Rafiki - Meja Mwangi - E-Book

Rafiki E-Book

Meja Mwangi

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Beschreibung

Rafiki, den Mann mit der Gitarre, kennt jeder in Nanyuki. Immer freundlich, immer fröhlich, immer knapp bei Kasse tingelt er durch die maroden Straßen der Stadt. Er wäre ein glücklicher Mann, hätte seine Frau Sweettea ihm nicht die Pistole auf die Brust gesetzt: Wenn er nicht endlich das Geld für das Studium seiner Tochter verdient, verlässt sie das Haus mit allem, was darin ist. Rafiki, der gut ohne Geld, aber keinesfalls ohne Sweettea leben kann, muss schnell handeln und beschließt einen bewaffneten Überfall auf das Abzahlungsgeschäft der Brüder Manu und Manish Patel. Doch deren Kasse ist ebenfalls leer, weil die Kunden ihre Fernseher, Kühlschränke und Radios zwar kaufen, aber die Raten nie bezahlen. Rafiki, berührt von der Lage der bankrotten Inder, fasst einen Entschluss: Er wird das Geld persönlich eintreiben oder die Waren zurückholen. Für die Patel-Brüder, für Sweettea, für die Moral der ganzen Stadt! Eine großartige Komödie voller skurriler Dilettanten! Allen voran Rafiki, der als selbsternannter Ritter durch die in Armut versinkende Stadt zieht, um mit zweifelhaften Methoden eine neue Moral zu erzwingen. Meja Mwangi zeichnet die kenianische Gesellschaft mit Galgenhumor und der leisen Hoffnung auf neue Helden: die Frauen und ihre Kinder.

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Meja Mwangi

Rafiki

Roman

Aus dem Englischen vonThomas Brückner

Peter Hammer Verlag

Den stolzen Nanyukiernüberall gewidmet.Hakuna kama sisi.

Kapitel 1

Für Nanyuki, unser Nanyuki, eine geschäftige Großstadt mit so … so unzählig vielen Einwohnern, war es die Story des Jahrhunderts, dass uns die jüngste Volkszählung, genau wie alle vorangegangenen, dazu trieb, uns selbst noch einmal zu zählen und uns darüber zu wundern, wie eine Regierung, der so viel Geld, so viele Autos und so viele Beamte zur Verfügung standen, nicht zählen konnte.

Wir zählten mehrere Millionen, wenn unsere Nullen richtig waren, die wir nachts im Schein des Feuers und ohne den Segen eines Computers oder eines Abakus zusammenrechneten, nachdem die Regierungsvertreter wieder weg waren. Und sie waren richtig.

Soweit es uns anging, waren unsere Nullen nicht nur belastbar, sie waren auch weniger, als sie gewesen wären, hätten wir dieselben Mittel zur Verfügung gehabt wie die Regierung. Und allein nach den Zahlen geurteilt, waren wir eine Großstadt. Egal, was andere behaupteten.

Zugegeben, wir hatten weder eine Kathedrale noch ein Rathaus, aber wir besaßen eine prächtige County Hall und so viele Kirchen und Moscheen, Bars und Fleischereien, dass wir uns Metropole nennen konnten, Megalopolis, Mega-City oder Mega-Irgendwas, weil wir, verdammt noch mal, die Voraussetzungen erfüllten. Und warum auch nicht, wenn man sich vor Augen hielt, dass zerlumpte Gemeinden nicht weit von uns, die ebenso bedürftig und staubig waren, sich als Kommunen bezeichneten, als Industrie- oder gar als Satellitenstädte. Manche sahen sich sogar als Fürstentümer, was immer das heißen mochte, und regelten ihre Angelegenheiten im Stile von Familiendynastien.

Um all dem die Krone aufzusetzen und unseren Anspruch auf Größe zu zementieren, gehörte uns nach unseren Berechnungen außerdem einer der höchsten Berge der Welt. Wir hatten einmal versucht, ihn von Nanyukis Zentrum aus zu vermessen, aber noch bevor wir auf unserem Weg den Berg hinauf den Nanyuki River überquert hatten, war uns schon das Maßband ausgegangen. Es stand außer Frage, dass er der majestätischste Anblick im Umkreis vieler Meilen war. Soweit es uns anging, stellte er tausend Kathedralen in den Schatten, weil er zugleich der zweithöchste Berg Afrikas war.

Wir hatten außerdem Anspruch auf ein Stück von unserer Hälfte des Kilimandscharo, des höchsten Bergs in Afrika, doch der musste noch zwischen den Nanyukiern, den Chagga, der Regierung Tansanias und all jenen ausgehandelt werden, die ebenfalls einen berechtigten Anspruch besaßen.

Unsere Ansprüche waren größer als unsere Möglichkeiten, und wir waren stolz darauf.

Das lag in unserer Natur, es war keine Habgier. Das hatte uns zu denen gemacht, die wir waren. Wären wir wirklich habgierig, hätten wir auch einen Teil des Indischen Ozeans beansprucht. Wegen all des Wassers, das unsere Flüsse, der Nanyuki und der Liki, in den Euaso Nyiro ergossen, der es zum Tana trug, der es seinerseits die ganze Strecke bis zum Ozean transportierte und großzügig die Welt beschenkte. Und sogar das Ereignis, das für uns eine Kapriole der Jahrhunderte sein sollte und uns, wenn er denn Erfolg gehabt hätte, einen Helden von unserem Fleisch und Blut geschenkt hätte, von dem wir für den Rest unseres Lebens singen könnten, sogar das wurde von Liebe und nicht von Habgier genährt.

Wie viele andere Missgeschicke begann es damit, dass ein Mann sich als Mann beweisen, den Erwartungen seiner Frau gerecht werden und zahllose unverschämte Forderungen und Verpflichtungen erfüllen sollte, die ihm allein dadurch aufgeladen wurden, dass er ein Mann war. Und wie viele solcher spontanen Unternehmungen ging alles, wie vorherzusehen war, gründlich schief. Das lag nicht allein am Fehlen jeglicher Planung, sondern auch am Mangel an Recherche, am Fehlen von Insiderwissen und nicht zuletzt an einem erlahmenden Willen. Der scheiternde Räuber war kein Krimineller, nicht einmal ein Amateurverbrecher. Er war einfach ein ganz gewöhnlicher Nanyukier.

Mannshoch türmten sich die Herausforderungen vor Rafiki, doch wenn es je einen Mann gegeben hat, der sich der Herausforderung stellte, in einem stetig kleiner werdenden Spielraum zu beweisen, dass er ein Mann war, dann war er, dessen Name »Freund« bedeutete, dieser Mann. Rafiki ging spät ins Bett, bereit, es mit allen Schrecken der Nacht aufzunehmen, und stand früh auf, voller Zutrauen, er könne sich allen Prüfungen stellen, die seinen Weg kreuzten, wenn er in seiner Mission unterwegs war, mit der Gitarre und seinen Songs die Nanyukier zu informieren, sie zu bilden und zu unterhalten. Nur mit diesen beiden Dingen, seinem breiten Lächeln sowie seiner Entschlossenheit, Vernunft und Weisheit unter seine Leute zu tragen, streifte er durch die Straßen, auf der Suche nach denen, die Zuspruch brauchten und das Geld besaßen, dafür zu bezahlen. Manchmal zog er seinen überwältigten Zuhörern so viel Trinkgeld aus der Tasche, dass er überzeugt war, er widme sich einer lohnenswerten Unternehmung, einer, die man guten Gewissens als kommunale Dienstleistung bezeichnen konnte.

»Jambo, rafiki«, grüßte er die gleichgültigen Ladenbesitzer, »Möchtet ihr meinen neuen Song hören?«

Meistens wollten sie nicht. Sie lächelten, wenn er in ihre Läden spazierte, schüttelten den Kopf und lächelten, wenn er wieder hinausging und immer noch auf seiner Gitarre klimperte, den Kopf hoch erhoben, mit dem breiten Lächeln, das nicht einen Augenblick lang unsicher wurde.

Für die wenigen, die sich die Mühe machten, seine neuen Kompositionen anzuhören, spielte er mit vollem Einsatz. Manche sagten – und er stimmte ihnen aus vollem Herzen zu –, dass seine Songs sie trösteten und ihnen Kraft schenkten, ihnen Grund gaben weiterzumachen. Wenige nur waren es und für gewöhnlich auch jene, die nicht das Geld hatten, seine Zeit und Mühen zu entlohnen, aber ihre Kommentare machten ihm Mut und bestärkten ihn darin, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

»Ein Song für zehn, ein Song für zehn«, klimperte er sich seinen Weg in die Pirates’ Bar and Restaurant.

