Rätselhafte Nachbarschaft - Catherine St.John - E-Book

Rätselhafte Nachbarschaft E-Book

Catherine St.John

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Beschreibung

Die arme Waise Sarah wird von ihrer Tante liebevoll aufgenommen. Die Nachbarschaft in Great Abbington (das "Great" täuscht...) ist zum Teil gewöhnungsbedürftig, zum Teil aber auch durchaus sympathisch: Durch Zufall trifft Sarah den attraktiven, aber sehr zurückgezogen lebenden Sir Julian Mordale, der wegen eines vergangenen Skandals ausgegrenzt wird und mit dem sie sich sehr gut unterhalten kann. Die gegenseitige Sympathie wächst - aber ein Happy End scheint wegen des alten Skandals ausgeschlossen. Da kommt aber Sir Julians mehr als resolute Tante, Lady Tenfield, angereist, um die Sache in die Hand zu nehmen. Bevor ihre Pläne greifen, gerät Sarah in Gefahr, was die Ereignisse sehr beschleunigt und einem glücklichen Ausgang für alle näherbringt...

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Imprint

Rätselhafte Nachbarschaft. Historischer Roman

Catherine St.John

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2018 R. John 85540 Haar

Cover: Edmund Blair Leighton (1853-1922), The Letter

ISBN 978-3-7450-8681-2

1

Vorsichtig tupfte Sarah die Stirn ihrer Mutter mit einem frischen Tuch ab und stützte sie dann, um ihr einen Schluck Tee einzuflößen.

Mrs. Linton seufzte erschöpft auf und sank in die Kissen zurück. „Danke, mein liebes Kind. Du sorgst so rührend für mich…!“

„Aber Mama, das ist doch wohl selbstverständlich!“

„Kannst du später den letzten Aufsatz an die RSAL schicken? Ich hatte ihn schon fertig, bevor mich diese alberne Krankheit“ – ein Hustenanfall schüttelte sie – „ans Bett gefesselt hat. Zu lästig!“

„Mama, schone dich! Das ist doch wohl mehr als eine bloße Erkältung – und ich möchte schließlich, das du wieder ganz gesund wirst!“

Sie stocherte im Kaminfeuer herum, um die Flammen zu etwas mehr Eifer anzuregen, dann wandte sie sich zu der Kranken um: „Schlaf ein wenig, Mama. Ich werde deinen Aufsatz nach London schicken. Oder besser ihn dem Onkel bringen, damit er den Freivermerk darauf setzt.“

Fröstelnd suchte sie im Arbeitszimmer den Aufsatz ihrer Mutter, faltete ihn klein zusammen, versiegelte ihn, schrieb die Adresse der Royal Society of Ancient Languages auf einen freien Platz und verstaute den Brief in ihrer Rocktasche.

Mit einem trüben Blick auf den kalten Kamin verließ sie das Zimmer wieder. Sie hatten zu wenig Feuerholz, das stand einmal fest. Der Onkel ließ sie weiterhin hier wohnen, auch nach Papas Tod – das war sehr nett von ihm, denn verpflichtet war er dazu nicht; Papa hatte aber so wenig Vermögen hinterlassen, dass sie davon gerade einmal die kargen Mahlzeiten und das für Mama so notwendige Schreibpapier finanzieren konnten. Für Feuerholz und wenigstens ein Hausmädchen reichte es nicht mehr.

Ja, wenn der Vater der jüngere Sohn einer zwar vornehmen, aber doch wenig vermögenden Familie war und sein Leben der Erforschung wichtiger Fragen zur lateinischen Literatur gewidmet hatte, landete man schnell in mühsam verborgener Armut…

Im Stall wieherte die alte Bessie ihr freudig entgegen, Heureste noch aus dem Maul hängend. Sarah tätschelte ihr den fahlfarbigen Hals unter der struppigen Mähne und hielt ihr einen unansehnlichen Apfel hin, den sie in der Küche entdeckt hatte. Bessie verspeiste ihn erfreut und wieherte noch einmal.

„Na, dann komm, mein gutes Mädchen“, lockte Sarah sie und klopfte sich aufs Knie. Bessie folgte ihr zögernd aus dem Stall und ließ sich vor das Gig schirren.

Sarah kletterte auf den Bock und ließ Bessie die Zügel schießen – was diese aber nur zu unlustigem Schritt veranlasste. Kein Wunder, niemand wusste zwar genau, wie alt die gute Bessie war, aber irgendwie war sie immer schon dagewesen. Dann musste sie wohl… egal. Jedenfalls war ihr das müde Tempo wohl zu verzeihen – und bis nach Glanby Hall war es nicht gerade weit.

Sie ließ das Gig mit Bessie einfach vor dem Portal stehen – so, dass Bessie bequem an die Rasenkante herankam – und klopfte an die Tür.

Der alte Grimes öffnete und lächelte. „Miss Sarah! Das ist aber nett… die Herrschaften sitzen im kleinen Salon.“

„Danke, Grimes.“

Sarah eilte durch die zugige Halle und die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sie im Salon ihre ganze Familie vorfand: Viscount Glanby, Tante Barbara, seine Viscountess, den Ehrenwerten Paul Linton, seinen Erben, und die Ehrenwerten Miss Linton (Lavinia) und Miss Selina Linton.

„Was willst du denn hier?“, fragte Paul sofort.

Sarah ignorierte ihn aus langjähriger Gewohnheit. „Onkel Victor, ich hätte nur ein Schreiben von Mama. Könntest du es bitte freimachen?“

Der Viscount erhob sich schwerfällig. „Komm nur mit ins Arbeitszimmer. Warum ist deine Mutter nicht selbst gekommen?“

„Sie ist krank. Deshalb muss ich auch schnell wieder zurückfahren, ich lasse sie nicht gerne alleine.“

„Verstehe.“ Er kritzelte seinen Freivermerk auf den Brief und legte ihn in seinen Postsack. „Kann ich denn noch etwas für dich tun? Kommt ihr zurecht?“

„Nun ja… wir haben sehr wenig Feuerholz, aber das ist hier doch nicht anders, oder? Dieses Zimmer ist genauso kalt wie das Dower House. Aber Mamas Schlafzimmer habe ich geheizt, damit sie sich schnell wieder erholt. Ich glaube, sie hat eine heftige Erkältung, aber ich weiß es nicht sicher.“

Der Viscount griff in seine Rocktasche und holte einige Münzen heraus, die er Sarah in die Hand drückte. „Ruf Doktor Sheramy, wenn es nicht besser wird, mein Mädchen.“

„Vielen Dank, Onkel Victor. Das werde ich tun.“ Sie knickste brav und kehrte in den Salon zurück, wo zumindest ihre Cousinen von den Stickrahmen aufsahen und antworteten, als sie noch einen schönen Tag wünschte.

