Raubfischer in Hellas - Werner Helwig - E-Book

Raubfischer in Hellas E-Book

Werner Helwig

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Beschreibung

1. Teil der Hellas-Trilogie von Werner Helwig Meer haben wir genug. Inseln und verlassene Küsten haben wir genug. Wind ist immer brauchbar, gleich, woher er kommt. Und will er nicht, dann rudern wir. Von unserem Kiel bleibt keine Spur, weil wir ohne Ölmotoren fahren. Man könnte uns hören. Wir müssen leise sein, denn wir sind Jäger und Gejagte zugleich. Unser Meer ist frei und weit und hat viele Verstecke. Wo wir fahren, ist unser Weg. Und der Weg ist ohne Ende. Alles wurde uns Weg auf unseren Meeren. Wenn wir aber ein Ziel haben, sind wir auf der Flucht. Denn wir sind Raubfischer. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Werner Helwig

Raubfischer in Hellas

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Glaubensbekenntnis der RaubfischerErster TeilErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelZweiter TeilFrevel der FischereiNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes KapitelDreiunddreißigstes KapitelVierunddreißigstes KapitelFünfunddreißigstes KapitelZu dieser Ausgabe

Glaubensbekenntnis der Raubfischer

Meer haben wir genug. Inseln und verlassene Küsten haben wir genug. Wind ist immer brauchbar, gleich, woher er kommt. Und will er nicht, dann rudern wir.

Von unserem Kiel bleibt keine Spur, weil wir ohne Ölmotoren fahren. Man könnte uns hören. Wir müssen leise sein, denn wir sind Jäger und Gejagte zugleich.

Unser Meer ist frei und weit und hat viele Verstecke. Wo wir fahren, ist unser Weg. Und der Weg ist ohne Ende. Alles wurde uns Weg auf unseren Meeren. Wenn wir aber ein Ziel haben, sind wir auf der Flucht. Denn wir sind Raubfischer.

Wir schleppen nicht Netze durch das Wasser, wir legen keine Grundangeln, wir sind nicht nachdenklich wie die Christenfischer vom See Genezareth: unser Teil ist die Jagd auf den Fisch, die verbotene Jagd, die Jagd mit Dynamit.

Und während wir mit unseren Bomben die riesigen Hochzeitsschwärme der goldenen, schwarzen und silbernen Fische verfolgen, ist der Staat hinter uns her, liegt er mit bewaffneten Motorbooten hinter uns auf der Lauer. Denn seit wir in Erscheinung traten, wir Fischräuber und Satansfischer, verfällt die Fischweide unserer himmelblauen Gewässer, wird die Beute der friedlichen Netz- und Angelfischer geringer von Jahr zu Jahr.

Aber wenn auch manch einer von uns in die Gefängnisse geworfen wird, wenn auch manchem das Boot beschlagnahmt wird, oder Geldstrafen fällig werden, die einer sein ganzes Leben lang nicht beibringen kann, wenn auch manchem von uns durch Fehlzündung einer Dynamitpatrone die Hand weggerissen wurde: – wir schmeißen doppelt soviel Bomben, um den Verlust wieder einzubringen; wir jagen weiter auf unsere teuflische Art. Wir rotten aus. Nach uns die Leere.

Was kümmert uns das Wohlergehen der Nächsten, ja der eigenen Kinder und Kindeskinder! Wir sind hier, und das Fieber der Jagd hat unsere Bedenken ausgelöscht. Wir sind dem Bombenwerfen und seiner Fährnis verfallen, wie der Spieler seinen Karten, wie der Säufer seinem Schnaps, wie der Türke seinem Glauben.

Ahoi, wenn wir mit spähenden Raubtieraugen dem Fischwild nachfahren, leise rudernd. Ahoi, wenn uns das Herz im Hals klopft vor Jagdbegier, weil die Fläche des Meeres kocht und brodelt von spielenden Fischmännchen, die ihre samengefüllten Bäuche in der Sonne funkeln lassen.

Dann brennt uns die Patrone in der Hand, dann können wir nicht abwarten, bis die Zündschnur zischt; dann müssen wir alle Sinne zusammenreißen, damit es gelingt, Zündung, Wurf, Aufschlag und Explosion auf die Sekunde richtig zu verteilen.