An einer Wand der Bar befand sich das große Wandgemälde eines als Pirat gekleideten, lächelnden Gitarristen mit Augenklappe, extrabreitem Sombrero und Rafikis Namen darunter. Eine Handvoll Kunden war da; einige tranken Tee und aßen mandazi, während andere sich an ihrem Frühstücksbier gütlich taten, das ein mürrischer Kellner mit verkaterten Augen servierte. An der mandazi-Vitrine lehnte eine Kellnerin, die Wangen aufgeblasen wie eine miraa kauende Ziege.

»Jambo, rafiki«, grüßte Rafiki sie. »Hallo, Freunde, möchtet ihr meinen neuen Song hören?«

»Nein«, sagte der Kellner missmutig.

»Einsen für nur zehn, drei für zwanzig?«

»Nein.«

Rafiki stimmte dennoch seinen Song an, aber die Kellnerin unterbrach ihn abrupt. »Das kennen wir schon«, sagte sie, die Zähne grün vom halb durchgekauten miraa.

»Wirklich?«, versuchte er es trotzdem. »Aber habt ihr das schon gehört?« Er stimmte den gleichen Song noch einmal an. Es war sein neuester, so neu, dass ihm noch der süße Duft des Nachthemds seiner Frau anhaftete. Der Text war ihm während der quälenden Schlaflosigkeit der letzten Nacht eingefallen, als er neben seiner Frau gelegen und ihrem friedlichen Schlaf gelauscht hatte.

»Das ebenso wie alle anderen«, sagte der Kellner, bevor Rafiki auch nur ein Wort gesungen hatte.

Außer seiner Frau, die ihm befohlen hatte, die Klappe zu halten und weiterzuschlafen, als er damit um drei in der Früh bei ihr Eindruck schinden wollte, hatte noch niemand diese ersten Textzeilen gehört. Doch Rafiki wollte sich deshalb nicht mit ihnen streiten. Es waren seine Leute. Er kannte sie besser als sie sich selbst. Sie waren keine schlechten Menschen. Sie waren Nanyukier.

»Dann eben morgen«, sagte er auf dem Weg hinaus, und zeigte auf das Wandgemälde mit dem Gitarristen. »Der Sombrero ist zu groß.« Er hatte Gerüchte gehört, dass einige seiner Fans Reproduktionen des Bildes an den Lehmwänden ihrer Häuser in Majengo hatten. Das wärmte ihm das Herz. »Und meine Zähne sind auch nicht so groß«, fügte er hinzu.

»Das bist du nicht«, klärte der Kellner ihn auf.

»Wirklich nicht?«, fragte er lächelnd. »Ich bin kein Pirat, aber er sieht aus wie ich.«

»Das bist du nicht.«

»Er trägt meinen Namen.«

»Das bist du nicht.«

»Dann bis morgen«, sagte er und ging zur Tür.

»Mit einem neuen Song?«, fragte die Kellnerin sarkastisch.

»Wie immer«, lachte er. »Ihr kennt mich, ich bin ein hart arbeitender Mann.«

Sein Telefon klingelte. Er kramte in seiner Tasche und zog ein Nokia-Handy hervor, das schon bessere Tage gesehen hatte. Er führte es theatralisch ans Ohr und räusperte sich. »Man Guitar«, sagte er und stellte die Stimme auf Geschäftston.

»Ja, genau der. Rafiki. Was? Wer ist da? Wer sind Sie? Ati, wewe nani? Wewe nani? Oh, ni wewe Sweettea? Kwani una homa? Du bist erkältet? Seit wann? Pole, Sweettea, tut mir leid, aber ich habe nicht gemerkt, dass du erkältet bist. Ich war zu müde. Weil ich den ganzen Tag für dich gearbeitet habe. Ja, auch für meine Kinder. Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut. Ich arbeite hart, um dich zu unterstützen. Hab ich immer. Erinnerst du dich, als es dir in den Sinn gekommen war, Stadträtin für den Distrikt Majengo zu werden? Die Leute haben gedacht, ich wäre auch verrückt geworden, so wie ich dich als die moderne Wangu wa Makeri gepriesen habe. Du erinnerst dich an den Song, den ich zu deinem Lob gesungen habe. Sie, der erste weibliche Chief der Gikuyu, war auch eine gute Frau, stark und zäh. Tut mir leid, Sweettea, aber ich konnte nicht ahnen, dass die Leute das so auffassen würden. Ich weiß, Sweettea, manche Dinge sind einfach unmöglich, andere nicht für Frauen. Was für Dinge? Darüber reden wir, wenn ich nach Hause komme; ich hab jetzt zu tun. Soll ich nach der Arbeit ein paar Aspirin mitbringen?«

Schnell klappte er das Handy zu und steckte es, ein wenig verunsichert, in die Tasche, drehte sich um und bemerkte, dass das ganze Restaurant ihn wartend ansah. »Die Frau«, erklärte er ihnen. »Sie ist erkältet.«

»Stimmt es, dass sie die Hosen anhat?«, fragte die Kellnerin mit all der Ernsthaftigkeit einer miraa-Konsumentin.

»Hör mit dem miraa-Kauen auf«, riet er ihr.

Draußen auf der Straße grüßte ihn herzlich ein Blechbüchsenbettler: »Jambo, Rafiki.«

»Jambo, rafiki«, antwortete er.

Der Mann stammte aus dem alten Majengo und war in den vergangenen Zeiten, als das Brauen von illegalem Bier noch eine Kunst war, ein Braumeister einigen Ansehens gewesen. Er konnte ein Fass mit gefährlich starkem machore, ausreichend um ganz Mogadishu betrunken zu machen, in weniger als acht Stunden auf den Tisch bringen und verwendete dabei nur Zucker, Honig und getrocknete Aloewurzel. Mehr noch, er war so geschickt, es zu vergraben, dass die Polizei warten musste, bis er sein Gebräu ausgrub, wenn sie ihn zusammen mit seinen Kunden verhaften wollte. Und er zeigte sich der Polizei so erkenntlich, dass er und seine Kunden nie länger als eine Nacht im Gefängnis verbrachten. Seinen Kunden gefiel es, dass sie nicht fürchten mussten, in den Zellen zu verrotten, wenn sie bei ihm tranken.

»Machore kann euch neue Stiefel kaufen«, verhöhnten sie die Polizisten. »Was könnt ihr für uns tun?«

Dann, als Machore eines Nachts seinen Erholungsaufenthalt im Gefängnis genoss, wanderten alle seine Kunden und einige seiner Konkurrenten in den Wald von Liki ab und erklärten sich dort zur autonomen Stadt, in der sie brauen und trinken konnten, ohne dass sie eine Verhaftung fürchten mussten, und das Geschäft des Braumeisters ging ein. Er konnte seinen Kunden nicht in das neue Land folgen, weil ihm ein Teil des Hauses seiner verstorbenen Mutter gehörte und er deshalb ebenso verachtenswürdig wie jeder Hausbesitzer war. Im Liki Village war er so willkommen wie eine Lastwagenladung Polizisten. So auf sich gestellt, mit einem Mietshaus ohne Mieter und als Schwarzbrauer ohne Trinker, blieb Machore nichts anderes übrig, als sich nun als Blechbüchsenbettler durchzuschlagen.

»Sing mir einen Song«, bat er Rafiki.

»Hast du Geld?«

»Du etwa?«

Sie lachten. Der Mann klapperte mit seiner Blechbüchse. »Nani kama sisi?«, krähte er. »Wer ist wie wir?«

»Hakuna kama sisi«, klimperte Rafiki vor sich hin. »Keiner ist wie wir.«

Sie waren waschechte Söhne unserer Stadt. Sie könnten ohne Geld leben, wenn die Welt sie ließe.

Kapitel 2

In den alten Zeiten war das Stadtzentrum von Nanyuki in zwei Gebiete unterteilt. Das eine Viertel bestand aus der Main Street, den umliegenden Büros des Distriktchefs und der Verwaltungsabteilungen. Die Main Street war ausschließlich europäischen Geschäften vorbehalten. Hinter der Main Street begann, in gebührlichem Abstand zur Hauptstraße, das asiatische Viertel. Die europäischen Siedler konnten in beiden Vierteln einkaufen, die Asiaten hingegen durften nur in ihrem asiatischen Viertel verkaufen. Den Bewohnern von Majengo war es nur erlaubt, in den Läden der Asiaten einzukaufen. Diese Rassentrennung verlangte das Gesetz. Jeder, der dabei ertappt wurde, die Grenzen der Hautfarbe zu überschreiten, bekam das Gesetz zu spüren. Man nannte das die Rassenschranke.

