Tanz der Kakerlaken - Meja Mwangi - E-Book

Tanz der Kakerlaken E-Book

Meja Mwangi

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Beschreibung

Dusman Gonzaga ist genervt! Die Kakerlaken in Dacca House machen ihn ganz verrückt und seinen Job als Parkuhrenableser wäre er auch lieber heute als morgen los. Als ihn das Ungeziefer und die verhassten Parkuhren bis in seine Träume verfolgen, beschließt Dusman beherzt, die Dinge anzugehen. Ein riskanter Entschluss, der aber auch positive Überraschungen mit sich bringt! Eine irrwitzige Geschichte aus Nairobi.

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Meja Mwangi

TANZDERKAKER-LAKEN

Roman

Aus dem Englischen vonJutta Himmelreich

Peter Hammer Verlag

Für

Mwalimu Peter Paul Githinji,Lehrer und Freund, der mir seinen Stift geschenkt und mir beigebracht hat, damit umzugehen.

Einmal mehr dankt die Übersetzerindem Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen für die so wertvolle Unterstützung.

KAPITELEINS

In Dacca House dämmerte der Morgen nicht. Hier brach jeder neue Tag herein, ohne sich anzukündigen, mit einem lauten Knall aus Licht und Lärm und Unbehagen und Ärger, der den ganzen Tag währte.

Wie Mäuse, bei Katzen zu Gast, schliefen die Mieter in Dacca House auf Zehenspitzen. Nach unruhigem Schlaf waren sie vor allen anderen Bewohnern der Grogan Road auf den Beinen. Die meisten standen auf, um den Katastrophen des Alltags ins Auge zu sehen, schrien ihre Sorgen fürs ganze Haus hörbar heraus und stellten sich die bange Frage, ob wohl heute ihr letzter Tag gekommen sei. Andere erhoben sich, um begonnene Ausbesserungsarbeiten abzuschließen, kaputte Türen und alte Möbel zu reparieren, löchrige Töpfe und Pfannen zu flicken, ihr Zimmer zu putzen und Wäsche zu waschen. Der Rest, die Form- und Gesichtslosen, drehten ihre Radios auf volle Lautstärke und blieben entschieden so lange im Bett liegen, bis die Schlange vor der einzigen Dusche des Hauses kurz genug und damit Gelegenheit zum Schnellduschen war. Die wirklich Nervösen, denen der Mut fehlte, ihr Duschrecht überhaupt einzufordern, rafften sich, kaum eingeschlafen, auf und hofften vergebens, als Erste duschen zu können, sobald der Hausmeister das Wasser wieder andrehte.

Unsichtbare gab es auch in Dacca House, Bewohner, die mit der Miete so weit im Rückstand waren, dass sie nicht die geringste Hoffnung hatten, ihre Mietschulden je zu begleichen und daher wie Maulwürfe zwischen den Wänden des Gebäudes hausten, in den ungenutzten Korridoren, Tür an Tür mit den Königen der Ratten und der Kakerlaken. Dusman hörte sie oft nach Hause schleichen, mitten in der Nacht, wenn alle anderen schon schliefen, und er hörte sie vorm Morgengrauen aus dem Haus schleichen, weil sie dem Hausmeister nicht in die Arme laufen wollten.

So steckte man in Dacca House schon lange, bevor der Rest der Grogan Road wach wurde, mitten im ewigen Überlebenskampf der Städter; Hämmer schlugen auf Nägel, Wasser spritzte an Duschwände, der Geruch von Spiegeleiern wetteiferte mit dem Gestank, der fast hörbar zischend aus den übervollen Mülltonnen und dem verstopften Klo draußen im Hof drang, und mit dem Kind des Bad-Manns, das sich das Herz aus dem Leib weinte. Und wenn das Kind weinte, entging das nichts und niemandem in Dacca House. Ob es vor Hunger schrie oder weil es krank war, wusste allein seine verzweifelte Mutter. Doch die schwieg, wie ihr Mann, und sprach kein Wort mehr mit den Nachbarn.

Das Kind jammerte so laut, dass die gesamte Straße wach wurde, wenn auch Dusman wach wurde. Er blieb grummelnd noch ein Weilchen liegen und fragte sich laut, warum niemand auf der Welt irgendwas unternahm, um den kleinen Schreihals zu beruhigen. Immer jammerte er morgens um diese Zeit, wenn Dusman einfach nur schlafen und nie wieder aufwachen wollte, unterdessen aber den Verdacht hegte, das Kind wolle mit seinem Geheule die Tradition pflegen, der zufolge in Dacca House schon früh morgens die Hölle los war, nur damit Dusman durchdrehte.

Dusmans Mitbewohner pfiff von der kalten Dusche aus ins Zimmer und schlug die Tür zu. Ganz gleich, wie spät er abends schlafen ging, Toto war am nächsten Morgen immer fit und einsatzbereit. Der junge Mann, ein Energiebündel, rank und schlank, stand morgens auf und sang, meist ein Stück, das er nach dem Discobesuch am Vorabend noch im Ohr hatte. Das brachte Dusman, der seine Zeit brauchte, um wach zu werden und sich in den Morgen hineinzufinden, zur Weißglut. »Wenn du unbedingt so früh singen musst«, nörgelte er allmorgendlich, »dann sing wenigstens was Sinnvolles.«

»Was zum Beispiel?«, fragte Toto jedes Mal fröhlich.

»Eine Hymne.«

»Ich kenn keine.«

»Nationalhymne.«

»Kenn ich keine.«

»Dann halt den Rand und lass mich in Ruhe denken«, forderte Dusman.

»Was willst du denn denken, so früh am Morgen?«, fragte Toto erstaunt.

»Was ich in dem Loch hier mache.«

»Leben«, half Toto ihm auf die Sprünge, »du lebst hier.«

An normalen Tagen wäre das Gespräch damit beendet gewesen. Heute aber, das sollte Dusman in Kürze feststellen, war kein normaler Tag.

»Ich sterbe vor Hunger«, ließ Toto ihn wissen.

»Ich bin schon tot«, gab Dusman zurück, drehte sich zur Wand und zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Vorzeitig ins Grab gehungert. Samt Brummschädel.«

Mit bedecktem Kopf hörte er Toto durchs Zimmer spazieren und dabei sein nerviges Lied singen, diese sinnlose Melodie. Er hörte Toto schattenboxend zur Dusche gehen und auch wiederkommen, und er hörte ihn grummeln, wie leid er seinen Job war.

»Was gibt’s zum Frühstück?«, fragte er, ohne Bettdecke überm Kopf.

»Kein Kerosin heute«, antwortete Toto, während er sich anzog, um zur Arbeit zu gehen.

»Dacht ich mir schon«, sagte Dusman, drehte sich zur Wand und richtete sich auf einem Ellenbogen auf.

