Ein undurchsichtiger Gentleman. - Catherine St.John - E-Book

Ein undurchsichtiger Gentleman. E-Book

Catherine St.John

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Beschreibung

Herbst 1818: Annabelle Horbury (vgl. Eine übereilte Heirat) steht kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Nachbarssohn Stephen Norton, dem künftigen Lord Norton. Beim Besorgen ihrer Ausstattung in London fällt ihr ein junger Gentleman auf, der ihr immer wieder über den Weg läuft und ihr zunehmend unheimlich wird. Als dieser Sir Ernest auch im ländlichen Kent auftaucht, beginnen ihre ganze Familie (auch der Cousin Viscount Hartford) und ein großer Teil der Nachbarschaft, den jungen Mann misstrauisch zu beäugen. Daraufhin scheint dieser zu verschwinden, aber Annabelles Erleichterung währt nur kurz: Sie wird in turbulente Ereignisse verwickelt und Stephen Norton, John Horbury, die jeweiligen Eltern, Viscount Hartford und einige weitere Gäste haben noch viel zu tun, um die Hintergründe aufzudecken.

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Imprint

Ein undurchsichtiger Gentleman. Historischer Roman

Catherine St.John

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.deCopyright: © 2019 R. John 85540 Haar

Cover: Edmund Blair Leighton: The Gallant Suitor

ISBN 9783750247581

Kapitel 1

Annabelle saß im gelben Salon in Beech House und stickte unkonzentriert an einem Taschentuch für ihren lieben Stephen. Das S hatte sie schon aus kleinen blauen Blümchen fertiggestellt und sie fand, es sei recht hübsch geworden, auch wenn sie sich da selbst loben musste.

Nun sah sie einige Momente lang versonnen vor sich hin und lächelte unwillkürlich, als sie an Stephen dachte. So stattlich, so liebenswürdig, so zärtlich… Noch einige Wochen, dann wäre sie mit ihm verheiratet und lebte mit ihm in Norton House. Sie könnten sich so oft küssen, wie sie nur wollten – und auch noch mehr… Bei diesem Gedanken war ihr Gesicht direkt etwas warm geworden, obwohl es in dem nach Norden gelegenen Salon mit seinem nur allzu dürftigen Kaminfeuer eher kühl zu sein pflegte.

Hoffentlich kam er bald aus York zurück, wenn er seine Geschäfte erledigt hatte! Konnte Lord Norton sich nicht einmal selbst um die Angelegenheiten seines Gutes und seines Vermögens kümmern, anstatt dauernd ihren Verlobten loszuschicken?

Sie klagte ihr Leid ihrer Mutter, als diese sich zu ihr setzte. „Aber Schäfchen, Stephen muss doch lernen, dies alles zu tun, schließlich ist er Lord Nortons Erbe! Er kann doch nicht nur hier sitzen und dir schöntun! Eines Tages muss er sich um alles kümmern, soll er dann völlig ahnungslos sein?“

„Nein, natürlich nicht, Mama. Ich weiß das ja selbst, aber ich würde ihn so gerne sehen! Mit ihm lachen, mit ihm sprechen, über unsere Zukunft, über – ach, über alles eben.“

„Das verstehe ich doch, aber du musst auch vernünftig sein. Deine Ehe wird sicher sehr glücklich werden, denn immerhin liebt ihr euch – aber eine ununterbrochene romantische Idylle solltest du dir nicht erwarten. Diese ewigen Romane, die du so gerne liest, zeigen schließlich nicht das wahre Leben.“

„Ja, Mama. Das weiß ich doch!“

Das klang nach einer Mischung aus Trotz und Langeweile, denn Annabelle hörte diese Ermahnungen schließlich nicht zum ersten Mal.

„In den nächsten Tagen sollten wir nach London fahren, um deine Ausstattung zusammenzustellen“, überlegte Lady Horbury. Prompt erwachten Annabelles Lebensgeister wieder. „London? Oh, wie nett! Können wir uns dort etwas ansehen?“

„Was würdest du denn gerne sehen?“, fragte Lady Horbury amüsiert zurück. Das Mädchen war zwar recht gescheit, aber manchmal doch noch etwas unreif, trotz ihrer fast zwanzig Jahre. Die Jüngste eben…

„Alle diese schönen Häuser, in denen der Adel wohnt… und die eleganten Läden.“ Sie seufzte unwillkürlich.

„Du weißt, dass gerade keine Saison ist? Wahrscheinlich stehen die vornehmen Stadthäuser in Mayfair zum größten Teil zurzeit leer. Niemand von unseren Bekannten weilt vermutlich gerade in London.“

„Natürlich weiß ich das. Johns Freund Hertwood ist doch auch schon nach Berkshire zurückgekehrt, das hat John mir erzählt. Lady Hertwood soll guter Hoffnung sein, heißt es… und Cecilia Herrion ist verlobt!“

Von dem verfänglichen Thema „guter Hoffnung“ wollte ihre Mutter rasch ablenken, bevor sie womöglich nach unschicklichen Einzelheiten gefragt werden konnte. „Ja, du hast Recht“, sagte sie also schnell, „und mit Lord Lynet obendrein.“

„Dafür hätte sie eigentlich gar nicht nach London fahren müssen, oder?“

„Warum sollte sie denn nicht? Vielleicht war sie sich einfach noch nicht ganz sicher, ob Lynet der Richtige ist.“

„Aber wenn man einen Mann liebt, weiß man das doch? Ich weiß doch auch, dass Stephen der Richtige ist, er ist so reizend zu mir, so klug und vernünftig - und er sieht auch so gut aus…“

Lady Horbury freute sich im Stillen, dass Annabelle so begeistert von Stephen sprach – eine Liebesheirat war doch immer schön. Außerdem war Stephen wirklich der richtige Gemahl für ihre manchmal noch etwas naive Tochter – nachsichtig, fürsorglich, beschützend und sehr, sehr verliebt. Auch Herkunft und Vermögen waren genau von der Art, wie man sie sich wünschte – also warum die Hochzeit verschieben? Gewiss würde Annabelle in der Ehe noch etwas reifen…