Erst nach dem Mau-Mau-Krieg, als die Stacheldrahtzäune fielen, die Patels ihr Geschäft in die Main Street verlegten und jeden Kunden ungeachtet seiner Hautfarbe willkommen hießen, bekam Majengo heraus, welche Waren in den Geschäften auf der Main Street verkauft wurden.

Patels Kauf auf Raten fand man auf halbem Weg die staubdurchwehte Main Street hinauf zwischen einem Schuhgeschäft und einem geschlossenen Buchladen, der einst richtige Bücher verkauft hatte. Manish Patel, der älteste der Brüder, saß an einem riesigen alten Schreibtisch, auf dem sich staubige Akten türmten, und starrte so angestrengt auf den Eingang, dass er gar nicht bemerkte, wie Rafikis breites Lächeln hereinmarschierte.

»Jambo, rafiki«, grüßte er sie. »Hallo, Freunde, ich hab einen Song für euch.«

Manu Patel, der jüngere Partner, winkte ihn geschäftig weg und hämmerte mit dicken, wütenden Fingern weiter auf seinen Tischrechner ein. Rafiki bahnte sich seinen Weg um staubbedeckte Kühlschränke herum, vorbei an elektrischen und Gaskochern zu eingestaubten Couchgarnituren und weiter bis in den hintersten Winkel des Ladens, in dem Manu Patel an einem noch größeren Schreibtisch mit dem Schild »Manager« saß.

»Kostet nur zwanzig Shilling«, bot er an. »Ein sehr guter Song.«

Manu zeigte zur Tür. Rafiki lungerte herum, klimperte auf seiner Gitarre und summte den neuen Song. So lief es nahezu immer ab, wenn Rafiki vorbeikam. Manu beachtete ihn so wenig wie möglich, und Rafiki hielt aus, bis er nachgab.

»Hier«, er warf ihm ein paar Münzen hin, »jetzt gehst du, und komm ja nicht wieder und nerv mich.«

Auch das lief immer so ab.

»Erst singe ich meinen Song.« Rafiki stimmte die Gitarre. Zwei Saiten hätten schon längst ersetzt werden müssen und waren zum Zerreißen gespannt. »Kula na kulipa«, sagte er und drehte an den Wirbeln. »Ich esse, und ich spiele. So mach ich das.« Er drehte weiter an den Stimmwirbeln und führte Selbstgespräche, während Manu mit den Zähnen knirschte und sich am Schreibtisch festklammerte, um seine Wut zu zügeln. Dann, als Manu schon aus der Haut fahren wollte, brachte Rafiki die Gitarre, so gut es eben ging, zum Klingen, und stimmte seinen neuen Song an. Manu hielt sich die Ohren zu. Manish hingegen schien überhaupt nichts zu hören und starrte nur weiter mit grimmigem Gesicht zur Tür.

Der Song war noch unfertig, entledigte sich immer noch seines Kokons und der Dunkelheit der vergangenen Nacht. Rafiki hatte in kaum zwei Stunden Arbeit den Text verfasst, bevor seine Frau ihn gebeten hatte, den Song beiseitezulegen und wieder zu schlafen. Jetzt sang er ihn bis zum vorläufigen Ende, entschuldigte sich laut und aufrichtig bei seinem Publikum, dem nicht gerade viel daran lag, und erklärte ihm, dass der Song mit der Zeit besser werden würde. »Ist noch in Arbeit«, sagte er, während er die Münzen vom Fußboden aufsammelte, wo sie sich verteilt hatten. »Und, zu deiner Information, ich bin Musiker, kein Bettler.«

»Auch egal«, schien Manu mit seinem Achselzucken zu sagen.

Rafiki bahnte sich seinen Weg durch die Reihen verstaubter Haushaltgeräte. In der Nähe des Eingangs blieb er stehen, um einen vierflammigen Gaskocher zu bewundern. »Mein Frau wünscht sich so einen Kocher«, sagte er zu Manu.

»Sag ihr, dass du dir den nicht leisten kannst«, riet ihm Manu.

Rafiki lächelte und ging hinaus. Ein paar Schritte von der Ladentür entfernt setzte er seinen Sombrero ab, unter dem ein weiterer Hut zum Vorschein kam, stellte den Sombrero auf den Bürgersteig und fing zu spielen an. Die Passanten ignorierten ihn rundheraus. Er spielte weiter, mit seinem breiten Lächeln, sang und verwickelte sie in ein einseitiges, unbeschwertes Geplänkel, hielt ab und zu inne, um seine Gitarre zu stimmen und die Einnahmen zu zählen. Er brauchte neue Saiten, und er brauchte neue Plektren. So wie es aussah, war er vom einen wie vom anderen weit entfernt.

Die Sonne hatte die Gipfel frei geräumt, ergoss sich jetzt in Kaskaden den Berg herab und verkündete Nanyuki einen sehr heißen Tag. Der Gehsteig heizte sich auf. Rafiki schwitzte bereits.

Im Laden hinter ihm saßen Manu und Manish Patel an ihren angestammten Schreibtischen und schlugen sich mit ihren Problemen herum, während Rafiki ihre Ohren mit einer Kakophonie malträtierte, die selbst für ungeübte Ohren ziemlich schräg klang.

»Manish!«

Rafiki hörte Manu schreien und drehte sich um. Er hatte direkt vor ihrer Eingangstür Stellung bezogen und konnte sie, wenn er über die Schulter blickte, sehen und hören.

»Du bist dran«, sagte Manu und machte eine Geste zur Tür hin.

Manish starrte zum Eingang. In Sturzfluten ergoss sich die Musik in den Laden. Manu sprang auf und stürmte zur Tür. »Du!«, fuhr er Rafiki an.

»Ja?« Rafiki lächelte ihn an.

»Ich hab dir schon mal gesagt: nicht vor dem Geschäft.«

Er war ungewöhnlich gereizt. Rafiki, der immer noch lächelte, hob seinen Sombrero auf und trat ein paar Schritte zur Seite. Sobald Manu wieder im Laden war, ließ er den Hut fallen und spielte weiter. Dann hörte er einen neuerlichen Schrei.

»Du!« Es war wieder Manu, der in der Tür stand und Feuer spie. »Songa mbele«, winkte er Rafiki weg. »Zieh Leine.«

»Was ist los, rafiki?«, fragte Rafiki ihn. »Warum heute so wütend?«

»Potea«, erwiderte Manu. »Verschwinde.«

Das ist ein seltsamer Tag, dachte Rafiki. Er kannte die Brüder als ruhige, freundliche Menschen, die kaum je die Stimme hoben, wenn sie sprachen. Noch nie waren sie so wütend auf ihn gewesen oder so genervt von seiner Musik.

Immer noch lächelnd hob er seinen Sombrero auf und zog ein Stück weiter vom Eingang weg. Manu ging wieder hinein. Rafiki legte seinen Hut ab. Dann kam ein weiterer Bettler vorbei, der mit seiner Blechbüchse von Laden zu Laden rasselte. Er war neu in der Stadt, sonst hätte er nicht so früh am Morgen Manus Geschäft betreten, um zu betteln. Die ortsansässigen Bettler wussten, dass die Patels, wenn überhaupt, nicht vor dem späten Nachmittag Almosen verteilten. Rafiki hörte hinter sich ein Belfern, und der Bettler kam erschreckt aus dem Laden geschossen. »Was ist denn mit denen los?«, fragte er.

»Zu früh«, antwortete Rafiki.

Der Mann linste in Rafikis Sombrero. »Kweli utajaza hii ndoo leo?«, wunderte er sich. »Kriegst du den Kübel jemals voll?«

»Ich bin kein Bettler«, klärte Rafiki ihn auf. »Potea.«

Der Bettler setzte seine Runde fort. Rafiki spielte weiter. Manu tauchte erneut in der Ladentür auf, sein graues Haar stand ihm zu Berge, die Bartstoppeln stachen als wütende Borsten hervor. Rafiki bedeutete ihm, dass er, wie verlangt, weggerückt war. Er stand auf der zentimeterbreiten Grenze zum nächsten Geschäft. Das war Niemandsland, seiner Meinung nach.

»Kwenda kabisa«, sagte Manu. »Verschwinde.«

»Ati kabisa?« Rafiki kam stattdessen näher, immer noch lächelnd, und flehte, er hätte Frau und Kinder, die etwas zu essen wollten.

