Rechts, wo die Mitte ist - Judith Goetz - E-Book

Rechts, wo die Mitte ist E-Book

Judith Goetz

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Beschreibung

Die ›Alternative für Deutschland‹ hat sich seit ihrer Gründung von einer kleinen rechtspopulistischen Anti-Euro-Partei zur größten rechtsextremen politischen Kraft in der Bundesrepublik seit Ende des Nationalsozialismus entwickelt. Mittlerweile vertritt sie ein offen rassistisches, nationalistisches und antifeministisches Programm, Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus sind ebenso fester Bestandteil ihrer Agenda. Je völkischer die AfD auftritt, umso mehr scheint ihr gesellschaftlicher Rückhalt zu wachsen. Zugleich findet eine fortschreitende Normalisierung der Partei und ihrer rechtsextremen Positionen in den Medien und der Politik statt. In der Flüchtlingspolitik bestimmt die AfD auch ohne Regierungsbeteiligung längst den politischen Diskurs. Der Erfolg der AfD muss im Kontext der schon seit einigen Jahren anhaltenden gesellschaftlichen Rechtsverschiebung gesehen werden, in deren Folge rechtsautoritäre Einstellungen bis weit in die sogenannte bürgerliche Mitte Verbreitung finden. Das Buch vereint verschiedene Analysen zur AfD und zeichnet ein Bild einer Partei, die exemplarisch für den modernisierten Rechtsextremismus steht, der modern daherkommt, aber keineswegs weniger gefährlich ist als seine historischen Vorläufer.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschaftlerin, Genderforscherin, Rechtsextremismus-Expertin, Lehrbeauftragte an unterschiedlichen österreichischen Universitäten und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU).

Thorsten Mense ist promovierter Soziologe, freier Autor und Journalist. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalismus, rechte Bewegungen und Autoritarismus. Er lebt und arbeitet in Leipzig und war lange Zeit Mitglied im Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (FKR).

Thorsten Mense, Judith Goetz (Hg.)

Rechts, wo die Mitte ist

Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Thorsten Mense, Judith Goetz (Hg.):

Rechts, wo die Mitte ist

1. Auflage, August 2024

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024

ISBN 978-3-95405-201-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Thorsten Mense und Judith GoetzLinke Analysen einer modernisiert rechtsextremen Partei. Eine Einleitung

Profil einer Partei des modernisierten Rechtsextremismus

Sebastian FriedrichKrise als Kampffeld. Entstehung, Entwicklung und Erfolg der AfD vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen

Fabian Virchow / Alexander HäuslerDie Alternative für Deutschland – rechtspopulistisch, rechtsextrem, faschistisch?

Rechts, wo die Mitte ist

Thorsten MenseAutoritäre Formierung und identitäres Bedürfnis. Der Aufstieg der AfD im Kontext von Krise und gesellschaftlicher Rechtsentwicklung

Daniel KeilMythos Mitte. Anmerkungen zu intellektuellen Vorarbeiten des Aufstiegs der AfD

Steven HummelDie AfD und der Verfassungsschutz . Zur Geschichte eines ambivalenten Verhältnisses

Deutschland, aber normal

Max CzollekGanz normale Deutsche. Oder: Wer von der AfD spricht, darf auch von dem Rest Deutschlands nicht schweigen

Rechte(s) Netzwerke(n)

Sonja Brasch und Lars HuberWenn eine Hand die andere wäscht. Ein Gespräch über das Verhältnis der AfD zur Deutschen Burschenschaft

Simone RafaelDigitaler Kulturkampf von rechts: Social Media und Medienstrategien

Lucius TeidelbaumZwischen Deutschnationalismus und Festung Europa. Die Außenpolitik der AfD

Angreifen für Deutschland

Nina Rabuza, Katharina Ruhland und Michael SturmZwischen extrem rechten Anfeindungen und staatlicher Vereinnahmung. Gedenkstätten, die AfD und die ›Brandmauern‹ gegen ›rechts‹ – Ein Blick nach Bayern

Stefan DietlGewerkschaften im Visier der AfD

Scheinbare Widersprüche: Facetten des modernisierten Rechtsextremismus

Stefan DietlNeoliberal sozial? Die AfD und die soziale Frage

Cordelia Heß und Eike Sanders›Echte Männer‹ und ihre Sorgen. Antifeminismus und Familienpolitik der AfD

Patrick WielowiejskiSchwul, nicht queer. Wieso Queerfeindlichkeit und Homosexuelle in der AfD kein Widerspruch sind

Judith GoetzZwischen Transfeindlichkeit und Transchauvinismus: Rechte trans Personen in der Alternative für Deutschland

Kira AyyadiDeutsch genug für die AfD? Warum sich Menschen mit Migrationsbiografien von der AfD angesprochen fühlen

Peter BierlDer antiökologische Kurs der AfD. Reaktionäre Opposition versus kapitalistische grüne Transformation

Perspektiven

GruppeninterviewAntifa neu denken? Antifaschistische Praxis und Strategien in Zeiten des allgemeinen Rechtsrucks

Über die Autor*innen

Anmerkungen

Thorsten Mense und Judith Goetz

Linke Analysen einer modernisiert rechtsextremen Partei. Eine Einleitung

Ab wann kann man eigentlich vom Übergang von einer postnazistischen zu einer präfaschistischen Gesellschaft sprechen? Merkt man das? Oder erst wenn es zu spät ist? 2024 könnte das Jahr werden, in dem in Deutschland erstmals seit der Niederlage des deutschen Faschismus eine rechtsextreme[1] Partei Regierungsverantwortung bekommt. In drei ostdeutschen Bundesländern (Brandenburg, Sachsen und Thüringen) stehen im Herbst Landtagswahlen an, und so wie aktuell aussieht, könnte die Alternative für Deutschland (AfD) in allen drei Ländern stärkste Kraft werden (Stand Juni 2024). Aber auch wenn die AfD ein weiteres Mal an diesem Ziel scheitern sollte, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Zwischen neun und 34 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland sind im Jahr 2024 willens, einer rassistischen, völkischen und antifeministischen Partei ihre Stimme zu geben. Das faschistische Potenzial der deutschen Gesellschaft tritt derzeit so offen zutage wie seit dem von außen erzwungenen Ende des Nationalsozialismus nicht mehr.

Bei ihrer Gründung im Februar 2013 als rechtsliberale und -populistische Anti-Euro-Partei wurde die AfD nur von wenigen als Bedrohung angesehen. Vielmehr galt ihr Aufkommen als nachholende Entwicklung, schließlich gehörte Deutschland damals in Europa zu den wenigen noch verbliebenen Staaten ohne eine ernstzunehmende, rechtspopulistische politische Kraft. Mit den Jahren und den verschiedenen Flügelkämpfen, und ganz besonders seit ihrem Einzug in den Bundestag im Jahr 2017, hat sich die Partei stetig nach rechtsaußen bewegt. Mittlerweile haben ihre Vertreter*innen sämtliche Hemmungen verloren und propagieren offen und aggressiv einen völkischen Nationalismus, Rassismus und Antifeminismus. Ein Blick in die Kommentarspalten ihrer Social-Media-Auftritte und Chatgruppen zeigt darüber hinaus, wovon ihre Anhänger*innen nachts träumen: Verbot und Verfolgung der Opposition, Ausschaltung der freien Presse, Wiederherstellung antiquierter, patriarchaler und heterosexistischer Geschlechterverhältnisse bis hin zu vielfältigen Gewalt- und Vernichtungsfantasien gegenüber politischen Gegner*innen und Geflüchteten. Ihren Wahlkampf für die Landtagswahlen 2019 in Sachsen hatte die Partei mit dem Ausruf »Die Jagdsaison ist eröffnet« begonnen und bekam für diese offene Drohung schon damals die zweitmeisten Stimmen (27,5 Prozent) aller Parteien. Es besteht schon länger kein Zweifel mehr, dass wir es bei der AfD vielleicht nicht mit einer faschistischen Partei, aber mit einer Partei von Faschist*innen zu tun haben. Anfang des Jahres 2021 war die Ausrichtung der Partei bereits so offensichtlich, dass selbst der Verfassungsschutz sie als »rechtsextremen Verdachtsfall« einstufte. Trotzdem gaben ihr bei der Bundestagswahl im September 2021 fast fünf Millionen Wähler*innen ihre Stimme, und mit jedem Skandal, jeder neuerlichen rassistischen oder antifeministischen Entgleisung, jeder neuen Offenbarung ihres antidemokratischen Charakters scheint die Unterstützung in der Bevölkerung zu wachsen. Es sei hier daran erinnert, dass der ehemalige langjährige Pressesprecher der AfD, Christian Lüth, bereits 2020 in einem Fernsehbeitrag davon sprach, alle Migrant*innen in Deutschland zu »erschießen« oder zu »vergasen«[2]. Wer sich schon länger mit der Partei, ihren Politiker*innen und ihren Inhalten beschäftigt, war daher über das sogenannte Potsdamer Geheimtreffen Ende 2023 und das Bekanntwerden der Pläne für Massendeportation von Menschen mit Migrationsbiografien unter dem Stichwort ›Remigration‹ wenig überrascht. Die AfD macht schon lange keinen Hehl mehr daraus, was sie denkt, fordert und in die gewalttätige Praxis umsetzen will. Und wer diese Partei wählt, tut das nicht trotz ihrer antidemokratischen Agenda, sondern genau deswegen.