Draußen hatte Bessie die Rasenkante sehr ordentlich beschnitten. Vielleicht konnte der alte Gaul stundenweise für Onkel Victor als Gärtnerin arbeiten? Einen menschlichen Gärtner hatte Glanby Hall jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen.

„Komm, altes Mädchen!“ Sie wendete das Gig und zuckelte zurück zum Dower House.

Ihre Mutter schlief, als sie nach ihr sah, und das Fieber schien etwas nachgelassen zu haben. Sie holte sich ihren Flickkorb und setzte sich neben das Bett, um bereit zu sein, wenn Mama wieder erwachte.

Das zog sich hin und Sarah war um jede Minute froh, denn Schlaf war doch immer noch das beste Heilmittel. Sie hatte mehrere Kragen mit winzigen Stichen ausgebessert, ein Schürzenband wieder angenäht und einen abgerissenen Saum neu befestigt, als sich ihre Mutter bewegte und die Augen aufschlug. „Sarah…“

„Ja, Mama, dein Aufsatz ist unterwegs. Onkel Victor hat mir sogar heimlich etwas Geld zugesteckt, falls wir den Arzt für dich brauchen. Hast du Durst?“

Schwaches Nicken.

Sarah stützte sie wieder und hielt ihr den Becher an die Lippen. Mrs. Linton trank durstig einige Schlucke und nickte dann, so dass Sarah sie wieder auf das Kissen sinken ließ, das sie rasch etwas zurechtgeklopft hatte. Ihre Mutter seufzte zufrieden.

„Mama, möchtest du denn nichts essen? Eine Fleischbrühe vielleicht? Das soll sehr kräftigend wirken.“

„Nein, mein Kind. Ich habe gar keinen Hunger… lass mich noch ein wenig schlafen…“ Sie hustete hohl und schloss dann die Augen.

Sarah rückte die Öllampe etwas näher an ihren Stuhl und nahm sich den Flickkorb erneut vor, aber ihre Mutter wachte nicht wieder auf, bis der Korb bis auf den Grund geleert war.

Schließlich machte sie sich selbst bettfertig und zog sich in ihr Zimmer zurück, nicht ohne immer wieder ängstlich zu lauschen, ob aus dem großen Schlafzimmer etwas zu hören war.

Am nächsten Morgen schien das Fieber wieder gestiegen zu sein; Mrs. Linton hatte fiebrig rote Wangen und murmelte Unverständliches vor sich hin. In ihrer Angst holte Sarah schließlich den Arzt, der glücklicherweise gleich im Dort wohnte.

Dieser betrachtete sich die Kranke längere Zeit und stieß dann einen resignierten Laut aus. „Sarah, ich sage es wirklich nicht gerne, aber Ihre Mutter ist sehr geschwächt.“

„Ich weiß, Dr. Sheramy, aber sie will ja nichts essen! Ich habe es immer wieder versucht, ich habe sogar aus einem Stück Hammelfleisch Brühe gekocht!“

Der Arzt tätschelte ihr den Arm. „Das müssen Sie mir nicht erklären, mein Kind. Ich weiß doch, wie gut Sie sich um Ihre Mutter kümmern– aber ich fürchte, ihre Zeit läuft ab.“

„Nein! Nein, bitte, Doktor – das darf nicht sein – sie ist kaum über vierzig!“

„Aber sie hat den Tod Ihres Vaters nie verwunden. Und jetzt ist sie entkräftet und wird vom Fieber langsam aufgezehrt. Ich kann da leider gar nichts tun.“

„Gibt es denn keine Medizin? Etwas, was das Fieber senkt?“

Dr. Sheramy zuckte die Achseln. „Sie können es mit kühlen Umschlägen versuchen, aber ich fürchte, Sie können ihr höchstens das Sterben erleichtern. Nehmen Sie allmählich Abschied von ihr.“

Er wies das Honorar, das sie ihm reichen wollte, mitleidig zurück. „Lassen Sie nur, Sarah, Sie werden Ihr Geld noch brauchen. Meinen Sie, der Viscount lässt Sie auch alleine hier wohnen?“

Sie zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich nicht, er kann mit dem Dower House sicher etwas Sinnvolleres beginnen. Onkel Victor ist nicht gerade wohlhabend – aber das wissen Sie ja, nicht wahr?“

Der Doktor nickte. Eigentlich war die Gegend nicht arm, der Boden fruchtbar, die Wälder holzreich, der Handel in den kleinen Städten lebhaft, aber die Glanbys waren im Niedergang begriffen. Der gegenwärtige Viscount hatte das nicht verschuldet; sein Großvater hatte Fehler auf Fehler gehäuft – nicht nur hatte er mit allem möglichen Prunk die Londoner Gesellschaft zurzeit des zweiten George bezaubert, sondern auch noch die schöne Tochter des Duke of Hanford geheiratet, der durch schlechte Investitionen, diverse Missernten auf seinen Gütern und nicht zuletzt seinen leichtsinnigen Erben in der Klemme steckte.

Eine Mitgift hatte die zauberhafte Lady Elizabeth nicht besessen, aber Ansprüche stellen – das konnte sie!

Glanby Hall musste so ausgestattet werden, wie es einer Herzogstochter zukam – und so schwand nach dem Vermögen ihres Vaters auch das ihres Gemahls. Sie war nach der Geburt ihres zweiten Kindes im Kindbett gestorben und hinterließ dem untröstlichen Witwer einen kleinen Sohn, eine noch kleinere Tochter und einen Schuldenberg.

Nun, der junge Paul schien jetzt wild entschlossen zu sein, Glanby wieder auf solide Füße zu stellen! Sein Vater freilich war gutherzig, aber eher schwach. Nein, für Sarah würde wohl keiner etwas unternehmen…

„Haben Sie eigentlich noch andere Verwandte außer den Lintons auf Glanby Hall?“, fragte er Sarah.

Die nickte. „Mamas Schwester, Tante Letty. Sie wohnt in Kent, glaube ich.“

„Genauer wissen Sie das nicht?“

„Sie ist mit einem Gutsbesitzer verheiratet und lebt in einem Dorf in der Nähe von Tunbridge Wells. Warum möchten Sie das wissen?“

„Ach, es kann ja nie schaden, wenn man weiß, an wen man sich im Notfall wenden kann, meinen Sie nicht?“

2

Als Sarah einige anstrengende Tage später morgens neben dem Bett ihrer Mutter hochschreckte, sah sie sofort, dass sich etwas verändert hatte: Das Gesicht der Kranken wirkte wächsern – und als sie nach ihrer Hand griff, war diese kühl.