Haben wir nicht ein Gesicht ausgebildet, einen Typ, einen ganzen Berufsstand? Und kaum zwanzig Jahre sind wir erst da. Laufen in unseren Küsten- und Inseldörfern nicht Unzählige mit verstümmelten Händen, mit zerrissenen Gesichtern umher? Gibt es nicht schon einen Robbenmenschen ohne Finger, ohne Nase und Ohren in Venetos, der nach den erschlagenen Fischen taucht, wenn sie unter Wasser sinken vor Schwere und Fett ihrer Bäuche? Rudert er nicht mit seinen Armstümpfen wie mit Flossen? Reiht die Beute mit einer Sacknadel, die er zwischen den Zähnen hält, auf einen Faden und bringt sie als Halskette herauf, ein goldgelber blitzender zuckender Schmuck von Fischen auf seiner schwarzen Fellbrust?

Selbst Gott ist gegen uns und will nicht unseren Frevel. Von Jahr zu Jahr verringert sich das Wild in unseren Gewässern. Länger müssen wir ausharren vorn im Bug des Bootes, spähend und lauschend. Gott schickt uns keine Schwärme mehr.

Aber wir Raubfischer haben unsere List. Will Gott auch nicht – wir wollen immer! Und so erfanden wir die teuflische Malagria. Wir kennen die Kolke, in denen die junge Fischbrut steht und sich sonnt. Wir schlachten sie ab mit einem Bombenwurf, streifen sie ab wie Rahm mit unserem Handnetz von der Wasserfläche und verreiben sie zwischen Steinen, Salz und Sand zu einem Lockbrei, den wir an den altbewährten Fangstellen für die Großen ausstreuen. Der ganze grünschwarze Meeresboden glitzert dann silbern von dieser Speise. Und schon nach Stunden kommen sie, denen wir nachstellen, schon abends sind sie da, haben den süßen Fraß gewittert und werden träge und dumm von müheloser Völlerei. Dann aber zischt schon das faustgroße Dynamitgeschoß in unserer Hand, dann klatscht es aufs Wasser, und die Lunte zieht einen dünnen Rauchbogen durch die Luft. Dann zerbersten ihnen die Schwimmblasen von der Gewalt der Explosion. Und auf der Seite treibend, mit hilflosen Flossenbewegungen, fallen sie dem Tod in den gierigen Hamen. Rasch, ehe sie zu Boden plätschern und verrecken, raffen wir sie zusammen, rasch, ehe unser Bruder Haifisch, der den dumpfen Knall schon kennt, herangeschossen kommt, mit uns um den Fang zu raufen.

Das volle Sacknetz hat er uns schon von der Stange gebissen, und es nützt nichts, daß wir mit Harpunen nach ihm stechen. Grinsend läßt er sich unsere Ernte schmecken, schlägt die Fischleichen mit schmiegsamen Schwüngen seines Schwanzes aus den Klüften des steinigen Bodens und happst mit seinem Freßmaul zusammen, was wir schon nach Gewicht und Wert abschätzten und unter uns verteilten nach Verkaufserlös.

Mit vielerlei Mitteln weiß der Herr unserer List zu begegnen. Aber wir bleiben unserem Beruf treu. Und machen wir trotz allem einmal den großen Treffer, erhaschen wir auf einen Schlag tausend Oka Fisch: noch kein Sterblicher hat einen Raubfischer reich gesehen. Wie Sand rieselt uns der Erlös durch die Finger. Der Herr hat mit mancherlei Mitteln gesorgt, daß wir immer arm und elend blieben. Er legte uns das Kartenspiel in den Weg, er sorgte, daß die Schänken Tag und Nacht geöffnet sind. An den Zahlen und Zeichen bunter Papptäfelchen entflammt unsere Raubgier sich zum Fieber, und die schwarze Glut unserer Weine macht schmelzen, was an Metall in unseren Taschen klimpert.

