Raoul Wallenberg - Ingrid Carlberg - E-Book

Raoul Wallenberg E-Book

Ingrid Carlberg

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Beschreibung

Die umfassende Biografie eines ungewöhnlichen Helden

Raoul Wallenberg ist eine der schillerndsten und rätselhaftesten Figuren, wenn es um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa geht. Bereits die Geschichte, wie er 1944 zu seiner Berufung als schwedischer Sondergesandter nach Budapest kam, liest sich wie aus einem Spionagethriller. Wallenberg rettete während seiner kurzen Zeit als Sondergesandter Schwedens in Budapest Tausende ungarischer Juden vor dem Holocaust. Und als nach Kriegsende die sowjetischen Truppen in die Stadt einmarschierten, wurde er als Spion verhaftet und nie wieder gesehen, was Anlass zu zahlreichen Spekulationen über seinen Verbleib gab. Die schwedische Historikerin Ingrid Carlberg schafft es in dieser einzigartigen Biografie, das Leben eines herausragend mutigen und außergewöhnlich beharrlichen Menschen zu erzählen, der schon bald nach seinem unerklärlichen Verschwinden zum Ehrenbürger der USA ernannt und als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wurde.

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Seitenzahl: 1357

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Zum Buch

Raoul Wallenberg ist eine der schillerndsten und rätselhaftesten Figuren, wenn es um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa geht. Bereits die Geschichte, wie er 1944 zu seiner Berufung als schwedischer Sondergesandter nach Budapest kam, liest sich wie aus einem Spionagethriller. Während seiner kurzen Zeit als Sondergesandter Schwedens in Budapest rettete er durch ein ausgeklügeltes Schutzpass-System Tausende ungarischer Juden vor dem Holocaust. Und als nach Kriegsende die sowjetischen Truppen in die Stadt einmarschierten, wurde er als Spion verhaftet und nie wieder gesehen, was Anlass zu zahlreichen Spekulationen über seinen Verbleib gab.

Die schwedische Historikerin Ingrid Carlberg schafft es in dieser einzigartigen Biografie, das Leben eines herausragend mutigen und außergewöhnlich beharrlichen Menschen zu erzählen, der schon bald nach seinem unerklärlichen Verschwinden zum Ehrenbürger der USA ernannt wurde und bis heute als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wird.

Zur Autorin

Ingrid Carlberg, Jahrgang 1961, ist Autorin und Journalistin. Sie schrieb von 1990 bis 2010 für die große schwedische Tageszeitung »Dagens Nyheter« und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Auszeichnungen, darunter auch die Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala, sowie 2013 den Axel-Hirsch-Preis der Schwedischen Akademie. Ihre Biografie über Raoul Wallenberg wurde in Schweden mit dem August-Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet.

INGRID CARLBERG

RAOUL WALLENBERG

Die Biografie

Das außergewöhnliche Leben und das mysteriöse Verschwinden des Mannes, der Tausende ungarischer Juden vor dem Holocaust rettete

Mit einem Vorwort von Kofi Annan

Aus dem Englischenvon Susanne Dahmann

Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Det står ett rum här och väntar på dig...: Berättelsen om Raoul Wallenberg« im Verlag Norstedts, Stockholm.Der vorliegenden Ausgabe liegt die englischsprachige Übersetzung von Ebba Segerberg zugrunde, die 2016 unter dem Titel »Raoul Wallenberg. The Biography« bei MacLehose Press/Quercus, London, erschien.Susanne Dahmann bedankt sich bei Birger Laing für seine umfassende und kenntnisreiche Unterstützung bei der Arbeit an diesem Text.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe September 2019

Copyright der Originalausgabe © Ingrid Carlberg 2012, 2015

Copyright des Vorworts © Kofi A. Annan 2015

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Karte von Budapest und Familienstammbaum: © Stig Söderlind

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Ungarisches Nationalarchiv; © Riksarkivet Stockholm

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22110-2V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Meinen Eltern Sonja und Per Carlberg

In diesem Bericht über Raoul Wallenbergs Leben und Schicksal habe ich mich sehr darum bemüht, die Fakten absolut wirklichkeitsgetreu darzustellen. Ich habe keine Dialoge erfunden und keine erdichteten Szenen oder Details hinzugefügt. Und ich habe auch keine unbegründeten Annahmen über Motive oder Gefühle von Personen gemacht.

Die schwedische Originalausgabe dieses Buches hatte 1 705 Fußnoten. Für die gekürzte englische Ausgabe, die der vorliegenden Übersetzung ins Deutsche zugrunde liegt, wurden diese detaillierten Bezüge ebenfalls gekürzt. Sie finden sich in deutscher Sprache am Ende des Buchs. Jeder Leser, der sich für bestimmte Informationen oder Hinweise zu irgendeiner Passage in diesem Buch interessiert, kann gerne unter www.ingridcarlberg.se direkt mit mir Kontakt aufnehmen.

INGRID CARLBERG

»Jeder Mensch eine halboffne Tür,die in ein Zimmer für alle führt.«

TOMAS TRANSTRÖMER

INHALT

Karte: Budapest 1944

Vorwort von Kofi A. Annan

Prolog: Djursholm, Herbst 2009

TEIL I: WAS FORMT EINEN MENSCHEN?

Kapitel 1: Ein zerbrechliches Glück

Kapitel 2: Zwei Witwen und ein Kind

Kapitel 3: Keine Reichenallüren

Kapitel 4: Maschinengewehre und amerikanische Architektur

Kapitel 5: Der Globetrotter

Stockholm, Februar 2010

Kapitel 6: Auf eigenen Füßen

Kapitel 7: Unteroffizier mit unternehmerischen Ambitionen

Bragevägen 12, November 2010, »Farewell Blues«

Kapitel 8: Der Lebensmittelhändler

Blasieholmen, Mai 2010

TEIL II: WAS MACHT EINE TAT HELDENHAFT?

Kapitel 9: Die Begegnung im Fahrstuhl

Kapitel 10: Der Auftrag

Djursholm, Oktober 2010

Kapitel 11: So viele wie möglich retten

Kapitel 12: »Ihre Verbindung nach Schweden ist die Firma Kanthal«

Buda, Juni 2010

Kapitel 13: Die Barbarei bricht aus

Kapitel 14: Einunddreißig Häuser und zehntausend Mägen zu füllen

Raoul Wallenbergs torg, Stockholm, Januar 2010

Kapitel 15: »Ich bin Schwede, Sohn eines neutralen Landes«

Ostrom utca, Herbst 2010

TEIL III: WAS BESTIMMT DAS SCHICKSAL EINES MENSCHEN?

Kapitel 16: Vom Schutz- zum Vermisstenstatus

Lefortowo-Gefängnis, April 2011

Kapitel 17: Das Antlitz Gottes schauen

Kapitel 18: »Niemand interessiert sich für Sie«

Donskoi-Friedhof, April 2011

Kapitel 19: Eine schwedische und eine sowjetische Mauer müssen eingerissen werden

Kapitel 20: Was taugt zur Halbwahrheit?

Neben der Lubjanka, April 2011

Kapitel 21: Das Duell der Professoren

Kapitel 22: Ein amerikanischer Held wird geboren

Versailles, Frühjahr 2010

Kapitel 23: »Auf Wiedersehen, Herr Wallenberg«

Stockholm und Moskau, 2011

EPILOG: Djursholm, Sommer 2011

Dank

Stammbaum der Familie

Quellen und Bibliografie

Bildteil

Bildnachweis

Sach- und Personenregister

Endnoten

VORWORT VON KOFI A. ANNAN

Gründer der Kofi Annan Foundation, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen (1997 bis 2006)

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Das sind die letzten Zeilen eines berühmten Verses von Martin Niemöller, der viele von uns dazu bewegt hat, die eindringlichste Frage an uns selbst zu stellen.

Manche Menschen aber protestierten nicht nur, sondern sie handelten nach ihrer Überzeugung.

Als Raoul Wallenberg im Juli 1944 sein Heimatland Schweden verließ, um einen kurzzeitigen diplomatischen Auftrag in Budapest zu erfüllen, war er fast zweiunddreißig Jahre alt und ein relativ unbekannter Geschäftsmann aus Stockholm. Wer ihn kannte, schätzte seine Kreativität, seinen Sinn für Humor, seine grenzenlose Energie und sein überragendes Organisationstalent. Dennoch hat sicher niemand gedacht, dass er ein internationaler Held werden würde.

Heute ehrt man ihn rund um die Welt für seinen Mut und seine historischen Taten, weil seine Aktionen in Budapest im Herbst 1944 das Leben von Tausenden ungarischer Juden retteten.

Deshalb ist Wallenberg solch eine wichtige Person für uns alle, nicht zuletzt heute, da die Intoleranz wieder ihren langen Schatten über die Welt wirft. Er hat gezeigt, dass jeder – egal in welcher Position oder mit welchen Fähigkeiten – etwas ausrichten kann. Er zeigte uns, dass man den Kampf für die Gleichheit der Menschen nicht nur den Regierungen oder der politischen Theorie überlassen darf. Er hatte verstanden, dass dies eine Frage der individuellen Verantwortlichkeit ist, und hat entsprechend gehandelt.

Von schönen Worten oder Gesten nicht befriedigt, suchte er konkrete, durch Organisation und Gewitztheit erlangte Erfolge. Wo andere sich vor dem scheinbar Unmöglichen zurückzogen, sah er die Herausforderung und handelte. Er antwortete auf die Tötungsmaschinerie der Nazi-Bürokratie, indem er eine der effektivsten Rettungsaktionen des Zweiten Weltkriegs auf die Beine stellte.