„Mama? Mama?“ Sie erkannte, dass sie keine Antwort mehr erwarten konnte, und blieb einfach am Bett sitzen, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

Die Hand in ihrer wurde immer kälter und schließlich schloss sie ihrer Mutter die Augen, streichelte noch einmal die wächsernen Wangen und faltete ihr die Hände vor dem Leib.

Eigentlich war das Unsinn, wusste sie, der Totengräber würde Mama doch in ein Leichenhemd hüllen…

Oh. Ein Leichenhemd – was könnte sie da verwenden? Sie hatte auf keinen Fall die Mittel, ein neues Hemd zu kaufen – der Sarg würde schon teuer genug werden. Immerhin hatte die Familie Linton eine Familiengruft im Park hinter der Hall. Blumen… aus dem Park, sie würde die Tante um Erlaubnis bitten. Und ein Leichenbegängnis würde es nicht geben, denn Gäste würden nicht kommen, nicht für die Witwe eines jüngeren Sohnes.

Sie tupfte sich die Augen mit einem Schürzenzipfel ab und zog die Vorhänge im Schlafzimmer zu, dann stieg sie die Treppe hinunter und ging Bessie anschirren.

Dr. Sheramy nickte betrübt, als sie ihn informierte, und versprach, später vorbeizukommen und obendrein den Totengräber zu informieren.

„Danke“, murmelte Sarah. „Das wäre eine große Hilfe. Dann bringe ich die traurige Nachricht zur Hall.“

Er betrachtete sie näher. „Sarah, wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht… doch, die Hammelbrühe, die Mama verschmäht hatte. Ich konnte sie doch nicht umkommen lassen, so etwas können wir uns nicht leisten.“

„Sarah, das war vor vier Tagen!“

„Es hat für drei Teller gereicht“, erklärte sie abwesend. „Ich fürchte, ich muss jetzt den Viscount informieren…“

„Ja, Sarah, fahren Sie nur zur Hall. Aber essen Sie nachher etwas Ordentliches!“

Sie versprach es, obwohl sie nicht wusste, ob überhaupt noch etwas Essbares im Haus war, und stieg wieder auf ihr Gig.

Onkel Victor nickte teilnahmsvoll, als sie ihm die Todesnachricht brachte, und sprach ihr sein Beileid aus. „Komm, setz dich doch ein wenig zu Barbara und den Mädchen in den Salon!“

Nun, wenn er meinte?

Lady Glanby äußerte Mitgefühl in gemessenem Ton, Selly und Lavvy umarmten Sarah herzlich. „Du Arme, was wirst du denn jetzt tun?“

Der Viscount und seine Frau wechselten einen halb bedrückten, halb verlegenen Blick.

„Ich weiß es nicht. Vermutlich werde ich mir eine Stelle suchen müssen.“

„Was!“ Lavinia war empört. „Eine Stelle? Du bist die Nichte eines Viscounts! Und was für eine Stelle sollte das überhaupt sein?“

„Vielleicht als Gouvernante? Ich habe von meinen Eltern eine Menge gelernt – ich könnte einen kleinen Jungen durchaus auf die Schule vorbereiten. Oder als Zofe? Nein, von feiner Kleidung verstehe ich nicht viel.“

Selina betrachtete sich das graue, abgetragene Kleid und die zwar saubere, aber auch fadenscheinige Schürze darüber und seufzte. „Nein, wohl eher nicht. Aber trotzdem – das muss doch wohl nicht sein! Papa! Mama!“

„Als Hausmädchen“, überlegte Sarah weiter, ohne das Unbehagen von Onkel und Tante wahrzunehmen.

„Nun“, versuchte der Viscount schließlich zu begütigen, „man wird sehen. Eine Lösung wird sich schon finden. Aber dass Sarah auf eigenen Füßen stehen möchte, ist doch auch verständlich, nicht wahr?“

„Natürlich wäre es ideal, wenn sich jemand fände, der dich heiratet, mein Kind“, stellte Lady Glanby fest.

Sarah lächelte trübe. „Wer sollte das wohl sein, liebe Tante?“

Ja, das wusste Lady Glanby auch nicht. Die Gegend war nicht gerade reich an begehrenswerten Junggesellen und Sarah war ein nettes, freundliches, häusliches Mädchen, gewiss auch nicht hässlich, aber sie hatte weder Vermögen noch das Zeug zur Debütantin der Saison.

Nicht einmal ihre eigenen Töchter, die noch etwas hübscher und vergleichsweise wohlhabend waren, hatten bis jetzt Verehrer gefunden. Und an eine Saison in London war angesichts der Familienfinanzen gar nicht zu denken, da würde Paul schon energisch Einspruch erheben - und er hätte Recht.

So mussten die seltenen Bälle in Tunbridge Wells genügen, aber dabei hatte sich bis jetzt nichts ergeben. Lavinia war neunzehn, Selina achtzehn, Sarah zweiundzwanzig.

Und woher sollte Paul eines Tages eine nette und passende Ehefrau nehmen? Schließlich wäre er der nächste Viscount Glanby und musste die Linie fortsetzen!

Ein Aufkeuchen riss sie aus ihren Überlegungen. Sie fuhr herum und sah Sarah regungslos auf dem Boden liegen, die Cousinen über sie gebeugt und ihre weißen Wangen tätschelnd.

„Großer Gott, was hat sie bloß? Sarah? Sarah! Mama, hast du kein Riechsalz?“

Lady Glanby reichte das Fläschchen hastig hinunter und binnen Kurzem hustete Sarah, richtete sich auf und blinzelte verwirrt. „Was ist denn passiert?“

„Du warst ohnmächtig“, erklärte Lavinia.

„Oh, wie dumm. Das ist mir noch nie passiert…“

„Vielleicht war es der Schock“, vermutete der Viscount, dem ohnmächtige ebenso wie weinende Frauen ein Gräuel waren, und wandte sich verlegen zum Fenster.

„Ich habe keinen Schock erlitten“, widersprach Sarah und kam wieder auf die Füße, „Dr. Sheramy hatte mir doch gesagt, dass sich Mama nicht mehr erholen würde.“

„Aber du bist so bleich!“, rief Selina. „Wirst du vielleicht krank?“

„Ich war noch nie krank“, empörte sich Sarah, allerdings mit schwankender Stimme, und hielt sich rasch am Türrahmen fest.

„Wird dir schon wieder schwach?“, fragte Lavinia besorgt.

Lady Glanby betrachtete sich ihre Nichte genauer. „Sarah, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“

Sarah riss die Augen auf. „Warum? Ich fürchte, ich weiß es gar nicht genau. Ich glaube, gestern. Oder?“

„Kind, warum isst du denn nicht vernünftig?“, wollte der Viscount wissen.

