündig werden: Futurum. Für uns geht es heute – ich betone: heute – um amtlich geprüftes, klares, aufgeschriebenes Wissen, das unsere Lehrer uns vorlegen. Ist es nicht ein Zeichen eines aufgeklärten, ich sage lieber: eines aufklärungsbereiten Verstandes, wenn ich weiß, dass ich noch der Aufklärung durch einen anderen bedürftig bin? Also, wir sind zur Aufklärung bereit, mithin weder faul noch feige, wenn wir uns entscheiden, Vormündern, unseren Lehrern nämlich, zu trauen.“ „Du traust unseren Lehrern, allen?“, fragte Eduard Pfeil. „Ich nicht. Du musst doch blind glauben, was sie sagen, ob du es verstehst oder nicht. Und das ist Unmündigkeit, erzwungene Unmündigkeit. Wenn du den Lehrern nicht glaubst, gibt es ein Ungenügend, und wenn du dagegen protestierst, gibt es einen Tadel. So ist es doch. Nicht wahr, Herr Doktor?“ „Das ist eine sehr zugespitzte Formulierung“, sagte Eckhoff. „Aber immerhin werden wir auf ein Problem aufmerksam gemacht. Was meinen denn Sie, Klaus-Dieter?“ Klaus-Dieter Schellhaas presste die Lippen zusammen und begann mit einem schnellen dreifachen „Hum, hum, hum“, das von einem stoßenden Kopfnicken begleitet wurde, um dann zu sagen: „Das ist wohl so, Herr Doktor! Ja, ein Problem, wie Sie sagen: ein Problem!“ Da beugte sich vor und meldete sich mit winkender Handbewegung, winkend, um in das Blickfeld Eckhoffs zu gelangen, David Jahn: „Wenn ich den Vorschlag machen darf, hier einfach in der Lektüre fortzufahren? Vielleicht klärt sich das weiter unten. Ja, ich improvisiere mal: Kann es nicht sein, dass man beides zugleich sein kann – mündig und unmündig?“

Sein Vorschlag wurde aufgenommen. Und in der nächsten Sitzung trug Gunter, der zu Hause den Text studiert hatte, vor, dass für Kant der eigene Gebrauch der Vernunft zwar wünschenswert, doch aber nicht öffentlich im modernen Sinn sein dürfe – sein Platz seien die wissenschaftlichen Zeitschriften zum Beispiel. Eduard versuchte vorsichtig und still zu sein, so, wie er es in einer regulären Stunde sein würde. Dann aber platzte ihm der Kragen: „Also denken, kritisch denken, in der Kammer, allenfalls ein Aufsätzileinichen für andere Menschen, für Gelehrte“ – und er dehnte höhnisch das zweite E – „Geleeeehrte, die das auch nur in ihrer Kammer lesen, tief nachsinnen und dann nichts tun. Die anderen, die Einfachen, die nicht geleeeehrt sind, die lesen das nicht, die haben gar keine Chance, die bleiben dumm. Das ist nicht ehrlich! Eine schöne Aufklärung ist das, die schmort doch im eigenen Saft! Na, und gar ihrem Fürschten widersprechen, weil sie vielleicht seine Politik für falsch, für schädlich halten, das kommt dann nun gar nicht infrage, da machen sich die geleeeehrten Herren in die Hose.“ Hier musste Eckhoff eingreifen, er tat dies nicht streng, sondern beschwichtigte mit der für ihn typischen Geste eines Auf und Ab beider Hände.

„Aber, wenn man den Zeitpunkt der Schrift bedenkt, der einzig mögliche kleine Schritt des Fortschritts, immerhin!“, sagte Gunter. Und David fügte hinzu: „Das hat Kant doch großartig gedreht. Ziemlich schlauer Kerl!“ Und blickte erschrocken über seine eigenen Worte hinüber zu Eckhoff, ob der sein freches Urteil über den großen Philosophen tadeln würde. Aber Eckhoff schaute nicht auf und blätterte weiter im Text. Klaus-Dieter wiederum enthielt sich eines eigenen Urteils, er blieb kopfnickend beim „Hum, hum, hum! Das ist wohl so! Ganz wie ihr sagt“.

Zufrieden war Eckhoff nicht. Er sympathisierte mit Eduard Pfeil. Aber er sah, dass es auch im schulischen Philosophenkämmerlein seiner Schule eine Grenze des Sagbaren geben musste, wollte man nicht riskieren, dass das Experiment der „freien Betätigung unserer Schüler“ abgebrochen werden müsste.

Natürlich war Pfeils „Allen Lehrern? Ich nicht!“ in der Schule bekannt geworden. Schellhaas hatte nicht geschwiegen. „Es heißt, in Ihrem Denkzirkel werden revolutionäre Sätze gesagt? Man könne uns Lehrern nicht trauen?“, lispelte Behrendt. Eckhoff sagte: „Verehrter Herr Direktor, ich rate, diese Äußerung im Kontext einer rein akademischen Debatte zu betrachten. Sie beim Wort zu nehmen wäre ein Missverständnis.“ „Gewiss, das dachte ich mir, lieber Kollege und Bundesbruder. Es freut mich, dass so ein ernster Schüler wie der junge Pfeil hier nur missverstanden worden ist! Wir wissen, solche Sätze gehören in das Reich der klugen Gespräche – und auch da nicht unwidersprochen! –, aber nicht in die schulpolitische Wirklichkeit. Nicht wahr? Da sind wir uns doch sehr einig, Sie und ich. Vielleicht ist es an der Zeit und gar nicht verkehrt, die Ohren für das zu öffnen, was unsere Schüler wirklich denken. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie auch immer, placet experiri. Wenn auch in vernünftigen Grenzen. Berichten Sie uns, lieber Kollege, berichten Sie!“