Ende 1944, als die blutige Anarchie des Terrors Budapest lähmte, hatte Raoul Wallenberg Hunderte von Menschen in verschiedenen Bürogebäuden angestellt und bot ein weites Spektrum von Hilfen an, vom Schutzraum über tägliche Essensrationen und medizinische Versorgung bis hin zu Schutzdokumenten und Sicherheits-Patrouillen. Sicher waren Raoul Wallenbergs Titel und seine Stellung als schwedischer Diplomat von Bedeutung, aber es waren seine persönliche Autorität, seine Energie und Initiative, die ihn auszeichneten. Auch wenn er mit seinen Rettungsaktionen nicht immer erfolgreich war, hörte er doch nie auf, es zu versuchen.

Im Januar 1945, als die Rote Armee Budapest erreichte, suchte Raoul Wallenberg freiwillig den Kontakt mit der sowjetischen Führung. Er wollte eine gemeinsame Anstrengung vorschlagen, um die Budapester Juden zu retten und Nachkriegshilfe zu leisten. Die Russen reagierten darauf, indem sie ihn verhafteten und im Lubjanka-Gefängnis in Moskau einsperrten.

Er sollte sein Heimatland nie wiedersehen. Der Mann, der sich gegen eines der schlimmsten Regime der Geschichte, den deutschen Nazi-Staat, stellte, fiel einem anderen, Stalins Sowjetunion, zum Opfer. Als er am Ende selbst Hilfe brauchte, gab es niemanden, der für ihn eintrat und sich um seine Freilassung bemühte.

Diese preisgekrönte Biografie erzählt zum ersten Mal die ganze Geschichte von Raoul Wallenberg – sein Leben bis 1944, seine Aktivitäten in Budapest und das tragische Rätsel seines Schicksals, das bis zum heutigen Tage ungelöst ist. Es ist fesselnd, dies zu lesen. Ingrid Carlbergs minutiöse Untersuchung macht diese Zeit lebendig und vertieft unser Verständnis für den Mann und seine Errungenschaften.

Im Jahr 1981 ernannten die Vereinigten Staaten Raoul Wallenberg zu ihrem zweiten Ehrenbürger, nach Sir Winston Churchill. Er ist außerdem Ehrenbürger von Israel, Kanada und Australien. Nachdem er vom Staat Israel im Sommer 2014 zum »Gerechten unter den Völkern« ernannt wurde, erhielt er für sein heroisches Verhalten während des Holocaust auch die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses der USA.

Raoul Wallenberg hat verdientermaßen internationale Anerkennung bekommen. Aber es ist wichtig, ihn nicht nur auf den abstrakten Ruhm von Ehrungen und Preisen zu reduzieren. Er selbst hätte sich in der Rolle eines Helden niemals wohlgefühlt. Die beste Art, ihn zu ehren, ist, ihn als Mitmenschen in Erinnerung zu behalten, der in einer der dunkelsten Phasen der Geschichte die innere Stärke und den Mut fand, zu handeln und andere zu retten, auch unter Gefahr für sein eigenes Leben. Raouls Beispiel sollte uns und zukünftige Generationen immer wieder inspirieren.

Obwohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erst aus dem Schrecken des Krieges geboren wurde, hatte Raoul bereits im Sinne ihres ersten Artikels gehandelt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.«

Wir müssen uns stets aufs Neue ins Gedächtnis rufen, dass ein Völkermord immer mit der Erniedrigung des Menschen beginnt, nicht für etwas, was er getan hat, sondern für das, was er ist. Deshalb soll Raouls Beispiel uns auch im täglichen Leben leiten und uns helfen, gegen Ungerechtigkeit in jeder Form aufzustehen. Wo immer Menschen gemieden, erniedrigt oder verletzt werden, weil sie anders sind, wo immer sie bei der Arbeit oder in der Schule gemobbt oder im Cyberspace herabgewürdigt werden, wollen wir niemals passiv danebenstehen.

Raoul Wallenberg war einer der inspirierendsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Dies ist seine Geschichte.

Kofi A. Annan (1938–2018)Dezember 2015

PROLOG Djursholm, Herbst 2009

Wir haben schon mehrmals über die Zinnsoldaten gesprochen, und jetzt sind die Schachteln angekommen. Raoul Wallenbergs Halbschwester Nina Lagergren klingt aufgeregt, als ich anrufe. Mit der Hilfe eines Urenkels hat sie die Figuren bei sich im Untergeschoss auf einem Regal arrangiert: die handbemalten Soldaten, Standartenträger und Musiker aus der Spielzeugfabrik E. Heinrichsen in Nürnberg.

Nina erinnert sich noch an die filigranen Zinnfiguren aus Raouls Kinderzimmer an der Riddargatan im Stockholm der 1920er Jahre. Ihr Bruder, neun Jahre älter als sie, hatte sie von seinem Vater, der vor Raouls Geburt gestorben war, geerbt. Die zweitausend Spielfiguren waren in fünfundachtzig ovale Holzschachteln verpackt gewesen und nahmen fast einen ganzen Schrank ein.

»Sie müssen rauskommen und sie sich ansehen«, sagt Nina.

Ein paar Tage später fahre ich nach Djursholm. Nina Lagergren öffnet die Tür in einem leuchtend blauen Jackett und mit einem strahlenden Lächeln. Ich ziehe meine Jacke aus und werfe einen Seitenblick auf die Bilder an der Wand. Da sind auch viele ausländische Briefmarken mit dem Porträt ihres Bruders. Dazu das Zertifikat von 1981, als Raoul Wallenberg – als erste Person seit Winston Churchill – die Ehrenbürgerschaft der Vereinigten Staaten erhielt. Und dann ist dort natürlich einer der tausend »Schutzpässe« aus Budapest vom Herbst 1944.

Dieser besondere Pass trägt das Datum des 20. August 1944. Es war ein Sonntag, und Raoul Wallenberg saß in seinem Büro auf dem Gellértberg in Budapest und arbeitete die Stapel von Anträgen verzweifelter ungarischer Juden durch. An diesem Tag nahm er ein weiteres, auf cremefarbenem Papier vorgedrucktes Dokument und stellte es auf die vierzehnjährige Judith Kopstein aus. Das Mädchen sieht verbissen aus auf der schwarz-weißen Fotografie, die von der Schwedischen Botschaft abgestempelt worden ist. Dieser Pass hat Judith Kopstein vermutlich das Leben gerettet. Ich habe ihren Namen auf Listen von Holocaust-Überlebenden gefunden, doch leider seither nichts weiter über sie.1

Nina sagt, sie wisse nicht, was mit ihr geschehen sei.

Die Kellertreppe ist schmal und verwinkelt. Wir müssen uns an den Wänden festhalten, um unbeschadet hinunterzukommen. Ich steuere automatisch auf den Heizungskeller zu, denn hier bewahrt Nina ihre »Raoul-Truhe« auf sowie die Plakate von zahllosen Protesten vor der Sowjetischen Botschaft in Stockholm. Die Truhe rührt an tiefe Gefühle. In ihr verwahrt Nina die Holzkiste mit Raouls Besitztümern, die Nina und ihren Geschwistern bei ihrem erschütternden Besuch in Moskau 1989 überreicht wurde.

Nach fünfundvierzigjährigem Schweigen hatten Offizielle in Moskau, offenbar im Glasnost-Rausch, Nina und ihren Bruder Guy von Dardel2 zu einem historischen Treffen mit dem KGB eingeladen. Neben anderen Dingen wurde ihnen der Einlieferungsschein in das Lubjanka-Gefängnis in Moskau vom 6. Februar 1945 gezeigt. Während des Treffens stand der stellvertretende Vorsitzende des KGB plötzlich auf und überreichte ihnen die Holzkiste. Es war ein Schock. Darin befanden sich der Diplomatenpass ihres Bruders, sein Tagebuch von 1944, sein Adressbuch und eine relativ hohe Summe an Bargeld in Schweizer Franken und der ungarischen Kriegswährung Pengő. Eine Sammlung seiner persönlichen Dinge, aber keine glaubwürdige Antwort darauf, was wirklich geschehen war.

Nina Lagergren ist fast neunzig Jahre alt. Sie wartet immer noch, so wie der Rest der Familie auch. Jetzt schließt sie eine Abstellkammer auf und winkt mich zu sich.

Da ist nicht genug Platz für alle Zinnsoldaten von Raoul, dennoch ist die Militärparade beeindruckend. Bunte, zum Angriff bereite Miniatur-Krieger mit Federhüten und antiken Musketen, mit Kanonen, Trommeln und Trompeten.

Irgendwann im Laufe der 1970er Jahre packte Raouls Mutter, Maj von Dardel, seine Zinnsoldaten in zwei große Kartons und deponierte sie im Nordischen Museum in Stockholm. Doch die Siebzigerjahre waren eine Zeit, in der Fragen nach Raoul Wallenberg in einem Schweden, in dem man vor der Sowjetunion kuschte, meist mit Schweigen beantwortet wurden. Die Kartons wurden in die Abstellräume des Museums im sogenannten Gartengeschoss gebracht. Und da blieben sie. Die Jahrzehnte vergingen, und niemand wusste, was mit den Zinnsoldaten geschehen war. Bis heute.

Ein paar Monate zuvor hatten Mitarbeiter des Museums Kontakt zu Nina Lagergren aufgenommen. Sie hatten die Abstellkammern aufgeräumt und waren dabei auf die Kartons von Maj von Dardel gestoßen. Nun wollten sie die Kisten, falls die Familie sie ihnen nicht als Spende übereignen wolle, gern loswerden.

Nina nimmt einen kleinen Soldaten in einem roten Mantel, der das Gewehr an die Schulter gehoben hat. Sie sieht ihn liebevoll an, und ich nehme an, dass sie es ebenso wie ich schade findet, dass das Museum sich nicht für die Kollektion interessiert. Doch würde sie so etwas niemals sagen.