Durch einen Riss im Vorhang lugte er nach draußen in den Hof und seufzte enttäuscht, als er sah, dass es nicht regnete. Es war ein strahlend sonniger Morgen.

»So ein Elend«, stöhnte er, sank zurück ins Bett.

Irgendwann im Laufe der vergangenen Nacht hatte er beschlossen, die Arbeit an diesem Samstag ausfallen zu lassen. Er hatte die Nase gestrichen voll vom Parkuhrenablesen. Sein Chef würde ihm eine andere Stelle verschaffen oder ihn wieder Wasseruhren ablesen lassen müssen. Dusman war inzwischen so weit, dass schon der Anblick einer Parkuhr ihm zuwider war. Parkuhren verfolgten ihn auch nachts. Dusman träumte von ihnen und schmiedete Pläne gegen sie. In seinen Träumen verschworen die Parkuhren sich mit den Kakerlaken gegen ihn. Sie tanzten sogar miteinander, hüpften und sprangen im Dunkeln herum, so seine Vorstellung, höhnisch und schadenfroh. Anschließend verwandelten sie sich in Wespen mit langen feurigen Schwänzen und hetzten ihn nackt durchs ganze Haus.

Der Traum der vergangenen Nacht hatte Dusman Gonzaga besonders irritiert. Er war Parkuhrenmillionär geworden, hatte mit allen Frauen in Dacca House getanzt, auch mit der Frau des Bad-Manns, und er hatte auf dem Küchentisch sogar Miniparkuhren aufgestellt, für die Kakerlaken, die dort nach Futter suchten. Für die Mäuse und Ratten draußen bei den Mülltonnen hatte er Sondermodelle entwickelt. Auch sie mussten Parkgebühren zahlen, wenn sie ein schales Stück Ugali ergattern und sich dann aus dem Staub machen wollten. Seine Erfindungen machten ihn reich und berühmt. Er kreierte auch leichte Ausführungen, tragbare Parkuhren, für die rastlosen Stadtstreicher und Arbeitslosen bestimmt, die vor dem Musikladen in der River Road herumlungerten. Die Stadtaskaris mussten die Parkuhren mit sich führen und sie einfach dort aufstellen, wo die Herumlungerer zusammenstanden. Wenn sie bezahlten, durften sie bleiben, ansonsten hieß es potea, verschwinden.

»Gehst du nicht arbeiten?«, fragte Toto, noch immer damit beschäftigt, sich bürofertig zu machen.

»Ich bin krank«, sagte Dusman.

Er würde heute erneut versuchen, beim Abteilungsleiter vorzusprechen. Sie mussten ihn versetzen, bevor er komplett den Verstand verlor.

»Kannst du mir mit etwas Geld aushelfen?«, fragte Dusman.

»Kommt drauf an«, sagte Toto.

»Würdest du mir was leihen wollen?«

»Eher ungern.«

»Ein paar Tausend vielleicht.«

»Du schuldest mir schon fünf«, erinnerte Toto ihn. »Nimm dir zwei und gib mir den Rest raus.«

Toto schaltete das Radio ein. Da stets derselbe Sender eingestellt war, der Breakfast Club nämlich, bekam Toto auf Knopfdruck Werbung zum Frühstück. Das Radio übertönte einen Großteil des Lärms von draußen mit seiner eigenen Geräuschkulisse. Toto zog ein Bündel Geld aus der Tasche, fingerte ein paar große Scheine heraus und ließ sie auf den Tisch fallen.

»Bist du befördert worden, oder was?«, fragte Dusman. »Früher warst du schon Mitte des Monats blank, so wie ich.«

»Bist du neidisch?«

»Weiß ich nicht mehr«, sagte Dusman, »ich glaub, ich dreh durch.«

Toto begutachtete sich in der gezackten Spiegelscherbe. Seine schmalen, jugendlichen Gesichtszüge verrieten sein Alter nicht, weshalb die meisten flüchtigen Bekannten ihn für einen lebensfrohen Teenager hielten. Dass er sich nicht topfit fühlte, war der harten freitäglichen Sauftour geschuldet, doch im zerbrochenen Spiegel sah er perfekt aus. Er wischte ein Haar vom Revers seines Jacketts. »Wann gedenkst du, mir das Geld zurückzuzahlen?«, fragte er Dusman.

»Bald«, gab der zurück. »Zigarette?«

Toto warf ihm eine zu. Sie rutschte zwischen Dusmans ungeschickten Wurstfingern hindurch und fiel auf den staubigen Boden. Dusman war wesentlich kräftiger gebaut als Toto, trug viel mehr Fleisch auf den Knochen und wirkte linkisch und ein wenig schwer von Begriff. Auch er fühlte sich nicht sonderlich wohl, woran ebenfalls der Freitagabend Anteil hatte, doch Dusman sah schlechter aus als Toto, hatte Tränensäcke unter den Augen, und auch seine Mundwinkel waren von Müdigkeit gezeichnet. »Hast du Feuer?«, fragte er.

»Hast du je selbst was?«

»Nein«, gab Dusman zu, »ich habe nie irgendwas. Ich arbeite bei der Stadt.«

Toto warf ihm ein versilbertes Feuerzeug zu. Dusman begutachtete es voller Neugier, drehte und wendete es ein ums andere Mal, bevor er sich seine Zigarette anzündete. »Wo hast du das denn geklaut?«

»Ich hab’s nicht geklaut.«

»Ich dachte, du verdienst nur Peanuts, wie alle anderen auch«, sagte Dusman und gab Toto sein Feuerzeug wieder.

»Cashews«, sagte Toto. »Ich hab’s von ’nem Freund.«

Dusman reckte sich und gähnte hungrig. Nie mehr Alkohol auf nüchternen Magen, das Versprechen gab er sich. Nie mehr. »Bevor du gehst«, sagte er zu Toto, »wie wär’s mit ein paar Zigaretten, damit ich den Morgen überstehe?«

Toto warf ihm die ganze Packung zu.

»Egal, was du heute machst, denk dran, Kerosin für den Kocher zu kaufen«, sagte er, ging aus dem Haus und ließ die Tür ins Schloss fallen. Ihr gemeinsames Leben war unproblematisch. Abgesehen von dem einen oder anderen Kneipenabend zu zweit ging jeder eigene Wege. Die einzige Verpflichtung, der sie gemeinsam nachkamen, war die, sich die Miete für Tumbo Kubwa, den Vermieter, zu teilen.

Dusman legte sich wieder aufs Bett und beobachtete, wie eine Kakerlake nach ihrem Sprint quer über die Zimmerdecke in einem Spalt in der gegenüberliegenden Wand verschwand. Das Zimmer war staubiger und stickiger denn je. Der Radio-DJ quälte seine Stimmbänder, um wer weiß wie berühmt zu klingen. Dusman rauchte und hörte Radio und fragte sich, ob es überhaupt der Mühe wert war aufzustehen. Die ganze Anstrengung schien dermaßen müßig, dass er versucht war, seinen Termin mit dem Abteilungsleiter zu vergessen und die Sache auf einen anderen Samstag zu verschieben.