Mit dem nächsten Thema hatte Eckhoff noch weniger Glück – man las einen Sokratischen Dialog, Platons Menon. Darin zeigt Sokrates, wie ein unbedarfter Schüler den Satz des Pythagoras begreift. Eckhoff wollte mit Platons Autorität zeigen, dass ein junger Mensch durchaus selbst, ganz von allein zu einer Erkenntnis gelangen, sich aufklären könne. Aber auch hier geriet er in vermintes Gelände, weil Gunter, Eduard und David schneller begriffen als Eckhoff, dass der unwissende Schüler am Gängelband des Sokrates gezerrt und gezogen wurde – nichts erkannte er aus eigenem Vermögen, gar nichts. Und sie sahen, dass in dem Dialog eine Zahl gesucht wurde, die weder der tumbe Knabe noch Sokrates kannten. Es musste sie geben, ihre Länge war ja zu zeichnen, aber sie war nicht auszurechnen. Da passte etwas nicht ins gewohnte System. Was anderes tauchte da auf, was furchtbar Fremdes, inkommensurabel mit dem Vertrauten. Ein Riss jener Griechenharmonie, in der Zahlen harmonierten wie die Akkorde einer Lyra. Gunter Koch: „Wie die Entdeckung, dass sich die Sonne nicht um die Erde dreht!“ David Jahn: „Wie die Reformation!“ Eduard Pfeil: „Als ob es eine Revolution und keinen Kaiser mehr gäbe!“ Rums. Schweigen. Nach diesem Satz half auch das „Hum, hum, hum“ von Klaus-Dieter Schellhaas nicht mehr. Eckhoff begriff, dass ihm das Denken seiner Schüler entglitten war.

Behrendt, dem er sich offenbarte, sagte: „Sehen Sie, lieber junger Kollege, ja, ich hatte sehr gewünscht, dass Sie unsere Schüler in die Gedankenkreise unserer Philosophen einführen. Es lässt sich wohl nicht vermeiden, dass sie dabei an Grundfragen geraten und dann doch selbstständig weiter fragen. Aber, cave! Wer Grundfragen stellt, der kratzt auch immer an Grundfesten. Wollen wir das? Können wir das? Dürfen wir das? Schüler in Existenzfragen stürzen, ohne ihnen Besteck und Werkzeug an die Hand zu geben, damit weltanschaulich gefestigt umzugehen? Ich schlage vor, Sie beginnen neu im nächsten Jahr mit einer Gruppe, der Sie klare Grenzen setzen und aufs Rezipieren und Repetieren ausgewählter Abschnitte verpflichten. Jetzt pausieren Sie – ich wäre Ihnen nämlich sehr verbunden, wenn Sie mir bei anderen Aufgaben zur Hand gingen!“ Eckhoff stimmte zu. Er wusste, dass er Zweifelnden nicht beim Zweifeln helfen konnte. Er vermochte nur im Vertrauten zu navigieren. Dr. Behrendt bat ihn um Unterstützung bei der Ausarbeitung einer gemäßigten Reformschrift zu Händen der Schulaufsicht. Es gab keine weiteren Treffen des philosophischen Gesprächskreises, es begannen die Sommerferien 1914.

Einen Hausstand zu begründen und zu führen war für die neunzehnjährige Auguste keine leichte Aufgabe. Ihre Mutter Friederike nahm ein Zimmer der großen Wohnung in Beschlag, um ihr zur Seite zu stehen. „Nur für die erste Zeit, bis das Kind (gemeint war Auguste) das Ruder ganz übernehmen kann.“ Nun, von „Ganz übernehmen“ war so bald nicht die Rede und auch kleinere Ruderbewegungen wurden Auguste nicht gestattet. Friederike regierte. Auguste wehrte sich bald: „Verzeih, liebste Mama, du hast mir einen Hausfrauenratgeber gegeben, in dem der Satz stand: ‚Sei du die Herrin und Walterin des Hauses!‘ – und das muss und will ich auch sein. Und das kann ich jetzt auch. Wir wollen uns oft sehen und von Herzen liebhaben. Aber dies hier ist mein Haushalt.“ Friederike ging verbittert von Bord, Auguste übernahm das Ruder – und wie! Bald konnte man wagen, einige Kollegen, darunter Dr. Behrendt, einzuladen. Sie war wie geboren für die Rolle der Gastgeberin, die das aufwartende Mädchen mit Blicken regierte, und hielt sich bei allen Gesprächen, denen sie alters- und erfahrungsbedingt nicht gewachsen war, klug zurück. Friederike war nur noch gelegentliche Sonntagsbesucherin in der Cranachstraße, geladen zum „Thee“ mit Keks oder Kuchen, den die Mamsell gebacken und den Auguste verziert hatte. Diese Besuche wurden seltener und versiegten, denn Friederike wurde leidend.