»Sie wollen ihnen die Zinnsoldaten also nicht überlassen?«, frage ich vorsichtig.

Nina Lagergren sieht mich erschrocken an.

»Wie könnte ich das tun? Es sind doch nicht meine. Sie gehören Raoul.«

TEIL IWAS FORMT EINEN MENSCHEN?

KAPITEL 1 Ein zerbrechliches Glück

Trauer und Glück gehen zusammen, heißt es in einem melancholischen nordischen Psalm aus dem siebzehnten Jahrhundert. Im Frühjahr und Herbst 1912 sollte die Wahrheit dieser Worte der frisch verheirateten Maj Wallenberg schmerzvoll bewusst werden.

Eben noch hatte sie den bis dahin glücklichsten Tag ihres Lebens erlebt: ihre Hochzeit mit dem dreiundzwanzig Jahre alten Unterleutnant der Marine, Raoul Oscar Wallenberg1. Die Eheschließung am 27. September 1911 in der Jacobs Kyrka war mit dem angemessenen Pomp und Staat gefeiert worden: Mendelssohns Hochzeitsmarsch und der Brautchor aus Wagners »Lohengrin«. Im Anschluss war den Gästen ein neungängiges Menü im Stockholmer Grand Hôtel serviert worden. Sie aßen Seezunge Walewska und Rebhuhn, dazu tranken sie den Champagner von Charles Heidsieck, den auch der russische Zar bevorzugte. Die Weinliste war mehr oder weniger identisch mit dem, was einige Monate später auf dem Nobelbankett kredenzt wurde2.

Raoul Oscar Wallenberg und Maj Wising hatten sich zwei Jahre zuvor kennengelernt. Maj war eine Schulfreundin von Sonja Wallenberg, der Cousine von Raoul Oscar, und alle drei waren sie Mitglieder desselben Sportclubs, der sonntägliche Wanderungen in der Gegend um Stockholm organisierte. Nach ein paar Monaten zunehmend intensiveren Umgangs mit Maj konnte Raoul Oscar seine Gefühle nicht länger verbergen. »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich verliebt habe«, schrieb er im Frühjahr 1910 von der H. M. Göta an seinen Vater Gustaf Wallenberg.

Seine Gefühle waren so stark, dass Raoul Oscar sich genötigt sah, erst einen Heiratsantrag zu machen und dann die Erlaubnis seines Vaters einzuholen. Er hatte sich eine Weile damit herumgequält, zumal sein Vater ihn kurz zuvor erst zu einem Gespräch über das Thema Frauen zu sich gerufen und vor den »listigen Sirenen, die junge Männer in ihre Fallen locken möchten« gewarnt hatte.

Für Raoul Oscars unübliche Vorgehensweise gab es allerdings auch eine praktische Erklärung. Seine Eltern hatten in den vergangenen Jahren in Japan gelebt, wo Gustaf Wallenberg Schwedens diplomatischer Vertreter war. In dem Brief an seinen Vater schrieb Raoul Oscar, dass er im März 1910, zwei Tage, bevor er mit der Marine auf der H. M. Göta in See stach, um die Hand von Maj angehalten hatte. Zu seiner großen Erleichterung lautete die Antwort Ja. Er konnte nun seinen Eltern stolz berichten, dass seine Verlobte, Maj Wising, aus einer guten Familie stammte, sie war die jüngste Tochter des berühmten Neurologen Per Wising und seiner Frau Sophie.

Raoul beschrieb Maj als ein »kräftiges und gesundes und gut entwickeltes Mädchen, das problemlos an einem Nachmittag dreißig Kilometer laufen konnte«. Sein Vater wurde informiert, dass sie schlank und hochgewachsen sei und hübsche Füße habe, dass aber ihre Hände nicht so anmutig geformt seien wie die von Raoul Oscars eigener Mutter, Annie Wallenberg. Maj Wising, so schrieb Raoul Oscar, sei oft fröhlich und überschwänglich, doch gleichzeitig auch eine ernste und ungewöhnlich ehrgeizige junge Frau. Zum Beispiel habe sie kürzlich den Abschluss an der Privatschule von Sofie Almqvist erworben. Dies war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Sache, ließen doch öffentliche höhere Schulen bis 1927 keine Mädchen zu.

Raoul Oscar selbst hatte die Offiziersausbildung an der Marineakademie – ein obligatorischer Teil der Ausbildung von männlichen Nachkommen der Wallenberg-Familie – mit beeindruckenden Noten absolviert. Jetzt setzte er seine Laufbahn fort, wenngleich er nie den Plan gehabt hatte, bei der Marine zu bleiben.

Sein Vater Gustaf war der Sohn des verstorbenen André Oscar Wallenberg, eines bekannten Marineoffiziers, Politikers und Bankiers, der 1856 die Stockholms Enskilda Bank (SEB) gegründet hatte. André Oscar war ein fordernder Vater gewesen, der seine Kinder (zwanzig an der Zahl, von drei verschiedenen Müttern) gern mit Geschichten über seine Erfolge und die seiner Ahnen unterhielt. Pflicht und Entsagung waren die Leitprinzipien einer Lebensphilosophie, die er auf seine Nachkommen zu übertragen suchte. Zu diesem Zweck hatte André Oscar für seine Söhne ein strenges Bildungsprogramm entworfen, das schon in frühem Alter ausländische Internatsschulen und einen krönenden Abschluss an der Marineakademie vorsah. Diese Tradition sollte von der nachfolgenden Generation fortgesetzt werden3.

Der junge Raoul Oscar war einer der besten Studenten seines Jahrgangs und bereits viel erfolgreicher als sein Vater. Im Wallenberg-Clan wurde »Rulle«, wie man ihn nannte, hoch geschätzt. Er war der älteste von André Oscars Enkeln und galt als liebenswert, klug und ausdrucksstark. Es ruhten große Hoffnungen auf ihm.

Doch das Schicksal hatte andere Pläne.

Zur Zeit der Hochzeit von Raoul Oscar und Maj im September 1911 waren die Wallenbergs bereits auf dem Weg, die einflussreichste Dynastie in der schwedischen Wirtschaftswelt zu werden. Die industrielle Revolution hatte den schwedischen Bankgeschäften kräftigen Auftrieb verliehen. Die Nachfrage nach Geschäftskrediten war groß, und um die Jahrhundertwende schossen neue Banken wie Pilze aus dem Boden.

In diesem generellen Banken-Boom war die Erfolgsgeschichte der Stockholms Enskilda Bank am beeindruckendsten. Ihre Wandlung von einer riskanten Neugründung in den 1870er und 1880er Jahren zu einer der drei marktbeherrschenden Geschäftsbanken zwanzig Jahre später war respekteinflößend4.

Nach dem Tod von André Oscar 1886 ging die Verantwortung für die Familiengeschäfte natürlicherweise auf die älteren Wallenberg-Söhne Knut, Gustaf und Marcus über. André Oscar hatte vor seinem Tod durchblicken lassen, dass für ihn Knut und nach ihm der elf Jahre jüngere Marcus die selbstverständlichen Führer des Unternehmens waren5. Vielleicht war es diese Haltung gegenüber Gustaf, die das Schicksal des Zweiges der Familie, in den Raoul Wallenberg hineingeboren werden sollte, heraufbeschwor.

Wie es sein Alter und seine Autorität verlangten, nahm Knut Wallenberg die Position des Präsidenten der Bank ein. Doch schon bald klopfte Marcus an seine Tür, eifrig bemüht, den Platz an Knuts Seite einzunehmen, von dem er fand, dass er ihn besser ausfüllen könnte als der mittlere Bruder Gustaf. Im Gegensatz zu Gustaf hatte Marcus die Marine fast gleich nach dem Examen verlassen, um in Uppsala Jura zu studieren. Marcus war ehrgeizig und stur und verhehlte kaum, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er eine herausragende Stellung in der Bank einnehmen wollte.

Knut Wallenberg hatte sich als ein sowohl starker als auch international agierender Unternehmer erwiesen, doch besaß er keine finanzpolitische und juristische Ausbildung. Deshalb stellte er bereits 1890 Marcus als juristischen Berater ein, obwohl sein jüngerer Bruder zu der Zeit noch nicht das übliche juristische Referendariat durchlaufen hatte. Zwei Jahre später wurde Marcus Wallenberg zum Vize-Präsidenten und stellvertretenden Leiter der Bank ernannt.

Zu diesem Zeitpunkt entschied Marcus, der schon lange das Gefühl gehabt hatte, dass es Gustaf an den notwendigen Fähigkeiten fehlte, dass dieser eine Armlänge vom täglichen Geschäft der Bank entfernt gehalten werden sollte.

Die Beziehung zwischen Marcus und Gustaf war nie gut gewesen, obwohl die beiden große Teile ihrer Kindheit gemeinsam verbracht hatten. Gustaf und Marcus waren zwölf und elf Jahre alt gewesen, als sie – gemäß dem Bildungsprogramm von André Oscar – für mehrere Jahre in ein deutsches Internat geschickt wurden, um dort eine lutherische, charakterbildende Ausbildung zu genießen. André Oscar wollte, dass seine Söhne fließend Deutsch, Englisch und Französisch sprechen konnten und dass sie die Gesetze der Pflicht erlernten und emotional abgehärtet wurden. Die Eltern der Jungen beantworteten nur jeden vierten Brief der Kinder, um sie nicht zu verziehen. Heimweh wurde als Zeichen von Schwäche angesehen.

Trotz dieser gemeinsam verbrachten schwierigen Zeit scheinen die Brüder einander nicht nähergekommen zu sein. Torsten Gårdlund beschreibt in seiner Biografie von Marcus Wallenberg die Beziehung zwischen den Brüdern in der Kindheit als freundlich, doch »nicht gerade warmherzig«6.