Im Schatten dieser Entwicklung hat auch die rechte Gewalt einen neuen Höchststand in der Bundesrepublik erreicht. Laut den Zahlen des Bundesinnenministeriums gab es 2016 über 3.500 Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte, dabei wurden 560 Menschen verletzt. Nach einem kurzen Rückgang stieg diese Zahl dann 2023 wieder stark an, auf fast 2.400 Angriffe, das sind sechs bis sieben solcher Attacken pro Tag.[3] Da es sich hierbei um die offiziellen polizeilichen Zahlen handelt, ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer noch höher liegt. Es wird bereits darüber diskutiert, ob sich die ›Baseballschlägerjahre‹, wie die Zeit der massiven rechten Gewalt und rassistischen Pogrome von Anfang der 1990er-Jahre genannt wird, wiederholen. Der antisemitische Amoklauf in Halle im Oktober 2019, die Hinrichtung des CDU-Lokalpolitikers Walter Lübcke im Juni desselben Jahres und das rassistische Massaker in Hanau im Februar 2020 sind nur extreme Ausläufer dieser Gewalt, die seit 1990 mindestens 219 Menschen das Leben gekostet hat.[4] »Deutschland, die europäische Hauptstadt des Rechtsterrorismus«, titelte 2020 das Londoner Nachrichtenmagazin The Economist, und bis heute führt Deutschland europaweit die Liste rechtsterroristischer Aktivitäten an. Auch wenn diese Gewalt gerne als ›extremistisch‹ externalisiert wird, ist sie nicht etwas der deutschen Gesellschaft Außenstehendes, wie in den Studien zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit deutlich wird. Über die Hälfte der Bevölkerung ist, zumindest »teilweise«, der Meinung, dass Deutschland »in gefährlichem Maß überfremdet« sei. Die Zustimmung zu dieser Aussage impliziert letztlich die Rechtfertigung rassistischer Gewalttaten als Notwehr. Rechte Gewalttäter*innen können sich so als Retter*innen des ›Volkes‹ und Vollstrecker*innen des ›Volkswillens‹ imaginieren. Wer also überrascht ist über den Erfolg der AfD, hat offenbar ein falsches Bild von Deutschland.

Trotz des Wissens über das faschistische Potenzial in der deutschen Gesellschaft und die bis weit in die sogenannte Mitte hineinreichenden autoritären und menschenfeindlichen Einstellungen stellt sich die Frage nach den Ursachen für den aktuellen Erfolgskurs der AfD, den eben keine andere extrem rechte Partei in der Bundesrepublik zuvor einschlagen konnte. Um hier Antworten zu finden, müssen die gesellschaftlichen Ursachen in den Blick genommen werden. Dazu gehört zum einen die strukturelle Ebene: Rechtsextremismus und mit ihm verwandte autoritäre Einstellungsmuster entstehen aus der kapitalistischen Ordnung, die auf Ungleichheit und damit auch auf rassistischer und geschlechtsspezifischer Diskriminierung aufbaut. Zugleich stellen jene Einstellungsmuster, als verschärfte Formen der in der Gesellschaft bereits angelegten Ideologien, autoritäre Lösungsstrategien für die sich verschärfenden Krisen des Kapitalismus dar. Zum anderen muss untersucht werden, welche politisch-kulturellen Verschiebungen innerhalb der Gesellschaft stattgefunden haben, die den Aufstieg der AfD möglich gemacht haben. Darüber hinaus muss der Fokus auch auf die Partei selbst gerichtet werden, auf ihr Auftreten und ihre Inhalte, die sich in vielen Bereichen vom traditionellen Rechtsextremismus unterscheiden, ohne jedoch weniger rechtsextrem zu sein. Die AfD ist Ausdruck einer Modernisierung des Rechtsextremismus, der sich den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst hat.

Wir haben dieses Buch vor allem aus zwei Gründen zusammengestellt und herausgegeben. Zum einen finden wir, dass eine linke Analyse und Kritik der AfD und ihrer Entwicklung in den elf Jahren seit ihrer Gründung fehlen. Für uns bedeutet das, die AfD als Teil einer gesamtgesellschaftlichen autoritären Entwicklung zu begreifen und nicht die bürgerliche Demokratie vor der AfD retten zu wollen, sondern die Partei vielmehr als Ausdruck der sich zuspitzenden und krisenhaften Verhältnisse anzusehen. Zu dieser Kritik gehört auch, die AfD nicht als extremistischen Gegenpart der bürgerlichen Mitte zu beschreiben, sondern als eine rechtsextreme Partei, die aus eben dieser Mitte hervorgeht. Zum anderen war uns eine Analyse wichtig, die der AfD nicht ihre eigenen Widersprüche vorwirft, sondern diese Widersprüche als Bestandteil der Modernisierung des Rechtsextremismus ernstnimmt, untersucht und kritisiert. Der Erfolg der AfD liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie einen modernisierten Rechtsextremismus vertritt und daher für sehr unterschiedliche Menschen, Milieus und Gruppen identitätsstiftend sein kann, die der traditionelle Rechtsextremismus nicht ansprechen konnte. Zu dieser Modernisierung gehören die lesbische Parteivorsitzende Alice Weidel ebenso wie in der Partei organisierte Transmenschen, jüdische AfD-Abgeordnete ebenso wie solche mit Migrationsbiografien. Ebenfalls Bestandteil der Modernisierung ist die Abkehr von offenen Bezügen zum Nationalsozialismus oder einem völkischen Antikapitalismus, und auch ein revolutionärer Habitus ist nur noch selten zu finden. Der modernisierte Rechtsextremismus hat nicht mehr das Ziel, in einer Revolution der Massen die Demokratie hinwegzufegen, sondern er setzt sich in einem schleichenden Prozess in der Gesellschaft und ihren Institutionen durch. Demokratie und Menschenrechte werden – oft auf demokratischem Wege – langsam von innen heraus ausgehöhlt und abgeschafft. Man konnte diese Entwicklung in der Regierungszeit der PiS in Polen beobachten, in Ungarn unter Victor Orbán, in Brasilien, den USA und ganz aktuell in Argentinien. Der modernisierte Rechtsextremismus unterscheidet sich also sowohl inhaltlich als auch in der Form von seinen historischen Vorläufern, hat aber trotzdem zweifelsohne einen »faschistischen Stammbaum«, wie es der Faschismusforscher Roger Griffin ausgedrückt hat, also klare inhaltliche und strukturelle Anleihen an die faschistischen Traditionen der Anti-Aufklärung und des Antiliberalismus.[5] Dass ein offener Antisemitismus bei den aktuellen extrem rechten Bewegungen bisher keine vordergründige, sondern eine subtilere Rolle spielt, ist ein weiterer Unterschied zum historischen Faschismus. Juden und Jüd*innen sollten sich folglich jedoch nicht in Sicherheit wähnen, wie der israelische Politologe und Holocaust-Überlebende Zeev Sternhell 2016 in einem Interview betonte.[6] Das antisemitische Potenzial der globalen autoritären Revolte tritt nach wie vor vielerorts deutlich zutage, wie z.B. im Verschwörungsmythos vom ›Großen Austausch‹, in den ›Schuldkult‹-Debatten und Angriffen auf NS-Erinnerungskulturen sowie in Kampagnen gegen Georg Soros und die »globalistischen Eliten‹.[7]

Mit den in diesem Buch versammelten Analysen der AfD wollen wir die Transformationen, Brüche und Widersprüche des modernisierten Rechtsextremismus in den Blick nehmen, der sich zwar modern gibt, aber keineswegs weniger gefährlich als seine historischen Vorläufer ist oder so eingestuft werden darf.

Zum Aufbau des Sammelbands

Den Anfang des Buches machen zwei Texte zur Geschichte und politischen Einordnung der AfD als einer Partei des modernisierten Rechtsextremismus. Sebastian Friedrich wirft in seinem Beitrag »Krise als Kampffeld« einen Blick auf die Entstehung, Entwicklung und den Erfolg der AfD vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen der letzten elf Jahre. Er beschreibt dabei die Hegemoniekrise als auch die Krise des deutschen Konservatismus als Ursachen für das Aufkommen der AfD. Fabian Virchow und Alexander Häusler geben im Anschluss eine Einordnung der AfD in die drei großen Kategorien: rechtspopulistisch, rechtsextrem und faschistisch. Hierbei zeigen sie auf, wie sich die Partei von einer rechtspopulistischen zu einer rechtsextremen Kraft entwickelt hat, die mittlerweile auch faschistische Elemente aufweist.

