Versteckte Schätze. Historischer Roman - Catherine St.John - E-Book

Versteckte Schätze. Historischer Roman E-Book

Catherine St.John

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Beschreibung

Lottie Hurst lebt mit ihrer Familie friedlich und entspannt auf dem Land, in Apple Hall, geht mit Pluto, ihrem nicht allzu schlauen kleinen Hund, täglich spazieren, unterhält sich mit den Nachbarsmädchen und ist - bis auf gelegentliche Tadel wegen kindischen Benehmens - sehr zufrieden, bis zwei Unbekannte sich in der Gegend zu schaffen machen und so für Unruhe sorgen; Gerüchte gehen um und auch Sir William - samt seinen Kindern Lottie und Bill - beginnt, sich für die zahlreichen verfallenden Nebengebäude auf dem Besitz zu interessieren: Was befindet sich wohl dort? Und sollte man manche dieser kleinen Schuppen nicht einfach abreißen? Tatsächlich finden sich rätselhafte Hinweise auf ein übles Fehlverhalten von Sir Williams Vater und die Suche wird immer intensiver durchgeführt, bis schließlich der Tatbestand feststeht. Einer der beiden Unbekannten hat sich dabei als sehr hilfreich erwiesen, zudem ist er sehr sympathisch, klug, ausgesprochen nett und noch gut aussehend obendrein. Lottie ist sehr angetan... Der andere dagegen fällt eher dadurch auf, dass er gelegentlich aus einem der Nebengebäude hervorspringt und schließlich sogar Lottie zu entführen versucht. Zu guter Letzt werden die Untaten des bösen Großvaters wieder gut gemacht und Lottie bekommt ihren Sir Thomas...

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Versteckte Schätze. Historischer Roman

Catherine St.John

Kapitel 1

„Lottie, du bist fast zwanzig Jahre alt! Und benimmst dich wie ein Lausejunge, der gerade einmal halb so alt ist?“

Die so Angesprochene senkte den Kopf, weniger aus Scham denn aus Ärger: Was konnte sie denn dafür, dass diese Blumenschale umgefallen war?

„Das war doch Pluto! Er wollte den Schmetterling fangen, der über den Blumen herumschaukelte, und dachte wohl, er könne ihn anspringen. Es tut mir ja auch leid, aber damit aber hatte ich nun wirklich nicht gerechnet!“

„Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, Charlotte, dein Pluto habe etwas gedacht? Er ist der hirnloseste Hund, der mir jemals untergekommen ist!“

Wenn Mama sie Charlotte nannte, war sie ernsthaft böse. Dabei hatte sie die Blumenschale von Papas Großtante bekommen, zur Hochzeit – und nicht nur einmal gestöhnt, was sie mit dem hässlichen Ding nur anfangen sollte. Diese Schale, die aus einer Art Pharaonenkopf herauswuchs, war auch wirklich eine Zumutung. Man hätte sie nach Urgroßtantes Tod diskret zerstören sollen. Nun hatte Pluto sich der Situation erbarmt – und Mama war kein bisschen dankbar!

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie also heuchlerisch, „diese schöne Schale! Hast du sehr an ihr gehangen?“

„Unsinn! An dem abscheulichen Ding? Ich habe mich immer gefragt, welcher Pharao das wohl sein sollte – wer so aussieht, sollte sich auf keinen Fall abkonterfeien lassen, so etwas muss man der Nachwelt nun wirklich nicht übermitteln!“

Lottie gluckste.

„Warum lachst du?“, fragte Lady Hurst misstrauisch.

„Du hast das so schön formuliert. Aber warum bist du dann nicht froh, dass Pluto dir dieses Ding vom Hals geschafft hat?“

„Weil Pluto immerzu so etwas anstellt! Und jetzt erzähle mir nicht, er hätte es aus ästhetischem Opfermut getan! Pluto hat nicht nur kein Hirn, er hat auch keinen Geschmack!“

„Bei Hundefutter schon! Weißt du noch, als die Köchin dieses Zeug aus Hammelfleisch und Reis gekocht hat?“

„Wo er mit vorwurfsvoller Miene eine Stunde vor dem Napf gesessen und sich dann nach draußen verzogen hat, um etwas anderes zu jagen? Eine Ratte, vielleicht?“ Lady Hurst musste nun selbst lachen.

Das ermutigte Pluto, der natürlich gespürt hatte, dass man mit ihm unzufrieden war, etwas näher zu kommen und der Dame des Hauses sachte eine struppige Pfote auf den Unterarm zu legen.

„Ach ja! Pluto, du bist eben ein dummer Hund, aber du meinst es ja nicht böse, stimmt´ s?“ Sie strich ihm über den Kopf und er sah sie seelenvoll an. Ein unwiderstehlicher Blick, fand Lottie. Auch Mama liebte diesen Hund – und dumm war er, da hatte sie recht. Waren das aber nicht die meisten Hunde?

„Weißt du noch, als die Derings von Dale zu Besuch hier waren, um diese Eliana vorzustellen?“

Ihre Mutter lächelte. „Und Pluto sich mit Eliana anfreunden wollte und sie zu Tode erschreckt hat? Natürlich! So ein Aufruhr… nun, mittlerweile lebt Eliana ja mit ihrem neuen Gemahl in Irland. Gut so.“

„Nur Arthur müsste  jetzt wieder heiraten“, sinnierte Lottie. „Vielleicht Vicky oder Ginny?“

„Du möchtest ihn nicht?“

„Nein, so gut gefällt er mir nicht. Und nachdem, was Mary erzählt hat, hat er sich bei der Sache mit Eliana nicht gerade als der große Held gebärdet.“

„Recht ausweichend, da hat du recht, Lottie.“

Ah, sie war schon wieder Lottie, also war Mama nicht mehr böse! Warum auch, wenn diese Schale ohnehin so scheußlich war? Gewesen war?

Kapitel 2

„Tom, ich freue mich, dass du mir helfen willst, aber ich fürchte, wir haben noch sehr wenige Fakten. Sagt dir Dale Estate etwas?“

„Etwas nebelhaft, Jim. Dale Estate ist der Landsitz des Earl of Daleham, oder? Hampshire? Die Familie heißt Dering, richtig? Zwei Söhne, eine Tochter, die Tochter in der Nähe verheiratet?“

„Das ist doch schon eine ganze Menge“, lobte James Bournes, der mittlerweile recht bekannte Ermittler.