Als Gustaf – ungefähr zu der Zeit, als sein Vater starb – mit einem riskanten Geschäft in den USA Schiffbruch erlitt, verurteilte Marcus ihn scharf. In seinen Augen fehlte es Gustaf sowohl an Common Sense als auch an finanzpolitischer Urteilskraft, was für Marcus ernsthafte Charakterschwächen darstellte. Knut teilte diese kritische Sichtweise zwar zum Teil, wollte Gustaf aber trotzdem zum Vize-Direktor der Bank machen. Marcus konnte das nicht akzeptieren. Er schrieb ein Memorandum, in dem er Gustafs Misserfolge auflistete, und überzeugte Knut, seine Pläne fallen zu lassen.

Aus diesem Grunde kam Gustaf nie weiter als bis zu einer Position im mittleren Management der Familienbank, und so beschloss er 1902, das Unternehmen zu verlassen und seinen eigenen Weg zu suchen. In seiner Ankündigung, die Leitung der Enskilda Bank zu verlassen, schrieb Gustaf: »Mein ganzes Dasein geht in eine andere Richtung als die eines Bankiers.«7

In Schweden war es zu jener Zeit kein großer Schritt von der freien Wirtschaft zum Außenministerium. Seit der Jahrhundertwende hatte Gustaf Wallenberg als Abgeordneter der Liberalen Partei für Stockholm einen Sitz in der Zweiten Kammer des Parlaments inne. Nach der Auflösung der Union mit Norwegen wurde er zum ersten Attaché Schwedens für Ostasien ernannt, mit Wohnsitz in Tokio. Zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern zog er 1906 nach Japan. Der achtzehnjährige Sohn Raoul Oscar blieb bei seiner Großmutter in Stockholm.

Als die Familie zu Raoul Oscars Hochzeit im September 1911 zusammenkam, hatte Marcus die Präsidentschaft der Enskilda Bank von Knut übernommen. Knut ging auf die sechzig zu und war im Gegensatz zu seinem Bruder kein Arbeitstier, sondern hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, dass Schneehuhn-Jagd und Erholungsreisen an die Riviera verlockender waren, als in der Bank zu schuften.

Während sich für Marcus Wallenberg ein lang gehegter Traum erfüllte, hatte Gustaf erneut zu kämpfen. In Japan wurde er wie ein König behandelt, doch seine mitunter impulsiven Ideen für eine Steigerung des schwedischen Handelsvolumens mit Asien waren nicht nur wohlwollend von den oberen Etagen des schwedischen Außenministeriums aufgenommen worden. Außerdem ging das Gerücht, Gustaf Wallenbergs finanzielle Abrechnungen seien nicht in Ordnung und er sei ins Ministerium gerufen worden, um sich zu erklären.

Ohne Zweifel ging ihm während der Hochzeitszeremonie seines Sohnes einiges durch den Kopf.

Die frisch Vermählten zogen in eine Wohnung an der Ecke Grev Turegatan und Linnégatan in demselben Gebäude, in dem auch Majs Eltern wohnten. Per Wising hatte, nachdem er von seinem Posten als Professor des Karolinska Instituts emeritiert war, eine Privatklinik eröffnet.

Die junge Familie begann sich ein Leben in der Hauptstadt aufzubauen, in der damals eine Zeit des wirtschaftlichen Wachstums und kulturellen Optimismus herrschte. Schweden war im 19. Jahrhundert eine der ärmsten Agrargesellschaften der Welt gewesen. Jetzt, im 20. Jahrhundert, war es in tiefgreifendem Wandel begriffen und auf dem Weg, eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt zu werden. Östermalm, der Teil der Stadt, in welchem sich Raoul Oscar und seine Braut niederließen, war wenige Jahre zuvor noch eine Ansammlung von Holzbaracken gewesen, zwischen denen die Kühe grasten, nun bestand er aus eleganten Wohnhäusern mit marmornen Eingangshallen.

Raoul Oscar und Maj möblierten ihre Wohnung mit großen Teppichen und einer reichhaltigen Sammlung von Jugendstil-Mobiliar. Raoul Oscar, der sich sehr für Inneneinrichtung interessierte, beauftragte einen geschickten Tischler, ein Dutzend Rokoko-Stühle für das Esszimmer und ein Schlafzimmer-Ensemble im Gustavianischen Stil zu bauen, alles der Mode gemäß weiß lackiert. An den Wänden hingen Familienporträts und vergoldete Spiegel neben einigen von Raoul Oscars eigenen gerahmten Aquarellen und Ölgemälden, darunter eine große Arbeit, welche die französisch-britische Seeschlacht bei Abukir 1798 darstellte.

Raoul Oscar besaß ein beachtliches künstlerisches Talent. Er hatte stets ein Skizzenbuch dabei und kehrte von seinen Reisen nach Granada, Venedig oder Västervik oft mit einem Gemälde zurück. Im Herbst 1910 war er von Marcus Wallenberg beauftragt worden, Pläne für ein Mausoleum für die Wallenberg-Familie auf dem Grundstück der in der Familie sehr beliebten Sommerresidenz in Malmvik zu zeichnen. Malmvik lag auf der Insel Lovön außerhalb von Stockholm und war kurz zuvor nach dem Tod von Anna Wallenberg, der Witwe von André Oscar, an Marcus übergegangen. Raoul Oscar ergriff die Gelegenheit, ein paar Szenen in Malmvik zu zeichnen, die er rahmen ließ und seinem Vater nach Japan als Weihnachtsgeschenk schickte8.

Maj war schwanger. Zur selben Zeit bemerkte Raoul Oscar die ersten Symptome seiner Krankheit.

Raoul Oscar hatte vorgehabt, über Weihnachten Urlaub von der H. M. Göta zu nehmen, doch stattdessen überfielen ihn plötzlich Magenschmerzen, und er musste sich krankschreiben lassen. Seine Kameraden von der Besatzung fühlten sich an die Ruhr-Epidemie erinnert, die sie erlebt hatten, als sie in Cherbourg 1909 auf Dock gelegen hatten, doch dieses sollte sich als etwas Ernsteres entpuppen.

Es war bald klar, dass Raoul Oscars Probleme von einem bösartigen Tumor herrührten. Hierbei handelte es sich um eine aggressive Form des Magenkrebses, dem die Mediziner jener Zeit hilflos gegenüberstanden: Der frischgebackene Ehemann von Maj Wallenberg hatte nur noch wenige Monate zu leben.

Eine Krankenschwester zog in die Wohnung an der Grev Turegatan, konnte aber die immer stärker werdenden Schmerzen von Raoul Oscar nur bedingt lindern. Der werdende Vater wurde mit jedem Tag kränker.

Mehrere Male im Laufe des Frühlings bekam er Besuch von seinem Onkel Marcus. Sie hatten eine gute Beziehung; Raoul Oscar hatte ihn, als er allein in Stockholm lebte, manches Mal besucht, um sich seinen Rat zu holen. Zuletzt hatten sie Raoul Oscars Plan besprochen, sich am Technischen Institut zu bewerben, was Marcus unterstützt hatte. Er schien in dem jungen Unterleutnant eine zukünftige Führungspersönlichkeit zu sehen.

Im April 1912, wenige Tage nach dem Untergang der Titanic, schrieb Marcus Wallenberg an seinen Bruder Gustaf 9:

Du bist ehrlich zu bedauern, wenn Du Deinen ausgezeichneten Jungen verlieren solltest. Es mag ein kleiner Trost für Dich sein, zu hören, dass er sich durchweg wie ein Held gehalten und mehr Fürsorge für die Seinen gezeigt hat als für sich selbst. Ich bin ab und zu bei ihm gewesen, um ihn mit Konversation zu zerstreuen. Leider kann man nichts für ihn tun. Morphium ist jetzt sein bester Freund.

Als es auf das Ende zuging, bat Raoul Oscar seine Frau Maj, ihm sein Lieblingsbuch, das Stück Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand, zu geben. An einem Abend las er seiner Frau die letzten Seiten laut vor und weinte verzweifelt an der Stelle, wo Cyrano von Roxane Abschied nehmen muss. Er sagte zu Maj: »Ich würde mich freuen, wenn das kleine Baby nur ein netter und guter und einfacher Mensch werden möge.«

Am Freitag, dem 10. Mai 1912, starb Raoul Oscar Wallenberg zu Hause. Als die Leichenträger kamen, waren sie erstaunt: »Man sagte, wir sollten einen jungen Mann holen, doch das hier ist ein Greis!« Vier Tage später, am selben Tag, als August Strindberg starb, fand Raoul Oscars Beerdigung in der Kirche von Skeppsholmen statt. Seine Offizierskameraden begleiteten den Sarg zum Familiensitz Malmvik und trugen ihn durch die dorischen Säulen des Mausoleums, das Raoul Oscar wenige Jahre zuvor selbst entworfen hatte. Der dreiundzwanzigjährige »Rulle« war der Erste, der hier zur Ruhe gebettet wurde.

Die Betontreppen waren mit Kränzen bedeckt. Auf den Sarg selbst hatten seine Freunde die schwedische Flagge und seinen Säbel gelegt10.

Maj Wallenberg, die im siebten Monat schwanger war, wurde während der dramatischen letzten Lebenstage ihres Ehemanns einundzwanzig Jahre alt. Nach dem Begräbnis verfiel sie in eine Depression. In einem verzweifelten Brief an ihre Schwiegermutter Annie, die nach Japan zurückgekehrt war, schrieb sie, sie hätte wissen müssen, dass ein derart »großes und vollkommenes Glück«, wie sie es erlebt hatte, seit sie Raoul Oscar kennengelernt hatte, nicht von Dauer sein könne11:

Mit jedem Tag, der vergeht, fühlt sich das Leben schwerer an, und diese unendliche Leere und Sehnsucht wird immer größer und größer. Wie soll dies enden? […] Oh, Mutter, was soll nur aus unserem Kleinen werden? Ich frage mich wirklich, ob ich der Herausforderung gewachsen sein werde, das Kind zu einem guten Menschen zu erziehen. Das arme Ding – den lieben Vater verloren zu haben.