»Ich bin nicht deine Mutter«, sagte Manu. »Mimi siyo mama yako. Potea! Hau ab!«

»Sei nicht so, rafiki«, sagte Rafiki. »Ich will keine Almosen von dir. Ich bin ein arbeitender Mensch.«

»Arbeite woanders«, forderte Manu ihn auf. »Such dir eine richtige Arbeit.«

Rafikis Blick wanderte an Manu vorbei in den Laden dahinter. Manish stand, mit einem Seil in der Hand, auf seinem Schreibtisch. Während Rafiki zusah, befestigte der ältere Patel das eine Ende des Stricks am Deckenventilator über sich und band das andere zur Schlinge.

»Was tut er da?«, wunderte Rafiki sich laut.

Manu drehte sich um und sah nach, gerade als Manish sich die Schlinge um den Hals legte und vom Tisch springen wollte.

»Manish«, sagte er mit ruhiger, brüderlicher Stimme, »das kannst du hier nicht tun. Was sollen denn die Kunden denken?« Dann überließ er es seinem Bruder, über die Konsequenzen nachzusinnen, drehte sich wieder zu Rafiki um und befahl ihm, er solle verschwinden, potea.

Das ist wahrhaftig ein seltsamer Tag, dachte Rafiki, während er seine Sachen zusammenpackte und den Sombrero aufhob, bereit weiterzuziehen. Ein Telefon läutete. Manu und er kramten in ihren Taschen. Beider Handys waren zerbeult, kaum zu hören und hatten denselben Klingelton. Rafiki zog als Erster sein Nokia hervor; es war so alt, dass es mit durchsichtigem Klebeband zusammengehalten wurde. »Man Guitar«, sagte er und stellte seine Stimme auf professionelles Timbre um. »Ja, das bin ich, Man Guitar, guten Freunden auch als Rafiki bekannt.«

Manu überließ ihn seinem Anruf und ging in den Laden. Rafiki lehnte die Gitarre ans Schaufenster und lief auf und ab, während er telefonierte. »Ati nini?«, sagte er. »Kwa sababu gani? Hapana, Sweettea, wacha hiyo maneno. Usinifanyie hivyo. Warum kommst du jetzt damit, wenn ich arbeite? Warte, bis ich nach Hause komme. Nein, du wartest auf mich, okay? Ich sagte, du wartest, hast du mich verstanden? Mach ja keinen Unsinn, bevor ich nach Hause komme. Nein, Sweettea, du weißt, dass ich es nicht so meine. Du wartest auf mich.«

Dünner, klebriger Schweiß rann ihm das Rückgrat hinunter, als er auflegte. In einem Wutanfall riss er sich den Sombrero vom Kopf, schleuderte ihn auf den Gehsteig und stimmte ein weiteres Mal seinen neuen Song an. Sollte nur einer versuchen, ihn daran zu hindern. Er hatte die Nase voll von Leuten, die ihm sagten, was er zu tun hatte. Er war Man Guitar, der Entertainer, und vor allen Dingen sein eigener Herr.

Verblüffenderweise floss der Song, der bisher allen Bemühungen um ein Ende getrotzt hatte, in diesem Augenblick der Entschlossenheit, im stillen Auge seiner Wut, mit einem Mal ungehindert, schien sich selbst fertig zu schreiben, da er seine ganze Wut hineinlegte. Es war so klar und harmonisch lebendig auf Fingerspitzen und Lippen; seine Wut hatte sich in Genialität verwandelt. Er unterbrach sich, um neuerlich die Gitarre zu stimmen, bevor alle Wut verbrannt war, und zog dabei einen Stimmwirbel zu fest an. Eine Gitarrensaite riss mit trostlosem Klirren, das man bis zur County Hall am Ende der Straße hören konnte.

Er hob seinen Hut auf und ging los, die Straße hinauf. Er kam bis zur Post, blieb unentschlossen stehen, drehte sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Auf der Höhe von Manus Kauf auf Raten trat er aus einem Impuls heraus, den die Verzweiflung befeuerte, plötzlich wieder in den Laden. »Gehört euch etwa die Stadt?«, verlangte er von der Tür her zu wissen.

Manu gab sich Mühe, ihn nicht zu beachten.

»Du hältst dich wohl für Gott, nur weil du Geld hast? Ich spiele in dieser Stadt, wo ich will. Ich bin Man Guitar!«

»Raus aus meinem Geschäft!« Wütend sprang Manu auf. »Wenn du nicht sofort aus meinem Geschäft … unserem Geschäft verschwindest, rufe ich die Polizei.«

»Dann ruf auch gleich die Armee und das Überfallkommando«, tobte Rafiki zurück. »Ich gehöre hierher. Ich bin ein waschechter Nanyukier. Hakuna kama sisi?«

Sie starrten einander an. Ein Telefon läutete. Sie unterbrachen die Auseinandersetzung, um in ihren Taschen nach den klingelnden Handys zu suchen. Rafiki fand seins und ging ran, während Manu immer noch damit beschäftigt war, seine Taschen nach dem seinen zu durchforsten.

»Man Guitar«, meldete er sich. »Nein, Sweettea, tu mir das nicht an. Du wartest, bis ich nach Hause komme. Ich arbeite. Ati kazi gani? Du weißt, dass ich auch für dich so hart arbeite. Ich war die ganze Nacht auf und hab einen neuen Song geschrieben. Es ist nicht meine Schuld, wenn diese Schwachköpfe gute Musik nicht zu schätzen wissen.«

Er warf einen kurzen Blick zu Manu hinüber. Der machte sich wieder an seine Arbeit.

»Sikiza, Sweettea«, fuhr er fort. »Hör zu, Sweettea. Ich weiß, dass du es satthast, wie die Dinge stehen. Umechoka na ufukura, lakini, was soll ich machen? Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, wirklich alles, sag einfach, was. Ati, was? Kamelfleisch verkaufen? Wessen Kamelfleisch? Was meinst du damit, mir eine richtige Arbeit suchen?«

Er drehte sich um und sah, wie Manu nickte, als wollte er sagen: »Hab ich’s dir nicht gesagt?«

»Das ist richtige Arbeit!«, brüllte er ihn an.

»Ich schrei dich nicht an, Sweettea«, sprach er ins Telefon. »Ich bin wütend auf den Mann hier, der mir meinen Tag kaputtmachen will. Für ihn ist das, was ich mache, keine Arbeit. Er ist nicht mit dir einer Meinung, er kennt dich nicht. Du bist ihm nie begegnet. Er ist … einfach ein anderer Mann. Ich unterstütze dich doch auch, Sweettea, hab ich immer. Als du Chief von Majengo werden wolltest? Ich kann nichts dafür, wenn die Leute nicht wollen, dass eine Frau ihnen sagt, was sie zu tun haben. Männer – und Frauen auch. Ich weiß es einfach. Welche Frauen? Jetzt fang nicht wieder damit an. Du bist schuld, dass ich in der Band aufgehört habe. Ich will nicht wieder in einer Band spielen. Was würde dich glücklich machen? Sie ist auch meine Tochter. Und wo soll ich bis zum Abend das Geld auftreiben? Willst du, dass ich raube oder stehle? Was? Was meinst du damit, dich wie ein richtiger Mann unterstützen? Hallo? Hallo? Sweettea? Hallo?«

»Sie hat aufgelegt«, sagte er zu Manu.

Manu hatte ihn vergessen und tippte auf seinem Tischrechner herum.

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte Rafiki laut.

Die Frage kam so unerwartet, war ein derart plötzlicher Wandel in Richtung und Geschwindigkeit, dass Manu innehalten und sie verdauen musste. Dann, als er sie verdaut hatte, wurde ihm klar, dass er nicht wusste, was sie bedeutete oder warum sie ihm gestellt worden war. Er zuckte die Schultern. Es ging ihn nichts an, und außerdem scherte er sich keinen Deut darum. Er hatte sich mit Rafiki bereits länger herumgeschlagen, als ihm an einem Tag gut tat. Er hatte genügend eigene matata und ausreichend eigene Probleme, die den Tag ausfüllten. Obwohl es erst zehn Uhr war, hatte er das Gefühl, als wäre die zweite Hälfte seines Lebens verstrichen, seit er heute Morgen aus dem Bett gestiegen war. Auch Rafiki fiel das anscheinend auf, denn nachdem er gesagt hatte, weswegen er gekommen war, drehte er sich um und ging.

