22,99 €
Empathie und Mitgefühl sind Eigenschaften, die Rudolf Gerhardt für elementare Bausteine des Lebens hält. Sie sind es, die den Alltag für ihn so lebendig machen. Er betrachtet die Menschen in seiner Umwelt mit wachem, teilnehmendem Interesse, freut sich über ihre Erlebnisse oder lässt ein wenig von ihrem Kummer in sich hinein. Daraus werden dann seine Feuilletons, die inzwischen in zahlreichen Bänden gesammelt sind. Eine wahre Fundgrube ist für ihn der Gerichtssaal, in dem großes und kleines Schicksal in Paragraphen eingehüllt ist, hinter dem meist aber auch das Menschliche sichtbar wird. Auch wenn er von den Fällen nur hört oder liest ohne dabei zu sein, wird seine Fantasie lebendig. So sind auch die 77 in diesem Band gesammelten Texte entstanden: Dinge, die alltäglich sind, deren Folgen aber oft weit über den Tag hinaus reichen, große und kleine Schicksalsfälle aus der Fundgrube der Gerechtigkeit.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2019
Rudolf Gerhardt
Recht so?
Rudolf Gerhardt
Recht so?
77 Geschichten aus der Fundgrube der Justiz
Tectum Verlag
Rudolf Gerhardt
Recht so? 77 Geschichten aus der Fundgrube der Justiz
© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018
ePub: 978-3-8288-7169-4
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4271-7 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlagabbildung und weitere Abbildungen: © Lutz Busching
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Wenn es gegenwärtig einen Rechtsfeuilletonisten gibt, so ist es Rudolf Gerhardt. Unter diesen Gattungsbegriff fallen nicht Juristenwitze oder -anekdoten, sondern heiter-ernste Betrachtungen von aktuell entschiedenen oder jedenfalls typischen Fällen, meistens des täglichen Lebens. Ihnen wird ein kleiner Mehrwert an Einsicht abgewonnen. Nicht selten liegen die Fälle in jener Randzone, in der dem Meer des Lebens gerade neuer Rechtsboden abgewonnen wird, in dieser Sammlung z. B. das Tier in der Entwicklung zum Rechtsträger. Oder es geht mehr um Fug oder Unfug an der Grenze zu Recht oder Unrecht, so in Fällen des Verhaltens des Gerichts und vor dem Gericht. In dieser Hinsicht nähern sich Gerhardts Bücher einer Fallsammlung solcher Fälle, die sonst nicht systematisch erfasst werden. Ein anderer Schwerpunkt ist Anfang und Ende, Auf und Ab von Partnerschaft und Ehe, weniger die graue Theorie als des Lebens grüner, blühender und welkender Baum.
Lutz Busching, der Illustrator dieses Buches, wird es verstehen, wenn ich mein Vorwort dem Andenken der früh verstorbenen Imma Setz widme. Sie hat zahlreiche frühere Bücher ihres Ehemanns illustriert.
Heinz Holzhauer
Inhaltsverzeichnis
Das Lächeln der Menschen
Euro-Primel
Auf Heller und Cent
Spiele mit dem Leben
Das Recht auf Irrtum
Liebe und so
Museales Gebinde
Stumme Gespräche
Beipackzettel fürs Leben
Nest voller Geborgenheit
Wie geht’s?
Korken und Kronen
Flirt mit der Amsel
Och nischt los
Vom Bellen und Kläffen
Nachruf auf die Krawatte
Willkommene „Falschmeldung“
Das Geld des kleinen Mannes
Liebe, Mond und Sterne
Die Welt im Weichzeichner
Wie man Musik erlebt
Ein kritischer Vergleich
Das Licht im Wirtshaus ist aus
Das Lächeln der Justiz
Müsse muss mer könne derfe
Ein märchenhafter Kuss
Justiz mit Herz – oder ohne
Selbsternannter Zeuge
Die Anwaltsrobe als Litfasssäule
Wortwechsel
Streit um die Morgengabe
Justiz mit Herz
Liebe, sozialverträglich oder: „Wie die Liebe die Gesellschaft verjüngt“ oder: Die Rolle der Liebe in der Sozialpolitik
Hausrat, oder was?
Spaß am Rauchen, Spaß mit Rauchen
Wissen, Nichtwissen, Vergessenwerden – Ein weites Feld
Papageien als Lebenspartner
„Halt im Leben, oder wo sonst?“
Ein Maulkorb im Büro?