Oft bleibt uns kaum so viel übrig, daß wir neuen Sprengstoff von unseren Freunden, den Gruben- und Steinbrucharbeitern, erhandeln können. Und wer bedroht uns niederträchtiger als die Kaufleute, bei denen unsere Familien in der Kreide stehen? Viele Mittel ersinnt der Herr in seiner Weisheit, um uns zu quälen. Aber treu bleiben wir uns selbst und um des Raubes willen der Raubfischerei. Denn nicht für uns haben die nachdenksamen Christenfischer vom See Genezareth gepredigt. Nicht für uns starb der Herr am Kreuze. Für uns hat niemand gelitten. Aber um uns leiden viele. Und das nehmen wir auf uns. Jassuh!

Erster Teil

Erstes Kapitel

»So müßte das Glaubensbekenntnis der meisten griechischen Fischer lauten, denn es gibt nur wenige, die nicht mit Dynamit arbeiten, und noch wenigere, die es aus Vernunft ablehnen«, schloß mein Freund Clemens seine leidenschaftliche Darlegung. Er hielt einen Augenblick im Rudern und Reden inne, um sich mir zuzuwenden. Ich sah aufmerksam in sein hageres feierliches Gesicht. Seine etwas starren Augen waren von schweren Lidern halb bedeckt. Ein struppig-roter Spitzbart machte das Kinn länger, als es ohnehin war.

»Und eigentlich sind alle Fischer auf diesen gesegneten Meeren daran schuld, daß es soweit gekommen ist«, fügte er hinzu.

Ich nickte stumm zu seinen Worten, war erst vor drei Tagen aus der deutschen Ordnungswelt plötzlich ins Hellenische hinübergewechselt, und nun drang alles zu bunt und unverständlich auf mich ein, als daß ich es hätte begreifen oder gar Stellung dazu nehmen können. So verlegte ich mich aufs Abwarten, ließ die Dinge herankommen.

Wir fuhren mit dem Agios Nikolaos am wellenschallenden Schluchten- und Höhlenstrand des Pelion-Osthanges vorbei. Clemens hatte hier irgendwo Grundangeln liegen. Er ruderte stehend, nach hiesigem Brauch. Stieß mit Wucht den schweren dickbäuchigen Fischerkahn von Schlag zu Schlag vorwärts und ließ nicht ohne Selbstgefallen die Muskeln seines nackten Oberkörpers spielen.

Der Abend wölbte sich indessen. Der Mond stand am Himmel wie in einer Höhle, lächelte mit schmalster Sichel. Die grünschwarz versponnenen Berge verschoben sich fortwährend im Vorbeifahren wie die Rücken einer dichtgedrängten Herde. Das Meer warf lange schaumlose Wogen. Über den östlichen Horizont war der Wind mit scharfem Kehrbesen gegangen und hatte rötlich glimmende Strichspuren hinterlassen. Die langen dicken Riemen schnitten ins Wasser, drehten sich, kamen tropfend hoch, schlitzten zurückgezogen flach über die Wellen hin, tauchten wieder ein.

Ich dachte über meinen Freund nach.

Sein Name war in der ganzen griechischen Inselwelt schon Begriff. Oft hatte ich ihn nennen hören, seit meiner Ankunft in Athen. Und immer mit einer gewissen Achtung. Seine Kraft und sein Mut wurden mir gerühmt. Sein Meistertum in allen Arten der christlichen, der pflegsamen Fischerei.

Während ich damals, von der Hafenstadt Volos aus, mit Mühe einen Weg über den Pelion suchte, um nach Zagora zu kommen, wo mein Freund mich verabredungsgemäß erwartete, war es oft nur der Hinweis auf ihn, durch den ich von Hütte zu Hütte gewiesen, teils sogar geleitet wurde, bis ich – abends angekommen auf der Platia jenes festlich schönen Dorfes – von einem fremden rotbärtigen Manne, der mit langen Schritten auf mich losstürmte, empfangen wurde.

Clemens und ich waren Schulkameraden gewesen, hatten uns in einem kleinen deutschen Alumnat bis zum Abitur durchgequält. Er als gebürtiger Grazer, ich als Hamburger, konnten wir in nordsüdlicher Herzensgemeinschaft aus unseren grundverschiedenen Anlagen in jeder Weise Gewinn ziehen.

Nach zehn Jahren nun hatte der abenteuerliche Clemens sich meiner erinnert, hatte über die Adresse des Alumnates an mich geschrieben und mich eingeladen, ihn in seiner neuen Heimat zu besuchen.