„Was haben die Derings denn angestellt – oder weshalb haben sie dich zu Hilfe geholt?“

„Weder noch. Sie dienten mir eigentlich nur, um die Gegend etwas genauer zu lokalisieren. Es gibt dort noch weitere Besitzungen, Apple Hall, das den Hursts gehört, und Blue House, dort wohnen die Chambers´. In dieser Gegend, auch in der weiteren Umgebung, sind einige recht raffinierte Diebstähle oder auch Einbrüche geschehen, den Täter kennen wir nicht. Dort müsstest du dich umsehen. Wenn du Erkenntnisse gewinnst oder Fragen sich auftun, kannst du dich an mich wenden – und wenn es gar nicht anders geht, bringe ich auch ein paar intelligente Runners mit. So schlau sind schließlich nicht alle in der Bow Street, nicht wahr?“

Tom war einverstanden. „Was wurde denn gestohlen?“

„Hauptsächlich Wertsachen und Dokumente. Leicht verkaufbares Zeug, vermutlich, wenn es nur um den Verkaufserlös geht. Die Dokumente haben mich allerdings auch erstaunt – was will man denn nur damit?“

„Vielleicht Erpressungen unternehmen?“

Bournes grinste: „Weil irgendwelche Vorfahren einst für das Parlament gekämpft haben? Wen sollte das heute noch irgendwie kratzen?“

„Etwas Neueres vielleicht schon, zum Beispiel Bestechungen wegen Lieferungen ans Militär gegen Boney?“

„Zugegeben, das wäre interessanter. Gute Idee!“

„Bei wem sollte ich zuerst nachfragen – also, wer wurde denn schon beklaut?“

„Jemand in Blue House und vielleicht ein Stück weiter südlich, in Cedars, dort lebt ein Sir Marcus Pemberton mit seiner Gemahlin. Sie haben allerdings noch nicht den rechten Überblick über das ererbte Chaos. Seine Frau stammt von Dale Estate, aber dort ist noch nichts abgängig. Und zwischen Cedars und Blue House gibt es einen Besitz namens Sundays, nicht allzu groß, dafür einigermaßen neu, was die Nachbarn wohl etwas die Nase rümpfen lässt, dort leben Sir Louis Sunderson und seine Gemahlin Lady Marina, die angeblich zwei kostbare Garnituren vermisst.“

„Vornehme Gegend – aber auch ein wenigabgeschieden, nicht wahr?“ Tom grinste. „Ach, die Leute hier sind an solchen Ermittlungen offenbar durchaus interessiert und schon von daher recht freundlich“, machte Bournes seinem Mitarbeiter Mut.

„Endlich mal eine kleine Abwechslung?“

„Vermutlich. Die Morning Post dürfte sich mit Nachrichten aus dem unspektakulären Teil Hampshires wohl auch eher zurückhalten. Du solltest vor allem auf Fremde achten, vor allem auf welche, die sich bei Nebengebäuden herumtreiben. Chambers zum Beispiel hatte die alten Dokumente, die er schon gerne behalten wollte, die er aber auch nicht gerade täglich zur Hand haben muss, auf dem Dachboden eines Stallgebäudes verwahrt, was er jetzt bitter bereut.“

„Und die übrigen Herrschaften soll ich nun abklappern?“

„Tom, du weißt, was man unter Routinearbeiten versteht? Wer weiß, was es da an rätselhaften Cottages, Ställen, Scheunen und Heustadeln gibt…“

„Lerne ich endlich mal das platte Land kennen…“ seufzte Tom. „Aber wenn ich mal so berühmt werden will wie du, muss ich da wohl durch, Jim…“

„Messerscharf erkannt, alter Freund. Also mach dich an die Arbeit!“

Tom seufzte und notierte sich erst einmal alles, was Bournes ihm gerade dargelegt hatte – bevor er noch bei den falschen Leuten auftauchte? Aber erst einmal sollte er die Landsitze von außen inspizieren, vielleicht war dieser mehrwürdige Dieb ja tatsächlich vor allem an Nebengebäuden interessiert?

Also würde er morgen erst einmal einen hübschen Spaziergang machen und sich notieren, wo es interessante Nebengebäude gab – und wem sie gehörten! Ein Notizbuch und zwei Bleistifte hatte er schließlich immer dabei, seitdem er sich bei Bournes als Mitarbeiter beworben hatte. Eine Karte des südlichen Hampshire besaß er auch…

Kapitel 3

Lord Chambers ärgerte sich immer noch über den Verlust der alten Papiere. Sie hatten zwar nicht den Besitz von Blue House bestätigt, denn diese Unterlagen, zum Teil kaum noch lesbar, waren schließlich in einer Stahlkiste im Haus verwahrt, zum größten Teil eingemauert (einen Zugriff gab es von der Rückseite der Wand her und niemand wusste, welcher Tollkopf sich das ausgedacht hatte, vermutlich ein Vorfahr während der Parlamentsherrschaft) und noch in Ölpapier eingeschlagen, falls Blue House einer Sintflut zum Opfer fallen sollte.

Die musste dann schon vom Kanal herkommen, denn die Flüsschen, die hier vorbeiplätscherten, brachten gewiss keine Sintflut zustande! Hatte da ein Vorfahr zu oft in der Bibel gelesen? Das Buch Genesis?

Die verlorenen Papiere aber hatte er eigentlich in eine Geschichte der Familie Chambers verwandeln wollen, in einer Zukunft, wenn Jeremy den Löwenanteil der Gutsverwaltung übernommen hätte (natürlich ohne die Rechte des Besitzers, erst musste er sich ja bewähren). Das hatte er sich recht nett vorgestellt, sozusagen beschaulich, die Papiere zu sortieren, zu ordnen und beim Anfang zu beginnen – die Töchter gut verheiratet, Marianna und er bei guter Gesundheit…

Und jetzt war das alles weg… Wer zum Henker wusste denn, dass die Faszikel unter dem Dach des alten Ziegenstalls versteckt waren?

Niemand brach doch wohl in einen Ziegenstall ein, der schon länger nicht mehr in Gebrauch war? Nicht einmal Ziegen ließen sich dort stehlen, denn die lebten in dem neuen Stallgebäude, in das niemand eingebrochen war, da hätte man doch schließlich Spuren entdeckt?