Im nächsten Block »Rechts, wo die Mitte ist« geht es um das wechselseitige Verhältnis der sogenannten politischen oder demokratischen Mitte zur AfD und zum modernisierten Rechtsextremismus. Thorsten Mense analysiert in seinem Beitrag »Autoritäre Formierung und identitäres Bedürfnis« den Aufstieg der Partei im Kontext von Krise und der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung. Als Gründe für den Erfolg der AfD arbeitet er dabei vor allem drei Gründe heraus: erstens ein verändertes Verhältnis zwischen bürgerlicher Mitte und Rechtsextremismus, zweitens ein gesteigertes identitäres Bedürfnis in der Bevölkerung und drittens die Normalisierung des deutschen Nationalismus. Daniel Keil richtet seinen Fokus auf den »Mythos Mitte« und die intellektuellen Vorarbeiten für den Aufstieg der AfD. Er zeigt auf, wie ideologisch geprägte diskursive Konzepte wie die Extremismustheorie und die Polarisierungsthese den Rechten Vorschub leisten. Darüber hinaus beschreibt er anhand des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit sowie des ungarischen Mathias Corvinus Collegium die politische Funktion rechter Thinktanks als Scharnier zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus. Steven Hummel untersucht in seinem Beitrag dann das sehr ambivalente Verhältnis von »AfD und Verfassungsschutz« seit der Parteigründung. Am (Nicht-)Umgang der Behörde mit der AfD zeigt sich ein weiteres Mal, dass der Verfassungsschutz weder als Frühwarnsystem funktioniert, noch in der Lage ist, antidemokratische Tendenzen, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen, als solche erkennen und erfassen zu können. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Arbeit der Behörde auf der Extremismustheorie als analytischer Grundlage aufbaut.

Im Anschluss nimmt Max Czollek den AfD-Slogan »Deutschland, aber normal« auf und beschäftigt sich mit den »ganz normalen Deutschen«. Dabei legt er anhand der deutschen Diskurse um Erinnerungskultur, Antisemitismus und Nationalstolz dar, dass wer von der AfD spricht, nicht vom Rest Deutschlands schweigen darf.

Im daran anschließenden Block über rechte Netzwerke und rechtes Netzwerken unterhalten sich Sonja Brasch und Lars Huber in ihrem Beitrag »Wenn eine Hand die andere wäscht« über Burschenschaften als ideologische wie personelle Vorfeldorganisationen der AfD. Besonderen Fokus legen sie auf die Bedeutung des völkischen Dachverbandes Deutsche Burschenschaft als fester Partnerin im »Mosaik des Widerstandes«. Simone Rafael untersucht in ihrem Beitrag den »Digitalen Kulturkampf von rechts« und zeigt auf, wie die AfD sehr erfolgreich die verschiedenen Social-Media-Kanäle für ihre politischen Zwecke in den Dienst nimmt. Sie veranschaulicht damit eindrücklich, wie auch auf der Ebene der Propaganda eine Modernisierung des Rechtsextremismus stattgefunden hat. Lucius Teidelbaum richtet den Blick auf die »Außenpolitik der AfD« zwischen Deutschnationalismus und Festung Europa und entwirft dabei ein Panorama der internationalen Verbindungen und Netzwerke der Partei und analysiert, wie sich diese im Laufe der Jahre gewandelt haben. Dabei wird deutlich, dass die AfD und ihr Erfolg in die europäische (und globale) extreme Rechte eingebettet ist, auch wenn der Nationalismus als ideologischer Grundpfeiler all dieser Bewegungen die internationale Kooperation stets begrenzt.

Im Kapitel »Angreifen für Deutschland« beleuchten dann zwei Beiträge die Praxis der AfD. Nina Rabuza, Katharina Ruhland und Michael Sturm beschäftigen sich mit der NS-Erinnerungspolitik in Bayern »zwischen extrem rechten Anfeindungen und staatlicher Vereinnahmung« und zeigen darin auf, wie sich das geschichtsrevisionistische Weltbild der AfD ganz konkret in Angriffen auf NS-Gedenkstätten ausdrückt und welche Rolle dabei auch die konservative, staatliche Erinnerungspolitik spielt. Um »Gewerkschaften im Visier der AfD« geht es im Beitrag von Stefan Dietl, in dem er darlegt, dass der Hass auf unabhängige Interessenvertretungen im rechtsextremen Konzept der Volksgemeinschaft bereits angelegt ist.

Im Abschnitt »Scheinbare Widersprüche« beschäftigen sich dann verschiedene Beiträge mit den verschiedenen Facetten des modernisierten Rechtsextremismus und ihren scheinbaren Widersprüchen. Den Anfang macht der Text »Neoliberal sozial? Die AfD und die soziale Frage« von Stefan Dietl. Darin analysiert er, wie sich die AfD trotz einer zutiefst neoliberalen Agenda als Partei des ›kleinen Mannes‹ präsentiert und geht auch auf die ideologischen Verschränkungen von marktradikalem und rechtsextremem Denken ein. Cordelia Heß und Eike Sanders widmen sich in »›Echte Männer‹ und ihre Sorgen« dem Antifeminismus und der Familienpolitik der AfD und zeigen auf, dass der Antifeminismus der AfD nur eine verschärfte Form des Geschlechterverhältnisses darstellt und dass weibliche Funktionärinnen nichts am reaktionären, patriarchalen Charakter der Partei ändern. Patrick Wielowiejski erklärt in seinem Text »Schwul, nicht queer«, wieso Queerfeindlichkeit und Homosexuelle in der AfD kein Widerspruch sind. Aufbauend auf einer eigenen Feldforschung beschreibt er verschiedene Taktiken homosexueller AfD-Parteimitglieder, um sich trotz des in der Partei vorherrschenden heterosexistischen und traditionellen Geschlechter- und Familienbildes dort politisch zu Hause fühlen zu können. Judith Goetz widmet sich in ihrem Beitrag »Zwischen Transfeindlichkeit und Transchauvinismus« rechten trans Personen in der AfD. Dabei führt sie den Begriff Transchauvinismus ein und beschreibt damit die Möglichkeit für trans Menschen, Teil des ›deutschen‹ ›Wir‹-Kollektivs zu werden, indem sie sich vom ›muslimischen Anderen‹ abgrenzen. Der AfD dienen sie zur Verklärung westlicher Freiheit und zur Legitimation ihres (antimuslimischen) Rassismus. Kira Ayyadi fragt in ihrem Beitrag, wer »deutsch genug für die AfD« ist und zeigt Gründe auf, wieso auch People of Color und Menschen mit Migrationsbiografien einer zutiefst rassistischen Partei ihre Stimme geben und sich in ihr engagieren. Abschließend beschäftigt sich Peter Bierl in seinem Text »Der antiökologische Kurs der AfD« mit dem wechselhaften Verhältnis der extrem Rechten zu Natur- und Klimaschutz, in dem sich die AfD mehrheitlich auf die Seite der Klimawandelleugner*innen stellt und die Diskussion um Klimaschutz als Projektionsfläche für ihren rechten Kulturkampf verwendet.

Wenn sich der Rechtsextremismus verändert, müssen sich auch die Gegenstrategien verändern. So wollen wir in dem Buch auch die Frage stellen, was es für die antifaschistische Bewegung und ihre Strategien bedeutet, wenn die Faschist*innen von heute ganz offen auftreten und dabei auf eine breite, in manchen Regionen Deutschlands sogar mehrheitliche Unterstützung bauen können. So endet der Sammelband mit einem Gruppeninterview mit Aktivist*innen verschiedener Generationen und Gruppen zur Frage antifaschistischer Praxis in Zeiten des allgemeinen Rechtsrucks.

Danken möchten wir an dieser Stelle den Autor*innen sowie den vielfältigen (Vor-)Arbeiten zahlreicher antifaschistischer Gruppen und Einzelpersonen – ohne ihre wichtigen Recherchen, Analysen und Mobilisierungen wäre unser Projekt nicht denkbar gewesen. Insofern sehen wir auch dieses Buch als Teil antifaschistischer Praxis und hoffen, dass es als Werkzeug im Kampf gegen den Rechtsextremismus und die autoritäre Formierung der Mitte dienen kann.

Profil einer Partei des modernisierten Rechtsextremismus

Sebastian Friedrich

Krise als Kampffeld

Entstehung, Entwicklung und Erfolg der AfD vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Alternative für Deutschland (AfD) ist seit der NSDAP die erste Partei, der es gelungen ist, die relevanten rechtsradikalen Strömungen in Deutschland zu bündeln. Entstehung, Entwicklung und Erfolg der AfD können nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Krisen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte verstanden werden, weshalb in diesem Beitrag die Geschichte der AfD vor dem Hintergrund einer zunehmenden Hegemoniekrise betrachtet wird. Eine Hegemoniekrise wird, in Anlehnung an den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, als eine gesellschaftliche Situation verstanden, in der »unheilbare Widersprüche« (Gramsci 1991 ff.: 1557) offenbar werden, alte Institutionen und Ideologien an Bindungskraft verlieren und sich neue noch nicht etabliert haben. Die AfD ist aber nicht nur Ergebnis dieser Entwicklung, sondern trägt auch dazu bei, gemeinsam mit ihren Vorfeldstrukturen die Krise zu verschärfen. Die Krise ist, angelehnt an Stuart Halls Analyse des Thatcherismus, »kein gegebener Zustand«, sondern vielmehr »ein wirkliches Kampffeld, in das die Kräfte der Rechten aktiv eingegriffen haben« (Hall 2013: 119). Die Sammlung unterschiedlicher rechter und rechtsradikaler Strömungen in der AfD resultiert im Kern aus Abspaltungen vom herrschenden Block. Die Formierung eines rechtsradikalen Hegemonieprojekts wiederum trägt dazu bei, die Risse im Machtblock zu vertiefen. Somit kann die AfD sowohl als Ausdruck als auch als Motor einer Hegemoniekrise in Deutschland gefasst werden.