In Hamburg lag sein Brief eines Tages vor mir auf dem Tisch. Ungeheuer erstaunt und von Erinnerung bedrängt, sah ich mehr eigentlich seine steilen altvertrauten Schriftzüge (die immer aufmarschierten wie eine Knüppelgarde) als das, was sie besagen wollten. Kurz entschlossen machte ich mich bald darauf für einen Monat frei und reiste südwärts.

*

Die langen dicken Riemen schnitten ins Wasser, drehten sich, kamen triefend hoch, schlitzten zurückgezogen flach über die Wellen hin, tauchten wieder ein.

»Wie ich ausgerechnet hierherkam, soll ich dir erzählen«, beantwortete Clemens meine Frage, indem er über die Schulter zu mir sprach, »hm … es gehört viel Vorgeschichte dazu. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich schon damals im Alumnat schwer zu bändigen war, daß ich mehrmals auskniff, aber wieder eingefangen wurde, ohne weiter als bis an die Landesgrenze gekommen zu sein. Auch weißt du noch, daß ich nach dem Abitur mein Sparbuch umsetzte und direkt nach Hellas abfuhr. Gegen den Willen meiner Eltern. Seitdem haben wir wohl nichts mehr voneinander gehört.

Ähnlich wie du kam ich damals in Athen an. Nur, daß ich außer ungewissen Absichten keinerlei Ziele vor mir hatte. Die Akropolis kam mir vor wie ihr eigenes Modell. Eine Spielerei aus Zuckerwerk gegen das, was ich mir vorgestellt hatte. Da konnte ich fühlen, daß mich die Tempel nicht lockten. Die Tempel und alle Trümmer des klassischen Hellas. Ich suchte etwas anderes …

Der Golf von Volos war mir ein Begriff durch die Argonauten. Ich wollte sehen, ob es sich dort leben ließe. In diesem Golf sind keine Tempel, aber viele kleinere und größere Inseln.

Erwartungsvoll stand ich vorn im Bug des Dampfers und witterte in die Gegend. Hinter uns lag Euboia, westlich vor uns Othrys und Achaia, östlich Trikkeri, Spalauthra, Methone, der Pelion. Ich versuchte herauszubekommen, ob hier irgend etwas für mich bereitgestellt sei. Ganz blaß wurde ich vor Anstrengung, das große Ungewisse zu zerstören, zu lösen. Es blieb ungewiß.

In Volos stieg ich nachmittags aus. Aß in einer Taverne und hörte nicht auf die Reden der Leute, sondern nur auf die Unzufriedenheit meines Herzens. In einem Rucksack trug ich Kleider und Wäsche bei mir. Er war mir sehr lästig. Ich verkaufte ihn. Mit einem Brot unterm Arm stieg ich anderentags zum Pelion hinauf. Oben frühstückte ich mit einem Hirten. Er bot mir Oliven und weißen Käse. Seine vielköpfige Ziegenherde umklingelte uns auf dem besonnten brüchigen Kahlschlag. Mir wurde schon wohler.

Gegen Abend kam ich in Zagora an. Du kennst es und weißt, daß man dort viel vergessen kann. Auch sich selbst.

Von dort unternahm ich täglich, mit der brennenden Neugier eines Fährtensuchers, ausgedehnte Streifzüge in die Pelion-Wildnis. Abends saß ich mit eleganten Griechen im Kaffee auf der Platia. Wir bewegten uns in den Formen langweiliger gebildeter Unterhaltung, aber ich brachte dabei mein klassisches Griechisch fleißig in die neugriechische Fassung.

Die mich berieten, sagten, daß es von Zagora gen Norden zu Lande unmöglich wäre, weiterzukommen. Man könnte höchstens mit einem Boot unten an der Küste entlangfahren. Aber das sei zu gefährlich angesichts eines tückischen und unberechenbaren Meeres. Fiele einem der Wind in die Flanke, wo solle man Schutz suchen, wo landen? Außerdem, in den wenigen, gar nicht nennenswerten Dörfern dieses Küstenstrichs wären nur Messerhelden und Raubfischer zu finden, – also Leute, die gefährliche Sitten hätten. Unerfreuliche Leute.