Froschkönig im Ehebett
Was soll die Rute im Gerichtssaal?
Guter Ton im Gerichtssaal
Juristische Liebespoetik
Friedenstauben in Selbstverteidigung
Von „Tätern“ und „Täterinnen“
Wein als Kapitalanlage
Es lebe die Emanzipation
Episoden des Rechts
Wenn der Lack ab ist
Die Waffe der Definitionsmacht
Schmerzensgeld für Tiere
Risiken und Nebenwirkungen
Beipackzettel der Hoffnung
„Wann soll mein Klient denn einbrechen?“
Vertrauen ist Vertrauenssache
Kein Urteil des Paris
Vorsicht! Menschen!
Die „Gebrechen der Justiz“
Eheliche Pflichten, und so
Und mich fragt keiner
Gerichtstracht im Ausland
„Grundordnung des gezügelten Lasters“
Kein Rohrstock für den Richter
Recht auf den Nachklang
Bürger-Wut, Bürger-Mut
Keine Aussicht auf Scheidung?
Neue Jugend für Erde und Mond
Wer verliert, der zahlt?
Wenn der Ehe-Schleier fällt
Wann Musik zum Lärm wird
Tiere als Lebensrisiko
Temperament und Ehrverletzung
Die Kunst des Wegsehens
Wie, bitte, soll ich Dein „Nein“ verstehen?
Kampf um die Küche
Böse Nachbarn, gute Nachbarn
Eheschließung nur zum Spaß?
Recht auf Parallelehe
Scheidung auf Probe
Das Lächeln der Menschen
Euro-Primel
Da blüht sie noch immer, die kleine gelbe Primel in ihrem irdenen Topf. Und sie blüht vor allem deshalb, weil ihr Durst nach Wasser immer gestillt wird, und weil alle Blütenblätter sorgfältig entfernt werden, die „ausgeblüht“ sind. Ihr Anblick macht jeden Tag von neuem Spaß, auch deshalb, weil er ein preiswertes Vergnügen ist. Neunundsechzig Cent kostete das kleine Blumenwesen, da kann man doch wirklich nicht meckern.
Weshalb eigentlich der Gedanke ans „Meckern“? Er war der Frau kurz durch den Kopf gegangen, als sie vor vielen Jahren Primeln in demselben Geschäft gekauft hatte. Das war kurz nach der Einführung des Euro, und da konnte man mit Staunen feststellen, wie einfach diese Währungsumstellung offenbar war. Bis zu diesem Tag hatte die Blume 69 Pfennig gekostet, und – Simsalabim – fortan 69 Cent. Die Käuferin musste zugleich nachdenklich feststellen, dass sich ihr Gehalt über Nacht leider halbiert hatte.
Jede Sache hat drei Seiten: Eine gute, eine weniger gute und eine komische, das hat der geniale Komiker Karl Valentin schon vor Jahrzehnten herausgefunden. Was hat diese Primel damit zu tun? Also, nicht so gut war diese Währungsreform auf kleinster Ebene, aber gut ist es, dass sich der Preis der Blume in den vergangenen Jahren nicht verändert hat: 69 Cent, so steht es noch immer auf dem Schild vor der Pflanze. Und was lernen wir daraus? Gerade in diesen Tagen gibt es Sorgen um den Euro, um Europa ganz allgemein, um die Gefahr einer Inflation und unsere „blühende“ Wirtschaft. Von alledem weiß die kleine Blume nichts – sie blüht einfach unverdrossen vor sich hin, zum gleichen Preis.
Na ja, ganz so einfach ist das dann doch nicht: Wie gesagt, sie wird gepflegt und gehegt, gegossen und gezupft, wenn es nötig ist. Und vielleicht könnten sich die Hüter des Euro daran ein Vorbild nehmen: Alles, was gedeihen soll, braucht seine Pflege, dann behält nicht nur eine einfache Blume ihren Wert, sondern auch ein so schwieriges finanzpolitisches Produkt wie der Euro. Und wenn dieses Geld einmal welken sollte, würde das auch ein Karl Valentin ganz bestimmt nicht komisch finden – sondern tief traurig, für alle.
Auf Heller und Cent
In der guten alten Zeit … Augenblick ’mal! Es stimmt zwar, dass diese Zeit alt ist, ob sie aber auch gut war, darüber müsste man noch reden. In der alten Zeit also, kostete das Leben meist eine runde Summe – einmal abgesehen vom Benzinpreis, der schon lang mit einer hochgestellten „9“ endete. Aber all die anderen Waren, die zu kaufen waren: Brot und Brötchen, Bücher und Regenschirme, Urlaubsreisen und sogar Autos. Mark und Pfennig, so übersichtlich konnte man damals mit seinem Geld umgehen.