Sarah spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen – sollte das auch noch ein Vorwurf sein?

„Ich habe das gegessen, was Mama verschmäht hat. Die Hammelbrühe.“

„Iih!“, kommentierte Lavinia.

„Und sonst?“

„Sonst… ich weiß nicht, was noch im Haus ist. Etwas Brot vielleicht. Ich muss ohnehin zurück, dann werde ich nachsehen. Ich muss ja auch den Haushalt auflösen.“

„Lass nur, Sarah, das hat doch Zeit“, mischte sich der Viscount wieder ein.

„Ich beschäftige mich gerne etwas. Außerdem dachte ich doch ohnehin nur an die Kleider und einige Bücher. Alles andere gehört doch wohl zum Besitz, nicht wahr?“

„Was meinst du mit „Alles andere, Sarah?“, fragte Selina.

„Die Möbel, das Kochgeschirr, das Porzellan, die Bettwäsche – oder?“

Das traf zwar tatsächlich zu, aber es klang doch sehr hart; Onkel und Tante wechselten einen peinlich berührten Blick. Sarah wandte sich zur Tür. „Ich wollte euch nicht die Stimmung verderben; ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

Damit eilte sie in Halle und so schnell zur Eingangstür, dass Grimes es nicht einmal schaffte, ihr rechtzeitig die Tür aufzureißen. Bessie fand sich unsanft von den Blumen neben der Tür entfernt und zur Allee gedreht, so dass sie besonders lustlos antrabte. Dennoch war Sarah bereits einigermaßen außer Hörweite, als sich ihre Verwandten aufgerafft hatten und sich nun im Portal drängten und ratlos die Auffahrt entlang spähten.

Sie versuchte, sich auf den Feldweg und auf Bessies üble Laune zu konzentrieren und nicht auf das hohle Gefühl in ihrem Inneren, und so gelang es ihr tatsächlich, bis zum Dower House zu gelangen, abzusteigen, Bessie vor einem Stück saftigen Rasens anzubinden, sie flüchtig abzureiben (ins Schwitzen war die ältliche Stute unterwegs auch kaum geraten) und ins Haus zu treten.

Dort durchsuchte sie hastig die Küche und fand noch einen Kanten steinhartes Brot. War das der Rest von dem Laib, den sie Anfang letzter Woche gebacken hatte? Ja, sie hatte das Brot oben sternförmig eingeschnitten, und davon sah man noch eine Spur.

Sie holte sich einen Becher Wasser am Brunnen hinter der kleinen Spülküche und setzte sich damit und mit dem versteinerten Brot und einem Messer an den Küchentisch. Immerhin gelang es ihr, ein kleines Stückchen Brot abzuschneiden oder besser zu reißen und es vorsichtig zu kauen. Mal stelle sich vor, sie bisse sich noch einen Zahn aus! Dann könnte sie sich wirklich nur noch als Küchenmagd verdingen…

Das Kauen war anstrengend, aber schließlich war der Bissen Brot doch einigermaßen schluckbar. Sie schluckte also und spülte mit dem Wasser nach.

Satt war sie damit nicht.

Was wäre denn, wenn sie ein Stück Brot in Wasser legte, um es aufzuweichen? Sie probierte es aus und beschloss, das Brot eine Zeitlang liegen zu lassen. In der Vorratskammer musste es doch noch Äpfel geben…

Ja, exakt zwei - eher Misstrauen erweckende – Exemplare. Sie schnitt den weich gewordenen Teil ab, untersuchte den Rest auf unerwünschte Bewohner und biss schließlich vorsichtig ab. Mehlig, nun gut, aber wurmfrei und nicht verfault. Ihr Magen beruhigte sich zusehends.

Aber was sollte sie in den nächsten Tagen essen? Morgen hatte sie vielleicht noch einen Rest des nassen Brots, aber davon abgesehen war die Speisekammer so leer wie der Vorratsraum. Nicht einmal verlockende Krümel von irgendetwas fanden sich noch – und am Haken für den Schinken gab es nur noch ein Restchen Schnur.

Aber zu Mamas Lebzeiten war doch auch genug zu essen dagewesen? Sarah setzte sich ins Wohnzimmer vor den kalten Kamin und überlegte.

Woher hatte Mama diese kleine Rente bezogen? Von Onkel Victor? Aus einem Rest des Vermögens von Papa? Aber hatte Papa als jüngerer Bruder überhaupt Vermögen besessen? Und wenn ja, wo war es jetzt? War das Einkommen mit Mamas Tod erloschen?

Unsinn, tadelte sie sich selbst. Sogar wenn das Einkommen nun wegfiel: Mama war heute Nacht gestorben und ganz plötzlich war die Speisekammer leer? Das hörte sich eher nach einem bösen Märchen an…

Gut, während Mamas Krankheit hatte sie sich nicht allzu sehr um Einkäufe gekümmert, denn Mama wollte ja ohnehin nichts essen und die Sorge war Sarah selbst auf den Magen geschlagen.

Wenn sie aber nicht eingekauft hatte, musste doch irgendwo noch Geld sein? Wo bewahrte Mama das Geld auf, das sie einmal im Monat in der Stadt von der Bank geholt hatte? Von dem sie Sarah Geld für die Einkäufe zu geben pflegte? Knapp bemessen natürlich, damit man bis zum Monatsende auch hinreichte?

Sarah sah sich suchend um. Das Dower House war eher ein Häuschen, man merkte, dass die Familie Linton nicht mit großen Reichtümern gesegnet war; sie besaß ein kleines Herrenhaus und ein entsprechend winziges Witwenhaus, in dem der jüngere Sohn mit Frau und Tochter gelebt hatte, seitdem die Dowager Viscountess – als Sarah noch nicht laufen konnte - verstorben war. Im Erdgeschoss gab es das Wohnzimmer, die Küche mit Spülküche und einen Abstell- und Garderobenraum, im Obergeschoss drei Schlafzimmer und eine Badekammer mit einer Wanne, die man schon lange nicht mehr benutzt hatte, da es am Personal fehlte, um sie mit heißem Wasser zu füllen. Im Dachgeschoss standen zwei Dienstbodenräume leer – und hinter dem Haus gab es einen Verschlag mit einem Abort. Nicht gerade neuzeitlich, dachte Sarah, sogar im Herrenhaus hatten sie schon eine Einrichtung mit Wasserspülung. Dort dachten sie auch schon über Gasbeleuchtung nach und hier gab es insgesamt fünf Petroleumlampen und noch einige Kerzen.