Wie eine Helligkeit fiel mir das ins Herz. Ich stand auf und verabschiedete mich von meinen zagoraischen Freunden … Lächelnd verabschiedete ich mich, winkte ihnen noch lange in die verdutzten Gesichter. Es war Anfang Herbst, eine ähnliche Zeit wie heute. Mit dem Duft reifenden Weins auf allen Feldern. Der Wald durchgrünte und verzauberte mich. Ich folgte einem zugewachsenen, kaum erkennbaren Pfad, der in den verpönten, gefährlichen, den unwegsamen Norden führte.

Das Geheimnis des Pelion durchflutete mich, während ich wanderte. Das letzte, was ich sah, war das Häuschen eines im Ruhestand lebenden begnadigten Räubers. Selbst dieser noch versuchte mich zurückzuhalten. Aber ich war wie eine Lawine ins Rollen gekommen. Ohne daß mich Müdigkeit befiel, im Gegenteil, überwach, in bangender Erregung eilte ich Täler hinunter und steile Felsen hinan. Eine moosgrüne Urwelt in vollem Aufruhr war um mich versammelt. Das Brausen der unübersehbaren Wälder trug mich wie ein Meer. Die plötzliche Stille von honigduftenden Schluchten war von dem Brausen meines eigenen Blutes erfüllt. Alles schien sich in Wogen zu brechen, innen und außen.

Eine Spalte, als wenn der Teufel mit dem Hackbeil dreingeschlagen hätte, hielt mich endlich auf. Ein Bergbach stürzte sich hier abwärts und raste schäumend dem Meere zu.

An schroffen Wänden hätte ich emporklimmen müssen, um den Bach an seinem Ursprung zu umgehen. Aber eine Gruppe großer windbewohnter Platanen ließ mich anderes wittern. In ihrem Schutz schwang sich eine natürliche Felsenbrücke über die ganze Breite der Schlucht. Gewölbt wie ein Katzenbuckel. Die Brückenköpfe diesseits und jenseits waren von einer hundertjährigen Baumwache nahezu versperrt. Dennoch ließen winzige Merkmale die Spur eines alten verschollenen Weges erkennen. Steinplatten lagen regelmäßig. Ein Mauerrest verriet sich unter Moos und Flechten. Von schwindelnder Höhe des Steinbogens sah ich hinunter in die irr tosenden Fluten. Der Boden schien unter meinen Füßen hinwegzuziehen. Ich erkannte in jenem Augenblick, was ich brauche, um Frieden zu fühlen: Unsicherheit und Kampf.

Mit dem Spürsinn eines Wilden suchte ich die Bruchteile dieses verschollenen Weges zu verknüpfen und stand, nachdem ich den Steinplatten nachtastend lange durch starkes Unterholz gekrochen war, plötzlich im Ruinenbereich einer alten Stadt. Lichtungen breiteten sich in die Wildnis wie von ehedem bebauten Feldern. Häusermauern, rinnende Brunnen und mittendrin ein aus grauen Steinplatten gefügter Platz, von dem aus ich zwischen Zypressenstämmen und Platanen auf das Meer hinabsah, das sich fern und tief unter mir in wolligen Nebeln bewegte.

In einer Mauernische fand ich einen halbzerschlagenen Krug. Zwischen verrotteten Blättern lag, wie für mich bewahrt, ein Kupferring.«

Clemens streckte mir seine Hand hin, ich betrachtete gespannt einen plumpen Reifen mit tief eingekerbter dreischenkliger Swastika.

»Ich glaube«, lachte er, »der Pelion gab ihn mir damals zum Zeichen unseres ewigen Bündnisses.«

Er ließ einen liebenden Blick über die Bergrücken hingleiten, die in sanften Hebungen und Senkungen, Verse einer Hymne, dem Küstensaum folgten.

»Damals«, fuhr er fort, »fand ich unweit der Ruinenstadt eine kleine byzantinische Kapelle. Sie kam mir gut zustatten, denn es war Abend geworden, und die Schluchten füllten sich langsam mit Kühle. Es war klug gewesen, daß ich unterwegs Edelkastanien aufgelesen hatte. Jetzt konnte ich sie an einem kleinen Feuerchen braten und verzehren. Sehr still umfing mich der Raum des hüttenhaften christlichen Heiligtumes. Quer vor dem Eingang eine sturmgestürzte Eiche. Ihre Wurzelverknäuelungen waren wie ein ganzes Höhlenwerk aufgerichtet.