Plötzlich flog die Tür auf, Dusman erschrak, und Toto stolperte ins Zimmer, völlig außer Atem, nachdem er die Treppe hochgehastet war.

»Das Auto«, japste er.

»Welches Auto?« Dusman setzte sich im Bett auf.

»Dein Auto«, erklärte Toto, »es ist … komm, schau’s dir an.«

Dusman stolperte in seine Hose, schnappte sich ein Hemd von der Stuhllehne und heftete sich an Totos Fersen. Draußen im Hof spürte er den kalten Zementboden unter seinen Füßen, hetzte zurück in die Wohnung, schlüpfte in ein Paar Gummischlappen, eilte wieder treppab, hinter Toto her, knöpfte sich unterwegs Hose und Hemd zu. Gleichzeitig erreichten sie die Grogan Road.

Der Wagen stand da, wo er immer stand, am Straßenrand, unter einer öligen Schicht Staub. Während sie Seite an Seite standen, im Geruch der Autobatterien aus den Karosseriewerkstätten ringsum, und sich nur langsam an die grelle Sonne gewöhnten, konnte Dusman nicht erkennen, was mit dem Wagen los sein sollte, abgesehen davon, dass er einen Hauch zu tief über der Straße hing. Vielleicht konnte sein Mitbewohner es ihm erklären.

»Jemand hat dir deine Räder geklaut«, sagte Toto leise.

Dusman musste genauer hinschauen. Statt auf Rädern stand der Wagen auf vier Steinblöcken. Dusman schlug mit der Faust aufs Autodach und wand sich. Sein Kopf war plötzlich leer, ihm fiel nichts ein, was er hätte tun oder sagen können.

»Haben sie sonst noch was mitgehen lassen?«, fragte Toto.

»Warum haben sie nicht gleich den ganzen Wagen genommen?«, wunderte sich Dusman.

»Sie haben sich genommen, was sie brauchten«, sagte Toto.

Dusmans Ansicht nach hätten sie getrost den ganzen Wagen nehmen können. Er hatte den alten Triumph jenem Chef abgekauft, der ihm den Job im Sunshine Hotel gekündigt hatte. Dusman fand, er habe damals ein gutes Geschäft gemacht, trotz der weichen Federung und der stark beanspruchten Sitze. Zwei Jahre lang war der Wagen sparsam und störungsfrei gelaufen, bis nach der Kündigung. Beinahe unmittelbar nachdem Dusman seinen Hoteljob verloren hatte, war der Wagen in einen Schmollzustand verfallen, sprang nur noch schwer an, wurde launisch und unzuverlässig. Alle paar Meilen blieb er stehen, verlor unterwegs Teile und verursachte dermaßen hohe Wartungskosten, dass Dusman kaum Schritt halten konnte.

Fest entschlossen, den Wagen fahrtüchtig zu erhalten, hatte er ihn jeden Samstag fürsorglich den Jua-kali-Autowerkstätten hinter der Grogan Road anvertraut, hatte manchmal sogar das ganze Wochenende dort zugebracht, zusammen mit dem Bad-Mann, der das Schätzchen nach Kräften vor dem Zerfall bewahrte, mit Schrottteilen, Draht, Isolierband und allem, was sonst greifbar war.

Der Bad-Mann lebte zwar scheu und zurückgezogen in Dacca House, doch wenn es um kaputte Autos ging, konnte er zaubern. Während Dusman bei ihm stehen blieb und achtgab, dass er kein Teil entwendete, hämmerte der Mechaniker verbeulte Blechteile wieder in Form, zog lockere Muttern fest, ersetzte fehlende Schrauben durch Nägel aus Stahl. Am Ende eines solchen Samstags hustete der Wagen sich jedes Mal ins Leben zurück und lief für wenige weitere Wochen, während Dusman verzweifelt versuchte, ihn einem Kollegen an seinem neuen Arbeitsplatz im Rathaus aufzuschwatzen. Leider schien der Wagen entschlossen, Dusmans Pläne zu durchkreuzen, denn er ließ die Antriebswelle brechen, direkt nachdem man sich handelseinig geworden war und einen Termin für die letzte Ratenzahlung vereinbart hatte.

Sechs Monate lang hatte der Wagen nun draußen vor Dacca House gestanden und Straßenstaub angesammelt, während im Laufe der gnadenlos heißen und trockenen Monate der Lack abgeblättert war. Für dieses Wagenmodell ließen sich nirgendwo in der Stadt mehr Ersatzteile auftreiben, auch nicht in den unter freiem Himmel betriebenen Jua-kali-Werkstätten, in denen gestohlene Ersatzteile zu Spottpreisen den Besitzer wechselten. Die Automechaniker dort konnten sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt an einem Wagen dieser Bauart gearbeitet hatten.

»Aus denen sind Jikos und Karais geworden, Herde und Helme«, erklärten sie Dusman. »Für so antike Schüsseln gibt’s keine Teile mehr. Wie wär’s stattdessen mit dem Toyota hier? Der Besitzer hat ihn uns vor zwei Jahren gebracht und sich seitdem nicht wieder blicken lassen. Für einen Toyota besorgen wir dir Ersatzteile.«

Und wenn sie die nicht im Gebüsch am Fluss vorrätig hatten, würden sie sie vom Wagen eines anderen Kunden entleihen.

Dusman wollte aber kein anderes Auto. Er glaubte an seinen alten Wagen. Der war seine Vergangenheit, deren einziger Teil, an den er fast reuelos zurückdachte. Was Dacca House ihm genommen hatte, hatte der Wagen reichlich wettgemacht, sogar noch, als er fahruntüchtig draußen auf der Straße stand. Er verlieh ihm den Status des einzigen Bewohners von Dacca House, der ein Auto sein Eigen nannte. Vor allem aber hoffte Dusman, der Wagen stünde für seine Unabhängigkeit von Dacca House. Solange er ihn aus der Grogan Road wegbringen könnte, wusste Dusman, er würde diesen Ort eines Tages hinter sich lassen. Er war in einem Auto nach Dacca House gekommen und würde es auch so wieder verlassen.

Jetzt aber würde der Wagen nirgendwo mehr hinfahren. Die Grogan Road hatte gewonnen, Dusman steckte hier fest. Während der letzten Monate hatte der Wagen nur vor dem Haus gestanden, auf dem schmalen Grat zwischen Straße und Schrottplatz, während Dusman sich abgerackert hatte, um ihn wieder flottzumachen. Jetzt war alles aus. Nie im Leben würde er genug Geld aufbringen können, um seinem geliebten Gefährt vier neue Reifen zu kaufen, und auch für all die anderen notwendigen Teile würde es nicht reichen.