Heute hat sich alles dramatisch verbilligt. Das jedenfalls wird dem Kunden vorgegaukelt. Den Schnellkochtopf gib es für 39,99 Euro, die Trekkinghose für 14,99, hochgepriesene Weine für 4,99 und fünfteilige Schraubenschüsselsets für 9,99. Man hört von Flugreisen in die Ferne für 19,99, schmucken Armbanduhren für 7,99. Und Bücher, diese Luxusgüter für gehobene Freizeitstunden, kosten 16,99 Euro und nicht runde 17 – dann wäre ein solches Buch für uns auch niemals in Frage gekommen.
Irgendwie ist der runde Euro mit der Null am Ende über die Hintertreppe abgeschafft worden, noch bevor die leise Diskussion aufkam, ob man ihn nicht wirklich abschaffen sollte. Jedenfalls addieren sich die Kosten des Alltags inzwischen auf einer 99-Cent-Basis. Und so gehört es längst zum Alltag, dass dem Kunden an der Kasse ein Cent als Rückgeld zugeschoben wird. Eher seltenen gibt es den Fall, dass der Kunde diesen Cent mit der selbstironischen Bemerkung zurückschiebt, er spende ihn der Dame an der Kasse – für ihren neuen Pelzmantel oder Sportwagen. Vielleicht könnte es ja einmal dazu kommen, dass ein Auto der gehobenen Spitzenklasse 39 999,99 Euro kostet – spätestens dann müsste man doch zugreifen, oder? Auch in der alten Zeit wurde ja auf Heller und Pfennig abgerechnet, aber irgendwie doch weniger reißerisch. Hofft man vielleicht, dass der Kunde nur auf den einen ersparten Cent starrt und die Zahl vergisst, die vor dem Komma steht? Wenn er dann allerdings jeden dieser Cents sorgfältig auf die hohe Kante legen würde, könnte er es schon zu etwas bringen – zumindest im Lauf vieler Jahrzehnte.
Spiele mit dem Leben
Da lag sie vor ihm auf ihrem Rücken, die kleine, hell gefiederte Singdrossel, ganz so, als würde sie gerade ihren Mittagsschlaf halten. Das Vögelchen zeigte auch keinerlei Regung, als er sich nahe zu ihm hinabbeugte. Erst als er es ganz behutsam mit dem Finger berührte, geriet die Drossel in Wallung.
Als er noch einmal nach ihr schaute, saß sie fast aufrecht im Gras. Zwar noch immer recht unbeholfen, aber immerhin lebendig. Und er verspürte endlich so etwas wie Entwarnung für sein Mitgefühl. Aber dann waren am Morgen nur noch ein paar Federn von ihr übriggeblieben. Und da wurde ihm klar: Die fremde Katze hatte sich ihrer angenommen, nach Katzenart. Ja, diese lieben es, mit ihren Opfern zu spielen, und was das für ihre Opfer bedeutet, ahnen sie wohl nicht. Dies ist im Tierreich sonst anders. Zwar lebt die Natur vom Fressen und gefressen werden, aber die meisten Tiere töten nur, wenn sie Hunger haben. Wenigstens für die meisten Katzen gilt diese Regel nicht. Sie spielen mit dem Leben, wenn man so will, mit dem Leben der anderen. Und mit irgendeinem Hunger hat das meist nichts zu tun.
Und wie ist das bei den Menschen? Auch die können manchmal nicht satt werden, auch wenn sie eigentlich genug haben – genug zum Essen sowieso, aber auch materiell. Und sie wissen oft nicht genau, wann sie den Hals voll haben von dem, was sich ihnen so alles anbietet.
Ein kluger Spötter hat einmal gesagt: „Betrachte ich die Umgangsformen der Tiere, komme ich zwangsläufig zu dem Schluss, dass der Mensch das höhere Wesen ist. Betrachte ich die Umgangsformen der Menschen, so werd’ ich, ich gesteh es, ganz verwirrt.“ Was das mit den Katzen zu tun hat? Ich gestehe, da bin auch ich jetzt ein wenig verwirrt.