Aus den Bildern und Inschriften des Altars ging hervor, daß dies ein alter heiliger Eichbaum sei, der Maria geweiht. Die primitiven Meßgeräte, die ich vorfand, ließen auf kürzliche Benützung schließen. Harzkörnchen klebten im Weihrauchkessel. In der Ewigen Lampe war ein Ölrest. Ich zündete sie an. Sie ließ ein sanftes andächtiges Licht auf die schwarzgoldene Ikone fallen. Mit aller gebührenden Achtung und Frömmigkeit legte ich einige der größeren Holztafeln auf den Steinfußboden, um darauf trocken und halbwegs warm zu schlafen. Mit meiner Jacke deckte ich mich zu. Das Ewige Licht ließ ich glimmen. Es blinzelte mich an wie ein freundliches Auge. Ich bat die Muttergottes um Verzeihung, weil ich auf den Rücken ihrer Heiligen schlief, und dankte ihr, daß sie mir diese freundlichen, demütigen Rücken als Bett gewährte. Beruhigt in der Hoffnung, bei niemand eine Beleidigung zurückgelassen zu haben, schlief ich bald fest ein.

Vom Anhauch erster Morgenkälte geweckt, eilte ich rastlos weiter nach Norden zu. Es war weit vor Tag. Die Luft roch wie Schnee, obwohl Spätsommer war. Der Morgenstern stand wie ein goldener Schopf über dem Meer. Aus dem Blätterdickicht sickerten die ersten schüchternen Morgentöne der Vögel. Kaum gewagte fragende Zwitschereien. Auf einem nackten Bergkegel erwartete ich die Ankunft der Sonne.

Mein Herz war aufgesprungen wie eine Nußhülse. Ich funkelte inwendig vor Seligkeit. Die Sonne ging auf. Aber sie erschien gespalten. Sie klaffte auseinander. Der dunkle erschreckende Einschnitt wich mit dem Steigen langsam von ihr, blieb als Berg auf dem Meer zurück und war, wie ich später erfuhr, der heilige feierliche Athos.

Wieder und wieder fand ich verwilderte Felder. Nuß- und Kirschbäume von grauem Dornendickicht durchwoben. Feigenbäume, die voller tropfender schwarzer Früchte hingen. Einmal kam ich an einem gespenstischen Riesenbaum vorbei. Er war rot überblüht. Sein Laub schien schwarz vor Dichtigkeit und Lederartigkeit des Grüns. An seinem Stamm lagen Totenköpfe, braun und gelb, moosübersponnen, mürbe wie Blätterteig.

Am dritten Tage meiner Wanderung hielt mich wieder eine Schlucht auf. Aber der Wald war hinter mir zurückgeblieben. Ich stieg über silbergraues, wie Scherben klickerndes Gestein. Niedere dornige Büsche fleckten dunkel das helle Erdreich. Dazwischen wuchs eine Art verdorrten Heidekrautes, krüppeliges Gestrüpp – jedoch von einem starken süßen Geruch, den die Mittagssonne ausbrütete.

Senkrecht abfallende Felswände stellten mich vor neue Entschlüsse. Eine Umgehung schien zeitraubend, kein Weg führte außen herum. Die Zerklüftung war gar nicht absehbar, reichte bis in die Tiefe des Landes. Ich folgte dem Schluchtensaum nach dem Meer hin, schob mich auf den Ellenbogen an den Rand. Unten lag ein Boot auf dem etwa fünfzig Fuß breiten Sandstrand eines winzigen natürlichen Hafens. Das Meer streckte hier einen krummen Zipfel in das hohle Ufer.