Der Wind hatte neue Kraft gesammelt, wehte böig die Main Street herauf und trieb einen Haufen schwarzer Plastikbeutel vor sich her, die er bei den Pflanzenhändlern an der Nanyuki River Bridge aufgelesen hatte. Er brachte einen sandigen Staub mit, den er die achtzig Meilen von Isiolo herangeweht hatte, um den Nanyukiern eine Kostprobe des Lebens in den nördlichen Bezirken zu geben. Die Plastikbeutel, die den Flug über das Wasser nicht geschafft hatten, waren in den Fluss gefallen und auf eine Tausendmeilenreise zum Indischen Ozean und in die Welt hinaus gegangen. Die übrigen rasten mit den matatu- und den piki-piki-Taxis um die Wette die Main Street hinauf, aus der Stadt hinaus und Richtung Süden zum Äquator. Und wenn der Wind beharrlich blieb, reisten sie von dort die ganze Strecke zurück bis nach Nairobi, wo sie auf die Welt gekommen waren, wenn sie nicht einen großen Bogen um die Stadt machten und auf der Suche nach neuen Abenteuern südwärts flogen. Gerüchte besagten, dass einige Nanyuki-Plastikbeutel in Städten aufgegriffen worden waren, die so weit im Süden lagen wie Kapstadt, wo sie die Anti-Abfall-Gesetze verletzten, aber diese Gerüchte konnten auch auf die Nanyukier selbst zurückgehen, die sich wieder einmal übernahmen und beweihräucherten.

Rafiki stand unmittelbar vor der Ladentür, sah erst in die eine Richtung, dann in die andere, beobachtete, wie die Plastikbeutel vorbeiflogen, und Gedanken der Verzweiflung kamen in ihm auf. Leute, die ihn so sahen, bemerkten auch den dunklen Schatten an seiner Seite, ein Scheinwesen, das beinahe sein Lächeln auslöschte, und sie gingen an ihm vorüber, ohne ihn mit dem gewohnten Jambo, Rafiki zu grüßen. Er stand einige Minuten in der erbarmungslosen Sonne, und wilde Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Mit diesem Augenblick hatte sein Leben den Sinn verloren. Alles, was er war, und alles, was er zu sein versuchte, war von einem einzigen Telefongespräch zermalmt worden. Was er zu sein glaubte, wer er zu sein versuchte, war durch ein einziges Telefonat demontiert und bloßgestellt worden.

»Sie will einen richtigen Mann!« Er schrie es laut genug, dass die ganze Main Street ihn hören konnte. »Ich werde ihr zeigen, was ein richtiger Mann ist!«

Erneut betrat er das Geschäft. Mit schwerem, entschlossenem Schritt ging er zu Manus Schreibtisch und lehnte seine Gitarre dagegen. Dann, ohne ein Wort zu einem der beiden Männer, bückte er sich, langte unter sein rechtes Hosenbein und zog ein Messer mit einer einen Fuß langen Klinge hervor.

Kapitel 3

Vor nicht allzu langer Zeit stand ein Nanyukier, der seiner Frau in Nakuru eine dringende Nachricht übermitteln wollte, frühmorgens auf und lief los. Er brauchte vier Tage hin und vier Tage zurück. Konnte er schreiben und sie lesen, ging er in den Laden an der Ecke, kaufte sich ein loses Blatt Papier und einen Umschlag, borgte sich beim Ladenbesitzer einen Bleistift, nahm Platz und verfasste seine Nachricht. Dafür benötigte er, in Abhängigkeit von seiner Schreibfertigkeit, bis zu einem Tag. Anschließend gab er den Bleistift zurück und machte sich auf den Weg zur Post im weißen Teil der Stadt. Dort wartete er, bis alle Weißen bedient worden waren, bevor er an den Schalter trat und eine Briefmarke kaufte. Es war eine Ehrfurcht gebietende Erfahrung, durch die ganze Stadt zur Post in der Main Street zu laufen. Zeit, Geld, Geduld und Mut brauchte es, wenn man eine Nachricht übermitteln wollte.

Für die meisten von uns spielte das alles kaum eine Rolle. Mit der Post bekamen wir nur zu tun, wenn längst vergessene Verwandte ein Telegramm oder einen Eilbrief aus einem entlegenen Winkel des Universums schickten und finanzielle Unterstützung forderten oder uns darüber informierten, dass gerade ein Verwandter gestorben war, den wir nie kennengelernt hatten, und in einer Woche unsere Anwesenheit bei der Beerdigung erforderlich wurde, sollten wir unser Erbe einfordern wollen. Barmherzigerweise kamen die Briefe für die Beerdigung und die inbegriffenen Wohltaten immer um Wochen zu spät an. Telegramme konnte man auf der Post nur abholen, wenn man einen von den Behörden ausgestellten Personalausweis sowie eine Wohnberechtigung vorwies. Doch zu der Zeit besaß kaum einer von uns diese beiden so überaus wichtigen Dokumente. So war das damals.

Der Brief, der Rafikis Frau davon in Kenntnis setzte, dass ihre Tochter zum Medizinstudium an der Universität von Daressalam zugelassen worden war, brauchte fünf Tage, bis er in ihre Hände gelangte, und weitere fünf Stunden, bis er in seinen landete. Er erfuhr davon im selben Augenblick, als er vom piki-piki-Taxi stieg, das ihn nach Hause gebracht hatte, und das Haus betrat. Bevor er noch seinen Sombrero abgesetzt und sein Sakko aufgehängt hatte, überfiel seine Frau ihn schon mit der guten Nachricht. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum zusammenhängend redete.

»Daressalam?« Das war das Erste, was er mitbekam. »Ist das nicht da unten in Tansania?«

»Da unten.« Sie umarmte ihn voll Freude.

»Warum Daressalam?«, war alles, was ihm zu sagen einfiel.

»Warum nicht?«, fragte sie zurück.

»Warum nicht die Mount Kenya University?«, fragte er. »Die ist viel näher.«

»Sie ist in Daressalam zugelassen.« Auf einmal verhärtete sich ihre Stimme. »Und sie wird hingehen.«

»Was das wohl kostet?«, überlegte er. »Und wer soll das bezahlen?«

Seiner Meinung nach waren dies gute und wohlmeinende Fragen, doch sie missverstand ihn so, als wollte er damit sagen, er wünsche nicht, dass seine Tochter die beste Universität Ostafrikas besuchte.

»Geht es darum, dass sie eine Frau ist?«, fragte sie.

»Du weißt, dass ich Frauen gernhabe.«

Recht bedacht, war das die falsche Antwort. Sie starrte ihn wütend an. Er versuchte sich herauszureden. Es gefiel ihm, wenn Frauen sich gut machten und Erfolg hatten. Er mochte es, wenn Frauen glücklich und voller Freude waren. Er mochte alles an den Frauen. Er begriff, dass er die Situation nicht retten konnte, und gab auf. Dann begann sie zu reden. Sie hielt ihm sämtliches Unrecht vor, das er begangen hatte, seit sie sich kennengelernt hatten, und noch einiges aus der Zeit, bevor sie einander überhaupt begegnet waren. Sie zählte seine zahlreichen Versäumnisse als Ehemann, Vater und Mann auf. Es waren so viele, dass er beinahe darüber eindöste. Er hatte das alles schon gehört und gelernt, wie ein Mann mit seinen Versäumnissen zu leben. Sie allerdings konnte die Dinge nicht ruhen lassen. Vor Kurzem hatte sie damit angefangen, unerfüllbare Forderungen nach Wiedergutmachung zu stellen, und diesen außerdem noch unangenehme neue Aufträge hinzugefügt, für die ihm nur die dürftigsten Ausreden einfielen.

»Sweettea«, versuchte er es, als sie innehielt, um Luft zu holen. »Wie ich schon gesagt habe, sind einige Dinge schlichtweg unmöglich, und andere gehen Frauen nichts an.«

»Was geht Frauen nichts an?« Sie schlug die Arme übereinander und wartete, dass er es ihr sagte.

»Die meisten glauben, dass man ein Mann sein muss, um König werden zu können«, sagte er so behutsam, wie er nur konnte. »Versteh mich nicht falsch, ich stimme denen nicht zu. Ich glaube einfach, dass du dich stattdessen vielleicht zur Prophetin ausrufen und deine eigene Kirche gründen solltest. Das würde funktionieren. Und ich würde dich dabei von ganzem Herzen unterstützen.«

»Prophetin.« Sie nickte langsam und sah sich nach etwas um, mit dem sie ihm eins verpassen konnte. Der einzige Gegenstand in Reichweite war ihre Bibel, und die konnte sie nicht dazu missbrauchen.