So war nun alles in trockenen Tüchern, die Schwiegermutter aus dem Haus, ein glückliches Paar in herrschaftlicher Wohnung. Finanziell sorgenfrei, denn der Tochter hatten die Eltern Schnoor weit mehr als üblich mitgegeben und sie unterstützten den Haushalt mit monatlichen Zuflüssen, sodass die Eckhoffs ein Leben weit über dem Niveau eines Oberlehrers führen konnten. Auguste bestand auf einer Einrichtung, die das Erbbauernhöfische des Familienoberhauptes anzeigte: schwarze Möbel mit hartem Geflecht aus Worpswede – teuer, weil von Künstlerhand gestaltet. Im Flur prangte eine uralte Truhe mit Brautschatzfach, vor über hundertundfünfzig Jahren Mitgifttruhe einer Eckhoff-Urgroßmutter. Bei seinem ersten Besuch lispelte Dr. Behrendt mit staunend in die Höhe gerichtetem Blick und wie zum Pfeifen gespitzten Lippen: „Sie leben ja ziemlich feudal, gratuliere sehr, lieber Bundesbruder!“

Was ihre Gespräche anging, blieb Auguste die Unterprimanerin. Er war der gelahrte Herr Doktor, der in Jahrtausenden dachte, sich mit Platon, Luther, den Preußenkönigen und Goethe duzte. Sie musste sich Satz für Satz erklären lassen, was die Großen so gedacht hatten. Diese Differenz war nicht einzuholen. Ein Leben lang nicht. Deshalb waren des Ehepaars Gespräche Belehrungsgespräche, in denen Johannes seiner „Guste“ Wissen in bekömmlichen Portionen zuteilte und in denen sie lernte, Stichwortfragen zu stellen. Es bildete sich ein Kanon der Bildungsallgemeinplätze: Homer, Goethe, Schiller, Aristoteles und Kant, preußische Geschichte.

Das gemeinsame Gebet war fester Bestandteil ihrer Gemeinschaft – auch wenn sie ihren Glauben unterschiedlich lebten. Johannes Eltern hatten mit ihm ihre Bibel als Bericht wirklicher, tatsächlicher Geschehnisse gelesen. Und in dieser Selbstverständlichkeit war sie Teil seines Lebens geworden. Ganz ohne Erweckungserlebnis, ganz ohne Offenbarungstatütata. Auguste eroberte, erhöhte und beanspruchte Eckhoffs Glauben, so wie sie sein Erbbauerntum erobert und erhöht hatte. Was er ruhig praktizierte, veräußerlichte sie in flammende Rede. Sie wurde bekenntnisfreudige Christin, die wöchentlich einen Bibelkreis ihrer Friedenauer Nathanael-Gemeinde besuchte, bald die Texte der Kirchenlieder bis zur zehnten oder elften Strophe beherrschte und sie mit strahlendem Blick mehr deklamierte als sang. Sie beteten beide zu Beginn und nach jeder Mahlzeit, wie seit alters von den Eckhoffs gebetet worden war: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ – „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.“

Daran änderte sich nichts. Noch in den Fünfzigerjahren erlebte ich am Mittagstisch auf hartem Gestühl das Ritual der Stichwortgespräche und der Gebete.

Und noch etwas war Bestandteil ihrer Ehe: die Musik. Im Salon stand ein klappriges Klavier. In seinen Marburger Studienjahren hatte Eckhoff als Mitglied des Akademischen Turnvereins bei einem Bundesbruder fleißig Stunden genommen. Er spielte die langsamen Sätze einiger Beethoven-Sonaten – zum Beispiel den ersten Satz der Mondscheinsonate –, etwas Haydn, manchmal eine Händel-Suite, deren würdegängige Sarabande es ihm angetan hatte, etwas Mozart, einiges aus dem Wohltemperierten Klavier, sofern es nicht zu viele Vorzeichen hatte – das Repertoire war schmal und wiederholte sich, weil ihm die Zeit mangelte, Neues einzuüben.

Nein, nicht Zeit mangelte ihm, sondern Neugier. Er barg sein Leben im eng Vertrauten. In der Philosophie, in der Literatur, in der Musik, auf dem Felsen seines Glaubens.

Und so war es Brauch, dass Auguste Strümpfe stopfend im Sessel saß, während er sich durch Bach und Händel und Mozart und Beethoven häkelte. Als Auguste einmal von den Balladen Carl Loewes schwärmte, erinnerte er sich an Prinz Eugen, der edle Ritter. Mitgeschmettert einst am Biertisch seiner Marburger akademischen Turnverbindung. Er kaufte die Noten – und sang einige der Balladen, sich selbst am Klavier begleitend. Kein Gesang, gefühlvolles Brüllen, gelegentlich Kieksen, aber es erreichte doch Augustes Herz.

Jahrzehnte einer behaglichen Lehrerehe lagen nun vor ihnen, kaum getrübt durch Augustes nagenden Dünkel, kaum beeinträchtigt durch den Bildungsabstand der Eheleute, sicher ruhend auf den Fundamenten des christlichen Glaubens und des Schnoor’schen Vermögens, gewärmt durch die Bewunderung Augustes für ihren gelehrten und musikbegabten Erbhofbauernsohn, der über kurz oder lang eine leitende Funktion im preußischen Schulwesen übernehmen würde.