Im Wohnzimmer durchsuchte sie rasch den Sekretär, wo sie Mamas Testament entdeckte. Sie sollte es wohl dem Onkel bringen. Nun, morgen vielleicht. Sie war müde, Bessie war müde.

Einige alte Briefe, auch welche von Papa an Mama, mit einem blauen Seidenband umwickelt, das ihr unter den Händen zerfiel. Diese Briefe würde sie behalten, denn ihre Eltern hatten eine Liebesheirat geschlossen und das war doch wohl der Erinnerung wert? Auch wenn sie im Moment nicht die Kraft hatte, sie zu lesen.

Ansonsten fand sie nur noch Papas Siegelring, einige Blatt unbenutztes Papier und einen Bogen, auf dem Mama – oder Papa? – Notizen zu einer Metamorphose des Ovid gemacht hatte. Das würde sie auch als Erinnerung aufbewahren… Aber Geld fand sie nicht, nicht in den kleinen intarsierten Schublädchen (zumeist leer), nicht in den Brieffächern, nicht in den großen Fächern. Sie beschäftigte sich einige Minuten lang damit, die spärlichen Habseligkeiten ihrer Mutter gefällig zu arrangieren und im Sekretär Staub zu wischen, dann sah sie sich weiter um. Zwei halbhohe Regale neben dem – natürlich kalten – Kamin.

Links Literatur in lateinischer und griechischer Sprache, rechts die eigenen Klassiker, Chaucer, Marlowe, Shakespeare…. ein intarsiertes Kästchen, leider leer.

In der Küche? Vielleicht in einem Gefäß in der Vorratskammer?

Nein, dort konnte sie auch über die leeren Bretter wischen und die ebenso leeren Gefäße spülen und abtrocknen.

Mamas Schlafzimmer? Dort lag Mama immer noch, kalt und starr und fremd wirkend.

Dies machte es Sarah nahezu unmöglich, dort nach Geld zu suchen, aber sie verdrängte ihre Beklemmung, versuchte, den Leichnam ihrer Mutter zu ignorieren, und sah sich suchend um. Der Toilettentisch barg keine Verstecke und auf der Platte aus poliertem Kirschbaum lagen nur Haarbürste und Kamm – Mama hatte von Puder und Rouge nichts gehalten.

Ach ja – die Schmuckschatulle! Viel enthielt sie nicht, eine schmale Perlenkette, ein Medaillon mit Papas Porträt darin und einen altmodischen Ring mit einem großen roten Stein.

Sarah überwand sich und zog den Ehering von der kalten Hand ihrer Mutter, um ihn ebenfalls in die Schatulle zu legen, bevor sie das Kästchen wieder schloss.

Und nun? Es blieb nur der Schrank. Mamas Kleider und Wäsche zu durchsuchen, erschien ihr recht pietätlos – aber was sollte sie tun? Hätte Mama eben den Rest des Monatsgeldes in einer Börse im Schreibtisch aufbewahrt, wie es wohl auch üblich war…

Mamas Kleider – viele waren es nicht – hingen etwas verloren in dem mächtigen alten Schrank. Hastig durchforstete Sarah die Taschen in den Röcken und fand schließlich tatsächlich ein Samtbeutelchen, das sich vielversprechend schwer anfühlte.

Sie schaute hinein – tatsächlich, goldener Schimmer, ganze zehn Guinees! Wenn man bedachte, dass ein großes Weizenbrot ungefähr zehn Pence kostete… das würde eine Zeitlang vorhalten.

Es sei denn, Onkel Victor war der Ansicht, dass alles, was Mama hinterlassen hatte, ihm zustand. Eigentlich war Onkel Victor ein freundlicher Mann, aber er hatte auch zu kämpfen – und Cousin Paul würde ihn darin bestärken, alles für sich zu reklamieren. Schließlich standen ihm die Töchter, die noch unterzubringen waren, wohl näher als die Nichte.

Sie versenkte das Samtbeutelchen in ihrer eigenen Rocktasche und stieg die Treppe wieder hinunter, denn es hatte geklopft.

Die folgende Stunde verlief in großer Geschäftigkeit, denn Dr. Sheramy hatte den Bestatter und die Leichenfrau, Mrs. Hunts, mitgebracht.

Mrs. Hunts entkleidete die Leiche routiniert und wusch sie, während Sarah mit abgewandtem Blick das schönste von Mamas Nachthemden heraussuchte und es der Leichenfrau reichte. Sobald die Tote schicklich und präsentabel dalag, die Hände wieder auf der Brust gefaltet, und Mrs. Hunts ihr die Haare bürstete und sie zu zwei ordentlichen Zöpfen flocht, wurde der Sarg heraufgebracht und neben dem Bett abgestellt. Der Bestatter hatte nur ein kleines Geschäft und keine Gesellen oder Lehrlinge. Als also die Leiche auf die Polster darin gebettet und der Deckel auf Sarahs Bitte hin geschlossen war, musste Dr. Sheramy, immerhin ein kräftiger Mann, der zur Not auch dem Tierarzt beistehen konnte, einen Ochsen zu halten, mithelfen, den Sarg wieder nach unten zu tragen.

Plötzlich wirkte das Zimmer groß und leer. Sarah zog mit müden Bewegungen das Bett ab und warf die Leintücher und den Kissenbezug in der Küche in den Waschkessel.

Nun stand der Sarg also unten; übermorgen würde die Beerdigung stattfinden, hatte Dr. Sheramy angekündigt, der mit dem Pfarrer gesprochen hatte. Und Mr. Wenderby würde heute noch vorbeikommen, um die Einzelheiten zu klären. Dazu sollte wohl auch Onkel Victor gebeten werden…

Sarah überlegte gerade, ob es Sinn hatte, heute doch noch einmal zur Hall hinüberzufahren, um Onkel Victor zu informieren, oder ob sie dann ausgerechnet den Pfarrer verpasste, als es wieder klopfte.

Onkel Victor war vorbeigekommen! Sie lächelte ihn dankbar an und bat ihn herein.

Das Wohnzimmer wirkte durch den Sarg natürlich recht deprimierend, aber sie konnte den Viscount ja nun auch nicht in die Küche bitten, also rückte sie die Stühle so zurecht, dass sie dem Sarg auf dem Esstisch den Rücken zuwandten, und bat den Onkel, sich zu setzen.

Onkel Victor tätschelte etwas gedankenverloren den Sarg, fröstelte und setzte sich. Sarah bot an, Tee zu kochen. „Ja, danke, mein Kind. Kalt ist es hier. Warum heizt du denn nicht?“

„Wir haben doch kein Kaminholz mehr! Nur Mamas Schlafzimmer wurde geheizt. Einen Moment, bitte!“

Sie eilte in die Küche, wo immerhin noch etwas Holz im Herd lag, zündete das Feuer an und setzte den Kessel auf. Viel Tee gab es auch nicht mehr – aber immerhin ein hübsches Service, das sie auf dem silbernen Tablett gefällig anrichtete.