»Prophetin.« Sie speicherte diesen Vorschlag für eine spätere Gelegenheit, wenn sie einen mwiko, einen langen Löffel, zur Hand hätte, nickte immer wieder und brannte ihren Blick in seine schwarze Seele. »Prophetin.«

Da er sich nirgends vor dem Feuer in ihren Augen verstecken konnte, schaute er zur Seite. Dann drehte er sich wieder zu ihr hin, weil ihm klar wurde, dass er sich besser noch einmal erklärte, und fing an zu reden. Er habe den ganzen Tag ohne Essen auf den heißen und staubigen Straßen gearbeitet und sei müde, sagte er. Vielleicht dachte er jetzt nicht schnell und logisch genug, gab er zu. Morgen früh wäre es bestimmt viel besser, versprach er.

Es war jedoch bereits zu spät. Und nur weil seine Frau, so eine gute Frau sie auch war, ihn nicht verstand, endete, was eigentlich ein freudiger Anlass war, damit, dass er einem anderen Mann ein Messer an die Kehle setzte.

»Rafiki.« Manu war mehr erschreckt als geängstigt. »Was machst du da?«

»Ich raub dich aus«, antwortete Rafiki.

Manu wollte es nicht glauben. Schon länger, als er sich erinnern konnte, zahlte er dafür, dass er Rafikis neue Songs nicht anhören musste. Und jetzt raubte der Mann ihn aus. Der umgängliche Straßenmusiker, den jeder als rafiki, als Freund, kannte, setzte ihm in seinem eigenen Geschäft in der Main Street vormittags kurz nach elf ein Messer an die Kehle, während draußen die Einkaufslustigen vorübergingen, ohne die leiseste Ahnung, was sich im Ladeninnern abspielte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Er sah die Verwirrung in Rafikis Augen. »Warum?«, fragte er ihn.

»Ich brauche Geld«, antwortete Rafiki.

»Von mir?«

»Und ihm.«

»Bist du verrückt? Wir haben kein Geld.«

»Habt ihr doch, und ich will alles.«

»Wir haben kein Geld«, wiederholte Manu. »Wir sind bankrott. Siehst du das nicht? Pleite, wir machen zu; kein Geld da.«

Rafiki kannte Manu lange genug, um zu wissen, dass er nicht viele Worte machte. Unsicher zitterte das Messer jetzt in seiner Hand. Was nun?, überlegte er. Er suchte in Manus Augen nach Anzeichen einer Lüge.

»Wir schließen endgültig.« Er klang aufrichtig, aber Rafiki war verzweifelt.

»Haki, ich schlitz dich auf, wenn du mir nicht dein ganzes Geld gibst«, drohte Rafiki, und die Verzweiflung festigte den Griff seiner Hand um das Messer.

Manu seufzte matt, zog seine Brieftasche hervor und gab sie ihm. Rafiki leerte ihren Inhalt auf den Schreibtisch und zählte das Geld, Kleingeld zumeist. »Reicht nicht«, sagte er.

»Das ist alles, was ich habe.«

»Was ist mit Manish?«

»Manish?«, rief Manu.

»Huh?«, brummte Manish.

»Er will Geld von uns.« Das sagte Manu auf Hindi.

Rafikis Augen verengten sich misstrauisch.

»Ich hab ihm gesagt, was du willst«, erklärte Manu.

»Und?«

»Sieht er so aus, als hätte er mehr Geld als ich? Das ist alles, was wir besitzen. Nimm es. Geh jetzt, und ich vergesse, dass du mich umbringen wolltest.«

Manu hatte inzwischen begriffen, dass hinter Rafikis irrationalem Verhalten weder ernsthafte Überlegung noch Absicht steckte. Leider. Hätte der Mann seinen hirnlosen Überfall ein halbes Jahr früher veranstaltet, hätten sie alle von seinem Wahnsinn profitieren können. Die Bank hätte nicht gemerkt, dass sie beinahe pleite waren, als der Räuber zuschlug, und die Versicherung hätte sich ihrer angenommen. Wie schade!

»Und jetzt sieh mal.« Er öffnete Schubladen, die mit zerfallenden Ordnern und vergilbenden Akten vollgestopft waren. Alles war mit Staub bedeckt. In einigen Schubladen hingen Spinnweben, und sie rochen nach alter Tinte. Während Rafiki nach einer Erklärung für die Leere suchte und seinen nächsten Schritt überlegte, nahm Manu seine Geldbörse und die Münzen an sich und verstaute sie wieder in seiner Tasche. Rafiki, der langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte, erschien es kaum wert, ihn daran zu hindern. »Ich brauche mehr«, sagte er leise zu sich selbst.

»Dann musst du jemand andern ausrauben«, meinte Manu.

Rafiki kannte sie schon lange. Nie kleideten sie sich in etwas anderes als ihre alten Anzüge mit Krawatten. Sie trugen keinen Schmuck und teilten sich eine Taschenuhr, die Manu in seiner Brusttasche aufbewahrte. Während er sich das vor Augen hielt, zischte seine Wut davon wie die Luft aus einem erschlaffenden Ballon. Für Manu sah er mehr und mehr nach seinem alten, liebenswerten Selbst aus. Nur das Sonnenscheinlächeln fehlte.

Dann läutete das Telefon. Sie suchten nach ihren Handys, und wieder fand Rafiki seins als Erster.

»Man Guitar«, meldete er sich. »Ich bin beschäftigt, Sweettea. Was meinst du mit ›womit beschäftigt‹? Das Geld aufzutreiben, um das du gebeten hast. Bado sijapata, ich hab es noch nicht, aber ich arbeite dran.« Er blickte zu Manu hinüber und erwartete eine Reaktion. Manu starrte ausdruckslos zurück. »Ja, ich weiß, Sweettea«, fuhr Rafiki fort. »Bis heute Abend, und dir ist es egal, wie ich es mache. Dir ist es egal, ob ich meine Gitarre verkaufen muss oder … Hallo? Sweettea. Halloo?«

»Sie hat aufgelegt.« Er schien überrascht. »Sie verlangt Geld von mir und legt einfach auf.«

»Die Freundin?«, fragte Manu.

»Meine Tochter will zur Universität gehen«, erklärte Rafiki ihm. »Meine Frau ist wütend auf mich, weil ich kein Geld habe.«

»Bibi.« Manu schüttelte den Kopf. »Frauen!«

Erneut läutete Rafikis Telefon. »Man Guitar.« Seine Stimme brach bei dem Versuch, so zu klingen, als wäre er noch der Chef, als führte er das Kommando und hätte alles unter Kontrolle. »Ich hab gesagt, warte, bis ich nach Hause komme. Das kann ich jetzt nicht versprechen. Du weißt, dass die Musik mein Liebstes ist. Hallo? Sweettea?«

»Sie hat es wieder getan.« Mit wütendem Klicken ließ er das Telefon zuschnappen.

»Die Musik ist deine Liebste?«, wunderte sich Manu.

»Mein Liebstes, hab ich gesagt.« Und das Messer war wieder da. »Jetzt muss Geld her.«

»Ich hab dir gesagt, dass wir kein Geld haben«, erinnerte ihn Manu. »Frag meinen Bruder. Manish? Sag ihm, dass wir kein Geld haben. Manish?«

Manish grunzte, ohne den Blick vom Eingang abzuwenden.

»Was hat er denn?«, fragte Rafiki.

»Er will sterben.«

»Warum?«

»Seine Frau will nach Indien zurück zu ihren Eltern.«

»Warum?«

»Die Bank will sein Haus«, sagte Manu. »Die will auch mein Haus und mein Auto und sein Auto. Die will alles außer Frauen und Kindern.«

Rafikis Hand mit dem Messer fiel schlaff nach unten. Er war versucht, mit ebenso leeren Händen hinauszugehen, wie er hereingekommen war. Dann, als er darüber nachdachte, erinnerte er sich wieder, dass er und die Patels nicht im Mindesten im selben Boot saßen. Sie hatten Autos, während er nicht einmal ein Fahrrad besaß, und sie hatten jikos und solche Sachen, Herde und andere Haushaltgeräte, die sie zu Geld machen konnten. Alles, was er besaß, war seine Gitarre. Hatten sie überhaupt Kinder in der Schule?