Zunehmende Widersprüche zwischen Kapitalfraktionen

Beim offiziellen Gründungsparteitag der AfD im April 2013 quetschten sich mehr als tausend Menschen in einen überfüllten Hotelsaal. Sie applaudierten einem Wirtschaftsprofessor, der nicht zuletzt mit Blick auf die CDU von »Altparteien« sprach und für ein Deutschland plädierte, das weniger EU wagen, dem Markt weitgehend das Feld überlassen und gesellschaftspolitisch alles wieder ein bisschen biederer angehen sollte. An die Spitze der AfD wurden an diesem Tag neben dem Wirtschaftsprofessor eine Chemikerin und ein früherer Journalist gewählt: Bernd Lucke, Frauke Petry und Konrad Adam. Alle drei haben die Partei inzwischen verlassen. Allein diese drei Namen machen aber deutlich, dass die AfD von Beginn an eine Sammlungspartei war, die das Spektrum rechts von Union und FDP einen wollte. Zusammengetan hatten sich anfangs neben der neoliberalen Strömung um einige Dutzend Wirtschaftsprofessor*innen ein nationalkonservatives Netzwerk aus Adligen, christlichen Fundamentalist*innen und Antifeminist*innen.

Die Spektren fanden als Reaktion auf zwei Krisendynamiken zusammen: zum einen auf die Krise des Konservatismus, zum anderen auf die zunehmenden Widersprüche zwischen Kapitalfraktionen, die auf Exporte setzten, und jener eher auf regionale und lokale Absatzmärkte setzenden Kapitalfraktion, die »sich vor allem in der stabilitätsorientierten Gruppierung der Verbände sowie in der Gruppe der reaktionären Kräfte (das heißt im Verband der Familienunternehmer) artikuliert« (Heine und Sablowski 2013: 31). Der Gründungsimpuls der neuen Partei ist vor allem auf die zweitgenannte Krisenkonstellation zurückzuführen: Bereits ab 2010 hatten sich vermehrt national gesinnte neoliberale Volkswirt*innen[8] organisiert, um Einfluss auf den damaligen Eurokurs der Bundesregierung zu nehmen. So entstand etwa im Februar 2011 eine Stellungnahme gegen den Plan der europäischen Finanzminister*innen, einen dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) einzurichten und den Euro-Rettungsschirm auszudehnen (vgl. Plenum der Ökonomen 2011). Volkswirt*innen und Vertreter*innen einzelner Kapitalfraktionen richteten sich gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden, die zu diesem Zeitpunkt vor allem in Bezug auf Griechenland im Gespräch war. Es folgten mehrere Aufsätze von Bernd Lucke und Kolleg*innen in großen Tageszeitungen, um Einfluss auf die damalige liberalkonservative Bundesregierung zu nehmen. In der schwarz-gelben Koalition wurde zu diesem Zeitpunkt die Forderung einer flexiblen Währungsunion und der damit zusammenhängende mögliche Rauswurf Griechenlands aus dem Euroraum diskutiert. Es standen sich zwei Europakonzepte gegenüber: eines, das gemeinsam mit exportorientierten Kapitalfraktionen auf eine neoliberal-autoritäre Vertiefung der europäischen Integration setzte, und eines, das mit ›mittelständischen‹ Kapitalfraktionen stärker die nationalstaatliche Souveränität betonte. Allen voran war hier der Kapitalverband Die Familienunternehmer aktiv. Während der Eurokrise stellte sich dieser grundsätzlich gegen die Eurorettungspolitik der Bundesrepublik, setzte sich für »eine weitere Verschärfung der fiskalpolitischen Maßnahmen« ein, sprach sich gegen »jede Form von wirtschaftspolitischer Europäisierung« aus und bediente sich dabei »einer zum Teil rechtspopulistischen Rhetorik« (ebd.).

Die Hoffnungen der national gesinnten neoliberalen Volkswirt*innen, die ihnen eigentlich nahestehende liberalkonservative Bundesregierung würde ihren Empfehlungen folgen, erfüllten sich nicht. Am 29. Juni 2012 stimmte der Bundestag dem ESM zu. »It will not happen that there will be a Staatsbankrott in Greece« – Diese legendären Worte Wolfgang Schäubles wenige Wochen später und damit das Bekenntnis, Griechenland nicht aus der Währungsgemeinschaft auszuschließen, markierten die Vollendung der neuen EZB-Zinsstrategie und ein Scheitern der neoliberalen Fraktion um Lucke. Diese entschied sich spätestens zu diesem Zeitpunkt, eine Alternative zu Union und FDP ins Leben zu rufen. Bereits kurz zuvor hatten sie den Verein zur Unterstützung Wahlalternative 2013 gegründet, aus dem später die AfD hervorgehen sollte.

Inzwischen haben zwar Verbände wie Die Familienunternehmer wieder Abstand vom rechtsradikalen Projekt genommen und viele der einstigen Volkswirt*innen um Bernd Lucke, die die Partei gegründet haben, der AfD den Rücken gekehrt. Aber insbesondere für die Gründung der AfD, die Anschubfinanzierung und das gemäßigte Image der Anfangszeit waren die Widersprüche zwischen den Kapitalfraktionen und die entsprechende politische Bearbeitung durch Lucke und Co. von großer Bedeutung. Bezogen auf die Widersprüche innerhalb der Kapitalfraktionen kann rückblickend hegemonietheoretisch von einem »Sprung in einem Porzellan« (Haug 1998: 85) gesprochen werden; es ist zwar noch kein Stück abgebrochen, aber sollte es mal zu einem Bruch kommen, ist es wahrscheinlich, dass er an dieser Stelle entstehen wird.

Spaltung des konservativen Lagers

Mehr als nur ein Riss ist in Hinblick auf die erstgenannte Krisendynamik festzustellen. Um beim Bild des Porzellans zu bleiben: Aus dem dekorativen Zwiebelmuster-Teller des Konservatismus ist ein kleinerer, aber deutlich sichtbarer Teil abgebrochen. Das Auseinanderbrechen des Konservatismus hatte sich bereits in den Jahren vor der AfD-Gründung angedeutet. Die Spaltung verlief zwischen gesellschaftspolitisch Reaktionären auf der einen und modernisierten Konservativen auf der anderen Seite. Die Mehrheit in der Union unter Angela Merkel stand dabei für Letztere. Diese hatte die Entwicklungen der Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte weitgehend akzeptiert: dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war, dass ein Gros der Gesellschaft sich für Gleichberechtigung der Geschlechter aussprach, dass gleichgeschlechtliche Liebe auch von der Mehrheitsgesellschaft zumindest mehr oder weniger als Normalität anerkannt wurde. Demgegenüber standen Ansätze eines traditionalistischen und »radikalisierten Konservatismus« (Strobl 2021) in Deutschland, wie exemplarisch die Debatte um Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab (Sarrazin 2010) im Sommer 2010 deutlich gemacht hatte. Das Buch ist nicht nur ein Pamphlet zur Rehabilitierung der in Deutschland ins Abseits geratenen Intelligenzforschung, sondern zugleich ein erzkonservatives Plädoyer für die Stärkung der »deutschen Leitkultur«. So warnte Sarrazin vor »Deutschenfeindlichkeit«, vor der angeblich drohenden Vormachtstellung des Islams, einer vermeintlich um sich greifenden politischen Korrektheit, argumentierte auf Grundlage eines klassisch biologistisch begründeten Rassismus für ein völkisches Gemeinschaftsverständnis und betonte die Vorzüge eines elitären Bildungssystems. Sarrazin verband in seinem Buch also Themen, die nationalkonservative Kreise seit geraumer Zeit beschäftigten. Trotz eines von linker und liberaler Seite beklagten gesellschaftspolitischen Rollbacks im Zuge der Kontroverse bedeutete deren Verlauf und ihr Ergebnis für Nationalkonservative eine faktische Niederlage, denn obwohl Sarrazin vielfach zitiert und diskutiert wurde, haben reaktionäre Positionen letztlich einen Bedeutungsverlust innerhalb des herrschenden Blocks hinnehmen müssen. Eine Analyse der Debatte zeigt, dass der völkisch-nationalistische Rassismus zwar wieder offener formuliert werden konnte, also sagbarer wurde, dieser allerdings im Zuge der wochenlangen Auseinandersetzung zugunsten eines auf Verwertung setzenden »Rassismus der Leistungsgesellschaft« ins Hintertreffen geraten ist (Friedrich 2011). Letztlich setzten sich medial jene Stimmen durch, die die potenzielle Verwertbarkeit von »Musterbeispielen gelungener (Arbeitsmarkt-)Integration« hervorhoben.