Ihr Onkel tauchte in der Küchentür auf. „Sarah, warum habt ihr nie etwas gesagt?“

„Worüber denn, Onkel Victor? Ich würde dir gerne etwas dazu anbieten, aber ich fürchte, es ist nichts da.“

„Darüber, wie ihr hier lebt – gelebt habt“, antwortete er leicht gereizt. „Und nein, ich brauche kein Gebäck.“

„Ich verstehe nicht - wie haben wir hier denn gelebt? Wir haben das Dower House ordentlich gepflegt, das versichere ich dir!“

Sie goss den Tee auf und stellte den Kessel wieder auf den Herd.

„Aber wovon habt ihr gelebt? Es erscheint mir alles doch recht – nun ja – ärmlich?“

„Sicher, wir hatten nicht viel, aber wir waren eigentlich recht zufrieden. Dass es so schnell vorbei sein würde, hätte ich freilich nicht gedacht. Und wovon wir gelebt haben? Ich dachte, du hättest Mama eine kleine Rente gezahlt, immerhin war sie doch die Frau deines Bruders.“

„Das war sie“, antwortete der Viscount gedankenvoll.

„Nun“, Sarah nahm das Tablett auf und ging voraus ins Wohnzimmer, „was wirst du nun mit dem Dower House anfangen?“ Das letzte sagte sie über die Schulter hinweg. Als der Viscount das Zimmer betrat, hatte sie bereits das kleine Tischchen zwischen den beiden Stühlen gedeckt.

„Was meinst du mit anfangen?“

„Vielleicht könnte Paul hier wohnen, wenn er einmal heiratet. Für den Anfang wäre es wohl recht nett. Natürlich, wenn einmal Kinder kommen… aber es gibt ja sogar zwei Dienstbotenkammern unter dem Dach.“ Sie lächelte ihren Onkel an und reichte ihm seine Tasse.

Er nippte verdutzt und stellte fest, dass der Tee immerhin stark und aromatisch war.

„Aber ihr hattet keine Dienstboten?“

„Nein. Vermutlich hätte die Rente dafür nun doch nicht gereicht. Ach, bevor ich es vergesse: Ich habe noch den Rest des Geldes hier, vermutlich gehört es dir. Es sind immerhin zehn Guinees, allerdings müsste man davon wohl noch den Doktor und die Beerdigung bezahlen. Oder möchtest du, dass ich das übernehme?“

Ohne nachzudenken nahm er den Samtbeutel, den sie ihm hinhielt. „Wovon möchtest du es denn übernehmen? Ich meine, du besitzt doch wohl überhaupt nichts?“

Er ließ seinen Blick beziehungsreich über die karge Einrichtung wandern.

„Mein Konfirmationskreuz. Ich glaube, es ist aus Silber. Ich könnte es verkaufen, allerdings weiß ich nicht, wo. Vielleicht könntest du das für mich übernehmen? Ansonsten besitze ich tatsächlich nichts. Dinge wie die Kerzenleuchter gehören ja schließlich dir, als Teil des Dower House.“

„Bist du da sicher?“

„Woher soll ich das schon wissen? Ich nehme es eben an. Aber wenn du das Kreuz nicht für mich verkaufen willst, kann ich auch Dr. Sheramy darum bitten. Er war eigentlich immer recht hilfreich.“

Der Viscount setzte seine Tasse hart ab. „Sarah, was soll das alles?“

Sie starrte ihn verständnislos und erschrocken an. „Was meinst du, Onkel Victor?“

„Was denkst du eigentlich über mich? Dass ich den Rest des Geldes deiner Mutter einstecke und dich die Beerdigung von deinem kleinen Konfirmationskreuz bezahlen lasse? Glaubst du, ich bin so hartherzig?“

„Nicht hartherzig, Onkel Victor. Aber du hast immerhin eine Familie zu versorgen und selbst kein großes Vermögen – und das Dower House ist doch ein Teil des Anwesens! Ich habe jetzt doch kein Recht mehr, hier zu wohnen.“

„Du bist meine Nichte, du hast jedes Recht, hier zu wohnen!“, fuhr er sie an. Sie setzte ihre Tasse hastig ab und fuhr sich über die Augen. „Es tut mir leid, ich wollte nur nicht lästig fallen.“

„Ja, du möchtest irgendwo Hausmädchen werden, nicht wahr? Welch ein Unsinn!“

„Warum ist das Unsinn? Bedenke, heiraten kann ich doch wohl nicht, und wenn ich von etwas leben möchte, muss ich doch arbeiten. Warum nicht als Hausmädchen? Davon verstehe ich wenigstens etwas. Gouvernante – da fehlt es mir leider wohl doch an Dingen wie Aquarellmalerei und Piano, weil Papa und Mama so etwas nicht so sinnvoll fanden.“

„Die Nichte von Viscount Glanby arbeitet als Dienstbote“, kommentierte er bitter.

„Oh! Du meinst, das schadet deinem Ruf? Das wollte ich natürlich nicht – aber was sollte ich sonst tun? Oh, ich könnte unter mich einem anderen Namen verdingen – und möglichst weit weg, vielleicht in Schottland? Dann würde es doch wohl niemand erfahren?“

„Lass die Albernheiten. Du wirst keine Stelle als Dienstbote annehmen, die Beerdigung und den Doktor bezahle ich – und dein Kreuz und die zehn Guinees sind dein Notgroschen, hast du das verstanden? Ich schicke einen Boten zum Bestatter und schlage ihm vor, deine liebe Mutter übermorgen Mittag in der Familiengruft beizusetzen. Bist du damit einverstanden?“

„N-natürlich! Das ist äußerst großzügig von dir, Onkel Victor!“

„Nein, das ist es nicht. Es ist das allerwenigste, was ich tun kann. Sei nicht so unterwürfig, Sarah. Möchtest du gerne zu uns herüberkommen oder lieber in Ruhe von deiner lieben Mutter Abschied nehmen?“

„Ich werde hierbleiben, wenn es dir recht ist. Etwas aufräumen, ausfegen…“

Er nickte und erhob sich. „Hast du überhaupt noch genug zu essen?“

Sarah spürte, wie sie errötete. „Einen Rest Brot, leider schon etwas hart. Ich habe aber gar keinen Hunger.“

Die Lüge stand ihr wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben, denn er knurrte: „Ich lasse dir etwas herüberschicken. Ich würde ja ein Hausmädchen mitschicken, aber wahrscheinlich lenkt dich die Arbeit etwas von deiner Trauer ab.“

Sie nickte stumm und sah ihm nach, als er in den Flur trat und sich unter der niedrigen Haustür bückte, um nach draußen zu kommen, wo sein Wagen stand. Zwei kräftige, junge Pferde – kein Vergleich mit Bessie, die gerade einen Strauch abweidete und den beiden Konkurrenten böse Blicke zuzuwerfen schien.