Das Recht auf Irrtum
Einen Irrtum jedenfalls gibt es, den man gerne verzeiht: Den Irrtum beim Wetterbericht. Wenn diese Propheten der Himmelsmächte namens Sonne, Regen und Wolken uns wahrsagen, dass wir uns auf einen dunklen Himmel und dicke Tropfen einstellen müssen, dann nimmt es ihnen niemand übel, wenn stattdessen die Sonne von einem blauen Himmel strahlt – ein schöner Irrtum.
Weniger erfreut sind wir indessen, wenn die versprochene Sonne ausbleibt und der Himmel sich sein graues Tuch vors Gesicht zieht. Mit den vielen Halbwahrheiten müssen wir uns halt abfinden, wenn vom einerseits-andererseits die Rede ist und wir ratlos hinaus durchs Fenster schauen. Der positive Irrtum ist es aber, den wir den Wetterfröschen gerne nachsehen.
Inzwischen gibt es aber auch so etwas wie Wetterneid. Wenn wir uns morgens im Fernsehen die Wetterkarte ansehen, auf der Sonne, Wolken und Regen so ungleichmäßig verteilt sind, suchen wir nach dem Bild, das unsere Wetteraussichten von diesem Tag zeigt. Und dann wandert unser Blick über all die anderen Symbole im Lande, die zeigen, wie es den anderen geht. Sehen wir bei uns eine gesicherte Hoffnung auf gutes Wetter, sind wir zufrieden mit der Welt. Sind es aber die anderen, die die Sonne für sich haben werden, beschleicht uns leiser Neid: Warum denn schon wieder die, denen ging es doch gestern schon so gut – sonnenmäßig.
Gerechtigkeit, das wissen wir, soll es ja im Himmel geben. Aber am Himmel – in der Verteilung von Sonne und Regen – ist es mit der Gerechtigkeit offenbar nicht weit her. Bevor wir uns aber so richtig darüber entrüsten, erfahren wir von den Wolkenbrüchen, die einige Regionen manchmal so unbarmherzig heimsuchen und von denen wir bisher verschont geblieben sind. Und dann ist unser Schönwetter-Neid zu Ende. Manchmal sind es doch wir, die die besseren Karten ziehen. Und auch die Wetterpropheten haben bei ihren Prognosen keinen direkten Draht zum Himmel. Was sie haben, ist auch das Recht zum Irrtum. Es wäre aber schön, wenn sie sich bei uns möglichst immer im positiven Sinne irren würden.
Liebe und so
Platonische Liebe, was bitteschön ist denn das? Der berühmte griechische Philosoph Platon hat diese Form der Liebe etwa 300 Jahre v. Chr. erfunden, aber benannt wurde sie nach seinem Namen erst im Mittelalter. Platonisch lieben, das heißt seitdem, sich ohne Sex zu begegnen, aber mit einem Herz voll von Freundschaft. Wieweit auch die Erotik damit ausgeklammert sein soll, hat Platon nicht genau gesagt. Damit jedenfalls stand das Tor der Liebe für alle offen – für Frauen und Männer, wo immer die Liebe so hinfällt. Das freilich ist eine philosophische Theorie, und was das Leben aus ihr macht, ist wieder eine andere Sache.
In den Jahren seit 1968 ist die Liebe, sagen wir es einmal so, auf jeden Fall etwas sinnlicher geworden, aber es gibt auch die Liebe, die auch ohne tiefe Freundschaft auskommt, nur nicht ohne Sinnlichkeit.
Seit einiger Zeit aber hat sich im geselligen Umgang wieder so etwas wie eine platonische Zuwendung ausgebreitet: das Bussi-Bussi oder der Luftkuss, wie ihn einmal jemand nannte. Mit einigem freudigen Getöse geht man aufeinander zu und spitzt die Lippen, als wolle man einen gellenden Pfiff ausstoßen. Ein Vorläufer dieses Bussi-Bussi ist ja der Handkuss. Noch heute ist er nicht nur in der Wiener Gesellschaft lebendig. Wer was auf sich hält oder auf die Dame, vermeidet es dabei, mit den Lippen ihre Hand zu berühren. Denn auch das könnte vielleicht als ein Anflug von Sinnlichkeit missverstanden und deshalb von Anhängern der platonischen Liebe missbilligt werden. Nun gibt es aber gelegentlich noch immer verwegene Männer, die eine Frau bei der Begrüßung in die Arme nehmen wollen und sie an die Brust drücken. Handelt so ein Mann platonisch oder sinnlich? Und wie geht eine Frau mit einem solchen Zeitgenossen um, der diese Distanz, die Platon verlangte, einfach nicht einhalten will?