Eine ähnliche Entwicklung gab es vier Jahre zuvor in der Frauen- und Familienpolitik, als im September 2006 die damalige Fernsehmoderatorin Eva Herman ihr Buch Das Eva-Prinzip (2006) veröffentlicht hatte. Darin plädierte sie für eine reaktionäre Rollenverteilung: Männer seien ihrer biologischen Veranlagung nach nicht für die Kindererziehung vorgesehen, im Gegensatz zu Frauen, die sich auf ihre ›natürlichen‹ Fähigkeiten besinnen sollten. Zwar mobilisierte Herman ähnlich wie später Sarrazin Rechte auch aus Teilen der CDU, aber der politische Realismus und Pragmatismus des modernisierten Konservatismus sprach eine andere Sprache, fiel doch die Diskussion um das Buch zusammen mit einer deutlichen Wende in der Familienpolitik der Union. Die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sorgte während ihrer Amtszeit zwischen 2005 und 2009 durch mehrere Vorstöße für Unmut in den eigenen Reihen, da sie ein vergleichsweise modernisiertes Familienleitbild vertrat. So setzte sie etwa das gesetzliche Recht auf Krippenplätze durch.

Während sich die Mehrheit der Union, insbesondere an der Spitze, an veränderte gesellschaftliche Voraussetzungen anpasste und modernisierte, formierten sich am rechten Rand des Konservatismus zunehmend Diskurse um Einwanderung, Integration sowie die Rolle der Frau und sexuelle Vielfalt, die immer mehr in Opposition zum als zu links empfundenen Merkelismus standen, was auch die Frage nach der adäquaten Repräsentation des Parteienspektrums aufwarf. So hatten die Debatten in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre auch die Erfolgsaussichten einer neuen Partei rechts der Union befördert. Mitten in der Sarrazin-Debatte gab die Bild am Sonntag eine Umfrage in Auftrag, nach der sich 18 Prozent vorstellen könnten, eine »Sarrazin-Partei« zu wählen. Nur wenige Wochen zuvor schrieb der damalige Journalist und inzwischen für die AfD arbeitende Michael Klonovsky erwartungsvoll im Wochenmagazin Focus: »Nie war die Zeit für die Gründung einer konservativen Alternative günstiger als heute.« (Klonovsky 2010)

Gegen die angeblich sozialdemokratisierte Union unter Merkel hatte sich vor Gründung der AfD eine Gruppierung namens Berliner Kreis gebildet. Dieser vermochte es aber nicht, seine Positionen in der CDU zu stärken. Alexander Gauland und Konrad Adam waren Teil des Kreises, verließen aber diesen und die Partei, der sie lange angehört hatten, um sich auf die Suche nach etwas Neuem zu machen. Sie fanden die national gesinnten neoliberalen Volkswirt*innen um Bernd Lucke und gingen ein Bündnis mit ihnen ein. Ausschlaggebend für diesen Zusammenschluss dürfte die Einschätzung gewesen sein, dass weder eine neoliberale noch eine ausschließlich nationalkonservative Partei in Deutschland Chancen gehabt hätte, sich zu etablieren.

Der völkische Flügel und die Modernisierung des Rechtsradikalismus

Als die AfD bei der Bundestagswahl 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, entschied sich die Parteiführung, die Partei weiter nach rechts zu öffnen. So formierte sich neben dem nationalkonservativen und dem neoliberalen Flügel schnell ein dritter, dessen Kern der völkische Nationalismus ist. Bereits bei den Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern 2014 konnten sich mit Björn Höcke in Thüringen und Andreas Kalbitz in Brandenburg wichtige und einflussreiche Vertreter des völkischen Nationalismus in erster und zweiter Reihe ihrer jeweiligen Landesparteien profilieren.

Der völkisch-nationalistische Flügel ist eng verknüpft mit der sogenannten Neuen Rechten, einer Denkschule zur Restauration rechten Denkens, die sich in den 1960er-Jahren gebildet hat. Beim völkischen Nationalismus steht in letzter Instanz das ethnisch definierte Volk im Mittelpunkt. Dieses sollte kulturell wie ethnisch weitgehend homogen sein und die Wirklichkeit der Ideologie entsprechend an das völkische Ideal angepasst werden (vgl. Kellershohn 2013).

Der völkisch-nationalistische Flügel in der AfD verkörperte von Beginn an die Modernisierung des Rechtsradikalismus. Diese ist zunächst inhaltlicher Art. Man orientiert sich weiterhin an einer Homogenität des Volkes, macht diese aber – zumindest offiziell – kaum noch anhand genetischer Kriterien fest – wohlwissend, dass mit der Niederlage der Nazis pseudobiologische Rasse-Konzepte etwas in Verruf geraten sind. Zwar gab und gibt es immer wieder Versuche, die Kategorie ›Rasse‹ wieder gesellschaftsfähig zu machen, parallel dazu hat sich jedoch ein alternatives, sehr viel geschickteres Konzept etabliert: der Ethnopluralismus. Er trägt der gesellschaftlichen Kritik an genetisch verstandenem Rassismus zwar Rechnung, kommt aber mithilfe von anthropologischen, ethnologischen und psychologischen Argumenten zu ähnlichen Schlüssen: Verschiedene Völker dürften zwar nebeneinander leben, sollten sich aber nicht vermischen.

Der Begriff des Ethnopluralismus stammt aus den 1970er-Jahren. Damals formulierte Henning Eichberg (1978) mit seinem Konzept ethnisch weitgehend homogener Gesellschaften eine Absage an den Universalismus der Linken und zugleich eine im Vergleich zum aggressiven Ethnozentrismus der Nazis harmloser wirkende Neuformulierung rassistischer Prämissen. Der Ethnopluralismus prägt das rechtsradikale Spektrum in Europa bis heute. Er ist grundlegend für Intellektuelle der Neuen Rechten wie auch für faschistische und rechtsradikale Strömungen in Frankreich, Italien und Spanien.

In Deutschland wird der Ethnopluralismus nicht nur von AfD-Vorfeldstrukturen wie der Identitären Bewegung aufgegriffen, sondern auch von AfD-Politiker*innen selbst. Hans-Thomas Tillschneider, Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt, bezog sich in einem programmatischen Beitrag aus dem September 2018 positiv auf den Begriff. Ethnopluralismus sei das »Leitmotiv des AfD-Programms«. Man setze sich »auf allen Gebieten dafür ein, die ethnokulturelle Einheit, die sich deutsches Volk nennt, zu erhalten«[9]. Diese Ideologie schien auch durch, als der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland mit Blick auf Fußballspieler mit Migrationsgeschichte meinte, die deutsche Nationalmannschaft sei nicht mehr »im klassischen Sinne« deutsch (Gauland 2016: 37).

Neben dieser inhaltlichen Modernisierung lässt sich anhand der Geschichte der AfD auch eine strategische Modernisierung des deutschen Rechtsradikalismus beobachten. Die AfD fungiert längst nicht mehr nur als Partei, sondern bildet gemeinsam mit den Vorfeldstrukturen ein rechtsradikales politisches Projekt, das auch rechte Bürger*inneninitiativen, rechtsradikale Medien, Burschenschaften, Institute und Subkulturen umfasst. Besonders die Strateg*innen der völkisch-nationalistischen Strömung zielen nicht nur auf Wähler*innenstimmen, sondern kämpfen auch um Begriffe, um die Straße sowie um die Zivilgesellschaft.

Den Kampf um die Wähler*innenstimmen im rechtsradikalen Lager hat die AfD eindeutig gewonnen. Sie konnte in fast allen Klassen und gesellschaftlichen Milieus hinzugewinnen, während die NPD und andere rechtsradikale Parteien weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versunken sind oder sich aufgelöst haben. Vom Parlamentarismus hält insbesondere der völkisch-nationalistische Flügel in der AfD allerdings wenig. Die AfD soll laut Björn Höcke, dem Kopf der Völkischen in der Partei, die ›Stimme der Bewegung‹ in den Parlamenten sein. Das Parlament wird vor allem als Bühne verstanden, um die eigenen Positionen in Szene zu setzen. Es geht dabei um mehr als nur Parlamentsarbeit – in einem Interviewband sagte Höcke mit Blick auf die strategische Ausrichtung:

»Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht ausreichen. Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen« (Höcke/Hennig 2018: 257 f.).