Sofort ließ ich mich auf den Abstieg ein. Wo ein Boot liegt, müssen auch Menschen sein. Wie eine Schnecke legte ich mich mit der ganzen inneren Leibfläche an die Wände und kletterte von Zacke zu Zacke abwärts. Oft ausgleitend im spröden messerscharfen Geröll. Endlich unten angelangt, sprang ich zu dem Boot hinüber, sah zu meiner größten Überraschung frisch angeschnittenes Brot unterm Vorderdeck liegen. Hungrig griff ich danach, hörte mich aber plötzlich halblaut von jemand angesprochen. Die Stimme war ganz nahe hinter mir. Ich hatte beim ersten Umblick keine Menschenseele gesehen und schreckte nun zusammen wie ein ertappter Dieb.«

Zweites Kapitel

Clemens schwieg. Zog ein Ruder ein, hob das andere. Alles drehte sich um uns, grüner Silberhimmel und schwarzes Gold der Berge. Der Abend war dicht geworden, ein feines Gewebe aus Duft, Rauschen, Planschgelächter der Brecher.

Er steuerte einen gelben umschnürten Flaschenkürbis an, der auf den spitzen dunklen Wellen hüpfte, stieg nach vorne ins Boot, wies mich an die Ruder. Ich konnte die schweren, unter den Handenden verdickten Riemen kaum meistern. Er lachte mich vergnügt aus, während er den Schwimmer einer Grundangel ins Boot hob und mit ihm zugleich die lange, starke Leine nachzog. Endlich kam ein Stein hoch, an den zwei weitere dünne Schnüre geknüpft waren. Dann straffte sich das Ganze. Clemens setzte einen Blechzylinder auf die Wasserfläche, der unterwärts eine Glasscheibe trug. Lange schaute er damit angestrengt auf den Meeresgrund. Seine Hand führte indessen die Schnüre hin und her. »Der eine Angelhaken hat sich unten zwischen den Steinen festgebissen«, erklärte er, »an dem andern ist Beute.«

Mit einer langen Stange ordnete er, immer durch den Zylinder schauend, die für mich unsichtbaren Verhedderungen. Schließlich hatte er den Haken frei. »Fehlt nur noch der zweite.« – »Eine Muräne«, hörte ich ihn rufen, als er plötzlich energisch anzog und einen etwa zwei Meter langen schlangenähnlichen Fisch an die Oberfläche brachte.

Schwarz und gelb gescheckt, muskulös wie ein Männerschenkel, schoß der Gefangene im Wasser hin und her. Clemens hakte ihm die Harpune hinters Auge und hob ihn mit der Fangschnur zusammen ins Boot.

Aufgeregt folgte ich allen seinen Handlungen. »Paß auf« – brüllte er mich an und hieb mit einer benagelten Holzkeule nach dem zappelnden, um sich beißenden Tier – »die reißt dir glatt ein Stück Fleisch aus der Wade!« Ich sprang aufs Verdeck, um ihm nicht im Wege zu sein. Und als die Muräne sterbend ihr stachliges Maul herausstülpte, zeigte er danach, murmelte: »Seeschlange heißt man sie hier, Smernis.«

Spottenden Auges nahm er die Ruder und steuerte der nächsten Kürbisboje zu. Ich mußte achtgeben, daß mir keines seiner Worte entging; in der Nähe des Steilstrandes verlor sich jeder Laut in dem wilden atmenden Brausen der Brandung.

»Sieh dort, meine Hochzeitskammer«, sein Kopf zeigte seitwärts nach einer domhaft gewölbten Höhle, in deren Mitte ein schräges Felsenbett aus dem Wasser ragte. Unverkennbar das Prunkgemach eines urweltlichen Gottes, mit barock herabhängenden Tropfsteinfransen. »Genau zur Wintersonnenwende neigt sich die Sonne mit ihren ersten Strahlen über jenes Lager. Ich habe sie schon manches Jahr dort zur Hochzeit erwartet … Das Meer lag wie ein Teppich aus blauem Licht unter mir und erleuchtete den ganzen Raum.«

Er trieb das Boot langsam weiter. Das hohle Schluchzen der Wellen folgte uns – verlor sich langsam. »Erzähle weiter«, rief ich, als es stiller geworden war.