Nun, damit war einiges geklärt. Sehr nett von Onkel Victor, das musste man sagen! Dennoch wusste sie nicht, was nun aus ihr werden sollte. Alles, was sie dem Onkel auseinandergesetzt hatte, stimmte doch: Heiraten würde sie nicht mehr, sie war an der Grenze zur alten Jungfer, besaß keinen Penny, kannte niemanden und ging nicht in Gesellschaft. Schon gar nicht während der Trauerzeit. Und besonders schön fand sie sich eigentlich auch nicht. Im besten Fall konnte sie im Herrenhaus Aufnahme finden und die Anstandsdame ihrer Cousinen spielen – nun, warum eigentlich nicht? Lavinia und Selina waren nette Mädchen, in Glanby Hall brannten die Kaminfeuer, es gab satt zu essen – und gegen Flick- oder Stickarbeiten hatte sie nichts einzuwenden.

Hatte Onkel Victor ihr das wirklich angeboten? Es hatte sich fast so angehört, aber sie wollte es lieber noch nicht für garantiert annehmen.

3

Am übernächsten Tag, einem Montag, kleidete Sarah sich in ihr einziges schwarzes Gewand und setzte eine schwarze Haube auf. Das Haus war tadellos aufgeräumt und geputzt, in der Küche stand noch der Korb, den Onkel Victor geschickt hatte – nun, wohl eher Tante Barbara: frisches Brot, eine Pastete, ein halbes Dutzend Eier, eine Flasche Wein und ein ordentliches Stück Käse. Sarah hatte ein wenig davon gegessen und alles Übrige in die kühle Kammer geräumt.

Das schwarze Kleid saß recht locker, zumindest über der Brust und an den Ärmeln – der gerade, hochangesetzte Rock natürlich sollte großzügig fallen.

Insgesamt schien sie in der letzten Zeit wohl tatsächlich an Gewicht verloren zu haben. Sie überzeugte sich selbst davon, dass dies nach den traurigen Tagen, die hinter ihr lagen, wohl nicht verwunderlich sein konnte. Sicher kehrte ihr Appetit irgendwann wieder zurück!

In einer Stunde würde Onkel Victor einen Wagen schicken, denn er war der Ansicht, das alte Gig mit Bessie sei einer Beerdigung nicht angemessen. Sarah überlegte gerade, was sie bis dahin tun sollte – in der Bibel lesen, vielleicht? Das wäre wohl das Richtige, nur hatte sie eigentlich keine Lust dazu, als der Türklopfer kräftig betätigt wurde.

Der Wagen, jetzt schon?

Sie eilte zur Tür und stand einer gut gekleideten Frau in den Vierzigern gegenüber, die ihr vage bekannt vorkam.

Sie fragte höflich, was sie für die Dame tun könne, und erntete ein breites Lächeln.

„Sarah, nicht wahr? Ich bin deine Tante Letty. Komm her, mein Kind!“

Sarah fand sich an einen warmen, weichen Körper gedrückt und herzhaft umarmt, was sie merkwürdigerweise als tröstlich empfand, obwohl ihr die Besucherin doch ganz fremd war.

„Komm doch herein“, bat sie, sobald Tante Letty sie wieder freigegeben hatte, und führte sie ins Wohnzimmer.

Tante Letty sah sich dort um, atmete sichtlich entsetzt ein und fröstelte sodann.

„Ich weiß, es ist recht einfach, aber wir waren hier immer zufrieden“, bemerkte Sarah etwas steif. „Möchtest du eine Tasse Tee?“

Tante Letty wehrte ab. „Ich war schon in der Hall drüben, um mein Gepäck abzustellen. Dort hatte ich auch schon Tee. Sarah, mein liebes Mädchen, warum ist es hier so leer? Und vor allem so kalt?“

„Das Feuerholz ist knapp, ich verwende es nur in der Küche, um Tee oder Suppe zu kochen. Und – leer? Wir haben Bücher, oben in den Schlafzimmern auch durchaus Kleider und Bettzeug. Was fehlt deiner Ansicht nach hier?“

„Eigentlich alles, was ein Zimmer gemütlich macht. Teppiche, Vorhänge, Bilder, Erinnerungsstücke… aber schließlich kenne – kannte ich meine Schwester Anne ja. Sie war immer schon etwas asketisch veranlagt.“ Sie seufzte. „Woran genau ist sie eigentlich gestorben?“

„Dr. Sheramy meinte, es sei eine Mischung aus Erschöpfung, einer schweren Erkältung und Trauer wegen Papa gewesen. Seinen Tod hat sie nie verwunden.“ Sarah wischte sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Und du wohl auch nicht?“

„Nun ja… ehrlich gesagt schon. Papa und Mama waren so eng miteinander verbunden, sie forschten auf den gleichen Gebieten, sie taten alles gemeinsam… ich hatte da durchaus die Freiheit, zu tun, wie mir beliebte, solange der Haushalt funktionierte. Dafür“ – sie lächelte flüchtig – „hatten sie beide nicht allzu viel Sinn.“

„Du hast diesen Sinn sehr wohl, wie ich sehe. Alles ist blitzblank.“

„Danke schön. Aber, Tante Letty – ich darf doch Tante Letty sagen? – ich verstehe nicht ganz: Wer hat dich von Mamas Tod benachrichtigt? Ich hätte es ja getan, aber ich wusste weder, wie dein voller Name lautet, noch, wo du genau wohnst. Ein Brief an Tante Letty, irgendwo in Kent wäre wohl nicht rechtzeitig zur dir gelangt.“

„Natürlich sollst du mich Tante Letty nennen, mein liebes Kind! Oder wolltest du mich als Mrs. Granger anreden? Und zu deiner zweiten Frage: Der hiesige Arzt – ein Dr. Sheramy? – hat mir geschrieben und auch gesagt, du wüsstest jetzt nicht, wohin.“

„Das ist nicht wahr!“, empörte sich Sarah. „Mir stehen verschiedene Wege offen.“

„Aber doch wohl nichts Erfreuliches?“

„Onkel Victor hat mir angeboten, in der Hall zu wohnen – hier kann ich ja alleine schlecht bleiben. Ich könnte die Gesellschafterin meiner Cousinen sein. Sie sind nette Mädchen.“