Beim Kampf um die Begriffe geht es um die kulturelle Hegemonie. Dieses metapolitische Konzept ist in Anlehnung an die Strategie der Neuen Linken nach 1968 in Frankreich entwickelt worden. Demnach stünden nicht mehr Wahlen und Parteien im Zentrum rechter Politik, sondern der vorpolitische Raum, der Kampf um Deutungen und Denkweisen. Der rechtsradikale Verleger und Publizist Götz Kubitschek empfiehlt für den rechten Kulturkampf drei Diskursstrategien: Erstens müsse die Rechte die Grenzen des Sagbaren durch gezielte Provokationen erweitern. Dazu gelte es, »in Grenzbereichen des gerade noch Sagbaren und Machbaren provozierend vorzustoßen« (Kubitschek 2017: 27 f.). Diese Strategie des kalkulierten Tabubruchs wendet die AfD seit ihrer Gründung an, womit es ihr insbesondere in den Anfangsjahren gelang, die politischen Debatten zu dominieren. Zweitens habe die Rechte »Verzahnung« zu praktizieren, mit dem Ziel, »die feindliche Artillerie am Beschuß zu hindern« (ebd.: 28). Man solle die eigenen Truppen mit denen des Gegners verzahnen, damit dieser nie genau wisse, »ob er nicht auch die eigenen Leute trifft, wenn er feuert« (ebd.). Praktisch bedeutet dies etwa, einem CDU-Politiker zuzustimmen, wenn er sich von sogenanntem Linksextremismus oder der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung abgrenzt. Drittens empfiehlt Kubitschek »Selbstverharmlosung«. Man müsse versuchen, »die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, daß nichts von dem, was man fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle« (ebd.).

Beim Kampf um die Straße und um die Zivilgesellschaft gelingt es der AfD immer wieder, die Brücke zu rechten Straßenmobilisierungen wie Pegida in Dresden zu schlagen. Vorläufiger Höhepunkt der Strategie, die AfD als führende Kraft einer rechtsradikalen Bewegung zu etablieren, war eine Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018, auf der AfD-Spitzenpersonal Schulter an Schulter mit den Galionsfiguren von Pegida, mit Identitären und Neonazis aus Kameradschaften marschierte. Mit dieser Demonstration präsentierte sich die AfD erstmals offensiv als führende Kraft einer rechten Einheitsfront, die die Kampfansage auf der Straße mit der parlamentarischen Arbeit verknüpft.

Bruch der Massen: Erosion des gesellschaftlichen Konsenses

Der völkisch-nationalistische Flügel um Björn Höcke verfolgt zwar nicht zur Gänze, aber stärker als die Nationalkonservativen und sowieso stärker als die Nationalneoliberalen, die Strategie eines »solidarischen Patriotismus« (Kaiser 2020). Damit einher geht der Versuch, das Wähler*innenspektrum der AfD zu erweitern: eher weg von älteren, eher gutsituierten Akademiker*innen hin zu jüngeren Selbstständigen, Arbeiter*innen, Handwerker*innen mit formal niedriger oder mittlerer Bildung. Zwar sprach der Ehrenvorsitzende und Mitbegründer Alexander Gauland bereits 2014 davon, dass die AfD eine »Partei der kleinen Leute« sei, aber für den Schwenk hin zu genau jenen, die die AfD unter kleine Leute fasst, war 2016 ein Schlüsseljahr. Nicht zufällig galt 2016 mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November, dem Brexit-Votum im Juni und der deutschsprachigen Veröffentlichung von Rückkehr nach Reims (Eribon 2016) im Mai als das Jahr, in dem das Bürger*innentum, der öffentliche Diskurs und das bürgerliche Feuilleton die Arbeiter*innenklasse wiederentdeckten. In Deutschland begann die Diskussion um Arbeiter*innen, die sich vermeintlich plötzlich nach rechts orientierten, bereits vorher, genau genommen am 13. März, dem Tag der Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Die AfD konnte Nachwahlbefragungen zufolge in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt jeweils stärkste Partei unter Arbeiter*innen und Arbeitslosen werden, was seitdem breit diskutiert wird.

Der relative Erfolg der AfD unter Arbeiter*innen und Arbeitslosen ist Resultat einer Herauslösung von Teilen der Arbeiter*innenklasse aus dem hegemonialen Konsens, was lange vor 2016 begann. Sie korrespondiert mit dem Ende des »goldenen Zeitalters« des Kapitalismus (Hobsbawm 1995: 285 ff.), den Jahren nach dem Krieg bis etwa Mitte der 1970er-Jahre, dessen Gold »gegen den trüben und düsteren Hintergrund der kommenden Krisenjahrzehnte noch sehr viel strahlender wirken« (ebd.: 325) sollte. Es kam in der Folge zu einer strukturellen Überakkumulation von Kapital, was sich zunächst in Stagflation ausdrückte, die u. a. durch Ausweitungen des Finanzsektors, internationale Arbeitsteilung, Globalisierung, insbesondere in Folge von 1989 ff. bearbeitet wurde (vgl. Krüger 2023: 683–785). Im Zuge der neoliberalen Konterrevolution (Harvey 2007) bemühte sich die Kapitalseite erfolgreich um Deregulierungen, Privatisierungen und die Erschließung neuer Märkte sowie darum, den Druck auf Lohnarbeit zu erhöhen, was zu sinkenden Löhnen, ›Flexibilisierungen‹ (für die Unternehmen) und verschärfter Konkurrenz zwischen Erwerbstätigen, einem Ausbau des Niedriglohnsektors und der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse führte (vgl. Nachtwey 2016: 98–107). Diese Entwicklung betraf auch gut bis sehr gut qualifizierte Lohnabhängige, die sich in einer »gehobenen Form von Prekarität« (Castel 2009: 32) wiederfanden. Bei Teilen der Mittelklasse und oberen Schichten der Arbeiter*innenklasse entstand eine diffuse Ablehnung des Bestehenden, bei gleichzeitigem Beharren auf Privilegien. 2014 wurde nachgewiesen, dass ein Teil der Mittelklassen einen »marktförmigen Extremismus« befürwortet (Groß und Hövermann 2014). Dieser umfasst neben der verallgemeinerten Norm der Selbstoptimierung die Forderung allgegenwärtigen Wettbewerbs und ökonomistisches Denken, bei dem Bevölkerungsgruppen entlang von Kosten-Nutzen-Kriterien bewertet werden. Die Zustimmung zum marktförmigen Extremismus ist bei Personen, die ihren Lebensstandard und ihre Ersparnisse bedroht sehen, doppelt so hoch wie bei jenen ohne Abstiegsangst. Bereits damals wurde festgestellt, dass die AfD das wettbewerbspopulistische Potenzial aufgreift. Vor allem bei Personen, die mit den Argumenten der AfD sympathisierten, seien marktförmiger Extremismus und Bedrohungsgefühle besonders stark vertreten gewesen.

Wesentlicher ideologischer Kitt der neoliberalen Hegemonie war über lange Zeit die Leistungsideologie. Auch diese erodiert zunehmend (Neckel, Dröge und Somm 2005), und auch davon konnte die AfD 2016 ff. profitieren. Eine Erosion der Leistungsideologie, das Wissen also, dass Leistung nicht notwendig zu Erfolg führt, kann reaktionäre Krisenlösungsstrategien begünstigen: Wenn etwa Geschlecht, die Staatsbürger*innenschaft und die soziale Herkunft in dieser Gesellschaft entsprechende Einflussfaktoren für Erfolg sind, dann können diese offensiv für den Erhalt von Privilegien eingesetzt werden. Rechts eingestellte Arbeiter*innen tendieren entsprechend dazu, »den Kampf um Statuserhalt und -verbesserung mit Hilfe von Ressentiments auszutragen« (Dörre et al. 2018: 58). Anstelle des Ideals der universellen Solidarität tritt Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken. Bei der Thematisierung der sozialen Frage durch die Rechten handelt es sich um den Versuch, »den Bewährungsproben um Lohn und Arbeitsbedingungen ein ethnisch-nationalistisches Format zu geben« (ebd.: 56). Kulturkonservatismus, Nationalismus, Rassismus und Sexismus treffen also auf verschärfte Konkurrenz und reale Abstiegsängste, die vor allem innerhalb neoliberaler Leistungsideologie verarbeitet werden. Der rechte Kulturkampf und die realen materiellen Sorgen bilden somit eine Grundlage, Abstiegsängste reaktionär zu verarbeiten. Nicht Kämpfe um höhere Löhne, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und für Umverteilung stehen auf der Tagesordnung, sondern der Kampf gegen andere Gruppen, die sich auf dem nationalen und weltweiten Arbeitsmarkt wiederfinden. Dieser Kampf korrespondiert mit einer Krise der Repräsentation und Kontrollverlusten sowohl der herrschenden Politik wie auch auf der Ebene der Individuen (vgl. Deppe 2019: 24). Entsolidarisierung und exklusive Solidarität sind somit Antworten auf verschärfte Konkurrenzbedingungen im Kapitalismus, ohne die systemischen Grundprinzipien oder die neoliberale Ideologie herauszufordern. Der Ellbogen ersetzt die kämpferische Faust.