Noch fehlte zur Vollendung des Glücks eine Kinderschar. Beide beschlossen, sich nunmehr intensiver darum zu bemühen. Die Sommerferien 1914 luden dazu ein.

1914–1918: Weltkrieg

Aber: das Attentat. Der dämliche deutsche Blankoscheck. Das Vabanque-Ultimatum der Donaumonarchie an Serbien. Der Klapperatismus des Zwangsläufigen: Kriegserklärung an Serbien. Russische Generalmobilmachung. Österreich-Ungarns Generalmobilmachung. Deutsche Generalmobilmachung. Deutsche Kriegserklärung an Russland. Deutsche Kriegserklärung an Frankreich. Deutsche Truppen ins neutrale Belgien. Kriegseintritt Großbritanniens.

„Der erste Weltkrieg brach aus“, das sagt man so – als sei er ein entlaufener Zirkustiger. Ist er nicht. Er ist der Höllenzirkus der Bekloppten mit ihrem Tunnelblick: der Eitlen, der Größegläubigen, der Ruhmbesoffenen, der Geschäftemacher, der Vaterlandsverführten mit ihrem Hurragebrüll. Freund wie Feind waren überzeugt, das sei ein kurzes Spiel, Weihnachten vorbei. Die Siegerurkunde würde unter dem Christbaum liegen. Dazu neue Landkarten. Feindesleichen auch.

Primaner und Unterprimaner eilten zu den Fahnen. Damit sie an der Front nicht würdenlos krepierten, sondern mit gestempelter Reife, wurden in aller Eile Abiturprüfungen abgenommen. Behrendt beauftragte Eckhoff damit, noch im August ein Notabitur zu organisieren. Auf schriftliche Prüfungen wurde ganz verzichtet, die Aufgaben der mündlichen wurden mit Heldenthemen und Deutschlands Größe verwurstet. Durchzufallen war ausgeschlossen. Die frischgebackenen Abiturienten, bereits in Uniform zur Prüfung erschienen, rückten sofort ein – ihnen folgten neun Schüler der Unterprima und sogar elf Obersekundaner. Kinder. Vaterlandsbesoffengemachte Kinder. Kanonenfutter.

Im Oktober fiel Eckhoffs Schüler Gunter Koch. Die Mutter zeigte ihm einen Brief, den sie von seinem Hauptmann erhalten hatte:

„Ja, Ihr tapferer Sohn Gunter starb in treuester Pflichterfüllung den Heldentod für das Vaterland. Eine Granate setzte seinem jungen Leben ein zu rasches Ziel. Gelitten hat er nicht mehr, er war sofort tot. Seine Kameraden betteten ihn in der Höhe des Ortes, wo er gefallen. Sein Grab liegt im heiß umstrittenen Kampffelde. Lassen Sie mich Anteil nehmen an dem schweren Leid, das Ihnen zugefügt wurde. Gott tröste Sie, die Zeit möge die Wunde heilen! In tiefer Trauer mit deutschem Gruße, Ihr ergebenster Flaskamp, Hauptmann“

Johannes weinte mit der Mutter. Als er mit ihr beten wollte, schüttelte sie den Kopf, dankte ihm aber und überließ ihm die Abschrift. Er nahm sie mit nach Hause und las sie vor. Auguste sagte: „Ja, das ist schon furchtbar, dass so ein junger Mann sterben muss und seine Mutter wird gewiss bitterlich weinen. Er war dein Schüler und du mochtest ihn. Aber es ist doch ein Trost, dass er nicht sinnlos starb, sondern für unseren Kaiser, für das Reich, für uns alle, für dich und mich und für das Kind, das ich erwarte. Und es ist sicher auch ein Trost, dass er nicht hat leiden müssen.“

Eckhoff hielt den Hinweis auf den schnellen Tod für eine Beschönigung, wie sie in jeder Todesbotschaft, die so ein Hauptmann tagtäglich zu schreiben hatte, benutzt werden musste. Und die alberne Lüge, man habe die zerfetzte Leiche des Jungen „gebettet“, gemütlich wie auf dem Kirchhof daheim mit Trägern, Kreuz und Kranz, Priester und Predigt, noch dazu, wie es im nächsten Satz hieß, „im heiß umstrittenen Kampffelde“, machte ihn wütend. Gunters Grab würde nie aufzufinden sein. Gunter war aus der Welt geschossen worden. Aber er spürte, dass Auguste, die eine Hand auf dem schwangeren Leib hielt und ihn strahlend ansah, für seine Zweifel kein Ohr hatte. So schwieg er denn. Gunters Tod verwand er nicht. Dann fiel David Jahn. Eduard Pfeil meldete sich aus dem Lazarett, schwer verwundet, auf einem Auge blind, eine Hand zerschossen. „Jetzt sehe ich die Dinge noch einseitiger als früher“, schrieb er, „aber auch schärfer – ich sehe genauer hin!“