Im Juni 1912 zog Maj in das Sommerhaus Kappsta ihrer Eltern am südlichen Ende von Lidingö vor den Toren Stockholms. Die Hauptstadt, die sich rüstete, die fünften Olympischen Spiele auszurichten, war von einer Hitzewelle heimgesucht worden, die für die Hochschwangere genauso unvorteilhaft war wie für die Athleten.

Maj vermietete ihre Wohnung12. Einige ihrer Sachen wurden in ihre neue, kleine Zweizimmerwohnung gebracht, die direkt an die Wohnung der Eltern anschloss, aber einen eigenen Eingang hatte. Sie quälte sich mit der Frage, was sie mit den ganzen Kleidern von Raoul Oscar machen sollte.

Auf Kappsta bereiteten Maj und das Kindermädchen ein Zimmer im ersten Stock für »Baby« vor. In dieses Zimmer stellten sie ein paar der weißen Schlafzimmerstühle aus der Stadt und ein weißes Holzbett mit pinkfarbenen Seidenschleifen. An die Wände hängten sie einige der Gemälde von Raoul Oscar.

Ende Juli war die Hitze verschwunden und von Gewitterregen und kühlen Temperaturen abgelöst worden. Nach einem ihrer zahlreichen Besuche auf Malmvik berichtete Maj, dass am Fuß von Raoul Oscars Grab eine Lerchenfamilie ihr Nest gebaut hatte. In regelmäßigen Briefen an ihre Schwiegermutter verlieh sie ihrer Trauer Ausdruck13:

Im Moment erscheint mir das Leben so unendlich schwierig, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, um das Schreckliche, das mich ereilt hat, zu vergessen. Manchmal stelle ich mir vor, dass so etwas unmöglich passieren kann, und dann meine ich, Raouls Schritt zu hören, so wie vorigen Sommer noch, als wir so unglaublich glücklich waren. Oh, wenn man nur eine einzige Minute hervorzaubern könnte aus dem, was vergangen ist – für immer. Wie seltsam das Leben doch ist, aus solchen Gegensätzen gebaut. Den einen Moment herrscht unbegreifliches Glück und Poesie. Im nächsten die tiefste, unbezwingliche Trauer und Sehnsucht.

Sonntag, der 4. August, war ein grauer, nasser und für die Jahreszeit zu kühler Tag. In den frühen Morgenstunden brachte Maj Wallenberg in einem Zimmer im oberen Stockwerk einen kleinen Jungen zur Welt: Raoul Gustaf Wallenberg. Wie ihr stolzer Vater an Gustaf Wallenberg in Japan schrieb, überstand sie die Geburt ohne Chloroform und »wählte stattdessen heldenhaft den Schmerz«.

Die bei der Geburt gesprungene Fruchtblase formte eine Glückshaube auf dem Kopf des Babys, was im Volksglauben als Zeichen dafür gesehen wurde, dass das neugeborene Kind aus jeder Schlacht, in die es geraten sollte, siegreich hervorgehen würde. Maj war besonders erfreut, dass ihr Sohn an einem Sonntag geboren war und nicht an einem Freitag, der seit Raoul Oscars Tod für immer ein Trauertag war. Sie fand von Anfang an, dass ihr Sohn die Nase und den »Rokoko«-Mund seines Vater geerbt habe. Obwohl die Ärzte ihr versicherten, dass dies unmöglich sei, machte sich Maj doch monatelang Sorgen, dass er auch seine Krankheit geerbt haben könnte14.

Wie in der Wallenberg-Familie üblich, war die Taufe eine große Angelegenheit mit so vielen Paten, dass der Beamte auf den dafür reservierten vier Zeilen nicht genug Platz hatte. Raoul Oscars Onkel Knut und Marcus standen ebenso in einer langen Reihe von Paten wie auch seine Cousine Sonja und sein Cousin Jacob15.

Jacob war vier Jahre jünger als Raoul Oscar und wohl derjenige unter den Cousins, dem er am engsten verbunden gewesen war. Ein paar Wochen nach der Taufe wurde Jacob zu einem ernsten Gespräch mit seinem Vater Marcus und Onkel Knut gerufen. Sie erklärten ihm, dass mit dem Tod von Raoul Oscar nun er der Nächste in der Reihe für eine Position in der Bank sei. Sie überreichten ihm einen bereits vorbereiteten Kündigungsbrief und drängten ihn, seine Offizierslaufbahn bei der Marine gleich nach dem Abschluss zu verlassen – Anweisungen, die er gehorsam befolgte.

Maj hatte entschieden, dass bis zur Rückkehr von Gustaf Wallenberg aus Japan niemand anders als sie selbst die Vormundschaft für ihren Sohn übernehmen sollte. Doch sie bat Onkel Marcus, sich um »das Wohl des kleinen Raoul« zu kümmern.

Nach der Taufe kehrte auf Kappsta Ruhe ein. Maj kümmerte sich um die praktischen Dinge und freute sich über ein Schreiben der Behörden, nach dem ihr eine Witwenrente von fünfhundertzehn Kronen jährlich zustand. Sie bat Jacob Wallenberg, die Kleider von Raoul Oscar mitzunehmen und an einige seiner weniger gut gestellten Freunde zu verkaufen. Von anderen Dingen trennte sie sich nicht leicht, so bewahrte sie zum Beispiel das Skizzenbuch auf, das Raoul Oscar in seiner Jugend gehabt hatte. Neben amüsanten Zeichnungen von Tanten und Onkeln und Wohnungen der Familie findet sich dort auch eine impressionistische Bleistiftzeichnung von ein paar Soldaten zu Pferde. Die Zeichnung trägt den Titel »La retraite de Moscou«16.

Der gefürchtete Jahrestag der Hochzeit kam und ging vorüber. »Nur ein Jahr, und das ganze unendliche Glück, das ich voriges Jahr um diese Zeit empfand, ist zerstört. Doch es ist wahr, ich muss mit Raoul zu glücklich gewesen sein. Und daran zu denken, dass mein geliebter, froher und gesunder Ehemann jetzt kalt in seinem feuchten und düsteren Grabgewölbe liegt. Oh, schreckliches und grausames Schicksal«, schrieb die unglückliche Maj an ihre Schwiegermutter, die sie »Mutter« nannte. »Mutter, vergib mir, dass ich klage, doch ich fühle mich genötigt dazu. Es ist um diese Zeit so schwierig. Doch denke nur nicht, dass ich undankbar für das Kleine wäre, das ein einziger Sonnenstrahl in all diesem Elend ist. Wenn er lacht und so unglaublich erfreut dreinsieht, wie er es tut, dann ist das durchaus ansteckend.«

Zurück in der Stadt trug sie immer noch Trauerkleidung, doch sie schrieb auch an ihre Schwiegermutter von erfreulichen Spaziergängen durch den Humlegården und darüber, wie der kleine Raoul angefangen habe, über sein eigenes Spiegelbild zu lachen, sowie über die hübschen, wohlgenährten Ringe von Babyspeck auf seinen Hüften. Sie berichtete, dass seine Augenfarbe sich nun verändert habe und dass er der »einzige lebende braunäugige Wallenberg« geworden sei, genau, wie sie es vorausgesagt habe. »Oh, Mutter, wie herrlich ist es doch, ihn zu umsorgen«, verkündete sie Ende Oktober in einem Brief.

Doch ihre Prüfungen waren noch nicht zu Ende. Einen Monat später kam Majs siebzigjähriger Vater von einem Patientenbesuch nach Hause und fühlte sich nicht gut. Den folgenden Tag lag er regungslos mit hohem Fieber darnieder. Der Hausarzt wurde gerufen und diagnostizierte eine Lungenentzündung. Innerhalb weniger Tage war Per Wising tot.

Dieser zweite Verlust war ein schrecklicher Schlag für Maj, und sie musste eine Woche lang das Bett hüten. Das Jahr 1912 ging ebenso heftig weiter, wie es begonnen hatte. Das kaum vorstellbare emotionale Chaos, das sie erlebte, drückte sie in einem Brief vom September 1912 aus: »Tausend Umarmungen von Mutters glücklicher und unglücklicher Maj.«17

KAPITEL 2 Zwei Witwen und ein Kind

Die Wirklichkeit, mit der Maj Wallenberg sich nach ihrer ersten Trauerphase konfrontiert sah, erforderte praktische wie emotionale Veränderungen. Zu jener Zeit war Schweden ein Land, in dem der Mann als der Vormund oder Beschützer von Frau und Kindern sowohl in wirtschaftlicher wie in rechtlicher Hinsicht betrachtet wurde. Eine verheiratete Frau wurde in jeder Hinsicht als ihrem Ehemann untergeordnet angesehen, und es war auch nicht üblich, dass verheiratete Frauen, wenn es nicht unbedingt nötig war, außerhalb des Hauses arbeiteten. Jobs wurden als zeitweilige Lösung für Unverheiratete angesehen, die ansonsten keine andere Möglichkeit hatten, sich zu versorgen.

Es lagen Welten zwischen der Ehefrau eines vielversprechenden Marineoffiziers mit einer Zukunft in einer der größten schwedischen Banken und dem Dasein als Witwe und alleinstehender Mutter, in das Maj Wallenberg mit nur einundzwanzig Jahren geraten war.

Da sie nicht mehr verheiratet war, wurde sie immerhin automatisch der gesetzliche Vormund ihres Kindes. Sie konnte sich ohne die Erlaubnis eines Mannes um Anstellungen bewerben, Verträge abschließen und sogar ein Unternehmen gründen. So sahen die »Privilegien« einer Witwe zu jener Zeit aus. Aber sie hatte ihren Sohn, den sie selbst großziehen und nicht einer Kinderfrau überantworten wollte. Und sie hatte ihre soziale Stellung.