Krise, Konstituierung und Kraftzentrum Ost

Trotz aller Machtkämpfe, Abspaltungen und Häutungen seit der Gründung sind in der AfD noch immer diese drei Strömungen tonangebend. Das bringt innere Widersprüche mit sich, denn Neoliberale, Nationalkonservative und Völkische trennt Substanzielles. So gibt es bezüglich Wirtschafts- und Sozialpolitik oder Geopolitik sehr unterschiedliche Positionen (siehe den Beitrag von Dietl in diesem Band). Ein weiterer Streitpunkt, um den sich die meisten Macht- und Richtungskämpfe der AfD seit ihrer Gründung drehen, ist ein strategischer: Während eine Mehrheit der Akteur*innen der nationalkonservativen wie der neoliberalen Strömung eine taktische Mäßigung und einen parlamentsorientierten Ansatz vorzieht, setzt ein Großteil des völkischen Flügels auf einen bewegungsorientierten, fundamentaloppositionellen Kurs. Dennoch ist es der AfD immer gelungen, eine existenzgefährdende Spaltung zu verhindern, sich auf den Projektcharakter der Partei zu besinnen und die gemeinsame weltanschauliche Klammer im Blick zu behalten: die Ideologie der Ungleichheit.

Auch die Jahre 2020 und 2021, die von der Auseinandersetzung um die Corona-Pandemie geprägt waren, hat die Partei überstanden. In diesen stagnierte die AfD in Umfragen bei zehn Prozentpunkten, der Verfassungsschutz nahm sie offiziell in den Blick und in den internen Auseinandersetzungen konnten die Gegner*innen des völkisch-nationalistischen Flügels ein paar Geländegewinne erzielen. Das alles sorgte für Nervosität insbesondere im völkischen Lager.

Zeitweise drohte der AfD der Kampf um die Straße zu entgleiten, als sie während der Corona-Proteste den Nimbus als Avantgarde-Partei der rechten Bewegung in einigen ostdeutschen Gebieten an die Gruppierung Freie Sachsen verloren hatte. Parteiintern wurde problematisiert, die AfD investiere zu wenig in den Aufbau eines Vorfelds, gebe zu wenig an die Bewegung weiter. Entsprechend wurde dem Zusammenspiel zwischen Partei und Bewegungsakteur*innen mehr Aufmerksamkeit gewidmet (Kaiser 2022).

Auch in diesen beiden schwierigen Jahren blieb Ostdeutschland für die AfD und den völkischen Flügel ein wichtiger Bezugspunkt. Dort verlor die AfD anders als in den westdeutschen Bundesländern nicht an Zustimmung in Umfragen, was den Nimbus des völkischen Kraftzentrums für die Gesamtpartei stärken könnte. In Ostdeutschland gelingt es der AfD, mit Anti-Establishment-Rhetorik zu punkten. Das geringere Vertrauen der Menschen in die Institutionen des Staates ist nicht nur, aber auch darauf zurückzuführen, dass sich im Zuge des Beitritts der neuen Bundesländer zur BRD für die Ostdeutschen binnen kurzer Zeit vieles zum Negativen verändert hat: Quasi über Nacht musste das einstige Industrieproletariat mit einem forcierten Strukturwandel, gezielter Deindustrialisierung und damit einhergehender Massenarbeitslosigkeit zurechtkommen. Was sich in ehemaligen Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet über Jahrzehnte vollzogen und trotz staatlicher Abfederungen zu Verwerfungen im Sozialgefüge geführt hat, spielte sich Anfang der 1990er-Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR innerhalb von Wochen ab. Statt der versprochenen blühenden Landschaften gab es Industrieruinen, statt Hoffnungen weitgehend Tristesse. Die Bindungen der Bevölkerung an die Ideologien und Institutionen der alten Bundesrepublik mussten in Ostdeutschland also nicht erst mit der Zeit schwächer werden; sie waren hier stets geringer ausgeprägt. Die Wahlbeteiligung ist in den ostdeutschen Bundesländern deutlich niedriger als im Westen, ebenso der Anteil der Mitglieder in Vereinen oder gemeinnützigen Organisationen. So konnten AfD und Co. vor allem in ländlichen Regionen in ein Hegemonie-Vakuum stoßen, auch weil es den Rechten gelang, sich als Kümmer*innen für die Belange Ostdeutscher in Szene zu setzen. Sie knüpfen dabei bewusst an die Wendeerfahrungen an: »Vollende die Wende«, lautet ein in Ostdeutschland häufig genutzter Slogan der AfD. Die Botschaft: Damals ging es gegen die SED-Bonzen der DDR, heute gegen das Establishment der Bundesrepublik. 

Weder Spaltungen, Krisen, Machtkämpfe noch die fortwährende Rechtsentwicklung der Partei oder ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz hat der AfD substanziell geschadet. Elf Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Partei etabliert, sitzt in fast allen Landtagen, hat Hunderte Abgeordnete und noch mehr Mitarbeiter*innen. Hoffnungen, die AfD würde an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen, haben sich nicht erfüllt – und werden sich voraussichtlich auch in Zukunft nicht erfüllen. Anders als etwa die Linkspartei schafft es die AfD, ihre grundlegenden internen Meinungsverschiedenheiten zu bearbeiten, teilweise sogar produktiv zu nutzen. Streitigkeiten laufen inzwischen relativ geräuschlos hinter den Kulissen ab. Nach dem Bundesparteitag in Riesa im Juni 2022 sind die Kräfteverhältnisse bis auf Weiteres geklärt: Man kommt an dem völkischen Flügel nicht mehr vorbei. Er gibt den Takt in der Post-Riesa-AfD vor.

Die Schwäche der gesellschaftlichen Linken

Dass sich die AfD seit 2022 in Umfragen wieder zulegen konnte, während sich die gesellschaftlichen Widersprüche weiter zuspitzten, der Machtblock in der Gesellschaft bröckelt und immer mehr Menschen unzufrieden mit der herrschenden Politik und den Verhältnissen zu sein scheinen, hat nicht zuletzt mit einer weiteren gesellschaftlichen Entwicklung zu tun: der Schwäche der gesellschaftlichen Linken. Sie konnte nicht nur nicht von der sich entwickelnden Hegemoniekrise profitieren, sondern trägt durch ihre Erosion bis weit ins reformistische und gemäßigt linke Lager mit zu dieser bei.

Die Schwäche der gesellschaftlichen Linken in Deutschland lässt sich ohne die Zeitenwende der Jahre 1989–91 nicht verstehen, denn das Ende der DDR und der Untergang der Sowjetunion war für die sozialistische Linke einschneidend, unabhängig davon, welche Hoffnungen oder Ablehnungen mit dem real existierenden Sozialismus verbunden wurden. Die Sozialdemokratie konnte sich nach 1989 noch einige Jahre halten, zumindest nominell, denn sie hatte mit zunehmender Neoliberalisierung im Zuge von New Labour und Neuer Sozialdemokratie einen folgenschweren Schwenk vollzogen: Während sie sich gesellschaftspolitisch einigermaßen fortschrittlich aufgestellt hatte, bezog sie gleichzeitig wirtschafts- und sozialpolitisch Positionen, die auf Konkurrenz und individuelle Leistungsbereitschaft setzen und den Interessen des exportorientierten Kapitals Vorrang einräumte, also die ›Standortbedingungen‹ auf Kosten der Lohnabhängigen verbesserte. Der ideale Ausdruck dieser Entwicklung war die rot-grüne Bundesregierung 1998 bis 2005. Sie verband ein kulturell halbwegs progressives Programm mit einem wirtschafts- und sozialpolitisch stramm rechten Kurs: Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und die Einführung der Lebenspartnerschaft kombinierte Rot-Grün mit einem im Sinne der Kapitalinteressen radikalen Umbau des Sozialstaats inklusive der deutlichen Senkung des Spitzensteuersatzes. Die nominell linkeste Regierung, die es jemals in der Bundesrepublik Deutschland gab, war es zudem auch, die Kriegseinsätze normalisiert hat.

Zunächst konnte die Linkspartei ab Mitte der 2000er-Jahre als »aufkommende Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus« (Lafontaine 2006) vom Niedergang der parteienförmigen Sozialdemokratie profitieren. Doch die 11,9 Prozent bei den Bundestagswahlen 2009 waren für Die Linke das beste Ergebnis. Mit der Linken gelang es zwar zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, eine Sammlungspartei links der Sozialdemokratie zu etablieren, doch die einzelnen Teile ergaben mittel- und langfristig kein Ganzes, die Sammlungspartei blieb eine Partei der vielen Parteien. Erschwerend hinzu kam, dass der ideologische Kleister, der die Teile zusammenhalten musste, an Klebkraft verlor: die Ablehnung des Neoliberalismus. Zwar gehören neoliberale Prinzipien längst nicht der Vergangenheit an, sie sind aber nicht mehr so klar erkennbar. Vielleicht blickt man in ein paar Jahren auf die Geschichte der Linkspartei als gescheitertes Projekt der Neuformierung des sozialistischen Lagers zurück, als ein nur vorübergehendes Hoch in einem langen Zerfallsprozess seit 1989. Als organisierte und schlagkräftige Akteurin, die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft macht, fällt die real existierende Linke momentan jedenfalls weitgehend aus.