Konnte es überhaupt sein, dass jemand in der Gegend systematisch die Nebengebäude der verschiedenen Landsitze durchsuchte, um Wertsachen zu finden? Wer versteckte denn Wertvolles in diesen zumeist ungesicherten und manchmal auch etwas baufälligen Gebäuden?

Obwohl… hatten die Sundersons nicht auch geklagt, dass sie Schmuck vermissten? Er sollte vielleicht dort einmal nachfragen, wo dieser Schmuck aufbewahrt worden war – im Haus, gar im Arbeitszimmer des Hausherrn? Oder tatsächlich in einem Stall versteckt? Aber das machte doch niemand, der bei klarem Verstand war? Außer ihm selbst, leider?

Sonst hatte er wenigstens keine Gerüchte über verschwundene Dinge gehört…

Lady Chambers trat in sein Arbeitszimmer und fragte ihn, ob er nicht wenigstens eine Tasse Tee haben wollte, wenn er doch so staubige Arbeit verrichten musste. Dabei sah sie sich beziehungsreich im Raum um, der von Papierstapeln nahezu überquoll. „Ich glaube, du brauchst auch einmal einen  Sekretär!“

Ihr Gemahl seufzte zustimmend.

„Und das können wir uns doch auch leisten?“, führte die Lady ihren Gedanken fort.

„Natürlich. Ich ärgere mich ja auch vor allem über die verschwundenen Papiere über die Familiengeschichte!“

Lady Chambers ließ sich elegant auf dem Sessel neben dem Schreibtisch nieder. „Da verstehe ich aber gleich zwei Dinge nicht!“

Lord Chambers steckte die Feder beiseite und lehnte sich zurück. „Sprich, meine Liebe!“

„Zum ersten weiß ich gar nicht so recht, was du mit diesen uralten Papieren anfangen wolltest: Waren die Chambers eigentlich wirklich früher einmal so bedeutend?“

Seine Lordschaft winkte ab. „So arg war es nicht. Und ganz ehrlich, ich hätte wahrscheinlich ja doch nichts darüber geschrieben… du kennst mich doch. Marianna!“

„Oh ja!“ Sie lächelte ihm zu; seine Selbstkritik war wirklich ein netter Zug an ihm! „Spätestens die Hochzeiten unserer Mädchen hätten dich doch leider, leider vom Schreiben abgehalten, nicht wahr?“

„Richtig! Oh, habe ich da etwas verpasst? Möchte sich eine von ihnen vielleicht verloben?“

„Nicht dass ich wüsste, keine Sorge, mein Lieber. Wenn ich mit den beiden in Dale einen Besuch mache, taucht aber merkwürdigerweise Lord Arthur gerne im Salon auf – und Ginny lächelt dann so leicht und wird etwas rosiger im Gesicht. Daraufhin lächle ich natürlich auch leicht – in mich hinein, versteht sich!“

„Nun, gegen eine solche Verbindung hätte ich nichts einzuwenden – Daleham ist ein guter Freund, auch Frau und Kinder sind wirklich nett. Das wäre eine ideale Familie für Ginny. Und sie bliebe in der Nähe!“

Leicht erschrocken bat seine Frau ihn, diese Verbindung doch bitte nicht zu forcieren. „Ich denke, die beiden müssen erst noch erkennen, wo ihr Glück liegt. Gerade Lord Arthur, nach all diesem Ärger wegen seiner ersten Heirat!“

„Ich halte mich aus allem heraus, das verspreche ich!“, gelobte Lord Chambers. „Und was war denn wohl deine zweite Frage?“

„Warum eigentlich hast du diese so wichtigen Papiere im alten Ziegenstall untergebracht? Das ist weder besonders nahe bei deinem Arbeitszimmer noch eine besonders sichere Art der Aufbewahrung? Und obendrein riecht dann alles nach Ziegen…“

„Lässt sich nicht bestreiten… jemand hat mir, glaube ich, diesen Tipp gegeben. War es nicht sogar Daleham? Oder Pemberton, besser gesagt noch der alte Baylie, Gott hab ihn selig? Oder… ach, ich weiß es auch nicht mehr. Damals klang es mir tatsächlich ziemlich klug.“

„Warum? Wie hat er – wer auch immer – es denn begründet? Mir kommt das nämlich nicht so besonders klug vor, wenn ich ehrlich bin!“

„Er – wer auch immer, aber ich glaube, es war tatsächlich Daleham oder Sunderson? – hat mir dargelegt, dass ein unbenutzter Stall doch ein ungewöhnlicher Ort ist, auf den ein Dieb nicht gar so leicht verfällt. Er würde eher versuchen, Arbeitszimmer oder Schlafzimmer zu durchsuchen. Sozusagen ein Winkelzug, verstehst du?“

„Aber die wären besser gesichert und vielleicht hätten wir sie auch besser im Blick. Möchtest du denn einen Lakaien als Wache vor einen alten Stall stellen? Aber dann überlegt der Dieb doch auch wieder, warum ein so unwichtiges Gebäude noch bewacht wird? Ganz ehrlich, ich hoffe, dass Daleham (oder wer auch immer) seine Taktik nicht eines Tages bereuen wird!“

„Auf Sundays soll ja Schmuck verschwunden sein“, sinnierte Chambers. „Ob die ihre Schatullen auch im Stall versteckt haben?“

Lady Chambers lächelte. „Ich werde Lady Sunderson morgen einmal besuchen und versuchen, etwas Näheres zu erfahren.“

Kapitel 4

Das Leben schien vorerst so geruhsam dahinzuplätschern, wie man es in der Umgebung von Daleham gewohnt war, aber daneben gab es durchaus leises Getuschel über versteckte Wertsachen und seltsame Diebstähle. Der Earl of Daleham machte unklare Aussagen darüber, dass er sich schon bemüht habe, etwas dagegen zu unternehmen, wollte aber nicht präzisieren, was genau er unternommen habe oder auch nur unternehmen wolle.