Eine Frau, die offenbar belesen war, sagte einmal in – gespielter Abwehr: „Du bist mir aber viel zu wenig platonisch!“ Der Mann, der wohl auch kein Dummkopf war, löste seine Arme von ihr und begnügte sich mit einem Handkuss – in freier Luft und, wenn man so will, rein platonisch. Und dann sagte er: „Das hast Du jetzt davon!“
Museales Gebinde
Die Krawatte ist für uns Frauen eigentlich eine praktische Erfindung“, sagte eine lebenserfahrene Frau spöttelnd. „Da wissen wir doch wenigstens, wo bei den Männern der Kopf anfängt.“ Inzwischen aber ist dieses Teil der Herrenbekleidung auf dem Rückzug.
Dabei hat sie eine lange Tradition, die Krawatte, der Schlips, der Binder. Schon auf schönen Bildern der Renaissance sind feine Herren mit einem Seidenstück zu erkennen, den Kopf darüber aufrecht in die Luft gestreckt. Und dann hat sie im Laufe der Zeit ihren Einzug in die moderne Welt gehalten, als farbenfrohes Schmuckstück an den Hälsen.
Nicht nur für die „Banker“ aller Art war sie eine Art von verbindendem Erkennungszeichen, auch im anderen Büroleben gehörte sie dazu, zum Hemd, zur Weste, zum Anzug. Auch in den sogenannten feinen Speiselokalen gab es den „Krawattenzwang“. „Hier haben sie einige Schlipse zur Auswahl,“ hieß es, „und wir freuen uns, sie Ihnen leihweise zu überlassen.“ Aber das gehört seit langem nicht mehr zum kulinarischen Alltag. Die Krawatte scheint inzwischen so etwas wie ein museales Gebinde.
Auch TV-Moderatoren und Kommentatoren zeigen den Zuschauern jetzt unbekümmert ihren Hals. Bei Talkshows riskieren prominente Gäste Kopf und Kragen – die Krawatten müssen, so scheint es, zu Hause bleiben. Dass sogar Politiker auch bei staatstragenden Auftritten auf die Krawatte verzichten, zeigen der griechische Regierungschef und seine Minister: Ein offenes Hemd, eine Jacke drüber, und das war’s. Vielleicht wollten sie damit aber auch sagen: „Seht her, wir können uns keine Krawatten mehr leisten. Und jetzt denkt ’mal über eure Bereitschaft für neue Kredite nach.“
Stumme Gespräche
Da saßen sie im Regionalzug beieinander, zwei Mädchen und zwei Jungen, alle vier nur einen kleinen Schritt von der Volljährigkeit entfernt. Wie gebannt starrten sie auf diese kleinen Bildschirme. Irgendwie führte der Zeigefinger Regie, zielbewusst hüpfte er auf den Tasten umher, um Dinge aufzuspüren oder Botschaften einzufangen, die „unter uns“ bleiben sollten oder auch nicht. Bisweilen schien es aber in dieser Buchstaben-Welt auch einen Dialog zu geben, ein stummes Gespräch, das manchmal seine Spuren auf den Gesichtern hinterließ. Erst als der Zug an der Endstation angekommen war, schienen die Vier sich einander plötzlich zu entdecken. Man stand auf, packte eilig seine Siebensachen. „Mach’s gut!“, und dann ging jeder seiner Wege.
Jetzt stieg auch das Paar mittleren Alters aus. Das Handy des Mannes hatte unauffällig auf dem Sitz herumgelegen. Nur selten gab dieses ein Lebenszeichen von sich. Dann schob der Mann seine Brille auf der Nase nach oben und schien die Nachricht zu buchstabieren, die da jemand loswerden wollte. Und meist weihte er auch seine Frau ein, was es da zu lesen gab. Zwischendurch sahen beide einander in die Augen: Kein später Flirt, aber ein gegenseitiges Wahrnehmen zweier Menschen, die ihr Gefühlsleben nicht an Handys aller Art abgetreten hatten.
Und etwas holperig in seinem Alter stieg auch der Mann mit dem Hut auf dem Kopf aus dem Wagen, hielt sich am Griff fest, der die Treppe für ihn begehbar machte. Er hatte die ganze Zeit schweigend dagesessen, irgendwie mit sich beschäftigt und vielleicht auch mit dem Blick auf die Ausläufer des Schwarzwalds, die an seinem Auge vorbeizogen.