Die Rente, die sie nach Raoul Oscars Tod erhielt, entsprach ungefähr einem Drittel des Jahresverdienstes der am geringsten bezahlten Arbeiter des Landes. Maj konnte mit einer gewissen finanziellen Unterstützung von Raouls Großvater rechnen, doch sie würde weitere Einkünfte benötigen.1

Maj Wallenberg begann im Jahr nach Raoul Oscars Tod einen Abendkurs in Stenografie, gab diesen Versuch aber bereits nach wenigen Wochen wieder auf2. Um von dieser Tätigkeit leben zu können, hätte sie es auf hundertfünfzig Zeichen in der Minute bringen müssen, was wiederum eine neunmonatige Vollzeit-Ausbildung und »außergewöhnlich starke Nerven« erfordert hätte. Nach zwanzig Stunden beklagte sie sich in einem Brief an ihre Schwiegermutter, sie sei so erschöpft, dass sie am ganzen Leibe zittern und ihr Herz rasen würde. Sie berichtete Annie, dass Doktor Lamberg sie auf eine Sahne-Diät gesetzt und angeordnet habe, dass sie sich ausruhte, damit diese »Nervensymptome« nicht noch schlimmer würden.

»Nein, Mutter, ich brauche eine friedliche Arbeit, und das ist die Versorgung meines Kindes (meine absolut erste Pflicht), Nähen und Lesen. Zum Wohle meines kleinen Raoul darf ich mich nicht selbst erschöpfen.«

Maj zog zu ihrer verwitweten Mutter Sophie Wising in die Linnégatan 9–11. Der kleine Raoul wurde der Sonnenschein ihres Lebens. Sie nannten ihn den »Tröster«.

Maj machte sich viele Gedanken über die Erziehung. Raoul Oscar hatte ihr Vorträge über dieses Thema gehalten: Er wünschte, dass sie dem Kind gegenüber streng und fordernd sein und ihm die Werte »Einfachheit und harte Arbeit« beibringen sollte. Sie fürchtete, das Kind könne nach allem, was geschehen war, ein nervöses Temperament entwickeln, weswegen sie sich, als es noch klein war, darum bemühte, eine ruhige Umgebung zu schaffen3.

Maj fand es wichtig, dass ihr verstorbener Ehemann von Anfang an ein Teil des Alltags von Raoul wurde. Sie hängte ein Porträt von ihm über Raouls Bett und dazu ein Gemälde von zwei Schutzengeln, ein Detail aus einem Aquarell von Egron Lundgren aus dem 19. Jahrhundert, das Raoul Oscar kopiert und 1910 Maj geschenkt hatte. Ihre Bemühungen zeigten Erfolg. Jeden Morgen setzte sich der kleine Raoul im Bett auf, zeigte auf das Bild von Raoul Oscar und sagte: »Da, Papa.«

Marcus Wallenberg und seine Frau Amalia hatten alle Hände voll zu tun mit ihren sechs Kindern, doch zeigten sie sich Maj und dem Großneffen gegenüber weiterhin fürsorglich. Raoul profitierte damit von der Verbesserung des Verhältnisses zwischen seinem Großvater und Marcus, die eintrat, nachdem Gustaf die Bank verlassen und seine problematischen Geschäfte geregelt hatte.

Amalia lud Maj und Raoul zur Erinnerungsfeier an Raoul Oscars Geburtstag nach Malmvik ein. Marcus seinerseits sorgte dafür, dass der Bau des Mausoleums in Malmvik zum Abschluss gebracht wurde, was Maj viel bedeutete. Das Kind besuchte Marcus regelmäßig. Eines Tages im Dezember 1913 schickte Marcus sein neues Fiat-Automobil, um Maj und Raoul abzuholen. Er hatte mit dieser Investition länger gezögert als die meisten anderen Schweden, um seine Kinder nicht an irgendeinen Wohlstand zu gewöhnen. Marcus war dazu erzogen worden, Gehorsam und Zurückhaltung zu üben, und wenn es nach ihm ginge, würde es auch in der nächsten Generation keine Exzesse geben4.

Schritt für Schritt begann Maj, die Gesellschaft anderer Menschen wieder zu genießen. Sie wurde gebeten, einen »Wohltätigkeits-Tee« im Hôtel Royal zu geben. Zu Beginn des Jahres 1914 sah sie sich zusammen mit ihrer Freundin Elsa von Dardel aus den Fenstern des Oberlandesgerichts den Begräbniszug für Königin Sofia an. Diesen günstigen Aussichtspunkt hatten sie mithilfe von Elsas Bruder Fredrik von Dardel ergattert, der am Gericht arbeitete. Vielleicht tat sich dort etwas – sieben Jahre später jedenfalls sollte Fredrik von Dardel große Bedeutung für Maj Wallenbergs Leben erlangen5.

An Raouls zweitem Geburtstag, dem 4. August 1914, marschierte Deutschland in Belgien ein, nachdem es am Tag zuvor Frankreich den Krieg erklärt hatte. Schweden erklärte sogleich seine Neutralität und behielt diese Position auch ohne große innere politische Dispute bei. Dennoch zeitigte der Krieg Spuren in der schwedischen Gesellschaft. Die Preise für Brot, Kartoffeln und Eier stiegen dramatisch.

Für das Leben von Maj und Raoul bedeutete der Krieg allerdings keine einschneidenden Veränderungen. Sie verbrachten ihre Sommer auf Kappsta, in Malmvik oder in dem Haus von Majs Schwester Anna, die auf Gut Broby in Sörmland lebte. Dort trafen sich die Schwestern Wising, und Raoul konnte mit seinen Cousins und Cousinen spielen, allen voran Lennart und Anders Hagströmer, den Söhnen von Majs Schwester Sigrid, die zu seinen engsten Kindheitsfreunden werden sollten. Eine andere Schwester von Maj war mit William Colvin, einem amerikanischen Militärattaché in Stockholm, verheiratet. Sie hatten zwei Kinder, von denen Raoul Englisch lernen konnte.

Kappsta blieb der liebste Aufenthaltsort im Sommer. Es war ein ausgedehntes, steiniges und waldbewachsenes Stück Land mit Blick auf den Lilla-Värtan-Sund. Per Wising hatte dort zwei Häuser bauen lassen: eines dreihundert Quadratmeter groß und dann noch die kleinere »Strandvilla«, die näher am Wasser lag und für Gäste und temporäres Personal gedacht war. Beide Holzhäuser trugen Schnitzarbeiten im schweizerischen Stil und hatten reich verzierte Veranden und Balkons.

Maj und ihre Geschwister hatten seit ihrer Kindheit jedes Jahr die Zeit von Mai bis September in Kappsta verbracht. Diese Tradition setzte sie nun als alleinerziehende Mutter fort. Das Sommerhaus hatte alles. Es gab einen Krocket- und Boule-Platz aus Sand, und unten bei den sanft ins Wasser abfallenden Klippen hatte Wising einen Steg und ein Badehaus errichtet. Darüber hinaus bot Kappsta auch fünf Hektar relativ wilden Geländes – hohe Hügel und einen Wald voller Preiselbeeren und Blaubeeren. Ein Paradies für einen kleinen Jungen6.

Maj hatte beschlossen, dafür zu sorgen, dass der Wunsch von Raouls Vater nach »Einfachheit und harter Arbeit« für seinen Sohn mit einem unabhängigen Geist verbunden sein sollte, also ließ sie ihren Jungen sich relativ frei auf dem Gelände bewegen. Schon als Dreijähriger durfte er auf Kappsta spielen, wo immer er wollte, durfte auf die Hügel klettern, sein Holzpferd reiten oder die Sitzbänke zu einem »Boot« machen. Das Einzige, was sie ihm verbot, war, ans Wasser hinunterzugehen – eine Anweisung, an die er sich erstaunlicherweise gehalten zu haben scheint.

Manchmal beschwerte sich Maj, der kleine Raoul sei stur oder gar trotzig. Er konnte derart wütend werden, dass er heftig mit Armen und Beinen um sich schlug und trat. Dann war es fast unmöglich, ihn zu bändigen. Nur, wenn sie in der Stadt waren und sie ihm die Schutzengel von seinem Vater zeigen konnte, ließ er sich beruhigen.

Obwohl Majs Leben von Raoul bestimmt war, interessierte sie sich dennoch für das Drama, das sich anderswo in Europa abspielte. Der Krieg bekümmerte sie zutiefst, und durch eine Freundin wurde sie Mitglied in einer Abteilung des Roten Kreuzes, die Kriegsopfern Hilfe zukommen ließ. Ihre erste Aufgabe war es, Bettzeug und Matratzen zu besorgen. Später wurden sie und ihre Freundin gebeten, verschiedene Kleidungsstücke zu nähen, die das Rote Kreuz als Modell für neue Arbeitskleidung testen wollte.

Das Schwedische Rote Kreuz stationierte auch Leute in vom Krieg betroffenen Regionen. Zu dieser Gruppe gehörte auch die Lehrerin und Krankenschwester Elsa Brändström, die, als ihre Verdienste nach dem Weltkrieg bekannt wurden, für Maj und ihre Geschwister zu einem Idol werden sollte. Majs Schwester Sigrid Hagströmer hatte in Brändströms Familie eingeheiratet.

Brändström lebte bei Ausbruch des Krieges in St. Petersburg. Die Sechsundzwanzigjährige erwarb sich Papiere als russische Krankenschwester und reiste nach Sibirien. Dort, bei Temperaturen um die vierzig Grad minus, kämpfte sie gegen Typhus, Skorbut und Erfrierungen und rettete vielen Kriegsgefangenen das Leben. Sie wurde »der Engel von Sibirien« genannt und in Schweden wie auch in ganz Europa bekannt.