Pemberton sagte seinem Schwiegervater bei einem Besuch auf Daleham, ihnen sei nichts abhandengekommen, aber vielleicht liege es daran, dass es auf Cedars kaum Wertgegenstände gebe und das bisschen, was sie an Erbstücken besaßen – weder er noch seine Frau Mary legten auf so etwas besonderen Wert – nicht in einem Schafstall versteckt sei, weil sie gar keine Schafe hielten, nur zwei der Pächter. „Vermutlich erinnert der Dieb sich aus einer liebevollen Erinnerung an seine Kindheit heraus an den Geruch der Schafe?“, hatte er freundlich zwinkernd hinzugefügt.

Daleham hatte gegrinst, war aber dann wieder ernst geworden: „Immerhin haben aber schon einige Leute hier in der Gegend Wertsachen eingebüßt. Ich glaube, bei Chambers war ich selbst schuld, weil ich der Ansicht war, ein ausgefallenes Versteck sei eine kluge Idee. So klug eben doch nicht… Wie geht´ s Mary?“

„Ausgezeichnet. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wohl sie sich auf Cedars fühlt – Daleham ist doch deutlich größer!“

„So etwas ist ihr nicht wichtig, solange sie für den Besitz etwas tun kann.“

„Und das tut sie wirklich, soweit es im Moment möglich ist.“ Er zwinkerte seinem Schwiegervater zu, der etwas verdutzt reagierte: „Wieso – im Moment? Was ist denn mit ihr – oh! Ah! In freudiger Erwartung? Wie schön!“

Pemberton wurde kräftig umarmt und fühlte sich wieder einmal herzlich aufgenommen. Er verabschiedete sich von der gesamten Familie, soweit die Mitglieder gerade greifbar waren, und trabte gemütlich nach Hause. Unterwegs sah er Sir Louis, der offenbar auf dem Weg zu Daleham war – ging es wohl auch um diese albernen Schafstall-Diebstähle? Es musste hier doch auch andere Gesprächsthemen geben? Oder war auf Sundays auch etwas verschwunden? Also, ihm wäre es zu dumm, hier herumzustreifen und alle baufälligen, unbenutzten Schafställe zu durchsuchen, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich dort irgendwelche Wertsachen befanden? Irgendwann roch man doch selbst wie eine Ziege oder ein Schaf? Wahrscheinlich wie eine ganze Herde, stand zu vermuten…

Und wer war das?

Ein Mann, den er hier noch nie gesehen hatte.

Offensichtlich ein Spaziergänger oder Wanderer – aber so pittoresk war die Gegend hier doch auch wieder nicht? Pemberton war versucht, ihn einzuladen, die zerzausten Lärchen – Zedern waren das beim besten Willen nicht! – zu bewundern. Auch Mary war ja der Ansicht, man sollte sie sukzessive durch etwas Erfreulicheres ersetzen. „Etwas mit Laub“, hatte sie gesagt – und wie immer hatte sie völlig recht!

Also was wollte dieser Spaziergänger, ländlich gekleidet, einen eher zerfransten Hut tragend und einen knorrigen Spazierstock schwingend, ausgerechnet hier? Warum wanderte er nicht durch den Lake District statt durch Hampshire? Und wenn schon hier, warum dann nicht gleich an der Küste?

Ach, was ging es ihn an, er wollte nach Hause, nach seiner jungen Frau sehen und überlegen, was man mit dem etwas heruntergekommenen Pferdestall anfangen sollte – renovieren oder neu bauen? Und was tat er am besten mit den alten und recht mürrischen Pferden seines Großonkels, die sein eigenes Pferd immer noch nicht so recht leiden mochten? Marys Stute kam mit ihnen ein wenig besser aus, vielleicht war die Rivalität da nicht ganz so ausgeprägt. Oder Mary streichelte die zottigen, übellaunigen Kreaturen eben häufiger als er.

Beim Tee erzählte er Mary von dem fremden Wanderer, aber sie wusste auch nicht, wer das sein konnte. „Lass ihn doch hier herumlaufen, wenn es ihm Spaß macht! Soo langweilig ist die Gegend ja auch wieder nicht, vielleicht wandert er bis nach Cornwall. Man sollte ihn dann nur vor den Zinngruben warnen, nicht dass er noch irgendwo hineinstürzt.“

Sir Marcus lachte und nahm seine Frau in den Arm. „Ohne deine spitze Zunge wäre es hier nicht einmal halb so schön!“

„Ohne dich doch auch!“

Kapitel 5

Lottie war gereizt. Ihre Eltern tuschelten die halbe Zeit miteinander, Besuch kam auch kaum, keiner erzählte ihr etwas – und ihre Brüder waren bis auf Bill nicht mehr im Haus. George war viel lustiger als Bill und Freddy, aber nur der langweilige Bill war noch vorhanden, Bill, der rund um die Uhr ganz, ganz viel Verantwortung trug – wofür bloß? Papa war ja schließlich auch noch da!

Und was sollte das dauernde Gezischel und Getuschel? War die Familie in Geldnot? Hatte das Vieh eine böse Krankheit? Nein, das wüsste sie! War jemand krank? Hatte Freddy etwas angestellt? Wollte er womöglich eine unstandesgemäße Frau heiraten? Wie aufregend das wäre!

Nein, korrigierte sie sich sofort, doch nicht der spießige Freddy! Er würde eine absolut passende und sterbenslangweilige Frau heiraten, die dann womöglich noch versuchte, an ihr herumzuerziehen. Oder die verlangte, dass der arme Pluto im Stall schlafen musste, dabei war er doch so brav!

„Nicht wahr, Pluto? Du bist der bravste Hund Englands, stimmt´ s?“

Pluto bellte einmal und wedelte heftig, dann leckte er seiner jungen Herrin ausgiebig die Hand. Sie lobte ihn und wischte die feuchten Finger unauffällig an seinem drahtigen Fell ab – besser als früher an ihrem Kleid (Lottie, du riechst nach Hund!).

„Wir gehen spazieren, Pluto!“, verhieß sie ihm dann und Pluto sprang begeistert herum. „Komm!“ Sie ging mit ihm durch einen Seiteneingang nach draußen und schaute zu allererst am Zaun zu Blue House vorbei, dort hielten sich Ginny und Vicky Chambers ja manchmal auf, vielleicht konnte man doch ein paar Worte wechseln? Zumeist allerdings ging es über Klagen, wie langweilig es hier war, nicht hinaus…

Am Grenzzaun war niemand zu sehen – nun, dann nicht; außerdem musste Pluto am Nachmittag ja auch noch einmal nach draußen. Sie schlenderte weiter und stellte fest, dass sie zwar eine Leine in der Hand trug, Pluto sie durch sein Herumgespringe aber davon abgelenkt hatte, dass er gar kein Halsband trug… ach, was sollte schon passieren?