Mrs. Granger lehnte sich gemütlich zurück, soweit die eher unbequeme Stuhllehne es zuließ. „Nette Mädchen heiraten eines Tages – und dann? Deine Tante hat deinen Onkel, sie braucht keine Gesellschafterin… du würdest schnell zur Flickschneiderin der Familie herabsinken – oder eine Haushälterin ersparen.“

„Warum nicht? In der Hall sind sie auch nicht mit Reichtümern gesegnet. Wenn ich ihnen helfen kann, Kosten zu sparen, nachdem sie immer recht freundlich zu mir waren?“

„Das ist sicher sehr lieb von dir gedacht, aber ich hoffe doch, dass ich dir etwas Besseres anbieten kann. Zunächst aber: Welcher Weg stünde dir denn noch offen?“

„Ich könnte mich als Stubenmädchen verdingen. Nicht hier in der Gegend, natürlich, das wäre Onkel Victor zu Recht sehr peinlich. Vielleicht im Norden oder gar in Schottland, hatte ich überlegt.“

„Nun, derlei Überlegungen lässt du bitte ganz schnell wieder fallen, mein Kind!“

Sarah lächelte wehmütig. „Jetzt hast du eben wie Mama geklungen… ihr habt die gleiche Stimme, weißt du das?“

„Sicher, das war ja schon in unsrer Kindheit so. Pass auf, Sarah, ich werde dich morgen mitnehmen.“

„Mitnehmen – du meinst, zu dir nach Hause?“

„Gewiss, wohin denn sonst?“

„Aber – dein Gemahl? Deine Kinder?“

Mrs. Grangers Gesicht verdüsterte sich einen Moment lang. „Kinder waren uns leider nicht vergönnt. Und mein Gemahl, mein lieber Thomas, freut sich schon sehr auf dich. Wir hätten gerne etwas junges Leben im Haus.“

Sarah blinzelte. „Das klingt ganz reizend. Was könnte ich bei dir – bei euch denn tun?“

„Tun? Was du möchtest. Lesen, Spazierengehen, die Dorfbewohner kennenlernen, den Neffen meines Mannes kennenlernen, der uns häufig besucht, aber nicht bei uns lebt, weil er sein eigenes Gut versorgen muss, ab und zu auf Tanzveranstaltungen gehen, die freilich recht – nun ja – ländlich sind.“

Sarah musste kichern. „Weil die Vergnügungen hier so großstädtisch sind? Hier gibt es keine Tanzereien, weil hier so gut wie keine jungen Leute leben. Tante Barbara weiß gar nicht, wie sie meine Cousinen jemals präsentieren soll, damit sie geeignete Partien kennenlernen.“

„Sie könnten uns ja einmal besuchen, wenn du dich eingelebt hast“, bot Mrs. Granger an.

„Das wäre ausgesprochen großzügig, Tante Letty! Aber eigentlich hatte ich eben fragen wollen, wie ich mich bei euch nützlich machen könnte, um eure Freundlichkeit zu vergelten.“

„Nicht doch, meine Liebe! Du sollst unsere liebe Nichte sein, sonst nichts. Meinst du, du kannst morgen abreisefertig sein? Hier hält dich doch nichts, oder?“

Sarah seufzte. „Ich schätze den Viscount und seine Familie – aber ich wäre für sie wohl doch eine Belastung. Und du bist sehr nett zu mir… ja, ich kann bis dahin bestimmt reisefertig sein. Viel mitzunehmen gibt es ja nicht.“ Dies unterstrich sie mit einer weit ausholenden Geste, die einmal rund um das Wohnzimmer wies.

„Da hast du freilich Recht – aber die Bücher deiner Eltern?“

„Einige werde ich zur Erinnerung mitnehmen, aber doch nicht alle! Eine so leidenschaftliche Liebhaberin der antiken Sprachen bin ich nun auch wieder nicht. Ich werde sie zusammenpacken und Onkel Victor fragen, ob er ihnen Asyl in seiner Bibliothek gewähren möchte.“

„Gute Idee. Ich denke, wir werden dir bei der Modistin in Tunbridge eine neue Garderobe machen lassen.“

Der Blick, den sie über das abgetragene schwarze Kleid gleiten ließ, machte Sarah verlegen; sie strich fahrig über den glatten Stoff und murmelte: „Ich habe es schon seit Papas Tod. Und hier brauchte ich doch auch nicht viel an Garderobe, es sah mich doch auch niemand.“

„Was hast du nur den ganzen Tag unternommen, wenn du hier gesellschaftlich so isoliert warst?“

„Ich sagte doch schon – der Haushalt… manchmal ging ich auch spazieren oder besuchte meine Cousinen… ich lese auch gerne, aber im Gegensatz zu meinen Eltern lieber englische Romane als lateinische und griechische Epen.“

„Wir haben eine recht ansehnliche Bibliothek“, lockte Tante Letty. Bevor Sarah mit mehr als einem Lächeln reagieren konnte, klopfte es aber wieder – und dieses Mal war es der Kutscher Seiner Lordschaft. Beide Wagen fuhren zur Hall, wo die Pferde und die Kutscher ordentlich versorgt werden konnten, und dann brach der kleine Zug schwarzgekleideter Gestalten zur Familiengruft auf, wo der Pfarrer die üblichen Worte sprach, nachdem zwei kräftige Knechte des Onkels den Sarg an der richtigen Stelle in der Gruft – direkt neben Papa – platziert hatten.

Sarah starrte blick- und tränenlos vor sich hin, Tante Barbara, die etwas zur Sentimentalität neigte, schluchzte leise, Lavvy gab kleine unglückliche Laute von sich, der Viscount räusperte sich gelegentlich verlegen und Tante Letty hielt Sarahs Hand fest und tröstlich umschlossen. Paul und Selly blieben so stumm wie Sarah selbst.

Schließlich schloss Mr. Wenderby nachdrücklich die Bibel und schlug das Kreuz über dem Sarg, dann reichte er allen die Hand, Sarah zuerst. „Was wirst du jetzt tun, liebes Kind?“

„Sie wird mit mir kommen“, antwortete Tante Letty mit fester Stimme. Tante Barbara wirkte leicht verdutzt, Paul schien sichtlich aufzuatmen.

Ein bedrückender Moment der Stille trat ein, bis der Viscount sich schließlich aufmunternd räusperte. „Nun, ich denke, wir sollten jetzt eine Kleinigkeit essen, nicht wahr? Und deiner lieben Mutter gedenken, Sarah…“

„Gewiss, mein Kind“, sagte nun auch Tante Barbara, „es ist auch schon etwas vorbereitet.“