Drei Generationen, wenn man so will, die auf sehr verschiedene Weise die Welt um sich wahrnehmen. Natürlich hat das Handy eine neue Welt der Kommunikation erschaffen, bietet allgegenwärtige Kontakte, den schnellen Austausch von Gedanken und Informationen – so etwas wie eine Form der fernen Nähe. Aber nicht ersetzen kann es die alte Form des Gesprächs, den Gedankenaustausch, die gegenseitige Wahrnehmung. Alles das sollte lebendig bleiben – und nicht verstummen.
Beipackzettel fürs Leben
Wenn das Leben einen Beipackzettel hätte, kein Mensch würde damit anfangen. Neulich habe ich überlegt, wie das mit dem Ehe-Leben wäre, wenn das auch einen Beipackzettel hätte? Wie romantisch! Kurz vor dem Ja-Wort noch ein schneller Blick aufs Kleingedruckte.
Wenn man den Beipackzettel liest, weiß man bei den Arzneien heute kaum noch, wofür die eigentlich gut sind. Man weiß nur, was einem alles passieren kann, wenn man sie schluckt. Und trotzdem schluckt man sie. Und man schluckt auch den Rotwein. Obwohl ja auch der Alkohol schädlich sein soll. Oder man raucht, obwohl man auf der Packung liest, dass man daran sterben kann. Aber heiraten? Das tut man einfach so aus dem Stegreif.
Bei der Hochzeit meint jeder haargenau zu wissen, welches Glück da ins Haus steht. Das wird auf dem Standesamt erzählt, das verkündet der Herr Pfarrer, das sagen manche Freunde – und sogar die Schwiegermutter. Aber niemand sagt einem, dass mehr als ein Drittel der Ehen in die Brüche geht. Von Risiken und Nebenwirkungen spricht da keiner. Höchstens so am Rande, wenn es um Freud und Leid geht.
Würde es also ein Ehevertrag als Warnung tun, was die Brautleute stutzig machen sollte? Die Sache mit dem Unterhalt, mit dem Versorgungsausgleich, mit dem Zugewinn. Von der Sorge für die Kinder ganz zu schweigen. Da sollte doch so manchem ein Licht aufgehen, wie das wäre mit dem Teilen, im Ernstfall. Wer dann noch heiratet …
Ein Ehevertrag als Beipackzettel zur Heiratsurkunde also? Nicht gerade als Beipackzettel, aber vielleicht sollte er zu den Heiratspapieren gehören. Wie die Geburtsurkunde. Das wäre doch ein Vorschlag für den Gesetzgeber. Oder würde es nicht auch der Hinweis tun: „Zu Risiken und Nebenwirkungen einer Ehe fragen Sie Ihren Anwalt.“
Wenn die Ehe also einen Beipackzettel hätte, könnte es ihr ergehen wie dem Leben: Keiner würde damit anfangen. Und das wäre doch eigentlich schade.
Nest voller Geborgenheit
Der Bau eines Nests ist ein Urtrieb, nicht nur des Menschen, sondern auch vieler Tiere. Vor allem die Vögel sind es, die ohne diese Geborgenheit nicht weiter kämen, nicht weiter leben würden. Das Vogelnest bietet guten Schutz vor allerlei Feinden – vor allem der Eichelhäher und das so sanftmütige Eichhörnchen haben vor dem fremden Nestfrieden keinen Respekt. Und auch der Kuckuck, dem gutgläubige Menschen so allerlei Weisheiten zutrauen – unter anderen, wie man ohne eigene Arbeit zu einem behaglichen Nest kommen kann, indem man sein „Kuckucksei“ in ein Fremdes legt. Geborgenheit für den eigenen Nachwuchs auf Kosten anderer – so einfach kann es sich nicht einmal der Mensch machen.
Die Amsel unter dem Dach des alten Bauernhauses war von weitaus friedlicherer Natur. Immer wieder kam sie mit winzigen Ästen und Blättern im Schnabel angeflogen und baute sich so ihre kleine Welt – als Geborgenheit für den Nachwuchs. Nur dass sie vor lauter Eifer nicht beachtet hatte, dass sie diese Welt genau über dem Plätzchen aufbaute, wo der Hausherr seinen Ruheplatz haben wollte – seine Geborgenheit. Und als dann so einiges herabfiel auf seinen Teller und auch so manches aus dem Innenleben der Amsel auf sein Haupt geriet, sah er seine Geborgenheit in Gefahr. Also stocherte er mit dem Besenstil immer wieder in den Neubau über seinem Kopf, bis die Amsel sich endlich geschlagen gab. Hier, so wurde ihr klar, würde sie ihre Geborgenheit nicht finden.