Um die beiden Männer herum nahm das Leben in der Grogan Road seinen Lauf. Leute hasteten vorbei, geparkte Autos zogen Staub an und verloren Öl, Benzin und Wasser. Öliger Staub, von vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt, drang in Augen, Nasen und Münder. Und Dusmans Wagen stand auf Steinblöcken. Alltag in der Grogan Road.

Toto beendete seine Inspektion. Bis auf die Räder schien dem Wagen nichts weiter zu fehlen. Die Türen waren nicht aufgebrochen, die Fensterscheiben heil.

»Sieh’s positiv«, sagte er schließlich, »die Windschutzscheibe, die Sitze und die Batterie haben sie dir gelassen. Nicht mal die Scheinwerfer haben sie genommen. Du bist ein echter Glückspilz.«

Dusman erkannte kein bisschen Glück darin, dass man nur Teile seines Autos gestohlen hatte. Er gähnte und rieb sich die von Staub und dem strengen Geruch der Autobatterien gereizten Augen.

»Wahrscheinlich haben sie erkannt, dass sie den Rest Schrott niemandem andrehen können«, meinte Toto.

Dusman kratzte sich am Kopf, im Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. So sollte kein Tag beginnen.

»Willst du gar nichts dazu sagen?«, fragte Toto.

»Was denn?«, war Dusmans Gegenfrage.

»Irgendwas«, riet Toto, »schrei deinen Ärger raus, schwöre, du wirst den Hurensohn finden, der dir das angetan hat, damit du’s ihm heimzahlen kannst. Immerhin ist das dein Auto, sie haben dir die Räder geklaut. Dein Auto wird sich nie mehr vom Fleck rühren, siehst du das nicht? Allein das sollte dich so in Rage bringen, dass du dich mit jedem Dieb in der Grogan Road anlegst.«

Dusman nickte beifällig, doch er spürte keinerlei Kampfgeist in sich aufkeimen. In Gedanken lag er noch im Bett, und der Tag war ihm scheinbar schon weit voraus. Mit Mühe ging ihm durch den Kopf, dass die Verschwörung ihr Ziel fast erreicht hatte. Dacca House schien jetzt zu gewaltsameren Maßnahmen zu greifen, um ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Und die Diebe würden die Räder wohl morgen zurückbringen und ihn endgültig in den Abgrund stoßen.

»Frag mich«, sagte Toto. »Frag mich, ob ich jemanden kenne, der dein Auto jetzt kaufen möchte.«

»Kennst du jemanden?«

»Nein«, sagte Toto sehr übellaunig, aus unerfindlichem Grund.

Dusman ließ den Blick und seine Gedanken die Straße entlangschweifen. Kein Grund, so gereizt zu sein, dachte er sich. Er war wütend, ja, doch er konnte nicht schnell genug denken, um vor Wut zu rasen, solange er noch zur Hälfte im Bett lag. »Ich trinke nie wieder auf nüchternen Magen«, sagte er.

»Dusman«, sagte Toto mit Nachdruck. »Du hättest die Karre verkaufen sollen, als ich’s dir geraten habe. Jetzt hast du nur noch einen Haufen Schrott am Hals.«

Dusman nickte beifällig, gähnte und kratzte sich am Kopf.

»Du bist ein Trottel, Dusman«, sagte Toto, nun wieder im gewohnten Ton. »Das hast du jetzt hoffentlich kapiert, du Dickschädel.«

»Keine Sorge!« Dusman lächelte gequält. »Ich bitte dich schon nicht um Hilfe.«

»Und sag ja keinem, dass das deine Schüssel ist«, warnte Toto ihn. »Sonst brummt dir die Stadt eine Gebühr auf, weil du deinen Müll hier rumstehen lässt, und fürs Entsorgen zahlst du obendrein.«

Selbst im Halbschlaf aber wusste Dusman, wie unwahrscheinlich es war, dass jemand ihn je behelligen würde, weil sein Wagen dort stand, wo er stand. Er schaute sich um, das müde Lächeln noch immer in den verkaterten Augen, und deutete auf einen alten LKW. »Der steht da seit Jahren«, sagte er. »Und die beiden Pkws dahinter sogar noch länger. Ich hab noch nie gesehen, dass sich jemand um sie geschert hätte.«

»Doch nur, weil sie die Eigentümer nicht ausfindig machen können«, wandte Toto ein. »Du weißt doch genau, dass die Stadtaskaris nicht umsonst arbeiten. Sobald sie wissen, wem die Wagen gehören …«

»Mich werden sie auch nicht finden«, meinte Dusman.

»Du arbeitest doch im Rathaus«, erinnerte Toto ihn. »Dich finden sie am schnellsten.«

Dusman bedachte den Einwand kurz, bemühte sich zumindest darum, zuckte dann die Achseln und tat kund, dass er wieder ins Bett gehen werde.

»Gehst du nicht zur Polizei?«

»Wozu denn?«

»Wozu?«

Die Polizei, sofern sie überhaupt in Aktion träte, würde von ihm verlangen, einen Verdächtigen zu präsentieren oder den Dieb zu benennen, damit sie ihn verhaften könnte. Und nebenbei bemerkt: Wie sollte man in der Grogan Road vier Autoräder finden, ausgerechnet in der Straße, in der die meisten alten Autoräder der Stadt landeten, ob nun gestohlen oder nicht?

»Du bist schon sehr speziell«, war alles, was Toto dazu noch einfiel.

»Und du kommst zu spät zur Arbeit«, war Dusmans Antwort.

Toto sah auf die Uhr, fluchte und spurtete los, die Straße hinab, wich in Schlangenlinien den Mechanikern und Schraubendrehern aus, die wartend herumstanden, in Gruppen, bis die Autowerkstätten öffneten.

Dusmans Blick wanderte zu seinem Wagen zurück. Er wusste nicht, was denken. Sein Mitbewohner hatte ja bereits versucht, es ihm klarzumachen: Er war am Ende. Anders ließ es sich nicht sagen.

Ganz in der Nähe lehnte ein Mechaniker in ölverschmiertem Overall an einem geschlossenen Werkstatttor und beobachtete ihn. Dusman schlenderte zu ihm. Sie taxierten einander für eine Weile. Dann eröffnete der Mechaniker das Gespräch. »Du hast dein Hemd linksrum an«, stellte er fest und spuckte aus.

»Ich hatte es eilig.« Dusman zog sein Hemd aus und wendete es.

»Una sigara?«, fragte der Mechaniker.

Dusman schüttelte den Kopf. Er hätte jetzt selbst sein Leben für eine Zigarette gegeben. »Für wie viel würdest du den roten Wagen verkaufen?«, fragte er seinen Gesprächspartner.