Später, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, begründete diese schwedische Krankenschwester ein ausgedehntes Hilfsprogramm für deutsche Juden, die in die USA hatten fliehen müssen. Dabei war ihre durchschlagende Idee die Massenproduktion von Dokumenten, die Immunität gewährten. Die Bewunderung von Elsa Brändström war Raoul und den anderen Kindern von Maj von frühester Kindheit an eingepflanzt7.

Im April 1916, als Raoul fast vier Jahre alt war, traf er zum ersten Mal seinen Großvater Gustaf. Seine Großmutter Annie war schon zwei Jahre zuvor aus Japan zurückgekehrt, doch Gustaf lernte nun einen Jungen kennen, der sich rasch entwickelt hatte. Raoul nannte sich selbst »Wallberg« und sprach mit Maj oft über seinen Vater. Sie ließ ihn vor dem Einschlafen immer »Gute Nacht, Papa« sagen. Raoul pflückte auch Blumen für seinen Vater und stellte sie in eine Vase neben sein Bild. Er träumte davon, wenn er erst einmal älter wäre, den Säbel seines Vaters zu bekommen. Eines Tages sah er seine Mutter ernst an und sagte: »Wie froh Mama sein würde, wenn Raoul ein bisschen wie Papa würde, wenn er groß ist.«

Maj nahm allmählich wieder mehr am sozialen Leben teil. Es gab Tanz und Abendeinladungen, und ab und zu während der Kriegsjahre schrieb sie über Abende im Haus des Künstlers Fritz Ludvig von Dardel und seiner Familie. Der Spross der Familie, Fredrik, hatte Majs Interesse auf sich gezogen. Der jüngere Bruder Nils, der einer der erfolgreichsten schwedischen Künstler werden sollte, hatte bereits Verbindungen zu Majs Familie. Raoul Oscars Schwester Nita hatte Nils von Dardel auf einer seiner Inspirationsreisen in Japan kennengelernt, und beide hatten sich leidenschaftlich ineinander verliebt. Doch als Gustaf Wallenberg klar wurde, dass die beiden an eine Heirat dachten, sorgte er sofort dafür, dass die Beziehung beendet wurde. Ein Bohemien und Künstler war nicht das, was er sich für seine Tochter vorgestellt hatte.

Am Ende des Krieges, als Nita nach Hause zurückgekehrt war, während Gustaf sich noch in Japan aufhielt, musste dann Marcus Wallenberg intervenieren. Nita Wallenberg und Nils von Dardel wurden gewaltsam voneinander getrennt. »Ich hoffe, dass sie im Laufe der Zeit lernen wird, ihren Kubisten zu vergessen«, schrieb Marcus in einem Brief. Tatsächlich tat sie das nie8.

Raoul begann, sich nun in zunehmendem Maße zu fragen, warum sein Vater, anders als in den Familien seiner Freunde, nie zugegen war. Manchmal stand er vor dem Foto von seinem Vater und weinte: »Raoul hat keinen Papa!«9

Gustaf Wallenberg begann, ein größeres Interesse an der Erziehung von Raoul zu zeigen. Er schrieb an Maj und ermutigte sie, mehr für die Entwicklung seiner Selbstständigkeit zu tun. Im November 1917 antwortete Maj mit einer Beschreibung von Raouls Alltag, die ihrer Meinung nach für sich selbst sprach. Sie berichtete Gustaf, dass jeden Morgen um neun Uhr Raouls Cousin Anders Hagströmer zu ihnen kam. Dann gingen die beiden Jungen allein zum Humlegården, wo sie bis mittags spielten, um dann wieder nach Hause zu laufen. Zweimal die Woche gingen sie direkt vom Park in ihre Turnstunde. Sie mussten selbst auf die Zeit achten und auch daran denken, sich ihre Turnschuhe anzuziehen.

Da waren sie fünf Jahre alt.

In jenem Sommer hatte Raoul auf Kappsta mit seinem amerikanischen Cousin Fitz gespielt, und Maj beschloss, dass er besser Englisch lernen sollte. In einem Brief an ihren Schwiegervater schrieb sie, dass sie für vierzig Kronen im Monat eine Englischlehrerin engagiert habe, die zwei Stunden täglich mit ihm verbrachte. Die beiden unternahmen Spaziergänge und unterhielten sich, oder sie las ihm zu Hause englische Geschichten vor.

Im Herbst fragte Marcus Wallenberg, wie die Pläne für Raouls Schulbesuch aussähen. Er hatte Maj empfohlen, Raoul so früh wie möglich in die Schule zu schicken, so wie er es auch mit seinen Söhnen Jacob und Marcus jun. gemacht hatte. Maj war nicht überzeugt. Auch Raouls Cousin und Spielkamerad Anders Hagströmer würde erst im folgenden Jahr mit der Schule beginnen.

Der Winter 1917/18 war einer der härtesten seit 1860. Es hatte Missernten gegeben, und es war schwer, ausreichend Lebensmittel und Heizmaterial zu finden10. Gleichzeitig erreichte die Stockholmer Börse ein historisches Niveau. Während der gemeine Bürger litt, hatte die Kriegsindustrie die Wirtschaft boomen lassen. Es war eine Zeit schwerer sozialer Spannungen. Die Wallenbergs gehörten zu den Gewinnern. Vor dem Krieg schon hatte Marcus sein Vermögen innerhalb weniger Monate vervierfacht, und die folgenden Jahre brachten einen Aufschwung sowohl für die schwedische Exportindustrie als auch für die schwedischen Banken. 1915 hatte die Enskilda Bank ihr neues Hauptquartier am Kungsträdgården 8, im Herzen von Stockholm, bezogen.

Maj Wallenberg stand an der Schwelle zu einer entscheidenden Veränderung in ihrem Leben. In den vergangenen Jahren hatte sie zunehmend mehr Zeit mit Fredrik von Dardel verbracht, und jetzt hatten sie beschlossen zu heiraten. Der gut dreißigjährige Fredrik von Dardel war Notar am Oberlandesgericht und sollte bald den Posten als Vorstand der Gesundheitsbehörde einnehmen. Sein Großvater Fritz Ludvig von Dardel war ein berühmter Künstler gewesen, und sein jüngerer Bruder Nils, der ehemalige Verlobte von Majs Schwägerin Nita, war im Begriff, berühmt zu werden. 1918 vollendete er »Der sterbende Dandy«, das wahrscheinlich bekannteste schwedische Gemälde des zwanzigsten Jahrhunderts11.

Auch Fredrik malte in seiner Freizeit. Er betrachtete sich und seine zukünftige Frau als einander ergänzende Persönlichkeiten und sah ihre Gegensätze als Schlüssel zu ihrem Glück an. Während sie extrovertiert, voller Energie und an anderen Menschen interessiert war, verhielt er sich eher reserviert, wenn er neue Menschen kennenlernte.

Der sechsjährige Raoul war nicht gerade erfreut über diese Neuigkeit. Als in der Kirche das Aufgebot verkündet werden sollte, war Fredrik krank und konnte nicht dabei sein. Maj bedauerte das, doch Raoul sagte wütend: »Das macht doch nichts, er ist nicht mein Papa und deiner auch nicht!«

Maj Wallenberg und Fredrik von Dardel heirateten am Donnerstag, dem 24. Oktober 1918. Die Beziehung zwischen Raoul und seinem Stiefvater verbesserte sich rasch, und nach einer Weile nannte Raoul ihn gern »Vater«12.

KAPITEL 3 Keine Reichenallüren

Kurz nach ihrer Hochzeit zogen Fredrik und Maj von Dardel in eine Wohnung ganz in der Nähe von Raouls Cousins Lennart und Anders Hagströmer.

Wie Maj gehofft hatte, kam Raoul in dieselbe Grundschulklasse wie Anders. So konnten die beiden Jungen wie bisher weiter zusammen im Humlegården spielen und gemeinsam zur Schule gehen. Nachmittags verbrachten sie Stunden über ihren Briefmarkensammlungen.

Die Freundschaft zu Anders Hagströmer gab Raoul in diesen Jahren zusätzliche Sicherheit. Sein häusliches Leben hatte sich abrupt verändert. Im August 1919, ein Jahr nach der Hochzeit, bekamen Fredrik und Maj von Dardel einen Sohn, Raouls Halbbruder Guy von Dardel. Dann, im Frühjahr 1921, wurde Raouls Halbschwester Nina geboren. Anders Hagströmer sagte, er könne nie vergessen, wie sie beide sich neben ihrer Wiege verbeugten und so taten, als wäre sie eine Prinzessin. Doch wie sehr sich Raoul auch über die jüngeren Geschwister freute, so war doch die neue Familienkonstellation für den vaterlosen Siebenjährigen, der bis dahin der unangefochtene Mittelpunkt im Leben seiner Mutter Maj und seiner Großmutter Sophie gewesen war, sicherlich auch eine herausfordernde Veränderung1.

Raoul kam in der Schule gut zurecht. In den Wochen, bevor er die Aufnahmeprüfung für die Nya Elementarskolan zu bestehen hatte, schrieb Maj an ihre ehemaligen Schwiegereltern und berichtete ihnen, dass Raoul gute Noten habe, die entweder im Durchschnitt oder auch über dem Durchschnitt lagen. Nya Elementar war die angesehenste Schule in Stockholm und wurde von Eltern als die ideale Vorbereitung für den Zugang zur gesellschaftlichen Elite betrachtet. Wenn Raoul die Prüfung bestehen würde, erwarteten ihn fünf Jahre Mittelschule und dann weitere drei Jahre bis zum Abitur2.