Er blieb ja auch brav bei ihr, schnüffelte eifrig mal links, mal recht von ihr herum, grub ein wenig unter den Büschen, knurrte in die Erde und kam dann wieder, Schnauze und Schnurrbart voller Erdspuren, zu ihr zurück.

„Altes Ferkel!“, schimpfte sie, als er diese Erde betont beiläufig an ihrem Rock abwischte. Schnell klopfte sie den Stoff aus, damit Mama nicht böse werden konnte. Vermutlich hatte er Mäuse bedroht?

Pluto hüpfte glücklich vor ihr her, drehte sich aber immer wieder um, ob sie ihm auch brav folgte. Er war doch wirklich der netteste und klügste Hund, den man sich wünschen konnte! Das dachte er jedenfalls bestimmt von sich…

Und eigentlich auch war das Wetter so, wie man es sich nur wünschen konnte, Sonnenschein durch kleine Wölkchen, angenehme Wärme – gut, dass sie einen Hut aufgesetzt hatte, sonst würde Mama mit ihr zanken, weil sie sich wieder die eine oder andere Sommersprosse eingefangen hatte.

Ach, schön…!

Sie schlenderte weiter, den Blick zum Himmel oder doch wenigstens zu den Baumkronen gerichtet – ja, wirklich schön. Da war ihr die Langeweile in Apple Hall plötzlich regelrecht gleichgültig!

Als sie den Blick doch wieder einmal auf ihre Umgebung richtete, sah sie Pluto nicht mehr.

Sie pfiff.

Nichts – nur Vogelgezwitscher war zu hören, kein freudiges Bellen – und Pluto gehörte nicht zu den Hunden, die die Stimme ihrer Herrin fleißig ignorierten, wenn sie ihren eigenen Interessen nachgingen!

War er wohl schon außer Hörweite? Aber so lange hatte sie doch auch nicht in den Himmel geschaut?

„Pluto!“

Nichts.

„Pluto! Sofort kommst du her!!“

Nichts – oder? Ein leises Geräusch hatte sie nun doch gehört. Woher bloß? Sie lief in die Richtung, aus der dieser leise Laut möglicherweise gekommen sein konnte: hoffentlich!

Tatsächlich schienen die leisen Geräusche, je weiter sie diesen halblinken Weg entlang eilte, geringfügig lauter zu werden. Dann war sie also auf dem richtigen Weg – natürlich nur, falls diese Geräusche wirklich von Pluto stammten. Wenn nicht, was sollte sie bloß zu Hause sagen? Die Eltern würden sie für eine vollendete Idiotin halten, die nicht einmal mit ihrem eigenen kleinen Hund spazieren gehen konnte, ohne ihn zu verlieren!

Also musste sie ihn finden, das war klar.

„Pluto!“

Oh, das eben hatte sich angehört wie ein ersticktes Bellen oder Knurren – pöbelte Pluto wieder in ein Mauseloch? Wozu bloß, er fing ja doch nie eine Maus. Aber einmal hatte eine Maus ihn in die Nase gezwickt, da hatte er schon sehr gejault. Und tagelang gelitten!

Schließlich fand sie ein Erdloch, aus dem heraus es bellte.

„Pluto, sag bloß, du bist da hineingekrochen, du kleiner Trottel?“

Dumpfes Bellen war die Antwort.

„Jetzt hast du doch bloß Erde im Maul! Komm da raus, Pluto, sofort!!“

Jetzt wurde dumpf gewinselt.

„Du bist wirklich ein ganz, ganz dummer Hund!“

Lottie kniete sich vor den engen Eingang zu diesem – das musste ja immerhin ein Dachsbau sein, oder? Wie Pluto es nur immer wieder fertigbrachte, sich in eine solch dämliche Situation zu bringen. Der klügste aller Hunde war er eben wohl doch nicht…

Eine Schwanzspitze war noch zu sehen, weiß und aufgeregt zuckend. „Willst du überhaupt da heraus oder hoffst du, der Dachs springt dir ins Maul, du Idiot?“

Sie versuchte, an der Schwanzspitze zu ziehen; Pluto jaulte empört, wenn auch durch Erde gedämpft – und dem Ausgang hatte er sich keinen Inch genähert: Konnte er nicht oder wollte er nicht?

„Blöder Köter!“, schimpfte sie in den Dachsbau. Das brachte ihn aber auch nicht dazu, rückwärts heraus zu robben und dann schuldbewusst dreinzusehen.

„Was machst du da?“

Lottie fuhr hoch. „Wer sind Sie denn?“

Der Spaziergänger fragte zurück: „Und wer bist du?“

„Charlotte Hurst. Ich wohne in Apple Hall. Und Sie?“

„Ich heiße Tom. Tom Warrington. Und was machst du da auf dem Boden?“

„Das ist ein Dachsbau.“

„Wolltest du schauen, ob du einen Dachs sehen kannst?“

„Blödsinn!“, antwortete Lottie sehr ladylike. „Mein dummer Hund ist da hineingekrochen!“

„Hol ihn doch einfach wieder raus!“

„Schauen Sie doch mal, da sieht man ja kaum noch die weiße Schwanzspitze! Ich hab schon gezogen, da hat er aber nur gejault, dann hab ich mich nicht fester getraut, nicht dass ich noch was abreiße…“ Sie schniefte.

„Lass mich mal schauen.“

Er ging auf die Knie und spähte neben ihr in den vermaledeiten Dachsbau. „Au!“

„Was ist?“

„Der Köter hat mir ins Auge gewedelt! Wie heißt das Untier überhaupt?“

„Pluto.“

„Wie der Höllenfürst? Sehr passend!“

„Blödsinn. Der Fürst der Hölle heißt doch Satan!“

„Nicht in der antiken Mythologie…“ Er griff mit beiden Händen in den Dachsbau und arbeitete sich behutsam vor, um Plutos Hüften zu umfassen.

„Was ist Mytho – dingsda?“

„Psst! Ich muss mich konzentrieren.“

Ihm schien es. als hätte er das Vieh an der richtigen Stelle gepackt, also begann er langsam zu ziehen. Das Kind neben ihm hielt glücklicherweise die Klappe, aber sie zappelte aufgeregt. So jemanden sollte man wirklich nicht alleine mit dem Hund herumlaufen lassen, dachte er sich.