„Also fahren wir sobald wie möglich nach London, nicht wahr? Wir beide und John. Und meine Mary, die sich dort auch um dich kümmern wird. Ich werde Lady Norton fragen, ob es etwas gibt, was du nicht in die Ehe mitbringen musst, weil es in Norton House schon überreichlich vorhanden ist.“

Annabelle kicherte. „Tischwäsche, vermute ich. Die hält doch ewig - und in jeder Generation kommt ein Dutzend von allem dazu.“

„Da könntest du Recht haben“, antwortete ihre Mutter etwas abwesend und verließ leise murmelnd den Salon. Annabelle verstand nur Leibwäsche, Handtücher, Tageskleider…

Tageskleider – das klang interessant. Ein halbes Dutzend würde sie wohl brauchen, zusätzlich zu ihrer schon vorhandenen Garderobe. Die allzu mädchenhaften Gewänder sollte sie allerdings dann wohl hier lassen: Schluss mit weißen Rüschen, jetzt gab es kräftigere Farben! Und vielleicht sogar Seide… nein, nicht tagsüber, schade.

Lady Horbury musste, während sie sich im Morgenzimmer an eine Liste des Benötigten machte, zugeben, dass Annabelle, obwohl sie noch ein rechter Kindskopf sein konnte, doch immerhin praktisches Geschick hatte und durchaus imstande war, einen Haushalt zu führen. Sie hatte sie gut erzogen, lobte sie sich selbst. Und alles Übrige würde dann schon noch kommen, spätestens mit dem ersten Kind. Sie lächelte versonnen: ihr kleines Mädchen als Mutter… kaum vorstellbar!

Am Nachmittag besuchten sie die Nortons in Norton House, wo Annabelle sich sofort mit Susan Norton, ihrer jüngsten Schwägerin in spe, in eine Sofaecke zurückzog und aufgeregt von ihren London-Plänen zu wispern begann.

Susan quiekte begeistert, aber bevor sie Annabelle an ihrer reichen London-Erfahrung nach einer Saison teilhaben lassen konnte, mahnte die schreckliche Charlotte schon wieder: „Susan, nicht diese albernen Geräusche! Wie willst du so jemals einen Mann finden?“

Susan verdrehte routiniert die Augen zum Himmel. „Ich finde nicht, dass du die Richtige bist, mir Vorträge über das Einfangen eines Ehemanns zu halten!“

„Ich bin viel älter als – ach, wozu rede ich denn?“

Offensichtlich war ihr gerade eingefallen, dass sie zügig auf die Dreißig losmarschierte.

„Eben!“, gluckste Susan. „Ich hatte ja immerhin schon drei Anträge – und du?“

Charlotte fauchte etwas Unverständliches und stürzte aus dem Salon, wenigstens ohne mit der Türe zu knallen.

Lady Norton, rüde aus ihrem hauswirtschaftlichen Gespräch mit Lady Horbury gerissen, seufzte und schüttelte den Kopf, kommentierte aber das Verhalten ihrer uncharmanten Ältesten nicht weiter, schließlich war es ohnehin allen vertraut.

„Gut, dass sie weg ist mit ihrem Fasttagsgesicht“, tuschelte Susan sofort. „Pass auf, wenn du nach London kommst, gibt es die schicksten Modeläden in der Bond Street. Und dann soll ja der Pantheon Bazaar wieder eröffnet worden sein, den habe ich während meiner Saison leider verpasst. Und hast du schon einmal von Astley´s Amphitheater gehört? Die tollsten Vorstellungen!“

Lady Horbury schüttelte tadelnd den Kopf. „Liebe Susan, wir müssen Annabelles Trousseau zusammenstellen, da haben wir bestenfalls Zeit für ein wenig Kunst und einige Spaziergänge. Der liebe John wird uns begleiten. Aber Astley´s kommt gar nicht in Frage!“

„Schade.“ Susan zog ein enttäuschtes Gesicht, obwohl sie doch ohnehin nicht mit nach London reisen würde.

„Übrigens hattest du Recht, Annabelle“, wurde ihre Mutter wieder etwas milder, „Lady Norton hat mir bestätigt, dass es hier Tischwäsche gibt, die bis ins Jahr 1900 reichen dürfte.“

„Noch länger“, lächelte Lady Norton. „Bitte bring uns nur nicht noch mehr ins Haus. Schöne Handtücher wären interessanter. Ansonsten musst du nur deine eigenen Bedürfnisse erfüllen – Wäsche, Kleider, Schuhe, was man für das Landleben eben braucht.“

„Und wenn Stephen einmal mit ihr nach London fährt?“, rief Susan sofort dazwischen.

„Dann soll er ihr dort etwas nach der neuesten Mode kaufen. Dachtest du, sie werde sich den Rest ihres Lebens in ihre Aussteuergarderobe kleiden?“

Dem konnte Susan nicht widersprechen und zog entsprechend ein langes Gesicht.

„Ich möchte auch einmal wieder nach London“, verkündete sie, als sie sich wieder erholt hatte.

„In der nächsten Saison. Aber nur für einige Wochen“, gestand ihre Mutter ihr zu.

„Dann bin ich ja schon verheiratet“, stellte Annabelle mit verträumtem Lächeln fest.

„Meine Jüngste heiratet als erste“, kommentierte ihre Mutter stolz. „Aber das ist vielleicht nicht so verwunderlich, die Mädchen heiraten ja immer viel früher. Nun, John wird sich bald ein Beispiel nehmen – und Richard sollte natürlich auch…“

„Und ich auch!“, rief Susan sofort.