»Nen, mas wiasi kanenas«, erwiderte er mit ruhiger Stimme auf Griechisch: – Nur nicht drängen …

Mir schien, ihn habe eine plötzliche Unlust befallen. Sein Interesse war bei der Gegenwart. Der Himmel, das Wasser, die Bewegung des Bootes fesselten ihn völlig. Es sah aus, als prüfe er sorgfältig den Geschmack all dieser Dinge, als sauge er tiefen unbegreiflichen Genuß aus ihnen. Ich wollte ihn nicht stören. Dennoch siegte meine Neugier. Ich richtete mein aufmerksames Lauschen fühlbar gegen sein Schweigen. Er gab nach.

Drittes Kapitel

»Ein Mann stand hinter mir – hatte ich gesagt, nicht wahr? Eigentlich ein Kerl, ein Finsterling mit Katzenaugen. Sein Gesicht war mit schwarzem Bart bewachsen wie mit Moos. Im Gegensatz zu sich selbst flötete er mich mit gemachter Mädchenstimme an: ›Na, mein Schätzlein, was machst du denn hier?‹ Dabei war der Ausdruck seiner Haltung sehr drohend.

Ich brauchte eine halbe Minute, um mich von diesem Überfall und von dieser Tonart zu erholen. Dann fand ich das angemessene Wort. Mit gleichgültigster Stimme erwiderte ich: ›Ein Spaziergänglein.‹

Der Schwarze brach in brüllendes Gelächter aus. Ich benutzte den Umstand und reichte ihm meine Hand hin. Er mußte sie wohl oder übel nehmen.

Unser Wortwechsel lockte einen ganzen Verein von Wald- und Wasserteufeln herbei. Ich begrüßte jeden, was blieb mir übrig, mit Handschlag und mit einer Herzlichkeit, als träfe ich alte Bekannte. Durchweg redete ich sie je nach Alter mit Exadelfe (Vetter) oder Barba (Onkelchen) oder Bapu (Großpapa) an. Wobei ich meine Schätzung nach den Bartverhältnissen einrichtete. Die ganze Gesellschaft war in fröhlichem Aufruhr über mein ›Spaziergänglein‹.

›Pos xepesis sado‹, fragten sie: ›Was hat dich da an Land getrieben?‹

›Rewma che aerides‹, antwortete der Häuptling für mich: ›Strömungen und ungünstige Winde.‹

›I mira mu ean thellis, filus‹, korrigierte ich ihn mit ersten Brocken meines eben erlernten Neugriechisch: ›Mein Schicksal, wenn du willst, Freund.‹

Man schlug sich auf die Schultern, lachte dröhnend und schilderte einander von neuem die Geschichte meiner Auffindung.

Daß ich hungrig war, müde, verschrammt und zerfetzt, wurde endlich doch bemerkt. Man reichte mir einen Beutel goldgelben Tabaks. ›Dreh dir eine Zigarette.‹ Ich setzte mich auf einen Stein, rauchte und gab Bericht.

›So, so, von Zagora kommst du‹, sagten sie. ›Hast Mizella entdeckt, den Ort der tausend Räuber …?‹

Und sie erklärten mir, was es mit der seltsamen Ruinenstadt auf sich habe. Das sei ein Seeräubernest gewesen, das jahrelang von der Kaperung türkischer Handelsschiffe gelebt habe. Dann hätten sie aber unglücklicherweise ein Schiff des Sultans selbst erwischt. Der habe eine Strafexpedition ausgerüstet und furchtbar Gericht gehalten. Es gehe die Sage, nur einer sei damals lebend entkommen, wäre nach den westlichen Ländern geflohen und dort mit seinem geretteten Gold ein reicher Händler geworden. Etwa neunzig Jahre sei das alles her. ›Und du‹, fragten sie mich, ›kommst aus jenem Lande, wo jener hinfloh? Stöberst hier in den Ruinen herum? Suchst am Ende einen Schatz, wie?‹ Sie lachten dröhnend. Ich aber erschrak. Mir war, als höben sich Schleier, als läge das Bild meiner Unruhe plötzlich halb enträtselt vor mir.

Ich habe später wegen dieser Räubergeschichten Nachforschungen angestellt. Sie sind nicht ohne Wahrheit. Griechenland war lange Zeit türkisch. Nur die Stadt Mizella behielt ihre Unabhängigkeit, weil sie für die türkischen Staatsbeamten etwas unbequem gelegen war.