»Welchen Wagen?« Der Mann ließ den Blick schweifen.

»Den da.«

»Den Mkebe da, ohne Räder?«

»Den roten Wagen«, berichtigte Dusman ihn. »Das ist ein Auto, kein Mkebe.«

»Es ist nicht mein Auto«, sagte der Mechaniker.

»Und wenn’s deins wäre?«, fragte Dusman.

»Ich schwöre, ich trinke keinen Schluck Changaa mehr«, sagte der Mann und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. »Mein Kopf bringt mich um. Hast du wirklich nichts zu rauchen für mich?«

»Ich rauche nur Zigaretten«, erklärte Dusman, »und ich hab keine. Mal angenommen, der Wagen gehört dir, wie viel wolltest du dafür haben?«

»Für den Mkebe da, ohne Räder?«

Der Mann schaute von seinem Vernehmer zum roten Wagen und wieder zurück. Er zuckte die Achseln, rieb sich die Hände und spuckte erneut aus. Als er den Kopf schüttelte, klapperte der so laut, dass er Dusman fragte, ob er das Geräusch gehört habe. Dusman schüttelte seinerseits den Kopf.

»Ich hasse Kater«, stöhnte der Mechaniker.

»Ich hab auch einen«, gestand Dusman.

»Du auch?« Der Mann klang dankbar, angesichts des Leidensgenossen. »Trinkst du auch Changaa?«

»Nein«, gab Dusman zu, »aber alles andere.«

»Wer hat Kater erfunden?« Der Mechaniker war ratlos. »Wenn’s mir so dreckig geht, leg ich mich nicht gern unter Autos.«

»Meinst du, du bekämst den Wagen wieder flott?«, fragte Dusman.

»Ich krieg jeden Wagen wieder flott«, sagte der Mechaniker. »Kein Fahrzeug, unter dem ich gelegen habe, hat sich je zu fahren geweigert. Ja, den Mkebe da krieg ich wieder hin. Er müsste allerdings Räder haben.«

Wie Dusman die Sache auch drehte und wendete, ohne die Räder lief nichts.

»Mal angenommen, du wolltest das Schätzchen verkaufen«, ließ Dusman nicht locker, »wie viel würdest du dafür verlangen?«

»Wer wollte so ein Ding kaufen, bei klarem Verstand?«

»Genau das frag ich mich auch«, sagte Dusman verbittert.

»Höchstens zum Ausschlachten vielleicht«, sagte der Mechaniker leise. »Aber das Gerät da hat … wie viele Jahre auf dem Buckel? Hundert? Wenn was so alt ist, weiß man nie.«

Dusman nickte. Toto hatte recht behalten. Dusman hätte ihn schon vor Jahren verkaufen sollen. Wenn man’s recht bedachte, hatte sich das vermeintliche Schnäppchen eher als Fehlkauf entpuppt.

»Zuerst musst du sicher gehen, dass noch alle Teile dran sind, die du brauchst«, gab der Jua-kali-Fachmann zu bedenken. »Lenkstange, Benzinpumpe, Verteiler, Anlasser, Vergaser …, ’ne Menge Zeugs. Wenn du ernsthaft im Sinn hast, das Ding zum Ausschlachten zu kaufen, kann ich mit dem Eigentümer reden. Ein guter Freund von mir.«

»Ich will den Wagen nicht kaufen«, sagte Dusman. »Ich bin der Eigentümer.«

»Du?« Ein seltsames Lächeln ging über das große Gesicht.

»Am liebsten würd ich’s abstreiten«, sagte Dusman.

»Tut mir leid.«

»Schon gut.«

»Tut mir leid, ernsthaft.«

Dusman nickte. Es lag in der Natur der Sache, dass ein Jua-kali-Mechaniker versuchte, Dinge zu verkaufen, die ihm nicht gehörten. Der Mann kratzte sich am Haarschopf und setzte sich auf die Stufe vor der geschlossenen Werkstatt.

»Du hast deine Latschen falschrum an«, stellte er fest. Dusman trug einen von Totos blauen Gummischlappen an einem Fuß, einen eigenen, roten, am anderen. Er vertauschte sie.

»Hast du wirklich kein Zigarettengeld?«, fragte der Mechaniker.

»Keinen Cent«, sagte Dusman. »Und was den Wagen angeht?«

»Die Leute müssen ihn fahren sehen. Was hast du mit den Rädern gemacht?«

»Hab vergessen, sie über Nacht mit reinzunehmen«.

»Ich kannte mal einen in Jericho, der hat das gemacht«, erzählte der Mechaniker. »Wenn der heimfuhr, nach Kisii, über die Ferien, hat er seinen Wagen auf Steine gestellt, damit niemand ihn klaut. Einer meiner Kunden brauchte auf die Schnelle Geld und hat mir seine Autoräder verkauft, und als er wieder Geld hatte, hat er sie zurückgekauft. Ziemlich clever.«

»Ziemlich«, pflichtete Dusman ihm bei. »Was den Wagen betrifft …«

»Akili mingi«, meinte der Mechaniker, »manche Leute haben’s eben drauf.« Erneut ließ er den Kopf in beide Hände sinken, stöhnte und schwor, nie wieder Changaa zu trinken. »Mischen sie da wirklich … Dawa ya maiti rein?«

»Formaldehyd?« Dusman zuckte die Achseln. »Gehört hab ich davon, ja. Heutzutage ist alles möglich.«

»Warum hast du die Räder verkauft?«, fragte der Mechaniker.

»Ich hab sie nicht verkauft«, sagte Dusman. »Ihr habt sie geklaut.«

Der Mann hob den Kopf, Feindseligkeit im blutunterlaufenen Blick.

»Ich meine nicht dich persönlich«, korrigierte Dusman sich. »Ich meinte … ich meinte, es war einer von euch.«

Doch das genügte dem Mechaniker nicht. Er erhob sich und ging leise knurrend auf Dusman zu.

Dusman sah von weiteren Erklärungen ab. Er wandte sich um und schoss blitzschnell die müllübersäte Treppe hinauf. Jua-kali-Mechaniker mochten es gar nicht, dass man ihnen unterstellte, sie eigneten sich fremder Leute Dinge an, um sie ihnen wieder zu verkaufen, auch wenn manche Kollegen den lieben langen Tag nichts anderes taten. Einer dieser Kollegen auf der Grogan Road wusste mit Sicherheit, wer die Räder von Dusmans Auto hatte und zu welchem Preis sie auf dem Markt waren.

Dusman ließ sich auf sein Bett fallen und schloss die Augen. Der Jiko-Schmied in seinem Kopf war wieder am Werk, hämmerte wie wahnsinnig. Wenig später öffnete die Autoreparatur draußen ihre Tore, und ganz Dacca House war vom Lärm der Werkstatt erfüllt, kaum dass die Mechaniker ihre Arbeit aufgenommen hatten.