Eckhoff war die rechte Hand des Direktors, die Organisationsnotwendigkeiten des Weltkrieges festigten seine Stellung. Behrendt war ein Mann der Repräsentation, nicht des Stundenplans. Eckhoff regelte den Tagesablauf, machte es möglich, dass er sein Rektorat bei nur stundenweiser Anwesenheit ausüben konnte. Da elf Kollegen einrückten, war es schwer, den Unterricht abzudecken. Aber Eckhoff gelang es: durch Mehrarbeit, Zusammenlegung von Klassen, jahrgangsübergreifenden Unterricht, Stundentafelkürzungen, die Heranziehung pensionierter Kollegen. Er organisierte Sammlungen zugunsten der Frontsoldaten. Er belohnte mit wohlgesetzter kurzer Ansprache und einem eigens gestalteten Schulabzeichen jene Schüler, die besonders viel abgeliefert hatten. Auf Betreiben Behrendts wurde er „reklamiert“ und musste nicht an die Front. Für Auguste war dies richtig so, ihr Mann war etwas Besonderes und deshalb auch besonderer Behandlung würdig. Einerseits. Andererseits: Müsste er, der bäuerliche Recke, nicht die Schlacht anführen, den Gegner mit scharfer Klinge schlagen, die Scholle verteidigen, den Franzmann vertreiben? So wie ihr Bruder Konrad, der als Sanitätsoffizier an der Front deutsches Leben rettete und jederzeit bereit war, sich für das Große und Ganze zu opfern. Auf den war sie stolz. Ihre stille Unzufriedenheit, dass Eckhoff kein praktizierender Held war, eigentlich ein Drückeberger, glich sie dadurch aus, dass sie stimmstark seine Heimatfrontbedeutung verkündete. „Wie sollen unsere Kinder das Vaterland verteidigen“, fragte sie ungefragt, „wenn niemand sie Vaterlandsliebe lehrt, wie soll unsere Nation die wissenschaftlich führende der Welt bleiben, wenn niemand unsere Kinder unterrichtet?“ Von ihrer Nachbarin, deren Mann früh gefallen war, wurde sie nach einer solchen Suada gemieden. Im Gebetskreis der Nathanaelkirche, in dem die Damen gemeinschaftlich um Gottes Kriegshilfe baten, manche mit rotgeweinten Augen, blieb die Zustimmung höflich.

Auch für Auguste und Johannes galten jetzt die K-Gesetze der Kriegsküche: „Helft den Krieg gewinnen! Esst Kriegsbrot! Kocht Kartoffeln in der Schale! Kauft keinen Kuchen! Seid klug, spart Fett! Kocht mit Kochkiste! Kocht mit Kriegskochbuch!“ Brot war rationiert, und bald waren Fleisch, Butter und Eier unerschwingliche Luxusartikel. Auguste musste nicht mehr nur den Haushalt organisieren, Speisepläne erstellen, das Personal beaufsichtigen, sondern sie musste sorgen und kämpfen, dass überhaupt etwas zu essen da war, während der vom Schuldienst absorbierte Gemahl und Eheherr für diesen Alltag nur beiläufiges Interesse übrighatte. Auguste übernahm die Familienführung. Und wie im Vorkriegssommer geplant, wurden jetzt Kinder gezeugt. Im März 1915 wurde Heinrich geboren, im August 1917 Friedrich.

Friedrich Eckhoff, genannt Fritz, mein Vater.

Die Zevener Schwiegereltern, die von Auguste eigentlich gering geachteten Bauern – sie waren wichtig geworden, denn sie schickten Lebensmittelpakete. Auguste schrieb ihnen jetzt regelmäßig:

„Berlin-Friedenau, im Januar 1915

Liebe Schwiegereltern, Gott hat es nicht gewollt, dass wir unserer Feinde im ersten stürmischen Anlauf Herr geworden sind. Und so scheint es, dass dieser Krieg noch einige Monate, vielleicht ein Jahr oder mehr dauert. Johannes machte diesbezüglich recht pessimistische Andeutungen. Ich denke nicht so und habe ihn mit aller gebotenen Zartheit darauf hingewiesen, dass er sie im Dienste nicht machen sollte. Dort muss er in seiner Verantwortung als Vorbild und Vertreter des Reiches, ja, des Kaisers, vor der Jugend nicht das angeblich Fragwürdige unserer Situation, sondern das Herrliche stark machen, das wir erwarten können und erwarten wollen. Johannes ist ob seiner Redlichkeit nicht immer so diplomatisch und überlegend, wie es geboten ist. – Nun erweist es sich leider, dass es allenthalben an Vorbereitungen für einen längeren Krieg mangelt, weil wir in unserem Friedenswillen nicht auf eine solche Auseinandersetzung vorbereitet waren, wie sie uns nun die Vielzahl unserer Feinde aufzwingt. Aber der Feind rechnet nicht damit und ahnt nicht, wie stark unser Wille ist, diesem Mangel, wo wir können, abzuhelfen und ihn, wo dies nicht möglich ist, zu ertragen und alles, was wir opfern können, für den Erfolg unserer Armeen zu sammeln. ‚Gold gab ich für Eisen‘ – selbstverständlich habe ich manches von meinem Schmuck hergegeben (nicht aber, liebste Schwiegermutter, die wunderhübsche Schließe, die du mir gabst) und trage mit Stolz ein eisernes Ringlein neben dem Ehering, und gerne bringe ich zu den Sammelstellen, was unser kleiner Haushalt an Kupfernem, an Eisernem, an Gummi – die Wärmflaschen habe ich nur mit Zögern hergegeben – und an Wolle entbehren kann. Seit Kurzem wird auch Frauenhaar gesammelt – ich denke, dies ist eine schöne Gelegenheit für all jene Frauen, die, weil sie einfachen Standes sind, keine materiellen Güter hergeben können, sich doch durch ein persönliches Opfer ihres ja nachwachsenden Haupthaares an der großen nationalen Spendenbereitschaft zu beteiligen. Die besitzenden Stände sind aufgerufen, durch Kriegsanleihen unseren Kampf finanzieren zu helfen. Johannes und ich haben noch kein Kapital erwerben können, können uns daran also nicht beteiligen.