Mittlerweile waren Plutos Hüften im Freien und seine Hinterbeine zappelten unwillig, fast so wie die seiner jungen Herrin. Er zog weiter und nach einer halben Ewigkeit steckte nur noch der Kopf des Hundes in diesem Dachsbau, dessen Eingang sich durch die Hände Toms sichtbar erweitert hatte.

Die Kleine (Charlotte, oder?) griff nun auch zu und kraulte den Hals Plutos; mit einem letzten vorsichtigen Zug war der Hund befreit und bellte. Froh oder verärgert, das war schwer zu entscheiden.

Tom stand auf und klopfte sich die Erde von der Hose, das Mädchen tat es ihm gleich. So klein war sie gar nicht! Eine alberne Göre, ja, aber kein Kind mehr. Pluto leckte ihr begeistert das Gesicht ab – und was hing da an ihrem Handgelenk?

„Du hast eine Hundeleine dabei? Warum hast du ihn nicht angeleint?“

Sie zeigte ihm Plutos Hals. „Er hat kein Halsband an. Ich dachte, das geht schon so. Normalerweise pustet er ja nur in die Mauselöcher, um die Mäuse zu erschrecken.“ Sie grinste.

„Wie alt bist du denn eigentlich?“

„Fast zwanzig. Auch wenn Mama sagt, ich bin ein Kindskopf.“

„Da hat deine Mama aber mal recht! Wer ist deine Mama?“

„Na, Lady Hurst. In Apple Hall!“

„Gut, dann halte deinen Pluto gut fest, bis du  - bis Sie wieder zu Hause sind. Und beim nächsten Spaziergang legen Sie ihm sein Halsband an, bevor Sie losziehen!“

„Ich werde es mir zu Herzen nehmen“, versprach sie mit einem kleinen Knicks. „Jedenfalls vielen Dank für Ihre Hilfe!“

„Kommen Sie gut nach Hause!“ Er verbeugte sich knapp und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Sie sah ihm noch kurz nach und überlegte, ob er vorhin nicht in die andere Richtung unterwegs gewesen war, aber so genau konnte sie sich nun auch nicht mehr erinnern, also packte sie Pluto fester. Er zappelte, weil er lieber herumlaufen wollte, aber das hatte er sich heute nun wirklich verscherzt!

In Apple Hall traf sie dummerweise schon in der Halle ihre Mutter, die den Kopf schüttelte, ihr einige Blättchen aus den zerzausten Locken pflückte und fragte: „Lottie, wo hast du dich nur wieder herumgetrieben?“

„Wir waren nur spazieren!“, war die etwas schwächliche Verteidigung.

„Ich verstehe – du hast Pluto spazieren getragen?“

„Äh – nein, nur auf dem Rückweg. Er ist in einen Dachsbau gekrochen, der dumme Hund.“

„Du hattest doch eine Leine mitgenommen? Ach, lass mich raten: kein Halsband?“

Lottie nickte mit gesenktem Kopf und malte mit dem Fuß Muster auf den Mosaikboden. Ihre Mutter seufzte wie üblich. „Ach, Lottie, wann wirst du wohl endlich einmal erwachsen? Du könntest schon verheiratet sein und benimmst dich wie eine Vierzehnjährige!“

Verheiratet sein, wer wollte das denn wohl? Das wurde man wahrscheinlich auch nur wie eine Idiotin behandelt, sie musste ja nur an diesen Spaziergänger denken… na, immerhin hatte der den Esel Pluto wieder aus dem Dachsbau gezogen…

„Geh hinauf und bring dich wieder etwas in Ordnung – und leg Pluto am besten dauerhaft sein Halsband an, es stört ihn doch gar nicht!“

„Keine schlechte Idee“, lobte Lottie etwas matt und eilte mit Pluto im Arm hinauf. Mamas Seufzer wehte noch hinter ihr her.

Kapitel 6

In ihrem Zimmer ließ sie Pluto los, der sofort in sein Körbchen sprang und alsbald zu schnarchen begann. Sie selbst ließ sich auch auf ihr Bett fallen und überdachte das Erlebte.

War das ein Stallknecht gewesen? Von welchem Besitz aber nur? Allerdings hatte er doch neben ihr gekniet und dabei hatte sie weder Schaf noch Pferd gerochen… Hatte ein Stallknecht eigentlich Freizeit, um spazieren zu gehen?

Das konnte sie sich aber nicht so recht vorstellen…

Vielleicht war er einfach ein Mann, der die Gegend durchwanderte, so etwas sollte es ja geben, hatte Papa nicht etwas Derartiges erwähnt? Aber wirklich sehenswert war das südliche Hampshire doch auch wieder nicht, Southampton vielleicht – aber wer kannte denn schon die Umgebung von Apple Hall?

Wie hatte der Mann gleich wieder geheißen? Tom, oder? Tom irgendwas, ein ziemlich langer Familienname – aber den hatte sie nun wirklich vergessen, kein Wunder, wo sich doch Pluto so dämlich benommen hatte! Oder hatte er ihn gar nicht genannt?

Immerhin war es nett von ihm, dass er Pluto aus dem Dachsbau geholt hatte, sie hätte das nämlich nicht geschafft, sie hatte es ja vergeblich versucht. Nie wieder ließ sie Pluto frei herumlaufen!

Allmählich wurde sie müde – am hellen Vormittag? Aber warum sollte sie nicht bis zum Lunch ein wenig schlafen? Natürlich konnte ja vor dem Lunch noch ein Besucher vorbeikommen, aber wer sollte das schon sein? Ginny und Vicky vielleicht, aber die hatten in dieser Woche mit ihrer Zofe schon vorbeigeschaut und eigentlich auch nichts Neues gewusst; auch Lottie hatte nichts Aufregendes zu berichten gehabt. Also kamen die Chambers-Mädchen in dieser Woche bestimmt nicht noch einmal. Es sei denn, natürlich, in Blue House war es so sterbenslangweilig, dass die Langeweile in Apple Hall noch vorzuziehen war?