Also zog sie ein paar Meter weiter in die große Tanne, wo ein dichtes Nadelkleid das Nest abschirmte. Den Hausherr aber, der sich jetzt von diesen Dingen „von oben“ ungetrübt im Sonnenschein wärmte, befiel ein schlechtes Gewissen: War es wirklich so fair von ihm gewesen, den Vogel aus seiner gesuchten Geborgenheit zu vertreiben, damit seine eigene keinen Schaden nähme? Und da war er endlich beruhigt, als die Amsel nur wenige Meter vor ihm vorbeihopste und die Körner aufpickte, die er ihr zur Versöhnung hingelegt hatte. Und ihm war sogar, als hätte sie zu ihm herübergeschaut. So ein bisschen wie: „Wollen wir nicht wieder gute Freunde sein?“
Wie geht’s?
Nun, Schmidt, wie geht’s?“, fragte der Herr seinen Fahrer, nachdem er sich in das weiträumige Gefährt hineingezwängt hatte. „Ach, Herr Direktor, mir geht es eigentlich recht gut. Aber meine Frau …“ „Keine Einzelheiten, Schmidt, keine Einzelheiten“, wehrte der Herr ab. Eine wirklich frei erfundene Geschichte, aber die Szene kommt dem alltäglichen Leben manchmal recht nahe. Keine Einzelheiten, aber was denn sonst?
Viele erwarten auf ihre Frage eine Antwort zum Weghören. „Prima geht’s mir, sehr gut geht’s mir, ich kann nicht klagen.“ Oder noch allgemeiner: „Alles in Ordnung!“
Früher wurde bisweilen auch etwas umständlicher gefragt: „Wie geht es Ihrem werten Befinden?“, worauf Menschen mit leiser Ironie auch zu der Antwort fanden: „Oh, mein Befinden habe ich heute noch gar nicht gefragt.“ Im Alltag will man es meistens nicht so genau wissen. Ja, es gibt Zeitgenossen, die ihre Frage bereits vergessen haben, bevor irgendeine Antwort kommt. Denn die Neugier nach dem „werten Befinden“ hält sich meistens in schicklichen Grenzen.
Nur wenn man sich wirklich kennt, wartet der Frager auf eine ehrliche Antwort. Und natürlich freut er sich, wenn er eine gute Antwort hört. Denn auch wenn der Mensch nicht immer so „edel, hilfreich und gut“ sein mag, wie Goethe das einmal erhofft hatte, so ist er auch nur selten die Kanallie, die andere manchmal in ihm sehen wollen. Und da muss man schon seelisch sehr ramponiert sein, wenn man dem anderen im Stillen wünscht, dass es ihm schlecht geht.
Recht glaubwürdig klingt es, wenn jemand sagt: „Also, mir geht es gut genug.“ Da gibt es auch kaum noch etwas zu fragen. Wenn aber jemand sagt: „Mir geht es so gut wie noch nie“, dann wäre der Frager wohl doch auf Einzelheiten gespannt. Denn vielleicht könnte er aus der Antwort ja etwas für sich lernen.
Korken und Kronen
Es scheint eine ziemlich einfache Sache zu sein, irgendeinen Sieger (oder Siegerin) mit Sekt zu ehren – auch wenn die deutschen Athleten bei Olympia gerade eher selten in den Genuss einer hochprozentigen Dusche kommen. Man sieht jedenfalls strahlende Gesichter, man hört Bravorufe in verschiedenen Sprachen, und dann knallt der Korken, und der Gefeierte steht in einem wahren Duschbad von sprudelndem Sekt, der ihn mit Schaum umhüllt.
Wer zu Hause in stillerem Rahmen ein Ereignis mit Sekt feiern will, hat aber manchmal seine Probleme mit dem Korken. Falls das Sekttrinken nicht zum Alltag des Gastgebers gehört, kann es für ihn ein kleines Kunststück werden, den Sekt aus der Flasche zu erlösen. Erst versucht er, am Korken zu drehen, der aber offenbar die Flasche nicht im Stich lassen möchte. Also macht er sich an dieser Flasche zu schaffen, die ihren Inhalt aber auch nicht kampflos freigeben will. Irgendwann rät ihm einer der Gäste, Korken und Flasche gegeneinander auszuspielen. Und dann – endlich – gibt es den leisen Knall wie den Blattschuss in anderen Gefilden.