Dusman stand auf, machte sein Bett und verscheuchte ein unter seinem Kopfkissen kopulierendes Kakerlakenpärchen. Die Kakerlaken in Dacca House taten genau das, was auch die Menschen in Dacca House taten, außer von hier wegzuziehen oder arbeiten zu gehen. Sie aßen rohes Essen, tranken drei Tage alte Milch, schliefen in Dusmans Schuhen und in seinem Bett, und er verdächtigte sie sogar, seine Zigaretten zu rauchen, während er bei der Arbeit war. Die Schachtel war ewig leer. Dusman setzte sich auf sein Bett, zählte die verbliebenen Zigaretten, zündete sich eine an.

Im Zimmer war es heiß und stickig. Draußen auf der quietschenden Leine tanzten Wäschestücke, Fliegen brummten durchs Fenster ins Zimmer und wieder hinaus in den Hof, und über allem hing der Gestank der Toilette. Als er seinerzeit hier eingezogen war, hatte Dusman vermutet, sein Problem sei lediglich ein vorübergehendes, und nach ein, zwei Wochen würde alles besser. Stattdessen wurde alles schlimmer, weil alle Mieter nach wie vor das verstopfte Klo benutzten. Obwohl die Schüssel binnen Kurzem randvoll war, türmten die Leute unbeirrt Haufen auf Haufen in der reinsten Güllefabrik. Der Hausmeister hatte längst die Waffen gestreckt, er pumpte nichts mehr ab, und der mörderische Gestank hätte für schwache Gemüter wohl tödliche Auswirkungen. Der Bad-Mann hatte den alten Wassertank ganz abschalten müssen, damit niemand versehentlich die Spülung betätigte und eine Überschwemmung verursachte, in deren Folge vor Dusmans Tür ein Kloakenteich entstanden wäre.

KAPITELZWEI

Vor seinem Gang zum Rathaus, wo er mit dem Abteilungsleiter seine überfällige Versetzung zu erörtern gedachte, musste Dusman einen wichtigen Brief schreiben. Die Sunshine Hotels schuldeten ihm Schadenersatz wegen ungerechtfertigter, widerrechtlicher Entlassung. Man hatte ihm als Raumpfleger gekündigt, weil die Hausdame, eine langjährige Freundin mit vielen Vorzügen, sich ein Vergewaltigungsdrama aus den Fingern gesogen hatte, um die Beziehung zu beenden. Der Geschäftsführer hatte die Sache persönlich genommen, war ausfällig geworden, Dusman war die Hand ausgerutscht, und er war im Polizeigewahrsam gelandet. Später, als der Dame bewusst wurde, dass Dusman wegen versuchter Vergewaltigung und Körperverletzung angeklagt werden und vermutlich für lange Zeit einsitzen würde, zog sie ihre Anzeige zurück und brachte den Geschäftsführer dazu, dasselbe zu tun.

Die Kündigung aber blieb bestehen, der Geschäftsführer war der Grund dafür, dass die Frau mit Dusman Schluss machen wollte. Der Verlust seines Jobs bereitete ihm nicht den geringsten Kummer. Er hatte mehr als genug von den Zuständen im Hotelgewerbe. Die Geschäftsführung nahm die Beschwerden der Mitarbeiter nicht ernst, die Dusman, als Vertrauensmann, allmonatlich vorbrachte. Er nahm als Sprecher der Mitarbeiter kein Blatt vor den Mund, wenn es um deren Rechte ging, und nur deshalb hatte man ihm die seit Langem freie Stelle des Supervisors vorenthalten.

Der Brief brauchte seine Zeit. Dusman bemühte sich um Deutlichkeit, ohne unhöflich zu werden, verabscheute seine Arbeitgeber aber zu stark, um seinen Ärger nicht mit einfließen zu lassen. Unterdessen unentwegtes Schnattern und Klappern draußen im Hof, weil Sukuma Wikis Kinder, auf Rattenjagd, wieder die Mülltonnen durchstöberten. Aus ihnen werden eines Tages hingebungsvolle Rattenjäger, dachte Dusman, während er sich rasch anzog und aufräumte. Dann klaubte er Geld aus dem verstreuten Krimskrams auf dem Tisch, stopfte es in die Tasche, ging die Treppe hinunter, hielt kurz inne und betrachtete sein Auto. Er hätte auf Toto hören und den Wagen längst verkaufen sollen. Ihm war wohl entgangen, welches Schicksal jedes Fahrzeug ereilte, das auch nur eine Sekunde zu lang auf der Grogan Road rumstand. Die Straße war übersät von Autos, mit denen es ebenfalls solch ein schmähliches Ende genommen hatte. Sämtlich waren sie ihrer Scheinwerfer, Türen und Sitze, Spiegel, Räder und aller sonst abnehmbaren Teile beraubt worden. Späteren Modellen fehlten sogar Motoren und Schaltgetriebe.

Auf der ganzen Länge der staubigen Straße fand ein schwunghafter Handel mit Autoteilen statt, von denen so manche durch zweifelhafte Methoden ihren Weg in die Läden gefunden hatten. Dusmans Reifen standen vermutlich in dieser Straße und in dieser Minute zum Verkauf.

Er kickte eine leere Büchse unter einen geparkten Lieferwagen und erschreckte den Mechaniker, der unter dem Fahrzeug liegend seiner Arbeit nachging. Er schaute unter dem Auto hervor, sah Dusman und riet ihm, einem Fußballklub beizutreten. Es war der Changaa-Trinker, der vor Kurzem erklärt hatte, wie ungern er mit einem Killerkater unter Autos kroch.

Dusman war schon aus der Puste, als er die River Road hinaufging. Es wimmelte von Menschen, überall Menschen, denen er auf dieser Straße gewiss früher schon begegnet war. Sie hatten kein Geld für Einkäufe und verbrachten den Tag damit, auf der einen Straßenseite hin-, auf der anderen herzulaufen. Ohne Arbeit und wohl auch ohne Wohnung, in der sie hätten in den Tag hineinschlafen können, lebten sie ein rastloses Leben in der River Road, gingen auf und ab und drängten sich vor Musikgeschäften, um sich die ohrenbetäubende Musik anzuhören, die Kunden ködern sollte.

Vor Doktor Patels Praxis standen reumütige Männer Schlange. Wenn der Arzt seine altmodischen Gespräche sein lassen und sie einfach mit Penicillin oder sonst was vollpumpen würde, dann könnte der gute alte Herr Doktor seine Patienten wahrscheinlich schneller abfertigen und würde wohl auch mehr Geld verdienen. Er aber ließ es sich nicht nehmen, sie zu fragen, was ihnen fehlte, auch wenn nur ein einziges Problem die Männer zu ihm geführt hatte. Anders als viele seiner Kollegen praktizierte Doktor Patel nach der althergebrachten Methode. Er war der beste, der gefragteste Heiler in der ganzen River Road. Wer einmal bei ihm in Behandlung war, blieb ihm treu.