Anders meine liebe Mutter, die den allergrößten Teil ihres Vermögens hierfür aufgewendet hat. Gewiss kann sie auch darauf vertrauen, dass nach dem Siege unserer Waffen diese Anleihen reich verzinst zurückfließen werden, weil unsere Feinde für ihren feigen Angriff auf unser Volk werden hart bezahlen müssen!

Welche schöne Aussicht für unser Kind – wird es ein Mädchen, soll es Maria heißen, wie du, liebe Schwiegermutter, einen Knaben nennen wir nach dir, verehrter Schwiegerpapa: Heinrich –, es wird in einem wohlhabenden Land und in einer gutsituierten und wahrhaft frommen Familie aufwachsen.“

„Friedenau, 16. April 1916

Lieber Schwiegerpapa, liebste Schwiegermama, wie geht es euch? Manchmal beneide ich euch um die Ruhe und Sicherheit eures Lebens auf dem schönen Hofe. Gewiss, Sorgen habt auch ihr, wir wissen das wohl und denken deshalb oft an euch. Dass nun auch eure letzten Gehilfen eingezogen worden sind und ihr nur noch auf den alten Krischan und die halbblinde Sophie zurückgreifen könnt, die eigentlich längst ausgedient haben, um Äcker und Vieh zu bewirtschaften, das tut uns leid und wir hoffen sehr, dass eure Kräfte dafür reichen – zumal für uns der Hof immer wieder Essbares abwirft, wofür wir von Herzen dankbar sind. Ich bemerke, dass mein Hinweis auf Ruhe und Sicherheit eures Hoflebens nicht recht passend war, ich will damit nur sagen, in wie tiefer Angst und Unruhe wir hier stecken, dass Johannes doch eines Tages an die Front darf und dass es mir wie all den anderen vielen Frauen und ihren Kindern ergeht, die um ihre Männer bangen müssen und ganz auf sich gestellt sind. Ihr aber habt einander und dies mit Gottes Segen noch viele, viele gemeinsame Jahre!

Nun ist es so, dass euer Sohn Johannes an seiner Schule eine bedeutende Stellung erlangt hat. Es ist in diesen Zeiten der täglichen Unordnung, der vom Schicksal getroffenen Familien und vor allem der im Felde stehenden Kollegen sehr, sehr schwer, den täglichen Unterricht aufrechtzuerhalten. Ihm ist diese Aufgabe zugefallen. Zwar trägt er nicht den Titel eines Direktors, aber er wirkt als ein solcher. Wohl auch deswegen wird er nicht gezogen, man hat ihn reklamiert. Ich sage es deswegen, weil die orthopädische Schwäche seiner zum Marsch nicht so recht geeignet scheinenden Füße bei strengerer Betrachtung wohl nicht ins Gewicht fallen dürfte.“

„Berlin-Friedenau, 18. August 1916

Ach ja, liebste Schwiegermama! Wie recht du hast! Wie gerne wäre ich bei euch! Es ist ein Aberwitz, dass wir in Berlin so hungern müssen, wo doch bei euch ein kleiner, vom Krieg reduzierter, aber immerhin ein Überfluss ist – genügend jedenfalls, um auch die paar hungrigen Berliner Mäuler zu stopfen! Gewiss habe ich schon oft mit dem Gedanken gespielt, wie es wäre, wenn unser kleiner Heinrich und ich zu euch zögen. Aber ach, es geht nicht, wirklich nicht. Euer Sohn ist ein so gelehrter, so kluger Mann, ein geliebter Lehrer, ein hervorragender Planer des schulischen Alltags, doch es fehlt ihm jede Lebenspraxis – dies bitte ganz unter uns, er sagt es zwar im Scherz oft selbst, aber es würde ihn kränken, wenn andere dieses Urteil über ihn fällten, das er für sich doch längst gefällt hat. Kurzum: Er wäre nicht fähig, nein, er ist nicht fähig, Alltagsdinge allein zu bewältigen. Hilflos! Darin ist er wie ein Kind. Man kann ihn hier in Berlin nicht alleinlassen. Er würde verhungern. Jemand müsste ihn betreuen. Gewiss, wir haben noch unsere Mamsell, aber auch sie will verständig beaufsichtigt sein.