Sie schmunzelte vor sich hin, während sie sich auf der Zierdecke zurechtkuschelte. Hier war schon wirklich nicht viel los, wenn man von diesen Einbruchs- und Diebstahl-Gerüchten einmal absah…

Sie fuhr hoch – hoppla! Und wenn es diese Diebstähle wirklich gab? In alte Ziegen- oder Schafställe? War es nicht schon deshalb Unsinn? Aber wenn es doch stimmte, konnte dieser Tom dann der geheimnisvolle Dieb sein?

Das wollte sie aber auch nicht! So ein netter junger Mann, auch wenn er sie offenbar für eine alberne Göre gehalten hatte, der sollte doch nicht am Galgen enden!

Vielleicht sollte sie ihn etwas im Auge behalten, dann konnte sie sich für seine Hilfe revanchieren? Ja, wie denn, er konnte ja weitergewandert sein, vielleicht war er schon längst hinter Cedars? Wie weit sollte sie da denn laufen? Sogar Pluto wäre restlos erschöpft!

Herumfragen? Vielleicht wenigstens Papa fragen?

Nein, lieber nicht. Wenn sie erzählte, dass sie mit einem Unbekannten namens Tom Wieheißtergleich gemeinsam Pluto gerettet hatte – nahe beieinander obendrein, dann regten die Eltern sich nur wieder so schrecklich auf, weil sie sich nicht benehmen konnte, sich mit Unbekannten gemein machte, ihren Ruf ruinierte, doch bitte endlich einmal erwachsen werden sollte… und so weiter, bis ans Ende aller Tage. Das brauchte sie nicht unbedingt.

Also musste sie anders herausbekommen, was hier in dieser ereignislosen Gegend zurzeit geschah – wenn überhaupt! Wenn hier gar nichts vor sich ging, dann war der Wanderer, der sie wie eine lästige kleine Schwester behandelt hatte, wohl wirklich harmlos.

Warum nahm sie diesen Kerl (oh – aber Mama hörte es ja nicht!) eigentlich so wichtig? Das wusste sie selbst nicht und sie wollte auch gar nicht länger darüber nachdenken!

Aber wenn hier natürlich dubiose Dinge vor sich gingen, das wäre doch wirklich aufregend? Das würde die Langeweile ganz famos vertreiben! Sie müsste eben täglich spazieren gehen, natürlich mit einem angeleinten Pluto! Vielleicht könnte sie diesen Tom manchmal beobachten, aus sicherer Entfernung natürlich? Ob er hier dubiose Dinge trieb oder jemand anderer? Ja, oder eben gar keiner, das wäre natürlich betrüblich.

Mama würde sie jetzt natürlich wieder einmal als Kindskopf bezeichnen, aber das war sie schließlich gewöhnt. Mama war ohnehin unzufrieden mit ihr, das hatte schon bei ihrer einzigen Saison, vor zwei Jahren, begonnen.

Sie hatte nicht unbedingt nach London gewollt, auch, weil sie den Verdacht hatte, ihre Eltern wollten sie dort an den erstbesten Mann loswerden. Allerdings hatte sie das nicht laut gesagt, dann hätte es ja doch nur wieder geheißen, sie sei undankbar – und ob sie wisse, was das alles koste?

Dabei gab es Apple House ohnehin! Teuer waren nur diese affigen Rüschenkleider gewesen und die hatte sie doch nicht freiwillig getragen!

Tänzer hatten sich genug gefunden, aber besonders nett waren sie alle nicht gewesen, wenn sie sich recht erinnerte. Der einzige Bewerber, der bei Papa vorgesprochen hatte, hatte kaum noch ihren Namen gewusst, sich aber sofort nach ihrer Mitgift erkundigt, was Papa natürlich vergrämt hatte… ob der wohl eine Dumme gefunden hatte? Hoffentlich nicht, das arme Mädchen!

Jedenfalls war der Aufenthalt in London ein echter Reinfall gewesen, hatten die Eltern Bilanz gezogen. Lottie selbst hatte die Spaziergänge im Hydepark (mit Pluto, Mama und der Zofe) sehr schön gefunden und nur die vielen  Menschen dort eher als lästig bezeichnet. Dass man dort Bekanntschaften machte und sich auch aus Heiratsgründen sehen lassen musste, hatte Mama ihr zwar mehrfach erklärt, aber Lottie hatte ihre Haltung trotzdem nicht geändert.

Gut, dass sie keine zweite Saison mehr ertragen – erleiden? – musste. Hier war es wirklich schöner, auch wenn es keine Heiratskandidaten gab. Arthur Dering war der einzige, aber der war ja in Ginny Chambers verliebt und sie in ihn. Warum sich die beiden nicht endlich einig wurden und heirateten, verstand sie auch nicht.

Und den netten Sir Marcus hatte sich ja Arthurs Schwester gesichert – aber die beiden waren auch wirklich süß miteinander! Ansonsten gab es nur noch ihre eigenen drei Brüder, die dauernd an ihr herumerzogen, wenn sie mal zu Besuch kamen. Vermutlich hoffte Mama, dass sie auch einmal unverheiratete und wohlsituierte Freunde mitbrachten, aber bis jetzt war nichts dergleichen geschehen. Genierten sie sich für ihre kleine Schwester oder hatten die alten Langweiler gar keine Freunde?

Wenn George oder Freddy wieder einmal vorbeikamen, würde sie sie etwas genauer beobachten. Nach Heiratsplänen zu fragen, trüge ihr wahrscheinlich nur einen Anschnauzer ein – sie würde diskret ermitteln!

Mit neuer Energie sprang sie wieder vom Bett und setzte sich an ihren Toilettentisch. Im unteren Schubfach musste doch noch… da war es ja, ein hübsches in Samt gebundenes Tagebuch, noch völlig unbenutzt, denn irgendwelche Herzensergüsse waren nun gar nichts für sie – aber jetzt kam ihr das Büchlein sehr gut zupass!

Und obwohl sie nun wirklich nicht die große Schreiberin war, war wie durch ein Wunder die Tinte in dem winzigen Fässchen noch flüssig, wenn man mit der Feder ein bisschen herumrührte. Also notierte sie, dass sie George und Freddy bei ihren (seltenen) Besuchen im Auge behalten wollte, vielleicht waren sie ja gar nicht so langweilig und besserwisserisch? Bill war natürlich immer da, er war ja Papas Erbe, der dritte William – oder schon der vierte? Einfallslose Namensgebung, wenn man es recht bedachte.