„Du nicht!“, verfügte ihre Mutter. „Du bist noch viel zu albern.“

Lady Horbury lächelte fein.

„Ich bin schon fast einundzwanzig!“, empörte Susan sich.

Annabelle kicherte.

„Jaja“, seufzte Lady Norton, „aber man sollte es nicht glauben, wenn man dich so herumalbern hört. Annabelle ist jünger als du und sie kann sich wie eine Lady benehmen.“

„Vergleichsweise“, schränkte Lady Horbury ein.

Annabelle und Susan verdrehten recht wenig ehrerbietig die Augen zum Himmel, aber die beiden Mütter, die eifrig die besten Beispiele für kindisches Verhalten ihrer Kinder, vor allem ihrer Töchter, verglichen und sich dabei ausgezeichnet amüsierten, bemerkten das glücklicherweise nicht.

Schließlich erwähnte Susan, dass sowohl die Spanielhündin Bella als auch die bewährte Mäusefängerin Kitty gerade Junge bekommen hätten.

„Oh! Oh, wie süß! Oh, darf ich die Kleinen sehen?“ Annabelle wandte sich bittend an ihre Mama, die sie mit einer großzügigen Handbewegung entließ – „wenn Lady Norton nichts einzuwenden hat?“

„Nicht doch! Geht nur, ihr beiden.“

Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen. Auf dem Weg zu den Stallungen, wo Bella und Kitty, wenn auch in verschiedenen Bereichen, ihr Wochenbett hielten, schnaufte Susan empört: „Ich bin doch nicht albern! Mütter sind wirklich schrecklich, nicht wahr?“

„Verständnislos“, stimmte Annabelle zu. „Sie wissen nicht mehr, wie es ist, jung zu sein. Meine Mutter ist ja auch schon bald fünfzig Jahre alt, also hat sie längst vergessen, was sie in ihrer Jugend gedacht hat.“

„Das muss ja auch eine Ewigkeit her sein“, murrte Susan. „Praktisch im Mittelalter!“

Annabelle, die genauso wenig wusste, wann das Mittelalter gewesen war, gab ihr Recht. „Du bist einfach nur lustig, Susan“, meinte sie dann. „Wie war es denn in London? Du hattest ja immerhin schon eine Saison dort!“

„Einerseits sehr amüsant, aber andererseits auch furchtbar anstrengend – die halbe Nacht tanzen, den ganzen Tag Besuche machen, herumfahren, einkaufen, Besuche empfangen… als wir nach Hause gekommen sind, wollte ich nur noch schlafen, am besten eine ganze Woche lang.“

Annabelle kicherte. „So ginge es mir wohl auch – aber ich muss ja nicht mehr nach London, um einen Mann zu finden. Nur noch, um meinen Trousseau zu besorgen. Ob das so lustig wird… aber Mama hat ja versprochen, dass wir uns auch einige Sehenswürdigkeiten ansehen werden. Und vielleicht ins Theater gehen… Hast du in London denn gar keinen passenden Gentleman getroffen?“

„Nun ja, durchaus einige – aber der Richtige war nun doch nie dabei.“

„Oh, erzähl doch!“

Susan kicherte, als sie Annabelle unterhakte und sie auf den Weg zum Stalleingang zog. „Einer war hoch in den Fünfzigern und suchte eine dritte Frau -“

Annabelle war entsetzt stehengeblieben. „Ein Sultan? Wie in diesem Roman, den wir heimlich gelesen haben? Die dürfen doch mehrere Frauen haben?“

„Unsinn, du Dummchen, die ersten beiden waren doch schon gestorben! Die erste hat ihm vier Söhne und drei Töchter geschenkt, die zweite zwei Söhne und vier Töchter. Dreizehn Kinder, zwischen vierzehn und einem Jahr alt… Da suchte er wohl eine Stiefmutter, aber das wäre mir wirklich zuviel geworden.“

„Dreizehn Kinder… das bringt ja obendrein auch noch Unglück!“

„Albernes Weib! Papa hat ihm gesagt, mit mir hätte dieser Sir Lawrence nur noch ein vierzehntes Kind. Hinterher hat er mir das brühwarm erzählt. Ich war regelrecht beleidigt!“

„Nett war es nicht - aber doch wirkungsvoll?“

„Glücklicherweise“, seufzte Susan. „Es gab noch zwei verarmte Barone vom Land, denen Papa nur sagen musste, wie bescheiden meine Mitgift ausfallen würde, um sie zu vertreiben, und einen wirklich süßen Jungen, den jüngsten Sohn eines Earls, der aber leider unfassbar dumm war. Papa hat gemeint, wir seien zusammen nicht imstande, unser Leben zu bewältigen. Damit hatte er wohl auch nicht ganz Unrecht. Nun, das Herz hat es mir nicht gebrochen…“

Sie hörten ein lautes Fiepen, was sie sofort von Susans glücklosen Bewerbern ablenkte. „Das ist Bella! Komm, sie hat vier kleine Welpen bekommen und einer ist niedlicher als der andere!“

Das war nicht zu bestreiten – Bella lag auf einer alten Wolldecke auf der Seite und wirkte eindeutig stolz, während zwei der Welpen eifrig tranken und die anderen beiden, noch fast blind, ziellos herumtappten und sich durch Fiepgeräusche zu verständigen schienen.

Die beiden Mädchen fielen voller Begeisterung in das Heu neben der Hündin und jede griff sich einen der beiden Welpen, die sofort die Hände beschnupperten und sie dann abzulecken begannen, was entzücktes Kichern hervorrief.

„So einen kleinen Hund hätte ich auch gerne“, seufzte Annabelle, „aber Mama mag keine Hunde im Haus.“

„Meine Mutter auch nicht. Aber vielleicht eine kleine Katze? Komm!“

Kitty lag mit drei noch ganz winzigen rot-weiß getigerten Babys in einer großen, gepolsterten Kiste am anderen Ende des Stalls, liebevoll bewacht von all den Pferden, die die Kiste genau im Blick hatten.