Ausblick

Die Schwäche der Linken dürfte auch ein Faktor dafür sein, dass es vor allem die AfD ist, die seit 2022 stark von aktuellen Krisendynamiken profitieren kann. Stand sie im Frühjahr 2022 in Umfragen noch bei etwa elf Prozent, konnte sie bis Sommer 2023 ihre Umfragewerte verdoppeln. Das liegt nicht nur an der enorm schlechten Stimmung gegenüber der Ampel-Koalition, sondern auch an der öffentlichen Diskussion über den Krieg gegen die Ukraine. Eine absolute Mehrheit der Deutschen war im Sommer 2023 laut Infratest Dimap der Ansicht, dass die Bundesregierung auf diplomatischem Wege zu wenig tue, um den Krieg zu beenden, während gleichzeitig immer weniger finden, dass die bisherige Unterstützung der Ukraine mit Waffen nicht ausreiche.[10] Die AfD profitiert offenbar davon, denn gerade bei der Frage nach dem Umgang mit dem Krieg unterscheidet sich die AfD-Wähler*innenschaft stark von denen der Ampel-Parteien und der Union: Bei SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sind zwischen 32 und 43 Prozent dafür, dass Deutschland Kampfflugzeuge an die Ukraine liefern soll – bei der AfD sind es nur sieben Prozent. Die vergangenen beiden Jahre zeigen an, was weite Teile der Bevölkerung (und vielleicht auch der Linken) möglicherweise lange erfolgreich verdrängt haben: All die beschriebenen Widerspruchskonstellationen und Krisenerscheinungen »werden überlagert, überdeterminiert durch die tiefgreifenden Veränderungen auf dem Felde der Weltordnung« (Deppe 2019: 31).

Den größten Sprung in den Umfragen konnte die AfD im Sommer 2022 machen. Damals standen Ängste vor einer Ausweitung des Kriegs gegen die Ukraine, vor einer Rezession und vor unbezahlbaren Heizkosten im Mittelpunkt der politischen Debatte. Der AfD gelang es offenbar, überdurchschnittlich davon zu profitieren. Inzwischen ist die Anhänger*innenschaft der AfD diejenige, die ihre eigene wirtschaftliche Situation im Vergleich zu der Klientel anderer Parteien am schlechtesten einschätzt.[11] Gleichzeitig zeigen Daten, dass das Thema Zuwanderung für AfD-Wähler*innen mit Abstand die größte Rolle spielt. Die AfD versucht seit Jahren, sozioökonomische Themen zu kulturalisieren, indem sie etwa Probleme wie Ungleichheit mit Migrationspolitik koppelt (vgl. Eberhardt/Friedrich 2019). Diskursive Unterstützung erfährt die AfD dabei in letzter Zeit zunehmend von der Union. Offenbar inspiriert durch die Strategie der US-Republikaner*innen, positioniert sich die CDU als stärkste Oppositionspartei verstärkt gegen Gendersternchen, Wokeness und politische Korrektheit und versucht, Migration und Asyl als eines der Hauptprobleme darzustellen. Anstatt die AfD mit ihrer Strategie zu schwächen, scheint die Union die rechte Konkurrenz eher zu stärken, indem sie diskursiv deren Feld bestellt. Die Ernte fährt allerdings die AfD ein, deren Kerngeschäft nationalistische Identitätspolitik, also der rechte Kulturkampf ist.

Bei der Union zeigt sich, dass der Spaltungsprozess, der ursprünglich mit zur Gründung der AfD geführt hat, möglicherweise noch nicht abgeschlossen ist, wie etwa die Gründung der Werteunion um den früheren Verfassungsschutzpräsidenten und mittlerweile selbst vom Verfassungsschutz beobachteten Hans-Georg Maaßen zeigt. Und die Diskussionen um eine mögliche Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD scheint auch im Jahr 2024 kein Ende zu finden. Im Gegenteil: Obwohl inzwischen allen Beobachter*innen klar sein sollte, dass die AfD eine in weiten Teilen rechtsradikale Partei ist, können sich (vor allem in Ostdeutschland, aber nicht nur dort) Teile der Union perspektivisch eine Kooperation mit der AfD vorstellen. Diese Diskussion könnte bei der Union zu weiteren Verwerfungen und Abspaltungen führen und der AfD wiederum dem von Spitzenpolitiker*innen erklärten Ziel, die Union zu zerstören (Bongen/Friedrich 2023), näherkommen lassen. Ein Blick auf die Entwicklungen christdemokratischer und gemäßigt-konservativer Parteien in anderen EU-Staaten zeigt, dass die Zerstörung der Union kein Wunschtraum von AfD-Politiker*innen sein muss. In etwa der Hälfte der 27 EU-Staaten haben rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien die jeweils gemäßigt- konservativen Parteien bereits überholt oder liegen nahezu gleichauf (ebd.). Zerbricht die konservative Fraktion im Machtblock, wäre das eine immense Vertiefung der Hegemoniekrise, aus der sich dann tatsächlich ein neuer Block unter Führung der AfD zusammensetzen könnte. Der Hegemonieapparat könnte dabei, ähnlich wie von Gramsci für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben, auf politischer Ebene zunehmend Risse bekommen (Gramsci 1991 ff.: 1610). »Die Krise des Autoritätsprinzips«, der »Zerfall des parlamentarischen Regimes« äußerte sich praktisch in der »ständig wachsenden Schwierigkeit, Regierungen zu bilden, sowie in der ständig wachsenden Instabilität der Regierungen selbst« (ebd.). Von einer solchen Situation sind zumindest Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo im Herbst 2024 Landtagswahlen stattfinden werden, nicht mehr weit entfernt.

Literaturverzeichnis

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Die Alternative für Deutschland – rechtspopulistisch, rechtsextrem, faschistisch?

Vielfach sind bei Demonstrationen gegen die AfD in jüngerer Zeit Plakate zu sehen, die den AfD-Politiker Björn Höcke als ›Nazi‹ bezeichnen. Im Juni 2023 stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung ein, weil diese Bezeichnung ein »an Tatsachen anknüpfendes Werturteil« sei – und damit vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Schon im Jahr 2019 hatte das Verwaltungsgericht in Meiningen die Wertung Höckes als »Faschist« erlaubt, da dieses Werturteil »auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage« beruhe.[12] In einem Facebook-Post betonte der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Hendrik Wüst (CDU), am 14. Januar 2024, dass die AfD eine »Nazi-Partei« sei, da in ihr Nazis den Ton angäben und Nazi-Inhalte verbreitet würden.

Dem öffentlichen Meinungskampf, in dem auch zugespitzte Positionen und Wertungen vertreten werden (dürfen), liegen nicht immer theoretisch abgesicherte und empirisch überprüfte Kenntnisse zugrunde. Die Debatte um eine solche tragfähige Charakterisierung der AfD findet statt und hat eine Vielzahl von Bezeichnungen hervorgebracht, die von nationalliberal und national-autoritär über rechtspopulistisch bis hin zu faschistisch oder gar nationalsozialistisch reichen. Gelegentlich beziehen sich diese Benennungen auch nur auf bestimmte Elemente, etwa die Rhetorik der Partei oder zentrale Akteure.

Tatsächlich sind bei der Beantwortung der Frage, welche Begrifflichkeit und Charakterisierung angemessen ist, zwei Stränge zu thematisieren und zu berücksichtigen: die tatsächliche Entwicklung der Partei, darunter Kontinuität und Veränderung in Programmatik und Auftreten, sowie die jeweils zugrunde gelegten theoretischen Perspektiven, also das jeweilige Verständnis von Rechtspopulismus, Faschismus und Rechtsextremismus. Dieser Beitrag stellt den Versuch dar, beide Stränge zusammenzubringen und entsprechend transparent zur Beantwortung der Frage zu gelangen, wie die AfD Anfang 2024 zu charakterisieren und zu bezeichnen ist.

Entwicklung der AfD

Die Gründung der AfD im Jahr 2013 erfolgte als Sammlungsprojekt nationalliberaler, rechtsklerikaler, nationalkonservativer und wirtschaftsliberaler Kreise. Früh wirkten auch schon Personen mit, die aus völkisch-nationalistischen Zusammenhängen kamen; in erheblichem Umfang traten zudem Mitglieder der islamfeindlichen Partei Die Freiheit der neu gegründeten Partei bei. In der Nachfolge auf Bundesebene gescheiterter Parteiprojekte rechts von der CDU/CSU, wie beispielsweise dem Bund Freier Bürger oder der Partei Die Republikaner, gelang der AfD rasch die Entsendung von Abgeordneten in das Europäische Parlament (Mai 2014) sowie in die ostdeutschen Landesparlamente in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Zugleich gab es in der Partei heftige interne Konflikte, die durch individuelle Profilierungsinteressen, aber auch entlang programmatischer Differenzen ausgetragen wurden. Insbesondere der Streit zwischen Bernd Lucke und Frauke Petry führte zu einer deutlich geringeren Attraktivität für Wähler*innen, sodass die AfD bei Wahlabsichtsbefragungen im Juli 2015 nur noch zwischen drei und vier Prozent lag. Dies lag einerseits an den massiven, öffentlich ausgetragenen Konflikten, zum anderen daran, dass das Thema der Euro-Krise auf weniger Interesse als zuvor stieß.