Nie würde Dusman das pockennarbige Gesicht vergessen, die kalten Hände und die zwei Monate, in denen er mit Antibiotika so vollgepumpt war, dass er nicht mehr gewusst hatte, ob leben oder sterben.

An der Ecke, an der die Menschenflut aus der Reata Road in die River Road strömte, saß jemand und bettelte, so tief in sich zusammengesunken, dass man nur mit Mühe sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Person saß dort von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, an eine Hauswand gelehnt, mit angezogenen Beinen, zum Schutz vor Tritten durch vorbeieilende Füße, und der Blick war starr auf einen Punkt jenseits der belebten Straße gerichtet. Zuweilen bewegte sich der Kopf, kaum merklich, erst in die eine, dann in die andere Richtung, und konzentrierte sich bald, offenbar unbeeindruckt, wieder auf die angewinkelten Knie, um sodann erneut über die Kreuzung hinwegzustarren. Die Person saß dort von früh bis spät, streckte, mit vernarbter Hand, Passanten eine rostige Büchse entgegen, in der zwei Münzen lagen. Starr hielt sie sie der gleichgültigen Menge hin, doch die Menschen hasteten vorüber, durch ihr eigenes Leben zu stark verwirrt, um den gebrochenen Körper wahrzunehmen, der den erbarmungslosen Daseinskampf einst Schulter an Schulter mit ihnen ausgefochten haben mochte. Dusman warf gelegentlich Münzen in die Büchse, doch sie enthielt nie mehr als zwei Geldstücke, wenn er später erneut an der Ecke vorbeiging.

Er rannte über die Straße und wäre um ein Haar von einem Bus erfasst worden. Der Fahrer rief ihm derbe Flüche hinterher. Dusman stand ihm in nichts nach, und Passanten verzogen angewidert die Gesichter. Der alte Wachmann vor dem Jubilee House trug einen neuen Helm und einen neuen Schlagstock, groß wie ein Axtstiel.

»Mzee, chunga maisha«, sagte er zu Dusman. »Passen Sie auf, was Sie sagen.«

»Wewe fanya kazi«, riet Dusman ihm. »Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit.«

Er war bei Sunshine Hotels rausgeflogen, weil er auf der Durchsuchung einer Handtasche bestanden hatte und sich später herausstellte, dass deren Besitzerin mit einem der Geschäftsführer befreundet war. Überall in der Stadt gab es scharenweise Menschen wie Dusman, deren Jobs am seidenen Faden hingen und die dennoch keinem Leidensgenossen auf Arbeitssuche dabei helfen würden, einen Termin bei der Geschäftsführung zu bekommen.

Dusman kaufte sich Zigaretten am Kiosk an der Ecke und zog die Aufmerksamkeit eines hungrig dreinblickenden Bettlers auf sich, der ihm sein Leid klagte, er habe seit Tagen nichts gegessen und sei von einem schweren Schicksalsschlag betroffen. Dusman war versucht, etwas Geld locker zu machen, da erkannte er ihn wieder. Der Mann war hier regelmäßig unterwegs, hatte immer dieselbe Story auf Lager, und spät abends sah man ihn fröhlicher durch die River Road stolpern als die Leute, die ihm ihr sauer verdientes Geld in den Rachen geworfen hatten.

Dusman hatte es mathematisch berechnet, bevor er einschlief und in seine Albträume verfiel. Gäbe jeder in der River Road diesem Bettler täglich einen Schilling, dann wäre der Mann bereits nach einem Monat Milliardär. Zum Nachteil für alle Betroffenen. Es würde Müßiggänger und Vagabunden ermuntern. Aus allen Teilen des Landes würden die, die keine Arbeit hatten oder ihre Arbeit hassten, in die River Road strömen, um ihr Glück zu machen. Ehrliche Bettler hätten dann ebenso das Nachsehen wie ehrliche Geschäftsleute.

Genau wie in anderen Berufen auch gab es wirklich bedürftige Bettler, und es gab die Leute, die vorübergehend in Geldnot waren. Manchmal war es unmöglich, den tatsächlich verkrüppelten vom professionellen Bettler, mit einem geschlossenen Auge und einem akrobatisch verdrehten Arm oder Bein, zu unterscheiden. Den Professionellen begegnete man abends in Bars an der River Road, wo sie so lange tranken, bis sie, zur Sperrstunde, rausflogen und sich in die finsteren Seitengassen verzogen, um ihren Rausch auszuschlafen. Am nächsten Morgen waren sie wieder auf ihrem Posten.

Während eines seiner Penicillinräusche hatte Dusman sich Parkuhren für Bettler ausgedacht. Sie sahen zwar so aus wie die für Kakerlaken und Stadtstreicher entworfenen Modelle, waren aber besser. Man würde sie an den Straßenecken aufstellen, an denen Bettler ihren Opfern bevorzugt auflauerten, und jeder Bettler, der es sich nicht leisten konnte, Geld dafür auszugeben, dass er sein Elend in den betriebsamen Straßen zur Schau stellte, würde zu Hause bleiben müssen. Das würde die Menge sowohl der wahren als auch der falschen Kreucher und Fleucher verringern, die zuweilen hordenweise durch die Straßen zogen.

Die Aufzüge im Rathaus waren wieder außer Betrieb, und Dusman musste die vier Etagen hinauf ins Büro des Abteilungsleiters zu Fuß erklimmen. Um diesen Mann aus dem immer gleichen Grund zu sprechen, war Dusman diese Treppe schon so oft hochgestiegen, dass er es mit verbundenen Augen konnte. In jeder Etage hingen die gleichen vertrauten Schilder, die Besucher vor der Rutschgefahr auf den glatten Böden warnten. Und da waren nach wie vor die Richtungspfeile. Hier entlang zur Buchhaltung, dort entlang zur Beschwerdeabteilung, zur Herrentoilette, zu den Lagerräumen, überallhin. Und an den Türen der toten Aufzüge hing in jedem Stock das gleiche Schild: Außer Betrieb. Treppe benutzen!

Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock hielt Dusman inne, um Atem zu schöpfen. Mit fünfunddreißig fühlte er sich alt und verbraucht, so stark abgenutzt wie die Schuhsohlen eines Menschen, der nur ein Paar Schuhe besitzt. Dusman besaß derer zwar zwei Paar, doch eines lag ungenutzt zu Hause, mit löchrigen Sohlen. Kleider, die ihm einst wie angegossen gepasst hatten, waren ihm jetzt zu weit. Sein blauer Rollkragenpullover, ausgeblichen und ausgeleiert, hing ihm am Körper wie ein Sack. Seine Jeans war eingegangen, die Hosenbeine endeten einige Zentimeter über den Knöcheln, aber zumindest seine Schuhe passten ihm noch.