Kitty selbst war eine recht kleine graue Katze mit weißen Pfoten, was Annabelle erstaunte: „Die Kleinen sehen ihr ja gar nicht ähnlich!“

Die etwas weltgewandtere Susan zuckte die Achseln. „Sie sehen eben aus wie Tommy, der sich hier im Stall um die Mäuse kümmert.“

„Ich sehe gar keine Mäuse?“

„Ja, eben. Tommy ist wirklich fleißig. Kitty auch, wenn sie nicht gerade Babys hat.“

„Und er ist der Vater der Babys?“

„Ganz offensichtlich. Einen anderen roten Kater gibt es hier nicht.“

„Aha…“ Annabelle war sich nicht ganz sicher, ob sie alles verstanden hatte, aber sie wollte sich vor ihrer künftigen Schwägerin keine Blöße geben, sondern nahm lieber eines der blinden Babys auf und streichelte es vorsichtig. „Sie haben noch ganz runde Öhrchen… und sie piepsen, statt zu miauen!“

„Wahrscheinlich heißt das Piepsen Mama, wo bist du? Sie sehen doch noch nichts.“

„Ich werde Mama fragen, ob ich nicht so ein süßes Kätzchen haben darf“, beschloss Annabelle. Sie setzte das Baby zur Mutter, die sofort begann, es abzulecken, und erhob sich, um ihre Röcke auszuschütteln, bis kein Stroh mehr daran hing.

Ein sehr hübsches Anwesen war Norton House, das konnte man nicht leugnen. Alleine schon die prächtige Eichenallee, die vom Haus bis zur Straße führte, wo es außerdem ein ganz entzückendes Pförtnerhäuschen gab! Hier würde sie sich wohlfühlen, wenn sie erst einmal verheiratet war. Und Stephen liebte den Besitz auch von ganzem Herzen und war ein hervorragender künftiger Gutsherr… deshalb war er jetzt ja auch im Auftrag seines Vaters unterwegs. Mama hatte heute Morgen durchaus Recht gehabt, auch wenn sie ihren Verlobten vermisste, seufzte Annabelle im Stillen.

„Was hast du?“

„Ach, nichts. Es ist nur so schön hier… habe ich nicht Glück, dass Stephen um mich angehalten hat?“

Susan umarmte sie schnell. „Wir haben aber auch Glück, dass er dich gewählt hat! Stell dir vor, er hätte sich mit einer unangenehmen Person verlobt!“

„Ich fühle mich sehr geehrt – aber du wirst mir ja auch eine ganz liebe Schwägerin sein!“

„Lieber als Charlotte auf jeden Fall“, vermutete Susan mit einem Zwinkern. „Hoffentlich heiratet sie endlich mal einer weg.“

„Dieser Mann müsste dann aber eine sehr ernste Auffassung vom Leben haben“, überlegte Annabelle, was Susan sehr amüsierte.

Mittlerweile waren sie am Seiteneingang des Hauses angekommen und Annabelle ließ noch einmal ihren Blick schweifen. „Diese herrliche Eichenallee!“

„Die hat mein Urgroßvater anlegen lassen – wer ist das?“

„Wer? Wo? Wen meinst du?“

Susan zeigte wenig damenhaft zum Pförtnerhaus; dort stand ein Mann, der nun seinen Hut zog. Mehr war auf die Entfernung nicht zu erkennen – doch, jetzt verbeugte er sich und schritt die Landstraße entlang davon.

„Sicher einfach ein Spaziergänger“, vermutete Annabelle. „Ihm wird wohl auch die wundervolle Allee aufgefallen sein und er hat daraufhin nach dem dazu gehörenden Haus Ausschau gehalten.“

„Gut möglich“, antwortete Susan nachdenklich.

Kapitel 2

Wenige Tage später rollte der Wagen mit Lady Horbury, Annabelle und John durch die Londoner Straßen. Ihr Ziel war die Jermyn Street, wo John in Miller´s Hotel Zimmer hatte reservieren lassen.

„Ihr werdet natürlich zu jeder Zeit den Wagen haben können; ich werde mir für meine Zwecke hier ein Reitpferd mieten“, erklärte John, bevor er die Formalitäten im Hotel erledigte.

„Was wirst du denn hier unternehmen?“, fragte Annabelle ihren Bruder. Der sprach etwas vage von Geschäften und erwähnte Viscount Lynet.

Mit dem Kutscher, dem Kammerdiener Binns und der Zofe Mary benötigten sie immerhin einige Räume, was vom Hotelpersonal durchaus positiv aufgenommen wurde, ebenso wie die zahlreichen Gepäckstücke, die die Hausknechte ächzend auf die Zimmer beförderten: vornehme Gäste!

Während Binns und Mary sich um das Verstauen der Garderobe und der sonstigen Habseligkeiten kümmerten, berieten Lady Horbury, John und Annabelle die Pläne für diesen Nachmittag, denn so müde waren sie nach der nicht allzu langen Reise auch nicht, dass sie nicht noch etwas unternehmen wollten. Lady Horbury studierte die Liste der Geschäfte, in denen der nötige Haushaltsbedarf erworben werden sollte, Annabelle plädierte für den Besuch bei einer Modistin – Susan hatte ihr eine Madame de Rouaille empfohlen.