Das Telefon läutete. Rafiki und Manu suchten in ihren Taschen nach ihren Handys. Es war Rafikis. »Man Guitar«, meldete er sich. »Ati nani? Was? Nein, Hakuna, hiyo haiwezekani. Sie können mein piki-piki nicht haben. Warum nicht? Weil ich es nicht mehr habe. Ich habe es verkauft. Weil es meins war, konnte ich es verkaufen. Ich habe Sie bezahlt, als Sie mein Land in Thingithu versteigert haben. Was wollen Sie noch? Mein Blut? Was stimmt mit Ihnen nicht? Sie können die Kühe jederzeit abholen kommen. Wie viele? Ich besitze keine Kühe. Die Viehdiebe haben sie vergangenen Monat entführt. Okay, ich hatte nie Kühe. Ich wusste, dass Sie mir den Kredit nicht bewilligen würden, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt hätte. Ja, ich habe Sie belogen. Genau wie Sie mich. Welches Gesetz gebrochen? Haben Sie mit meiner Frau gesprochen? Was hat sie Ihnen gesagt? Ich sage Ihnen auch, dass Sie sich zur Hölle scheren können.« Er legte auf.

»Die Bank?«, wollte Manu wissen.

»Sie haben mir Geld für ein Motorrad geliehen, das dann einen Unfall hatte«, enthüllte Rafiki.

Manu nickte und schob seine Schubladen zu.

»Wieso hat so ein großes Geschäft kein Geld?«, fragte Rafiki verwundert. »Habt ihr keine Kunden?«

Manu wies mit dem Daumen auf das Plakat hinter sich. Es zeigte zwei indische Händler. Einer hatte Kredit gegeben, ein zweiter nur gegen Bargeld verkauft. Derjenige, der seine Waren gegen bar verkauft hatte, sah wohlgenährt aus und wie ein feiner Herr im dreiteiligen Businessanzug, während derjenige, der seinen Kunden Kredit gewährt hatte, ein dürrer, verhungert aussehender Mann in zerlumptem Anzug war und kahl wurde, weil er sich immerzu den Kopf kratzte. Der erste besaß einen Tresor voller Geldsäcke, während der Tresor des zweiten den Ratten als Spielplatz diente.

»Wie du«, erklärte Manu, »haben sie sich geweigert, uns zu bezahlen.«

»Ich habe die Bank bezahlt.« Rafiki klang beleidigt. »Ich habe jeden Monat bezahlt, wie vereinbart. Dann haben sie die Zinsen erhöht.«

»Genau wie bei uns«, meinte Manu. »Die Bank hat die Zinsen erhöht, die Kunden haben sich geweigert, das zu bezahlen.«

»Wie das?«, wunderte sich Rafiki.

Manu zeigte mit dem Daumen zu Manish hinüber. Alles war Manishs Schuld. Manish hatte nie abgelehnt, jemandem beizustehen, nicht einmal denen, die es nicht verdienten. Für ihn war es ein Dienst an der Gemeinschaft, einen Kredit zu gewähren. Wie Almosen zu verteilen oder jemandem zu helfen. Er hatte Haushaltgeräte auf Kredit verkauft, an alle und jeden, der darum bat. Dann, als Majengos Wirtschaft kurz nach der Mieterrebellion kaputtging, blieb es Manu überlassen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Da hatte er zum ersten Mal begriffen, dass die meisten Schuldner nie in der Lage sein würden, irgendeinen Teil von dem zu bezahlen, wofür sie unterschrieben hatten. Manu hatte sich auf jede erdenkliche Weise bemüht, ihnen dabei zu helfen, dass sie bezahlten, doch vergeblich. Er hatte die monatlichen Raten verringert, angeboten, die Laufzeiten zu verlängern, und die Regeln nach allen Seiten verdreht und gedehnt und gebogen, damit seine Kunden ihren Verpflichtungen nachkommen konnten. Zum Schluss war das alles umsonst, weil die Kunden ihm nicht einmal zur Hälfte entgegenkamen und einfach verschwanden. Ihr Betrug an Manishs Vertrauen verletzte Manu am meisten. Am Ende musste er seine loyalen Angestellten entlassen.

»Du hast sie rausgeschmissen?«

»Gehen lassen«, berichtigte Manu. »Was sollte ich machen ohne die Mittel, ihnen den Lohn auszuzahlen?« Er hatte ihnen aber versprochen, sie wieder einzustellen, sobald das Geschäft besser lief. Doch bis jetzt konnte er, wenn sie ihn anriefen, um herauszubekommen, ob es mit dem Geschäft wieder aufwärtsging, nur sagen: Bado. Noch nicht. Einige erwiderten höflich: Pole, tut mir leid, aber die meisten legten einfach auf.

Kapitel 4

Während unserer Mieterrebellion vor … oh, vor so langer Zeit, bekam der Distriktchef zu spüren, dass die Nanyukier ein hartgesottener und unerbittlicher Haufen waren, ein hinterlistiges Volk, das nicht aufgab, bis es bekam, was es wollte. Wenn sich eine Tür schloss, öffneten wir eine andere, wenn die uns vor der Nase zugeschlagen wurde, suchten wir nach einem offenen Fenster. Waren alle Fenster geschlossen, bohrten wir ein Loch durch die Wand. Wenn alles andere versagte, traten wir die Vordertür ein. Uns verweigerte man nichts. Wir waren Nanyukier und stolz.

Langsam ebbte die Wut ab, die der Anruf seiner Frau ausgelöst hatte. Zerschellte an der Wand aus Wirklichkeit, die die Patels vor seinen Augen hochgezogen hatten, und Rafiki begann, wie ein Nanyukier zu denken. Hier ging es um Geld und auch um Menschen. Aber vor allem um Geld. Er musste bis zum Abend Geld auftreiben.

»Seid ihr sicher, dass ihr überhaupt kein Geld habt?«, fragte er sie.

»Angalia!« Manu lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Tresor hinter sich, der weit offen stand und voller Spinnweben war. »Sieh doch selbst nach!«

Der Tresor war seit Langem nicht geschlossen, geschweige denn abgeschlossen worden. Wieder läutete das Telefon. Sie langten nach ihren Handys. Wieder war es für Rafiki. »Ich sagte, Sie sollen mich nicht mehr anrufen«, schrie er ins Telefon und legte auf.

Fast unmittelbar darauf läutete es erneut. Heute ging auch alles schief.

»Wer ist da?« Er wurde schon wieder wütend. »Sweettea, ni wewe? Bist du das? Welche Nummer ist das? Was ist mit deiner alten Nummer? Also, wessen Telefon ist das? Ich dachte, es wäre die Bank. Bank wer? Die Bank, Bank, keine Person. Kennst du jemanden, der Bank heißt? Ich nicht. Warum traust du mir nicht? Das ist lange her. Wenn du anrufst, um mir den Tag zu vermiesen, kommst du zu spät. Ich will mich auch nicht streiten. Du hast angefangen. Ich bin noch auf der Suche nach dem Geld, ich bleibe dran.«

Er warf einen schnellen Blick zu Manu hinüber, erwartete eine Reaktion. Manu starrte ausdruckslos zurück.

»Ja, ich weiß, Sweettea, dreißigtausend, und dir ist es egal, wo ich die hernehme. Dir ist es egal, ob ich … Hallo? Halloo?«

»Sie hat wieder einfach aufgelegt«, sagte er ungläubig.

Manu zuckte die Achseln. Manish starrte. Rafiki sah vom einen zum andern. Er war sich noch nie so verloren vorgekommen. Er konnte sich nicht zurückhalten, er musste sich erklären. »Sie ist ein heller Kopf«, erzählte er seinen Opfern. »Sie kommt nach ihrer Mutter.«

Manu nickte. Auch seine Töchter kamen nach ihrer Mutter. Die eine studierte Medizin in Kanada, eine war Ingenieurin, und einer seiner Söhne leitete in Puna seine eigene Fahrradfabrik. Manishs Kinder arbeiteten oder studierten allesamt in Indien. In der Stimmung des Augenblicks gab Manu all diese Informationen preis.

»Könnt ihr beiden mir nicht etwas Geld leihen?« Rafiki klang wieder mehr nach seinem wahren Ich, aufrichtig und anspruchslos. »Ich zahle es zurück, sobald ich meine Kühe verkauft habe.«

»Du besitzt keine Kühe«, erinnerte Manu ihn. »Oder ist das die Lüge, die du allen Kreditgebern auftischst?«

»Die Banken sind schlimmere Lügner«, erwiderte Rafiki. »Sie haben mir gesagt, dass die Zinsrate sechzehn Prozent nicht übersteigen würde. Dann verlangten sie sechsundzwanzig Prozent. Das gibt mir das Recht, ihnen alles aufzutischen, was ich will.«

Wieder nickte Manu. Lüge gegen Lüge, das schien ein fairer Handel. Doch er und Manish hatten kein Geld, wiederholte er, nicht einmal so viel, dass sie ihr Geschäft retten konnten. Während er zusah, wie Rafiki über seinen nächsten Schritt grübelte, fragte er sich, wann er seine Gitarre nehmen und wieder er selbst werden würde.