Bill unterhielt sich bei Tisch eigentlich nur mit Papa und gelegentlich auch mit Mama, nie mit ihr. Sie hatte ihn allerdings auch nie angesprochen, weil sie ja dachte, er werde sie ohnehin ignorieren.

Vielleicht sollte sie bei den Mahlzeiten etwas lebendiger auftreten? Das war nur gar nicht so einfach, womöglich sagte sie dann etwas, was sie besser verschwiegen hätte, bevor sich wieder alle empören mussten… Worüber konnte sie denn sprechen? Über Pluto lieber nicht, das interessierte die Familie nicht besonders, sie hatten nicht nur einmal gesagt, dass er ein schlecht erzogener und ziemlich dummer Köter sei. Und dann war sie selbst nur wieder gekränkt!

Über diesen Tom schon dreimal nicht, das trug ihr womöglich noch Hausarrest ein… was könnte ihre Eltern denn erfreuen? Wenn sie vielleicht etwas für die Pächter tat? Mama Hilfe anbieten, notierte sie sich im Geiste, den Pächtern etwas bringen, sich nach Problemen erkundigen… Ja, das konnte funktionieren!

Und vielleicht Blumen schneiden, für die Vasen im Haus? Lieber nicht, da erwischte sie womöglich die falschen? Und die Gärtner ärgerten sich dann nur über sie… Ziegen füttern? Vielleicht…

Andere Mädchen machten doch auch nicht so viel falsch, was stimmte denn mir ihr nicht? Sie bemühte sich doch! War sie doch ein wenig dumm? So wie Pluto?

Keinesfalls, sie wäre jedenfalls nicht in diesen dämlichen Dachsbau gekrochen, um Dachse durch lautes Schnaufen zu erschrecken. Andererseits: Leine ohne Halsband? Keine Meisterleistung! Aber das kam natürlich nicht mehr vor, nachdem Pluto das Halsband ständig tragen musste!

Oder quälte ihn das?

Sie konnte Papa fragen, dann freute er sich, dass sie sich doch einmal Gedanken machte – oder?

Kapitel 7

Sir Marcus Pemberton war schon direkt nach dem Frühstück von Cedars aufgebrochen, um sich in Winchester mit jemandem wegen einer besonderen Ziegenrasse zu beraten. Trübes Wetter, stellte er fest und ließ seinen Prince gemütlich vor sich hin traben. Für die Ziegen hatte er schon eine geeignete Weide samt Stall bestimmt, nicht allzu weit vom Herrenhaus entfernt. Mary hatte sich auch sehr für Ziegen ausgesprochen, sie vertrugen sich mit Schafen, gaben gute Milch – und im Endeffekt auch guten Braten. Und sie waren recht günstig im Unterhalt!

Daneben hatten sie ja auch noch eine (kleine) Pferdezucht und viel Obst- und Gemüseanbau, vor allem bei den Pächtern, die damit nicht so schlecht verdienten, wenn sie ihre Erträge auf den Märkten der umgebenden Städtchen feilboten. Ja, Cedars stand jetzt schon besser da als zur Zeit seines Großonkels, der doch erst vor kaum einem Jahr gestorben war…

Und Mary bemühte sich auch sehr um Cedars, um die Pächter, um das übrige Personal – und natürlich auch um ihn… Er lächelte versonnen und ließ Prince laufen, wie er wollte.

Wer schlich denn da durch die Landschaft? Notgedrungen zügelte er sein Pferde etwas. Das Land rechts vom Reitweg musste zu Apple Hall gehören – oder? Ja, da war er ziemlich sicher. Dieser Mann in ledernen Reithosen und einem unauffälligen Reitrock, dazu noch einer Mütze, versuchte offenbar, in Deckung zu bleiben, aber so viel Gebüsch befand sich dort drüben eben auch nicht…

Und diese braune Kleidung hob sich eigentlich doch recht nett vom Rasen ab, das hatte der Mann wohl nicht so recht bedacht? Er beschloss, dort nach dem Rechten zu sehen und ritt auf diesen Mann zu, der ihn prompt erblickte und sich zügig in Richtung des Hurstschen Herrenhauses entfernte. Enttäuscht machte Pemberton wieder kehrt. Vermutlich bloß einer der Hurstschen Dienstboten, der sich kurz davongestohlen hatte!

Er kam auch an Apple Hall so vorbei, dass er das Herrenhaus genau sehen konnte. Wohlgepflegt, sowohl das Herrenhaus selbst als auch die Stallungen und das Gebäude, in dem das landwirtschaftliche Personal seine Unterkünfte hatte, sahen sehr sauber und einladend aus. Vorbildlich, da musste er auf Cedars noch weitere Verbesserungen vornehmen, bis er mithalten konnte! Zu zweit würden sie es schaffen – in ein paar Jahren sah Cedars genauso gut aus wie Apple Hall!

Normalerweise trieb sich zwischen den einzelnen Landsitzen niemand herum, den man nicht zuordnen konnte – die Herrschaften ritten aus und gingen (zumeist im eigenen Park) spazieren, die Gärtner hatten Rechen, Schubkarren oder anderes Gerät bei sich, Stallknechte brachten Pferde auf die Koppeln oder holten sie abends in die Ställe zurück, Besucher ritten herbei oder fuhren Gigs, Karriols oder Phaetons…

Nein, niemand hier fuhr einen Phaeton: teuer und etwas – nun ja – affig. Da fehlte es an abenteuerlustigen jungen Herren! Außer Marys jüngerem Bruder und den Söhnen auf Apple Hall waren ja alle bereits verheiratet und biedere Familienväter, das wäre doch ein Karriol schon ein gewagtes Fahrzeug!

Ach, es lohnte sich doch gar nicht, über diesen einen – vielleicht pflichtvergessenen – Menschen nachzudenken, als ginge es hier zu wie im Londoner East End!

Die Nachbarschaft war schön, geradezu idyllisch, die Nachbarn waren alle nett, denn das Geheimnis um die einzige etwas seltsame junge Frau war mittlerweile gelöst und diese junge Frau führte jetzt das Leben, das sie sich immer gewünscht hatte. Ende gut, alles gut… dann konnte er ja ganz unbelastet nach Winchester fahren und dort wegen der Ziegen verhandeln!