„Wie heißt die Dame?“, fragte John sofort. „Das kann man ja kaum aussprechen! Ich glaube nicht, dass das ihren Geschäftserfolg befördern wird.“

„Vielleicht hat sie das gar nicht mehr nötig?“

„Stell dir vor, du willst sie weiterempfehlen und stotterst bei diesem Namen – beim nächsten Mal sagst du dann lieber nichts mehr.“

Annabelle lächelte herablassend. „Ich spreche doch viel besser Französisch als du, also sehe ich da keine Probleme.“

„Kinder! Ich denke, wir kümmern uns heute um die Handtücher, die Lady Norton uns als sinnvoll benannt hat. Zwölf Dutzend, glaube ich – kräftiges Leinen. Und noch einmal sechs Dutzend für die Küche – etwas dünnere Qualität. Und alles muss ja noch mit deinem Monogramm versehen werden… nun, das kann vielleicht die gute Miss Spragge machen, die, die gleich bei der Kirche in diesem krummen Häuschen wohnt, nicht wahr?“

John blinzelte. „Miss Spragge? Dieses uralte verhutzelte Weiblein? Sieht die dafür denn noch gut genug?“

Seine Mutter bedachte dies kurz und nickte. „Vielleicht kann auch das Leinengeschäft dies gleich erledigen – du hast Recht!“ Dann fuhr sie mit ihren Erwägungen fort: „Ich überlege gerade, ob die Nortons auch gerne hätten, dass du Bettwäsche mit in die Ehe bringst… ich sollte Lady Norton vielleicht eine Nachricht schicken…“

Sie erhob sich und setzte sich an den Schreibtisch, wo eine vorausschauende Hotelleitung elegantes Briefpapier, Tinte, eine Auswahl Federn und alles andere Nötige bereitgestellt hatte.

Annabelle und John wechselten einen erheiterten Blick, dann flüchtete John aus dieser beklemmend hausfraulichen Atmosphäre.

Annabelle blieb auf dem Sofa sitzen und überlegte, dass Bettlaken, Handtücher und Tischdecken wirklich jede Romantik im Kein ersticken konnten. Und wenn jede Braut zwölf Dutzend Handtücher nach Norton House mitgebracht hatte, dann musste es dort ja Berge über Berge davon geben! Handtücher verbrauchten sich doch nicht?

Sie wagte es, diese Frage ihrer Mama vorzulegen, als diese mit ihrem Brief fertig war und mit Streusand und Siegellack hantierte.

Lady Horbury drehte sich nur kurz zu ihrer Tochter um: „Sie werden mit der Zeit dünn, wie du dir doch denken kannst. Pass auf, ich beauftrage einen Boten, diesen Brief nach Norton House zu bringen, und dann machen wir einen netten kleinen Spaziergang, mit Mary natürlich. Oxford Street, dort gibt es die meisten Leinenhändler. Nun setz bitte ein anderes Gesicht auf, Kind! Es geht um deine Ausstattung, nicht um mein spezielles Vergnügen!“

„Ja, Mama.“ Sie fand das in Aussicht gestellte Unternehmen aber trotzdem wenig aufregend.

Eine halbe Stunde später stand sie mit Mary in der Hotelhalle, während ihre Mutter einem der Hotelboten ihren Auftrag erteilte.

Gäste traten ein und eilten hinaus, Pagen liefen, um Gepäck zu tragen und Getränke zu servieren – und am Fenster zur Seitenstraße saßen einige Herren, die abwechselnd das Treiben auf der Straße beobachteten und dann wieder die Damen in der Halle beäugten – sogar mit Lorgnon!

Annabelle drehte ihnen entrüstet den Rücken zu und ihre Mutter zischte, als sie die Gentlemen – Gentlemen? – bemerkte: „Unerhört! Komm, mein Kind! Mary!“

Sie folgten Lady Norton, die aus jeder Pore Missbilligung verströmte, nach draußen auf die Jermyn Street. „Sind wir gut zu Fuß?“, fragte ihre Mutter draußen. „Wir könnten den Wagen nehmen oder die Regent Street nach Norden gehen und dabei nach schönen Geschäften Ausschau halten.“

Das gefiel Annabelle nun wieder besser: „Modistinnen?“

„Unter anderem“, hielt ihre Mutter sich etwas bedeckt. „Dann wollen wir doch mal sehen, was wir alles ausfindig machen können!“

Sie marschierte munter vorneweg, so zügig, dass Annabelle kaum mehr als einen Blick in die verlockenden Schaufenster am Wegesrand werfen konnte. Immerhin konnte sie sich einen Laden merken: Mademoiselle Rosalie´s Paradise, alles in rosa dekoriert und mit einigen wunderhübschen kleinen Täschchen und Schals geschmückt. Hier musste sie morgen unbedingt noch einmal hin! Notfalls nur mit Mary, falls ihre Mutter immer noch mit Handtüchern beschäftigt sein sollte…

Handtücher waren öde!

„Annabelle, trödle nicht so! Du bist doch kein kleines Kind mehr – und es geht um deinen künftigen Hausstand!“

„Das ist doch immer noch Lady Nortons Hausstand! Oder glaubst du, sie und Stephens Vater ziehen ins Dower House und überlassen uns das Herrenhaus?“

„Nein, natürlich nicht. Das wäre ja auch albern. Aber sie könnten es umgekehrt arrangieren, nicht wahr? Möchtest du dann nicht eigene Handtücher und Haushaltswäsche haben?“

Annabelle zuckte die Achseln. „Alte Handtücher würden mich nicht stören, solange ich hübsche Nachtwäsche habe. Und sauber wird ja in Norton House wohl alles sein!“

„Das, meine naive Tochter, wird davon abhängen, wie gut du dein Personal im Griff haben wirst. Ich fürchte, du hast in den nächsten Wochen noch einiges zu lernen!“

Das wurde mit einem unwilligen Laut quittiert: Musste sie jetzt etwa ihrer Mutter auf Schritt und Tritt durch alle Obliegenheiten des Haushalts folgen? Sie wusste doch schon, wie man einen Haushalt führte und die Dienstboten richtig behandelte!