Wie einfach ist dagegen der Umgang mit dem Korken in der Weinflasche: Man nimmt den Korkenzieher in die Hand und der findet, einer langjährigen Übung folgend, seinen Weg in die Flasche. Auch hier wieder ein leises „Plop“, und dann werden die Gläser gefüllt. Das aber ist eine beinahe tägliche Zeremonie, der kein hausbackener Sieg vorausgehen muss. Aber dieser altvertraute Umgang mit dem Wein, sei er weiß oder rot, ist dabei, seinen bescheidenen Charme zu verlieren. Statt des guten, alten Korkens gibt es jetzt immer mehr Flaschen mit diesem Schraubverschluss, der sich von der Limo oder dem Mineralwasser zum edlen Wein verirrt hat. Früher hielten sich die Herren den guten alten Korken prüfend an die Nase, wie einst eine Dame ihr Riechfläschchen. Ein Drehverschluss, hat er einmal seinen Dienst getan, landet dagegen schlicht und einfach in der gelben Tonne.
Aber es gibt sie noch und wird sie weiter geben, die Korken, die wieder in die Flasche gesteckt werden müssen, solange darin vom Wein noch etwas überlebt hat. Aber wenn es so weit käme, dass eines Tages Kronenkorken auf der Weinflasche landen würden, wäre das so etwas wie Majestätsbeleidigung.
Flirt mit der Amsel
Wie er spürte, konnten die meisten Vögel in seinem Garten nicht viel mit ihm anfangen. Zwar zwitscherten sie alle ihr Lied, aber zu einer persönlichen Begegnung wollt’ es nicht kommen. Nur selten merkte er, dass zwei runde Augen prüfend zu ihm herübersahen. Aber zu so etwas wie einem Flirt reichte es einfach nicht. Anders aber diese Amsel. Zwar gab es auch zwischen ihm und ihr keine spontane Liebelei. Aber sie setzte sich auf den Zaunast, und schon war man miteinander im Gespräch auf Augenhöhe. Und nachdem er damit begonnen hatte, ausgesuchte Brotkrumen auf der Terrasse auszubreiten, wuchs ihre Zutraulichkeit von Tag zu Tag. Nur am Anfang war noch eine Prise von Misstrauen in ihr lebendig. Sie hüpfte davon, sobald er den Arm hob, um in dem Buch, das er gerade las, die Seiten umzublättern. Aber auch das schwand von Tag zu Tag dahin. Dann blieb sie einfach auf ihren langen, gelben Beinen stehen und scherte sich einen Dreck darum, was für ein Buch er gerade in den Händen hielt. Und als er die Krumen immer näher zu sich heranstreute, blieb sie bei der Sache und hopste an seine Seite. „Ich lass’ mir doch von Dir mein gutes Brot nicht wegnehmen“ – das strahlte sie aus. Auch so etwas wie ein Gespräch hatte sich zwischen den beiden ergeben. Zwar konnte er selber nach wie vor nicht so recht zwitschern, aber immerhin erhielt er eine Antwort in der Amselsprache. Er war da erfolgreicher als bei seinen Gesprächsversuchen mit den Schafen und Ziegen auf den Weiden, die immer ratlos vom Grasen aufsahen, wenn er, was eine seiner Schrullen war, sein „Muh“ und „Mäh“ vernehmen ließ.
Die Amsel war es auch, die sich einmal auf seiner Fensterbank niederließ und ihn durch die Scheibe anguckte. Und beinahe wäre er auf die Idee gekommen, sie zu sich hereinzulassen. Vielleicht wäre sie dann mit ihm unter die Dusche gegangen. So aber konnte er zusehen, wie sie sich etwas Wasser aus dem kleinen Teich holte und dann, nass wie sie war, mit beiden Flügeln flatterte, während sie herausfordernd zu ihm herübersah. Schau’ nur her, so machen wir das. Und nun nahm er sich vor, sie das nächste Mal durch das Fenster hereinzubitten – zu einem schönen, frischen Bad.
Och nischt los
Die beiden Männer sitzen im Lokal am Tisch bei einem Glas Bier. „Mir is so langweilig“, sagt der eine. „Ick weiß gar nicht mehr, was ick so mache soll.“ „Mensch, jeh in dir“, sagt der Freund. „War ick schon, och nischt los“, lautet die Antwort. Dieser bekannte Berliner Witz macht deutlich, wie manchmal die Zeit vergeht: mit nischt.