Da wiegt auch zu gering, dass Dr. Träumner, ein junger, aber renommierter Lungenspezialist der hiesigen Charité, Freund meines Bruders Konrad, es für möglich hält, dass mein häufiger Katarrh tuberkulös sein mag, und den Aufenthalt, wo nicht im Gebirge, so doch wenigstens in der frischen Landluft für angezeigt hält. So geht es denn wohl vorerst nicht an, dass ich mit dem kleinen Heinrich zu euch komme. Freilich, des Abends mag ich doch davon träumen und stelle mir vor, wie mein Sohn bei euch in der schönen Natur, im gesunden Landleben groß wird und melken lernt. Vielleicht, dass er oder ein erhofftes Geschwisterkind dermaleinst auf dem Lande, auf eurem Hofe, dem uralten Familienerbe, bleibt …“

„Friedenau, 12. März 1917

Liebe Schwiegereltern, von Herzen, von ganzem Herzen danke ich euch in Johannes’ Namen und im Namen unseres Sohnes für eure heiß ersehnte Sendung – glaubt mir, wir waren nahe daran zu verhungern. Johannes und ich sind klapperdürr geworden. Was wir uns vom Munde absparen können, ist für Heinrich, der doch so weit wie möglich kräftig sein sollte, damit er den grassierenden Krankheiten widerstehen kann. Sorgen bereitet uns, dass er anscheinend ein wenig rachitisch ist und eine schwache Konstitution hat. – Nur mit Mühe bewältigt Johannes seinen täglichen Schulweg, wo er doch auch alle Kraft und Energie benötigt, um sich bei den Schülern durchzusetzen, deren Bereitschaft, sich unterzuordnen, sehr nachgelassen hat. Er muss harte Entscheidungen treffen, damit der Unterricht irgendwie stattfinden kann, was ihm keineswegs gedankt wird – wenn man davon absieht, dass der Direktor bei den Schulräten sein Loblied singt. Wer weiß, wozu dies gut sein wird.

Ihr mögt euch dies in der relativen Geborgenheit des Hofes und der behaglichen, wenn auch etwas reduzierten Fülle von Scheuer und Speisekammer wohl nicht vorstellen. Man konnte es sich auch nicht vorstellen, ehe dieser Krieg begann und ehe nun die Missernte des letzten Herbstes und die Bedürfnisse der Front und, wie Johannes vermutet, auch manches Versagen der administrativen Lenkung diesen furchtbaren Winter zur Folge hatten, der nun gottlob zu Ende geht. Wohin man nur schaut: Alle Grünflächen unseres Bezirkes sind umgegraben und zu Kriegsgärten geworden, von denen man Früchte und Gemüse und wohl auch Kartoffeln zu ernten hofft. Die Grundlage, und zu oft auch Hauptbestandteil aller Mahlzeiten, waren und sind Steckrüben. Unsere gute Mamsell und ich haben viel zu tun, aus diesem Einerlei doch immerhin mehrgängige Menüs zusammenzustellen, die es rechtfertigten, dass man dreierlei Geschirr und unterschiedliches Besteck auf den Tisch stellt. Man hält doch auf sich. Wir sind keine kleinen Leute.

Ja, dass Johannes, Heinrich und ich – und dass die keimende Frucht meines Leibes, das junge Leben, dessen Ankunft wir für August erwarten dürfen – diesen Winter überlebt haben, das verdanken wir nächst Gott vor allem euch und den lieben Gaben, die ihr uns, so oft es euch denn wohl möglich war, auf dem Postweg habt zukommen lassen. Gepökeltes, Geräuchertes, Speck und Kartoffeln haben uns, auch wenn die Menge insgesamt in sehr kleine Portionen geteilt werden musste, über das Allerärgste hinweggeholfen. Ohne dies wären wir wahrscheinlich verhungert – denn andere Wege, mehr und anderes als diese schrecklichen Rüben zu erhalten, haben wir nicht. Ja, es gibt einen nicht allzu reichhaltigen Schwarzmarkt, aber angesichts der Stellung von Johannes kann ich ihn nun einmal nicht aufsuchen. Mich hat tief berührt, dass die Majestäten, unsere Kaiserin und unser Kaiser, sich jüngst dazu herabgelassen haben, sich unter das Volk zu mischen und an einer Volksspeisung in der Markthalle am Alexanderplatz teilzunehmen. Ich schreibe euch dies alles, obwohl ich weiß, dass es euch das Herz beschwert und obwohl ich weiß, dass auch ihr es, wie der Berliner sagt, wohl nicht so dicke habt. Aber ich bitte euch, ich flehe euch an, sendet uns weiterhin, was ihr entbehren könnt!“

„Berlin-Friedenau, 13. August 1917

Liebe Schwiegermama, liebe Schwiegerpapa, diesen Sonnabend, wenige Minuten vor Mitternacht, hat uns Gott unser zweites Kind geschenkt. Es ist ein Sohn! Sein Name sei Friedrich. Wir haben den Namen mit Bedacht gewählt. Wir wollen in ihm all unser Sehnen ausdrücken, dass dieser schwere, schwere Krieg endlich ein Ende finden, dass Gott uns Frieden schenken möge. Aber dieser Name birgt ja noch mehr. Johannes hat es mir gesagt: In -rich verbirgt sich aus altdeutscher Zeit die Bedeutung ‚reich und mächtig‘. Und dass dieser unser im schwersten Kriegsjahr empfangene Knabe einst mächtig sein und unser Reich schützen helfen möge, ja, dass er ein Held sei, wie ihn unser geschundenes Vaterland brauchen wird, das, liebe Schwiegereltern, wünscht sich von Herzen eure getreue Auguste.“

„Berlin, 10. Januar 1918

Freut euch, liebste Schwiegereltern, dass ihr in Zeven doch so weit vom Schuss in relativer Ruhe, wenn auch vielleicht nicht ganz in der gewohnten Behaglichkeit leben könnt.