Andere Passanten wurden schon aufmerksam auf die diskutierenden Damen. Nur Mary stand stumm dabei, aber einige junge Männer schenkten Annabelle anerkennende Blicke und zogen zum Teil sogar den Hut. Ein strenger Blick Lady Horburys brachte die meisten zur Raison, aber einer, ein wirklich recht gut aussehender junger Mann mit blonden Locken, grünen Augen und einer aufregend bunt gestreiften Weste, zwinkerte ihr doch tatsächlich unverschämt zu, bevor er seinen Biberhut noch einmal schwenkte.

Annabelle reckte die Nase etwas höher und folgte eilig ihrer Mutter, Mary im Gefolge, die sich noch einmal neugierig nach dem frechen Kavalier umsah.

Hatte sie ihm so gut gefallen? Annabelle eilte so in Gedanken versunken weiter, dass sie beinahe in ihre Mutter hineingeprallt wäre, die an der Ecke auf sie gewartet hatte.

„Also bitte, Annabelle! Nun nimm dich doch endlich einmal zusammen und zeig wenigstens ein notdürftiges Interesse an deinem künftigen Hausstand. Was bitte soll Stephen von dir denken? Du bist zwar noch recht jung, aber du kommst schließlich nicht gerade aus dem Schulzimmer. Benimm dich also deinem Alter angemessen!“

Annabelle ließ den Kopf sinken. „Ja, Mama.“ Sie schämte sich tatsächlich, denn sie liebte doch Stephen – und dennoch dachte sie über einen hübschen, aber unverschämten Fremden nach?

Aber wenn Mama aus dieser Verlobung auch etwas so Langweiliges wie den Erwerb von Handtüchern machte!

Sie folgte Lady Horbury entsprechend lustlos in einen Laden zu Beginn der Oxford Street, wo sie aber die Auswahl an den feinsten Leinentüchern schließlich doch fesselte – ein wenig zumindest. Als ihre Mutter zwölf Dutzend der besten Qualität orderte und zugleich darum bat, sie alle mit AH zu besticken, wurde es sogar ausgesprochen interessant, denn es gab eine große Auswahl an Stickvorlagen und Annabelle stürzte sich enthusiastisch in eine Diskussion über die eleganteste Monogrammgestaltung. Sie entschied sich schließlich für eine schlichte, aber schwungvolle Buchstabenform und wählte die gleiche Form auch für die sechs Dutzend Küchenhandtücher, die mit einem hübschen blauen Rand angeboten wurden. Allerdings gab es diesen Rand auch in Rot…

Annabelle versank in Gedanken und entschied sich dann doch für Blau: „Immerhin ist es Stephens Lieblingsfarbe!“

„Du meinst, falls er sich tatsächlich einmal in die Küche verirren sollte?“ Lady Horbury tauschte mit der Leinenhändlerin einen erheiterten Blick.

„Das kann man doch nie wissen“, verteidigte Annabelle sich sofort. „Ich liebe Blau übrigens auch – und du kannst nicht bestreiten, dass ich mich von Zeit zu Zeit in der Küche sehen lassen muss, oder?“

„So lange ihr keine zuverlässige Haushälterin habt und einen entsprechenden Butler, gewiss. Nun, immerhin verstehst du etwas von der feinen Küche, wenn auch noch nicht vom Leinenbedarf eines vornehmen Haushalts. Gut, Mrs. Barclay, dann nehmen wir die zwölf Dutzend Waschhandtücher und sechs Dutzend Küchentücher mit blauem Rand. Sie schicken alles, mit Monogrammen versehen, bitte nach Beech House in Kent. Ich schreibe Ihnen die genaue Adresse auf…“

Annabelle, schon wieder gelangweilt, sah sich im Laden um. Gab es hier nichts wirklich Interessantes? Schöne Nachtwäsche zum Beispiel? Aber aus kratzigem Leinen wollte sie auch keine Nachthemden mehr tragen – einer jungen Ehefrau sollte Seide zukommen, fand sie. Mama sah das leider bestimmt wieder anders…

Lady Horbury hatte ihre Verhandlungen beendet und sah sich nach ihrer Tochter um. „Wir kehren zum Hotel zurück – und morgen besuchen wir vielleicht den Pantheon Bazaar, dort finden wir bestimmt einige nette Kleinigkeiten für dich, mein Kind.“

Das munterte Annabelle wieder beträchtlich auf, aber sie hatte auch selbst einen Vorschlag zu machen, nämlich Mademoiselle Rosalie´s Paradise. „Daran kommen wir auf dem Rückweg doch ohnehin vorbei! Oh bitte, Mama! Das Schaufenster sah wirklich verlockend aus!“

„Nun, meinetwegen. Sollte es nicht zu unpassend sein, können wir ja wohl einen kurzen Blick riskieren.“

Annabelle war drauf und dran, ihrer Mutter mitten in der Oxford Street um den Hals zu fallen – Lady Horbury konnte sie gerade noch bremsen: „Kind, wie alt bist du eigentlich? Sieh dich um, wir erregen schon wieder die Aufmerksamkeit der Menschen! Nun benimm dich so gesittet, wie wir es dir beigebracht haben – oder wir werden an diesem Paradise einfach vorbeimarschieren!“

Annabelle sah sich, mäßig geknickt, um und blickte in aufmerksame Gesichter. Die meisten Leute wandten sich rasch ab, als sie sich ertappt sahen, aber da war schon wieder ein junger Gentleman, der seinen Hut zog: Gab es in London so viele von diesen gleich aussehenden Männern? Alle in blauem Gehrock und sandfarbenen Pantalons? Alle eher hellhaarig und recht hübsch? Nun, alle? Gerade einmal zwei – der dritte war ja daheim in Kent aufgetreten, am Ende derEichenallee von Norton House.

Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu und gelobte Besserung, aber wenige Minuten später betrachtete ihre Mutter kopfschüttelnd das Schaufenster von Mademoiselle Rosalie´s Paradise. „Wie außerordentlich – äh – rosa“, äußerte sie dann schwächlich. „Willst du dich in diesem Laden wirklich umsehen?“

„Oh bitte, Mama!“

Drinnen musste sie aber zugeben, dass das Sortiment nicht so recht überzeugen konnte; die Schals waren direkt fadenscheinig, das Rosa zu grell, die Stickereien nachlässig gemacht – und das kleine Hutsortiment wenig kleidsam und dafür recht überladen. Unzufrieden reichte sie der Inhaberin, einer auch etwas zweifelhaft aufgemachten Frau in mittleren Jahren, den letzten Hut, den sie aufprobiert hatte, zurück und bedankte sich.

„Du hattest Recht, Mama“, gab sie draußen zu, halb aus ehrlicher Überzeugung, halb, um ihrer Mutter zu zeigen, dass sie geläutert war. Lady Horbury reagierte darauf auch mit dem verdienten Unglauben, schließlich kannte sie ihre Jüngste seit nunmehr gut zwanzig Jahren und wusste, wann sie taktierte. Ob sie damit bei ihrem Zukünftigen wohl Erfolg haben konnte? Oder hatte sie dort ein solches Verhalten nicht nötig?

In der Hotelhalle verkündete sie, sie sei erschöpft und werde sich bis zum Dinner zurückziehen; ihrer Tochter empfehle sie das gleiche.

„Und heute Abend beim Dinner wirst du dich tadellos benehmen!“

„Gewiss, Mama.“

„Du wirst nicht dauernd den Kopf drehen, um die übrigen Gäste zu inspizieren!“

„Gewiss nicht, Mama.“

„Du wirst nur mit Leuten sprechen, die sich mir oder deinem Bruder vorgestellt haben!“

„Gewiss, Mama.“

„Und deine Konversation wird nicht derartig monoton sein!“

„Gew- natürlich nicht, Mama.“

Annabelle erntete noch einen scharfen Blick, dann wurde sie in ihr Zimmer geschickt, wo sie aufs Bett sank und sich ärgerte. Nichts durfte man als Mädchen, außer sich nach strengen Regeln zu verhalten und so sterbenslangweilig zu sein. Ein Wunder, dass man so überhaupt einen Mann finden konnte!

Bestimmt hatte es Stephen vor allem gefallen, wenn sie nicht ganz so brav gewesen war! Sie erinnerte sich an seine Küsse und spürte, wie das wohlige Gefühl dabei ihre Wangen warm werden ließ.

Ach, jetzt das Hotel verlassen und sich ein wenig die Umgebung ansehen! Völlig unmöglich, natürlich – jenseits des gemeinsamen Wohnzimmers ruhte Mama in ihrem Schlafzimmer und wahrscheinlich räumte auch Mary irgendwo herum…

Wie waren wohl die anderen Gäste in diesem Hotel? Lohnte es sich, ein besonders schönes Kleid anzuziehen und die dunkelbraunen Löckchen nach der neuesten Mode zu frisieren? Würde Mama ihr Mary dafür überhaupt zur Verfügung stellen?

Welches Kleid? Mary hatte immerhin auch ihre Garderobe schon eingeräumt und Annabelle schwankte zwischen einer weißsilbernen Abendrobe und blassrosa besticktem Musselin. War das Weißsilberne nicht ein wenig übertrieben, eher in einen Ballsaal passend als in einen Speisesaal? Dann eben das rosa Gewand, es war schließlich auch sehr hübsch… oder das cremeweiße mit der grünen Stickerei? Ach, sie würde wohl noch mehrmals im Hotel essen, dann konnte sie doch alle ihre Kleider ausführen. Heute – rosa.

Wie lange würden sie denn wohl in London bleiben? Nachdem das Leinen bestellt war, gab es doch gar nichts Dringendes mehr zu tun? Wollte Mama ihr wirklich einen Bummel durch die Modegeschäfte erlauben oder sie möglichst schnell nach Kent zurück schaffen? Andererseits hatte sie ihr den Pantheon Bazaar doch beinahe sicher versprochen – und Mama nahm Versprechungen nie zurück!

Sie ließ sich zurückfallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Was könnte sie in diesem Bazaar denn erwerben? Ihr Nadelgeld hatte sie zwar mitgenommen, aber das waren gerade einmal sechs Guinees. Aber musste Mama nicht bezahlen, was für die Ausstattung nötig war?

Ach herrje – nötig? Darüber würde es noch endlose Diskussionen geben und wenn die anderen Kundinnen dort auf sie aufmerksam wurden, hieße es bestimmt wieder, sie habe sich nicht so benommen wie es einer Miss Horbury zukam.

Der Kronleuchter war eigentlich recht hübsch. Sie seufzte: Sogar wenn sie im Dower House einen eigenen Haushalt einrichten durften, gab es garantiert schon in jedem Raum eine traditionsreiche Beleuchtung – ohne Gas natürlich, auf dem Land? Hier in London gab es bestimmt schon Gaslicht!

Auf dem Kaminsims stand eine Uhr, deren Zeiger halb fünf anzeigten. Zuhause gäbe es jetzt Tee… sie spürte, wie ihr Magen knurrte (was man natürlich nicht laut sagen durfte, wenn man nicht als vulgär gelten wollte) – aber vor dem Dinner war wohl nichts Essbares zu erwarten…

Sie schloss die Augen und fühlte das Wegdämmern, ohne sich dagegen zu wehren: Was sollte sie hier denn auch anderes anfangen?

„Miss?“

Sie öffnete unlustig ein Auge und erkannte Mary.

„Miss, es ist Zeit, sich zum Dinner umzukleiden. Sie möchten das Rosafarbene tragen? Und einen Schal dazu?“

„Ja… ja. Herrje, hab ich einen Hunger. Oh, schon fast acht? Du lieber Himmel, wie spät isst man denn in der Stadt?“

„Es ist sehr vornehm, spät zu essen, Miss“, wusste Mary. „Die feinen Herrschaften gehen ja danach noch auf Bälle, die halbe Nacht lang, und stehen am nächsten Morgen erst kurz vor dem Lunch auf.“

„Furchtbar“, murmelte Annabelle und erhob sich, herzhaft gähnend.