Am 20. Mai 1921 gingen Anders und Raoul zusammen zur Aufnahmeprüfung. Auf dem Schulhof trafen sie Anders’ Freund Rolf af Klintberg, der im gleichen Alter war wie Raoul. Alle drei unterhielten sich eine Weile, und Rolf mochte den neuen Jungen. Dies war der Beginn einer Freundschaft, die über die ganze Schulzeit hinweg halten sollte. Mehr als hundertzwanzig Jungen waren in der Aula der Schule versammelt. Sie mussten zeigen, dass sie korrekt und sauber schreiben konnten, Arithmetik beherrschten und problemlos laut lesen konnten. Nur die Hälfte der jungen Bewerber würde genommen werden.

Eine Woche später wurde die Liste der erfolgreichen Bewerber an der Nya Elementarskolan ausgehängt. Alle drei Jungen standen darauf und kamen zusammen in eine der zwei ersten Klassen. Das Schuljahr begann Ende August3.

Die Schule war ein hohes, vierstöckiges Gebäude hinter der ehemaligen Markthalle am Hötorget4. Die Räumlichkeiten waren eine Quelle ständiger Beschwerden seitens der Lehrer. Zwischen der Schule und der Markthalle verlief eine Straße, die von der Lehrerschaft als »sowohl in physischer, wie auch moralischer Hinsicht schmutzig« bezeichnet wurde. Von den Buden am Straßenrand stieg der Gestank von Fisch- und Fleischresten und verrottendem Gemüse auf. Doch ungeachtet dessen wurde die Schule als die wahrscheinlich modernste ihrer Art mit einem bahnbrechenden pädagogischen Ansatz betrachtet5.

Der Schultag begann mit einem fünfzehnminütigen Morgengebet in der Aula durch den Direktor Knut Bohlin, bevor um 8 Uhr der Unterricht losging. Meist endete der Schultag nach fünf Schulstunden gegen 14 Uhr 30. Vor der ersten Pause hatten die jüngeren Schüler fünfundvierzig Minuten Gymnastik. Sie wurden nach Größe und Fähigkeiten eingeteilt, abgesehen von denen, die zu körperlicher Ertüchtigung überhaupt nicht geeignet zu sein schienen. Diese versammelte man in einer gesonderten Gruppe der »Schwachen«.

Dies war typisch für die Zeit: Die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebten den Durchbruch der rassenbiologischen Ideen in Schweden. Dies spiegelte sich auch in den Büchern wider, welche die Lehrer ihren Schülern in die Hand drückten. Man kann sich gut einen Neunjährigen vorstellen, der laut die Flüsse Nordschwedens aufzählt, um dann die angeblich unterscheidenden Merkmale der Samen vorzutragen: »von mongolischem Stamm, kurz gewachsen, mit breiten Gesichtern, kleine, starrende Augen, strähniges, schwarzes Haar.«

Raoul und seine Klassenkameraden lernten, dass die Bewohner des Sudan »Neger« genannt würden, deren Merkmale »dunkelbraune Farbe, wolliges Haar, flache Nase und dicke, aufgeworfene Lippen« seien. Laut seinem Schulbuch waren diese »Neger« von »sehr niedrigem Bildungsstand« und »meist kindische, fröhliche Menschen, die dekorative Objekte lieben, aber auch einen Hang zur Verrücktheit und Unzuverlässigkeit und zudem nur extrem rudimentäre religiöse Vorstellungen« hätten.

Später im Leben sollte Raoul Wallenberg aus erster Hand die schrecklichste Manifestation dieser rassenpolitischen Ideen beobachten können6.

Raouls erste Jahre in der Schule gingen mit einer tiefen Wirtschaftskrise in Schweden einher.

»Stockholm ist fest im Griff der Depression. Allerorten wird davon gesprochen, wie alles verloren ist und ein Unternehmen nach dem anderen zusammenbricht. Wie soll das enden?«, schrieb Maj von Dardel im Februar 1922 in einem Brief an Annie Wallenberg. Marcus Wallenberg fasste es 1922 so zusammen: »Eines der schlimmsten Jahre, das ich je erlebt habe.«7

Im Hinblick auf ihre erneute Heirat war nur natürlich, dass die Beziehungen zwischen Maj von Dardel und Raoul Oscars Familie distanzierter wurden. Doch während Raouls Schulzeit war Maj entschlossen, die Verbindung lebendig zu erhalten und an allen wichtigen Festen der Familie ihres verstorbenen Ehemannes teilzunehmen.

Stockholms Enskilda Bank gelang es, von der Finanzkrise unberührt zu bleiben. Die Reputation der Wallenberg-Familie stieg noch, als bekannt wurde, dass die Bank nicht von den vernichtenden Kreditausfällen getroffen war, die andere schwedische Banken erlitten hatten8.

Marcus Wallenberg, jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, hatte begonnen, die nächste Generation auf den Vorstandsposten der Bank zu installieren. Er war als Präsident zurückgetreten, um mehr Zeit für das Finanzkomitee des Völkerbunds zu haben, das sich mit dem wirtschaftlichen Nachspiel des Ersten Weltkriegs beschäftigte. Sein siebenundzwanzig Jahre alter Sohn Jacob, der Lieblingscousin von Raouls Vater, war jetzt zum stellvertretenden Direktor ernannt worden. Marcus sen. sollte jedoch noch viele Jahre als ein besonders aktiver stellvertretender Vorstandsvorsitzender neben dem neuen Präsidenten Knut Wallenberg tätig sein9.

Gustaf Wallenberg, Raouls Großvater, war auf dramatischem Weg von seinem Posten in Japan zurückgekehrt. Nach der Russischen Revolution hatte er in Sibirien festgesessen und musste umkehren und eine Route durch Nordamerika nehmen – eine Reise, die insgesamt ein Jahr in Anspruch nahm. Doch sein Aufenthalt in Schweden war nur kurz, schon im Frühjahr 1920 wurde er als Gesandter nach Konstantinopel geschickt10.

Doch auch wenn er gezwungen war, die Rolle als Beschützer und Vaterfigur nur aus der Entfernung zu spielen, interessierte sich Gustaf doch zunehmend für die Erziehung und Ausbildung seines Enkelsohnes. In Raouls Augen erschien der Großvater als die Personifizierung des Testaments seines verstorbenen Vaters.

Die neue Station des Großvaters brachte dem Enkel in Stockholm zudem eine unerwartete Freude. Türkische Briefmarken standen bei den professionellen Briefmarkensammlern in seiner Schule hoch im Kurs11.

Raouls erste vier Jahre in der Schule verliefen relativ ereignislos: Seine Mutter musste allerdings einräumen, dass er nicht einer der allerbesten Schüler war. Doch meinte sie, es wäre auch nicht gut, wenn er sich zu sehr verausgaben würde. Sie war immer noch überzeugt davon, dass er zu den Intelligentesten seiner Klasse gehörte12. In ihren Briefen verleiht sie ihren hohen Erwartungen an den Sohn Ausdruck und spart gleichzeitig nicht mit großzügigen Dosen mütterlicher Anteilnahme und Fürsorge. So beklagt sie zwar, dass er während der Sommerferien in Mathematik, Deutsch und Pflanzenpressen faul gewesen war, betont jedoch zugleich, sie habe das Gefühl, dass er in der schulfreien Zeit auch seine Erholung brauche. Auf ihre Erwartungen an ihn reagierte Raoul oft mit Witzen über sich selbst und nannte sich selbst »kleiner Faulpelz«13.

Raoul entwickelte neue Interessen außerhalb des Hauses. Er wanderte gern durch Stockholm, schaute sich die Baustellen neuer Gebäude an und unterhielt sich mit den Bauarbeitern14. Gegen Ende seiner Zeit in der Mittelschule entwickelte er mehr geistige Tätigkeiten, sammelte die Jahresberichte großer Firmen und wartete ungeduldig auf den nächsten Band des Nordisk Familjebok, dem Universal-Lexikon, in der Post. Sein bestes Schulfach war Singen, und manchmal öffnete er sein Fenster zum Hof und gab laute Soli für die Nachbarn zum Besten. Eine Zeit lang sang er auch im Knabenchor der Kirche. Auf dem Fußballfeld hingegen war er nur selten zu sehen, was einige seiner Klassenkameraden seltsam fanden.

Anders Hagströmer empfand seinen Cousin als relativ ängstlichen und empfindsamen Jungen. Als sie klein waren, hatte Raoul vor Wasser Angst gehabt, und er hatte immer noch in vielen Situationen zu kämpfen, um seine Furcht zu überwinden. In den ersten Schuljahren brach er manchmal in Tränen aus. Dies verging allmählich, doch seine Klassenkameraden empfanden sein Verhalten als mädchenhaft. Sein ganzes Leben lang sollte Raoul darüber scherzen, was für ein Feigling er doch sei15.

Die Schüler auf der Nya Elementarskolan bekamen von Anfang an jedes Halbjahr Zensuren in jedem Fach, so auch für Fleiß und Betragen16. In den ersten Jahren blieb Raoul immer nur ein paar Schritte hinter dem hellsten Stern seiner Klasse, seinem neuen Freund Rolf af Klintberg, zurück.

Danach geschah irgendetwas mit Raouls schulischem Ehrgeiz. Im Herbst 1924 rutschten seine Zensuren ab, und im Frühjahr 1925 waren sie schlecht. Nachdem er in Deutsch durchgefallen war und in dem neuen Fach Englisch ein Fragezeichen hinter der Zensur hatte, wurde er zunächst nicht versetzt. Raoul war einer von neun Schülern, denen es so erging. Das war ein hartes Urteil. Die noch nicht versetzten Schüler mussten vor Beginn des neuen Schuljahrs noch einmal kommen und die Prüfungen wiederholen, wenn sie die Erlaubnis weiterzumachen erhalten wollten.