»Ich könnte die Hälfte meiner shamba verkaufen, meine Felder«, dachte Rafiki laut nach. »Nur dauert das Monate.«

Wieder nickte Manu. Landverkäufe zogen sich hin. »Aber«, er breitete die Hände aus, »wie du siehst, kann ich dir … können wir dir nicht helfen.«

Rafiki sah vom einen zum andern. Manish hatte, seit die ganze Sache losgegangen war, Rafiki weder angeblickt noch, abgesehen von seinem »huh«, ein einziges Wort gesprochen. Seine Augen blickten unverwandt auf den Eingang, und das einzige Lebenszeichen, das von ihm ausging, war das Kräuseln in seinem grauen Schnurrbart, wenn er ein- und ausatmete.

Rafiki beschloss, sich selbst zu helfen, und schaute sich nach etwas um, das er mitnehmen könnte, etwas, das sich auf den Schultern tragen und in dreißigtausend Shilling umsetzen ließ. Er ging durch den Laden und betrachtete die Haushaltgeräte, denen er zuvor nie große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Manu, der ihm mit seinem Blick folgte, versuchte sich vorzustellen, was in dem geplagten Hirn vor sich gehen mochte. Er sah, wie er stehen blieb und ein Gerät abschätzte, das auf einem Kühlschrank Staub ansetzte und ihm klein genug schien, dass er es transportieren könnte.

»Mikrowelle«, antwortete Manu ungefragt. »Der jiko, der ohne Feuer kocht.«

»Wie viel kostet der?«, fragte Rafiki.

»Du hast kein Geld«, erinnerte Manu ihn.

»Wie viel?« Er blieb hartnäckig.

»Für dich«, Manu tat, als dächte er nach, »fünfzehntausend.«

»Hast du noch einen?«

»Ah, du kannst also auch rechnen.« Manu lächelte. »Nein, wir haben keinen zweiten.«

Rafiki ignorierte den Sarkasmus. Er wanderte weiter herum und inspizierte die verstaubten Waren, als wäre es ihm ernst damit, etwas zu kaufen. Manu rechnete weiter und blickte ab und zu auf, um herauszubekommen, worauf er aus war.

»Und das?« Rafiki deutete auf ein Gerät hinter einem Kühlschrank.

Manu hatte keine Lust nachzusehen, worum es sich handelte.

Rafiki suchte weiter. »Das hier?«, fragte er.

»Spülmaschine«, klärte Manu ihn auf.

»Was kann die?«

»Abwaschen«, sagte Manu. »Kikombe, kijiko, sahani, vote inasafisha. Tasse, Teelöffel, Untertasse, alles.« Ein solches Gerät wäre in Rafikis Welt völlig nutzlos, fügte er hinzu, weil er fürchtete, Rafiki würde es tatsächlich so weit schleppen.

Rafiki nickte und schien ihm zuzustimmen. In seiner Welt besorgten Mütter und Frauen, Schwestern und Töchter das Abwaschen. Manche Frauen stellten andere Frauen an, die sich um ihre gesamte Wäsche kümmerten.

Er ging an dem verstaubten Motorrad vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Seine jüngste Erfahrung als Besitzer eines piki-piki-Taxis hatte ihn gründlich von dem Verlangen geheilt, jemals wieder eins besitzen zu wollen. Seine Karriere als piki-piki-Fahrer hatte genau eine Stunde gedauert, dann stieß er mit einem Baum zusammen, der nicht auswich. Sein Passagier wollte ihn wegen der Krankenhausrechnung verklagen, doch Rafiki überzeugte ihn davon, dass er bessere Aussichten hätte zu gewinnen, wenn er den Baum verklagte oder denjenigen, der ihn gepflanzt hatte. Der Baum war ungefähr einhundert Jahre alt. Der Fall war immer noch vor irgendeinem Bezirksgericht anhängig.

Da nun jede tatsächliche Gefahr unmittelbarer Körperverletzung gebannt schien, wagte Manu es, Rafikis geistige Gesundheit infrage zu stellen. »Rafiki«, traute er sich, »wenn es mir schon nicht gelingt, diese Sachen an Leute zu verkaufen, die Arbeit haben, wie willst du sie dann an deinesgleichen verkaufen?«

»An meinesgleichen?« Seine Nackenhaare standen wieder zu Berge.

»Ohne richtige Arbeit«, meinte Manu.

»Ich hab eine richtige Arbeit«, schnaubte Rafiki.

Er setzte seine Suche fort, wenn auch ohne rechte Begeisterung. Manu erkannte, dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte, und machte sich wieder daran, seine Papiere durchzugehen und Zahlen aufzuschreiben.

»Haki, ich brauche Geld«, rief Rafiki, mehr flehend als drohend, quer durch den Laden.

»Haki, wir haben kein Geld«, antwortete Manu ihm.

»Ich glaube dir nicht.«

»Möchtest du die Bücher einsehen?«

»Den Tresor.«

Manu zeigte auf den eingestaubten Tresor.

»Ich bin kein Idiot«, sagte Rafiki. »Ich weiß, dass ihr duka-Leute nicht nur einen Tresor habt. Wo ist der mit dem Geld?«

Manu schüttelte den Kopf.

»Was ist mit der Kasse?«

Die Registrierkasse stand auf einem Tresen in der Nähe der Tür. Rafiki hatte nie sonderlich auf sie geachtet und keine Ahnung, wie man sie öffnete. Manu ließ ihn eine Weile damit kämpfen, bevor er ihm sagte, dass sie leer war. Rafiki griff nach dem Messer, um sie gewaltsam zu öffnen. Manu beobachtete ihn, wie er zustach und drehte und schob und zog und schließlich aufgab. Dann stand er von seinem Schreibtisch auf und ging langsam durch den Laden. Ohne ein Wort zu Rafiki schlug er mit der Handkante auf das Zählwerk. Es brauchte mehrere Schläge, bevor die Kasse aufsprang. Sie war leer, abgesehen vom vertrockneten Kadaver einer braunen Kakerlake. Rafikis Seele entwich ein Seufzer der Verzweiflung. »Sie ist leer«, stöhnte er.

»Wie ich es dir gesagt habe«, erwiderte Manu.

Das Telefon läutete. Sie suchten ihre Taschen ab. Diesmal war es Manus Telefon. »PatelsKauf auf Raten«, meldete er sich. »Wer ist dran? Wer? Nai, nai, nai, nein!« Er ließ das Handy zuschnappen. »Warum raubst du nicht die Banken aus?«, fragte er Rafiki. »Ich kann dir sagen, mit welcher du am besten anfängst.«

»Ich bin kein Räuber.«

»Du beraubst mich … uns.«

»Ich habe gesagt, dass es mir leidtut. Aber ich hab nun mal hier angefangen, und so werd ich auch hier aufhören. Wie viel kostet das hier?«

»Nimm’s einfach und geh.«

Er schien über dieses Angebot nachzudenken. Dann machte er weiter. Manu folgte ihm. Sie gingen von einem Gerät zum nächsten, bis sie wieder zu dem Kocher gelangten, der Rafiki zu dem Gedanken veranlasst hatte, ihn seiner Frau zu kaufen.

»Rafiki«, sagte Manu, als er sah, dass er erneut über den Kocher nachdachte. »Jeder kennt dich als Gitarristen, als Musiker, wenn du so willst, aber nicht als Verbrecher. Warum trägst du so ein großes Messer mit dir herum?«

»Wir leben in einer gefährlichen Stadt.«

»Ist es so schlimm?«

»Du würdest nicht glauben, wie schlimm«, antwortete Rafiki. »Siehst du diese Narbe?« Er nahm seinen Sombrero und den Hut darunter ab und zeigte ihm die verheilende Narbe auf seinem Kopf. »Erst letzte Woche haben ein paar Schläger in Majengo versucht, meine Gitarre zu stehlen«, sagte er.

Manu nickte. Sie gingen weiter und machten die Runde, bis Rafiki alles inspiziert hatte.

»Ich kann hier nicht mit leeren Händen weg«, sagte er bei sich.