„Miss!“

„Keine Angst, das mache ich doch nicht in der Öffentlichkeit. Also, rosa und Schal… haben wir den cremeweißen mit der Blumenstickerei mitgenommen?“

„Natürlich, Miss.“

Mary half ihr dabei, in das rosa Kleid zu schlüpfen, löste dann ihre zerzauste Frisur, bürstete die glänzenden dunklen Locken und steckte sie ordentlich wieder auf. Einige Löckchen wurden so arrangiert, dass sie Annabelles Gesicht hübsch umtanzten, dann legte Mary ihr vorsichtig den Schal um die Schultern und ging, sich um Lady Horbury zu kümmern.

Kapitel 3

Beim Dinner sah Annabelle auch ihren Bruder wieder, der seiner Mutter flüchtig die Hand küsste, „Siehst nett aus, Belle“, murmelte und dann zusah, wie den Damen die Stühle zurecht gerückt wurden.

Annabelle hielt sich sehr gerade und bemühte sich, sich nicht im Speisesaal umzusehen, schließlich hatte sie ja Mama versprochen, sich untadelig zu benehmen. Immerhin schien der Speisesaal gut besucht zu sein, das lebhafte Stimmengemurmel konnte man auch bemerken, wenn man mit dem Rücken zum Saal saß.

„Nun, John, was hast du unternommen?“

„Ich war ein wenig in meinem Club, wo sie mich tatsächlich getadelt haben, weil ich so selten in der Stadt sei. Einige meiner Bekannten saßen dort, aber manche hatten schon zu dieser Tageszeit reichlich den Erfrischungen zugesprochen.“

„Ist das schlimm?“, erkundigte Annabelle sich. „Darf man tagsüber nichts trinken, auch wenn man durstig ist?“ Zur Unterstreichung hob sie ihr Limonadenglas.

„Ich meinte alkoholische Erfrischungen“, erläuterte John nachsichtig. „Tee oder dieses süße Zeug kann man natürlich immer trinken, aber diese Tröpfe waren schon lange vor dem Dinner kaum noch imstande, einen klaren Satz herauszubringen oder auch nur einigermaßen gewandt aufzustehen. Das ist dann schon recht peinlich, finde ich.“

„Gab es interessante Neuigkeiten?“, wollte Lady Horbury wissen.

„Kaum“, bedauerte John. „Die Lage seit dem Tod von Prinzessin Charlotte ist ja schon allgemein bekannt, und bis jetzt hat man noch nicht gehört, dass jemand einen Ersatz – äh.“ Er brach ab, als er sah, wie fasziniert Annabelle lauschte.

„Und dann“, fuhr er hastig fort, „diskutieren manche immer noch über den Tod dieses grässlichen Lynet – erinnert ihr euch noch?“

„Er war wirklich gemein zu seiner armen Tochter – aber die ist ja nun verheiratet“, sinnierte Annabelle.

„Und darüber, dass sich ein reicher Geschäftsmann aus der City als Lynets Bruder und Erbe gemeldet hatte.“

„Hielten sie ihn etwa für einen Hochstapler?“ Lady Horbury war erstaunt.

„Nein, sie wissen ja, dass er der echte Bruder ist, schließlich haben Hertwood und die kleine Melinda ihn anerkannt – und Margaret, die Witwe, auch. Aber manche Leute müssen eben immer Klatsch verbreiten und Entwicklungen hinterfragen.“

„Du zum Beispiel“, merkte Annabelle an und löffelte zierlich ihre Suppe.

John lachte, bevor seine Mutter Ermahnungen aussprechen konnte. „Jedenfalls hat das Vermögen dieses Benedict de Lys dem heruntergewirtschafteten Besitz nur gut getan. Er muss wirklich sehr, sehr reich sein.“

Lady Horbury schauderte. „Das Haus hat in den letzten Jahren ausgesehen, als stürze es gleich in sich zusammen… aber sonst gab es nichts Interessantes? Etwas Neueres vielleicht?“

John überlegte. „Nein. Im Club gab es einige neue Gesichter, die mir aber schon sehr jung und unerfahren erschienen sind. Zwei waren anscheinend mit älteren Verwandten gekommen, ein anderer suchte offenbar jemanden, der aber nicht anwesend war.“

Er kicherte kurz. „Ich dachte, dieser – wie hieß er? Pendleton, glaube ich - breche gleich in Tränen aus, so dass wir uns ein wenig mit ihm unterhalten mussten, um ihn aufzumuntern. Der reinste Milchbart, aber durchaus sympathisch.“

„Dieser Mr. Pendleton – hat er gute Beziehungen?“

John sah seine Mutter einigermaßen erstaunt an: Annabelle war doch schon untergebracht? „Das weiß ich nicht. Er ist Sir Ernest Pendleton – du kannst ihn ja überprüfen lassen. Ich glaube ohnehin nicht, dass ich ihm noch einmal begegnen werde. Morgen treffe ich mich mit zwei alten Bekannten bei Tattersall, sie möchten meine Beratung beim Pferdekauf – und übermorgen: Sind wir dann überhaupt noch in London?“

„Das hängt davon ab, ob wir alle unsere Vorhaben bis dahin erledigt haben, nicht wahr, Annabelle?“

Annabelle sah auf. „Wie bitte – ach so, ja, Mama.“

Die fromme Antwort trüg ihr einen misstrauischen Blick ein, den sie voller Unschuld erwiderte: Jetzt hatte sie doch gar nichts angestellt?

„Wir könnten morgen Abend ins Theater gehen“, schlug John da vor. „Es soll eine reizende Komödie geben.“

„Woher weißt du das?“, wollte seine Mutter sofort wissen.