Es ist ja nicht nur so, dass wir in allem doch sehr beschränkt leben müssen und oft Hunger haben und häufig kaum wissen, wie wir unsere Teller füllen können. Das ist schon schlimm genug. Schlimm ist aber auch, dass uns, wenn man vor die Tür tritt, das Elend anspringt. Von meinem Bruder Konrad, dem begnadeten Wundchirurgen – man hat ihn zum Oberstabsarzt befördert – höre ich, welche Wunder die moderne Chirurgie an den Schwerverletzten vollbringen kann. Wackere Soldaten, die früher im Felde verblutet wären, werden nun wieder zusammengeflickt, sodass sie überleben. Freilich um welchen Preis! Die weggeschossenen oder amputierten Gliedmaßen bringt kein Meisterchirurg zurück. Ein Gesicht, dem die Nase oder ein Teil des Kiefers fehlen, ist nun einmal nicht wiederherzustellen. Immer mehr dieser verunstalteten Kreaturen begegnen uns in den Straßen und halten uns vor Augen, welch entsetzlicher Krieg uns aufgezwungen worden ist. Ja, und das bisschen Hunger wird dann schon erträglicher, wenn man sehen muss, wie schlimm der Kriegsgott zulangen kann. Derlei Anblick, denke ich, bleibt euch im schönen und abgelegenen Zeven erspart.

Eure getreue Auguste.“

Am 26. Januar 1918 fand in der Aula des Pestalozzi-Gymnasiums die jährliche Feier zu Kaisers Geburtstag statt. Da der 27. Januar auf einen Sonntag fiel, hatte sich die Schulgemeinde am Vortag in der Aula der Anstalt versammelt. Um bei kriegsbedingt reduzierter Lehrerschaft, sehr wenigen Primanern und Unterprimanern gleichwohl ein würdiges Bild der Fülle zu bieten, waren der Oberschulrat, der evangelische und der katholische Pfarrer, ein emeritierter General, Kaufleute, Ärzte und Apotheker und die Gattinnen des Lehrkörpers gebeten. Einige der Damen folgten dieser Einladung, Auguste war dabei. Die Aula war ein dunkler Raum, braun getäfelt und durch hohe Bäume verschattet. Die tiefstehende Januarsonne warf durch das Halbdunkel einen Strahl auf das große Porträt des Kaisers, das, mit Lorbeer umkränzt, die Bühnenmitte schmückte. Den Lorbeer hatten Sextaner unter Anleitung ihres Kunstpädagogen aus grüner Pappe geschnippelt. Die ohnehin kleine staubweißgraue Pestalozzi-Gipsbüste, die hoch über der Bühne befestigt war, verlor dagegen jede Geltung.

Vor der Bühne hatte Eckhoff das umständehalber nur aus acht Schülern bestehende Schulorchester postiert. Die Leitung hatte der einarmig von der Front zurückgekehrte Musiklehrer. Es eröffnete den Festakt mit einer rhythmisch schwankenden und bisweilen kieksenden Trompetenintrada und beendete sie mit einem inbrünstigen Heil dir im Siegerkranz!, das von den Versammelten stehend mitgesungen wurde.

Dazwischen nun die Rede von Direktor Dr. Behrendt unter dem Titel „Militarismus und Humanismus, die Wurzeln deutscher Kraft“. Eckhoff hatte veranlasst, dass hinter das Rednerpult ein Podest gestellt wurde, auf dem Behrendt stand. So wirkte er von unten aus dem Publikum gesehen nahezu imposant. Noch raumgreifender erschien er, wenn er mal den linken, mal den rechten Arm, mal beide zur Decke des Saales streckte. Sein Lispeln war da ohne Belang und wurde nicht bemerkt. Er begann:

„Die Wünsche aller deutschen Herzen vereinigen sich an diesem Tage zu dem einen, der dem Kaiser gilt.“ Behrendt wendete sich nach rechts, wo Kaiser Wilhelms Porträt ins Ferne blickte, und verneigte sich. „So ein Tag hat immer eine sammelnde, eine erhebende Kraft. Solche Sammlung tut uns not. Wir kämpfen ja einen Kampf um Sein“ – der linke Zeigefinger erhob sich zur Decke – „und Nichtsein“ – der rechte Zeigefinger löste ihn ab. „Um hier zu bestehen, um hier zu siegen, bedarf es der deutschen Art. Welches ist nun aber deutsche Art, welches sind die Wurzeln deutscher Kraft, die dem deutschen Eichbaume festen Halt geben im Weltensturme? Diese Wurzeln sind Militarismus“ – linke Hand nach oben – „und Humanismus“ – rechte Hand nach oben.

„Was ist Militarismus?“ Linke Hand. „Es ist der edle Preußengeist, staatsbürgerlicher Gemeinschaftssinn, Gerechtigkeit, strenge Sachlichkeit, gewissenhafte Pflichterfüllung, zähe Ausdauer, unerschütterlicher Wille, vorwärtsdrängende Tatkraft.

Was ist Humanismus?“ Rechte Hand. „Das ist, im weitesten Sinne gefasst, die harmonische Ausbildung der Anlagen des Gemütes und des Verstandes. Kein Mensch hat dies in so vollendeter Form zum Ausdruck gebracht wie Goethe. Wie für den Militarismus Friedrich der Große, so ist für den Humanismus Goethe die überragende Persönlichkeit.