Während er in tiefen Zügen Luft holte, unterzog Dusman seine Sinnesorgane einer Prüfung: Seine Augen funktionierten noch gut, trotz des verkniffenen Blinzelns, das er sich beim Prüfen der Wasseruhren angewöhnt hatte und das durch die grellen Lichtreflexe der Parkuhren schlimmer geworden war. Auch sein Gehör funktionierte noch bestens, so gut, dass Dusman deutlich hören konnte, wie Sukuma Wiki, der Gemüseverkäufer von nebenan, mit seiner Amazone von Frau ein Komplott gegen die Mieter von Dacca House schmiedete, um die Gemüsepreise zu erhöhen und aus sinkendem Angebot und steigender Nachfrage Kapital zu schlagen. Nachts, wenn die Hunde nebenan nicht allzu laut jaulten, konnte er sogar das Kind des Bad-Manns keuchen hören, am anderen Ende des Hofs. Sein Gehörsinn funktionierte so gut, dass er Dusman schier in den Wahnsinn trieb. In manchen Nächten glaubte er sogar zu hören, dass die Kakerlaken sich gegen ihn verschworen. Wie den meisten seiner Nachbarn war Dusman auch den Kakerlaken verhasst.

Auch an seinem Geruchssinn fand er nichts zu beanstanden. Sein olfaktorischer Apparat, diesen Begriff hatte er vom guten alten Doktor Patel gelernt, war in derart gutem Zustand, dass Dusman, trotz des bestialischen Gestanks aus der verstopften Toilette, riechen konnte, wenn sich jemand zwei Zimmer weiter ein Ei briet. Schade nur, dass sein Tastsinn nachließ. Seine Beine ermüdeten schneller, und seine Arme baumelten an ihm wie die eines alternden Gorillas. Er schien nichts dagegen tun zu können und würde vermutlich bereits mit vierzig an Überalterung sterben.

Dusman rang nach Luft, und ihm taten die Füße weh, als er die vierte Etage endlich erklommen hatte. Es wimmelte von Leuten. Die einen hasteten treppauf, andere treppab, Boten in kakifarbenen Uniformen trugen körbeweise Akten durch feuchte Flure, während Kunden mit Leidensfalten auf der Stirn verzweifelt nach jemandem Ausschau hielten, bei dem sie ihre Beschwerde loswerden könnten. Alte grün unifomierte Damen schoben Mopps über spiegelglatte Böden oder stützten sich auf ihr Putzgerät, um zu tratschen.

Wer sich nicht auskannte, irrte trotz der Hinweispfeile hoffnungslos durchs Gebäude. Der verkaterte Mann am Empfang im Erdgeschoss schickte Besucher in Zimmer zwei im vierten Stock.

»Nein!«, schrie der Sachbearbeiter im Büro im vierten Stock, »für Sie ist immer Zimmer vier im zweiten Stock zuständig!«

Sobald sie es, über die rutschigen Treppen, zurück in den zweiten Stock geschafft hatten, stellten die Besucher fest, dass ihr Ärger nun erst richtig losging. Der Mann, dessen sie so dringend bedurften, um ihre Wasserrechnung abändern zu lassen, war entweder entlassen worden, in ein anderes Büro innerhalb dieses rätselhaften Hauses versetzt oder schlicht in einer Kaffeepause, die vermutlich den ganzen Tag andauern würde. Wer als Neuling in das System geriet und seinen Sinn für Humor verlor, war der einzige Verlierer. So war das eben im Rathaus. An manchen Tagen stand sogar der Bürgermeister stundenlang vor verschlossener Tür, weil der Pförtner verschollen war.

Dusman wusste, wo sein Ansprechpartner zu finden war. Das Büro des kräftigen Mannes lag am Ende eines schummrigen Flurs im vierten Stock, und er saß hinter der Tür zu seinem privaten Reich verbarrikadiert. Angrenzend befanden sich das Vorzimmer und der Warteraum. Der Schreibtisch der Sekretärin stand dicht an der hinteren Zimmerwand, unter einem riesigen Plakat, welches besagte, dass der Chef zwar nicht immer recht hatte, aber immer der Chef war. An einem niedrigen Tisch, auf dem sich alte Ausgaben der Economic Review stapelten, standen zwei Besucherstühle. Dusmans Abneigung gegen diese Stühle war so stark, dass er selten im Warteraum Platz nahm.

Die Sekretärin ließ sich wie üblich fünf Minuten Zeit, bevor sie Dusmans Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Die korpulente Frau schaute ewig finster drein, und ihre Stimme klang kantig wie eine zerbrochene Flasche. Dusman fragte sich oft, ob die Sekretärin nur ihn jedes Mal warten ließ oder ob die fünf Minuten Teil des üblichen Betriebsablaufs waren. Als sie den Blick endlich von ihrem Computerbildschirm löste, schien sie jemanden anzusprechen, der hinter Dusman stand.

»Ja?« Die Stimme zerrte an seinen Nerven.

»Kann ich ihn heute sprechen?«, fragte Dusman.

»Wen?«

»Den Abteilungsleiter.«

»In welcher Sache?«

»Geschäftlich.«

»Sie heißen?«

»Dusman Gonzaga. Ich war letzte Woche schon mal hier.«

»Haben Sie ihn letzte Woche denn nicht gesprochen?«

»Sie sagten, er habe zu tun.«

Die Vorzimmerdame schlug ihren Terminkalender auf und grübelte sekundenlang. Dann schlug sie den Kalender zu, schob ihn beiseite und ließ ihren gestrengen Blick auf Dusman ruhen. »Er hat nach wie vor zu tun«, sagte sie, »ohne Termin geht gar nichts.«

»Ich brauche keinen Termin«, erklärte Dusman der Dame, »ich arbeite hier. Ich bin der, der die Parkuhren abliest und ein Problem hat. Erinnern Sie sich nicht an mich?«

»Sie brauchen trotzdem einen Termin.«

Dusman wollte weiter protestieren, doch sie wandte sich von ihm ab und widmete sich erneut ihrem Computer.

»Kann ich einen Termin machen?«, fragte Dusman.

Sie unterbrach ihr Tippen und trug, wortlos und ohne Dusman um Zustimmung zu bitten, einen Termin am kommenden Samstag ein.

Dusman verließ das Büro verzweifelter, als er es betreten hatte. Allmählich machte sich in ihm die Gewissheit breit, dass er von den verhassten Parkuhren nie wegkommen würde. Er würde als Parkuhrenableser sterben. Man würde ihn zu Grabe tragen und anstelle eines Grabsteins eine Parkuhr aufstellen, auf der zu lesen stünde: