Rechtsgeschichten - Richard Weisberg - E-Book

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Richard Weisberg

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Beschreibung

Das Recht, der Anwalt oder der Richter nehmen in der schönen Literatur breiten Raum ein. Dennoch gibt es kaum Untersuchungen über das Verhältnis von Jurisprudenz und Literatur. Der in New York lehrende Rechtswissenschaftler Richard Weisberg ist einer der Pioniere der »Poethik«, die sich mit diesem Beziehungsgeflecht befaßt. Der Band versammelt eine Auswahl seiner Arbeiten, die sich mit dem Recht bei Camus, Dostojewski, Flaubert und anderen auseinandersetzen. Ein Nachwort von Bernhard Schlink beschließt den Band.

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Das Recht, der Anwalt oder der Richter nehmen in der schönen Literatur breiten Raum ein. Dennoch gibt es kaum Untersuchungen über das Verhältnis von Jurisprudenz und Literatur. Der in New York lehrende Rechtswissenschaftler Richard Weisberg ist einer der Pioniere der »Recht-und-Literatur«-Forschung. Der Band versammelt eine Auswahl seiner Arbeiten, die sich mit dem Recht bei Camus, Dostojewski, Flaubert und anderen auseinandersetzen. Ein Nachwort von Bernhard Schlink beschließt den Band.

Richard Weisberg ist Walter-Floersheimer-Professor an der Cardozo School of Law in New York.

Bernhard Schlink ist emeritierter Professor für öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie, sowie Schriftsteller. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht (es 2168) und Heimat als Utopie (es 6613)

Richard Weisberg

Rechtsgeschichten

Über Gerechtigkeit in der Literatur

Mit einem Nachwort von Bernhard Schlink

Aus dem Amerikanischen von Walter Popp

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: The Failure of the Word. The Protagonist as Lawyer in Modern Fiction © 1984 by Yale University

»›So seid denn Ihr sein Bürge‹: Schwur und Scheitern von Vermittlung – Ein Nachtrag zu Poesie und Ethik in Der Kaufmann von Venedig« ist dem Band Poethics and other Strategies of Law and Literature entnommen

© 1992 Columbia University Press

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten

Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,

Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer

Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73271-7

www.suhrkamp.de

5Für die fröhlichen Wissenschaftler,Cheryl, Danny, Benno, Sam und Owen

6Ihr sollt nicht unrecht handeln im Gericht …

Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren

gegen die Kinder deines Volks.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Leviticus 19-15, 18

7Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einführung

Teil 1 – Der Konflikt zwischen Ressentiment und Gerechtigkeit

1 – Das Verschwinden des Gerechten

Ressentiment in der Kultur des 19. Jahrhunderts

Ressentiment im Recht

Ressentiment in der Kunst

2 – Phänomenologie und Prototyp

Max Scheler und die Modernität des Ressentiments

Das formalistische Modell: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Teil 2 – Das Scheitern der christlichen narrativen Vision: Dostojewskis juristische Romane

3 – »Künstlerische Legalität« und die Figur des Untersuchungsrichters

Eine aus dem Strafgesetzbuch abgeleitete Romanfigur

Der Untersuchungsrichter in Schuld und Sühne: Kreatives Ressentiment

»Vernünftigkeit« und falsch berechnete Schuld: Zeitliches Recht in Die Brüder Karamasow

4 – Dostojewskis gebrochene Struktur

Der Großinquisitor

Dostojewski als Iwan: Ressentiment im Roman

Teil 3 – Das Scheitern der heroischen Sicht im Roman: Die französische Literatur im Belagerungszustand

5 – Flaubert, der Revisor: Salammbô

Flauberts Dilemma: Falsche Zeit, falscher Ort, falscher Sex

8Doppelbödige Beziehungen im karthagischen Epos

Salammbô und Schahabarim

6 – Juristen und Lügner: L’éducation sentimentale

Eine Auflösung zeichnet sich ab: Zeit ersetzt Charakterzüge

Vom Helden zum Juristen: Der Prototyp

7 – Literarische Legalität im Holocaust: Camus’ Variationen zum Thema des neunzehnten Jahrhunderts

Geschichte und Einflüsse

Legalistische Verzerrungen eines nicht ästhetisierten Weltbilds in Der Fremde

Der Jurist im Roman und faschistische Herrschaft: Der Fall einer Zivilisation

Teil 4 – Kreative Verwendung von Gesetzen für subjektive Zwecke: Der Fall von Billy Budd

8 – Narrativer Plot und juristische Dimension

 Eintritt ins Allerheiligste

Melvilles juristischer Hintergrund

Plots und Abschweifungen

Die Prozessszene: Das Dilemma der Rechtschaffenheit und mehr

9 – »Bedachtsame« Kommunikation und Veres verborgenes Motiv

Vere und Nelson

Das vorletzte Wort: Melville und Homer

Schlussbemerkung

»So seid denn Ihr sein Bürge«: Schwur und Scheitern von Vermittlung – Ein Nachtrag zu Poesie und Ethik in Der Kaufmann von Venedig

9Anhang

Welche Belege kann ein jüdischer Mischling vorlegen, um seine Nichtzugehörigkeit zur jüdischen Rasse nachzuweisen?

Nachwort

Bernhard SchlinkDas Bilderbuch des Rechts

Namenregister

11Vorwort

Die folgenden Kapitel enthalten eine intensive Auseinandersetzung mit acht bedeutenden Werken moderner Fiktion. In all diesen Texten verwendet eine zentrale Figur – in der Regel der Protagonist – komplexe narrative Strukturen, um relativ einfache, zentrale Realitäten zu umgehen. Diese Protagonisten fühlen sich bei langatmigen Reden sicherer als mit spontaner menschlicher Interaktion. Eine stark formalisierte Sprache vermittelt zwischen ihnen und den Anforderungen des Lebens und schützt sie vor den Quellen positiven, kreativen Handelns, von denen sie sich deswegen aber auch allmählich entfernen. Liebe können sie wegen ihres unvorhersehbaren, nicht verbalen Wesens nicht annehmen, und sie können die ihnen von internen oder externen Faktoren auferlegten Erwartungen sozialer Verantwortung nicht erfüllen.

Eines der ältesten literarischen Paradigmen, Kränkung und Rache, gibt all diesen modernen Texten Struktur. Aber beginnend mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wird die »Kränkung« auf eine Ausgeburt der überhitzten verbalen Fantasie des Protagonisten reduziert. Mit Untertönen von Hamlet, doch ohne dass ihnen anders als diesem die Notwendigkeit der Rache deutlich wird, setzen diese bahnbrechenden Figuren Wörter nicht nur zur Vermeidung, sondern auch zur Schaffung beunruhigender Realitäten ein. Schahabarim, Flauberts wortgewandter Priester, nährt und reizt Salammbô mit seiner Sprache. Erfüllt sie seine verbalen Fantasien, indem sie handelt, ist er gekränkt und nimmt es ihr übel. Überhaupt gilt für diesen exotischen Roman ganz allgemein, dass inaktive Verbalisierer es schaffen, Krieger und Prinzessinnen zu beherrschen und zu kontrollieren. Doch sogar in ihrer Unterwürfigkeit stellen die weniger wortgewandten Wesen eine Bedrohung für die formalistische Weltsicht des Formulierungskünstlers dar, zum Beispiel, wenn der Mann im Kellerloch die Soldaten und die hübschen Frauen St. Petersburgs beobachtet, beneidet und gleichzeitig verachtet.

Bei der Entwicklung des modernen Romans aus diesen Texten der frühen 1860er Jahre siedelten Autoren die Wertvorstellungen des Formulierungskünstlers bewusst im Umfeld von Gerichtshö12fen und Juristen an. Die Schriftsteller hatten erkannt, dass Heldentum und Religiosität als absolute Werte ausgedient hatten, und sie spürten, dass sich die Legalität zum kontrollierenden Prinzip der modernen Gesellschaft aufschwingen würde. Aber das Recht, nichts weiter als eine relativistische Methode für die Ordnung der Wirklichkeit durch Sprache, bezog gegenüber spontanem Leben dieselbe Stellung wie die philosophischen oder priesterlichen Formen früherer Texte. Der Protagonist als Jurist kam ins Bild, sprach und schrieb und strukturierte schließlich Wirklichkeiten um, die sonst faszinierend und bedrohlich zugleich gewesen wären. Flauberts großer Roman, Die Erziehung des Herzens (1869), steht im Zeichen von Juristen. Und Schuld und Sühne, Dostojewskis auf Aufzeichnungen aus dem Kellerloch folgender Roman spielt die komplementären Perspektiven eines Jurastudenten und eines Juristen gegeneinander – und gegen die Welt – aus. Der junge Raskolnikow geht über das in seinem Artikel »Über das Verbrechen« vorgeschlagene »Neue« hinaus, indem er tatsächlich einen Mord begeht. Dostojewski sollte einen derartigen Eingriff in die übliche Struktur solcher legalistischen Texte nicht mehr wiederholen. Niemals wird der Protagonist als Jurist wieder (und sei es auch rechtswidrig) handeln; nur durch seine Sprache wird er in anderen Verstimmung hervorrufen. Porfiri Petrowitsch, der Jurist, leitet diesen Prozess in Schuld und Sühne ein und zwingt Raskolnikow letzten Endes zum Geständnis und zu moralischer Konformität.

In Die Brüder Karamasow und Billy Budd, Texten, die in den 1880er Jahren geschrieben oder abgeschlossen wurden, verwendet die nun voll entwickelte beredte Romanfigur die Rechtssprache, um einen nicht so redegewandten, durchschnittlicheren und im Grunde gut angepassten Angeklagten zu manipulieren. Die frühere, private »Rache« wegen vorgestellter »Beleidigungen« so positiver Wesen hatte sich zu einer öffentlichen, gemeinschaftlichen Rache an bedrohlichen, nicht konformen Typen entwickelt. Die Schwierigkeiten juristischer Prognosen, jetzt in Gerichten institutionalisiert, verzerren die Realität und führen dazu, justizielle Verfahren zu vermeiden.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigte in tragischer Weise die literarische Sicht philosophischer, priesterlicher und rechtlicher Formalismen im Dienst ressentimentgeladener Werte. Unschuldige Opfer mussten dafür bezahlen. Das Thema erreichte 13seinen Höhepunkt in zwei Werken von Camus, Der Fremde (1942) und Der Fall (1956). Im ersten greifen Juristen in das Leben einer Person ein, deren moralisches System sich von ihrem eigenen in drastischer Weise unterscheidet (insbesondere hinsichtlich der Präferenzen für Geschichte und Materialität gegenüber Wortreichtum und Metaphysik). In Der Fall wird ein Pariser Anwalt, dessen verbale Tricks seinen Versuch bedrohen, zur Selbstverständigung zu gelangen, zum Repräsentanten der französischen Kultur. Zwölf Jahre nach Vichy gesteht Camus’ Anwalt ohne große Reue die kosmischen Konsequenzen der inhaltslosen Eleganz der Gesellschaft ein. Das Wort ist nicht wegen einer ihm wesensgemäßen Unwürdigkeit gescheitert, sondern eher wegen seiner Unfähigkeit, aus eigener Macht ein Individuum oder eine Kultur zu unterstützen. Die juristische, verbale Umstrukturierung der Wirklichkeit war womöglich bei der Lösung von Streitigkeiten vor Gericht hilfreich, aber als Mittel zur Organisation der Gesellschaft war sie nicht geeignet, die dem Untergang geweihten, substanziellen Werte des Christentums oder des Heldentums Einzelner zu ersetzen. Als der europäische Faschismus tatsächliche (nicht nur vorgestellte) Kränkungen erzeugte, erhielt das Hamletsche Paradigma strukturierter Rede als Ersatz legitimen Handelns im Munde von Juristen als Protagonisten neue Bedeutung.

Das vorliegende Buch siedelt die Quelle von Holocaust-Vorhersagen und -Aufarbeitungen im nichtssagenden Wortschwall juristischer Protagonisten an. Diesen Figuren fehlt es an geistiger Substanz, und sie stellen alle Merkmale der tief greifendsten Malaise der modernen westlichen Kultur zur Schau: ständige Ranküne oder Ressentiment. Aber wie innerhalb der Kultur selbst schützt der Lack gewandter Rede und formaler Eleganz die verbitterten Formulierungskünstler vor dem prüfenden Blick der anderen. So schaffen sie es, Einfluss zu gewinnen und ihre verschleierte Raserei nach außen zu tragen, bis letztlich nichts Wesentliches mehr überlebt.

Die zentrale Bedeutung juristischen Ressentiments für moderne Fiktion wird deutlich, wenn wir in der Folge Leben und Werk der vier hier behandelten Autoren betrachten. Nach der in Teil 1 erfolgenden Untersuchung der Beziehung von Ressentiment zu Kunst und Recht im 19. und 20. Jahrhundert analysiere ich die drastischen Beschreibungen der Malaise bei den großen intellektuellen Prota14gonisten von Dostojewski und Flaubert. In Teil 2 und 3 wird ausgeführt, dass sich die geistig-seelischen Probleme der redegewandten Figuren direkt aus denen ihrer weitschweifigen Schöpfer ableiten lassen. Für Dostojewski stand narratives Schreiben im totalen Widerspruch zu den christlichen Werten der Selbstlosigkeit und Einfältigkeit, an die zu glauben er vorgab. Für Flaubert ergab sich aus den Anforderungen an literarische Kunst ein Konflikt mit seinem Verlangen, heroisch, spontan sowie politisch und sexuell kraftvoll zu sein. Ihr narratives Faible ließ keinen von beiden in Ruhe und gab ihnen auch nicht das Gefühl, ihr Leben gut zu leben. Kein Wunder also, dass sie sprachgewandte Figuren schufen, die Ausdruck ihrer eigenen ambivalenten Einstellung zu wohl formulierter Rede sind und deren sprachliche Fähigkeiten bar jedes positiven ethischen Inhalts im Leben anderer Verheerendes anrichten. Doch wollten Dostojewski und Flaubert ihre Betrachtungen zur Sprache nicht nur als Selbstkritik verstehen. Daher legten sie juristischen Figuren mit Rollen öffentlicher Verantwortung zunehmend giftige Worte in den Mund.

Albert Camus, dessen erste und dessen letzte große Novelle über das Recht in Kapitel 7 untersucht werden, erlebte noch, wie Frankreich in Wörtern schwelgte und sich wegen lang unterdrückter Ranküne fast selbst zerstörte. Seine Aufgabe bestand darin, anhand der von Dostojewski und Flaubert geerbten Thematik des Rechts die erschreckende Trennung von Ethik und Sprache zu vermitteln, die große Teile des Kontinents befallen hatte. Auch wenn seine Überzeugungen seiner Zeit entsprachen, klingt in seinen Texten das europäische Thema des legalisierten Ressentiments des 19. Jahrhunderts nach, und daher ist es angebracht, seine Werke mit Rechtsbezug im vorliegenden Kontext zu behandeln.

Teil 4 des Buchs geht zeitlich einen halben Schritt zurück, macht aber einen Riesensprung nach Westen, um sich mit einem zentralen Text, Billy Budd, zu beschäftigen. Alle Stränge der vorliegenden Untersuchung werden in diesem amerikanischen Meisterwerk zusammengeführt. Wenn Kapitän Vere, der die Rollen von Zeuge, Ankläger, Richter und Vollstrecker in sich vereinigt, den Plan ausheckt, den heroischen Billy aufhängen zu lassen, bringt er auch die falsche Verwendung von Wörtern an die Macht und zerstört aus subjektiven Gründen alles, was auf dem Schiff heilig war. Das Ressentiment schafft es durch die Vere und Claggart, sei15nem konkludenten Verbündeten, gemeinsame schöpferische Tat, sich durchzusetzen und zum Gesetz zu werden. Aber kleine Funken von Ethik und Heroismus überleben in Melvilles Kurzroman nicht anders als in der Geschichte, und ihre Erscheinung macht eine Rehabilitierung sinnhafter Sprache möglich.

Im vorliegenden Text werden, wo es angebracht ist, Verbindungen zwischen narrativer und tatsächlicher Gewalt hergestellt. Und der Text betont die Notwendigkeit anzuerkennen, dass verbaler Formalismus und reaktiver Hass das Hauptvermächtnis des alten Wertesystems sind, das von ihnen schon immer stillschweigend pervertiert wurde. Die verachteten »Anderen«, die sich gegenüber ihrem eigenen Selbst und der Geschichte weniger ausweichend verhalten, haben die beispiellose Hysterie dieses todgeweihten Systems überlebt. Ihre Alternative wird uns durch die mutige Selbstkasteiung dieser acht Texte anempfohlen.

16Danksagung

Der Autor möchte den Personen und Institutionen danken, die diese deutsche Ausgabe möglich gemacht haben. Von besonderer Bedeutung sind hier meine beiden Kollegen, mit denen ich in Österreich ein Seminar über Recht und Literatur vor deutschen Studenten halten konnte, Professor Bodo Pieroth und Professor Bernhard Schlink. Letzterer hat mich bereits als Mitlehrender an der Cardozo School of Law in New York inspiriert. Der Law School gilt meine tiefe Dankbarkeit für die moralische und finanzielle Unterstützung der Übersetzung und Veröffentlichung. Großer Dank gilt auch meinem Übersetzer, Walter Popp, und meinem Lektor, Philipp Hölzing.

Schließlich möchte ich meines Bruders gedenken, Professor David B. Weisberg, der das Projekt kannte und es unterstützte, aber die Veröffentlichung leider nicht mehr erleben konnte.

Richard Weisberg, Sag Harbor (NY), August 2012

17Einführung

Mehrere Monate nachdem die französische Polizei 1943 zehntausende Juden zur Deportation nach dem Osten zusammengetrieben hatte, veröffentlichte ein Pariser Anwalt namens Joseph Haennig eine akademische Abhandlung über die Definition des Juden (Auszüge siehe Anhang, S. 269). Anhand mehrerer wohlwollend zitierter Gerichtsentscheidungen der Nazis legte Haennig eine geschickte Argumentation dafür vor, dass die Beweislast für das Judesein im zweifelhaften Fall einer Person mit nur zwei jüdischen Großeltern beim Staat verbleiben sollte. Manche französische Gerichte unter Vichy hatten die Deutschen durch ihre entschlossene Anwendung der Rassengesetze bereits übertroffen. Haennig setzte seine anwaltlichen Talente dafür ein, nicht die Existenz derartiger Gesetze anzugreifen, sondern für ihre »humane« Interpretation zu plädieren.

Joseph Haennig war alles andere als ein Schurke. Er war einer von den vielen Anwälten, die in aller Nüchternheit über die schicksalhaften Rechtsfragen einer Definition von Rasse diskutierten. Zu einem früheren Zeitpunkt der Besetzung Frankreichs hatte er einen Juden verteidigt, dem wegen eines »politischen« Verbrechens Haft und Tod drohten. Jetzt hoffte er, die Last von »Personen mit Mischlingsblut« zu erleichtern, die versuchten, den rechtlichen Status von Juden zu vermeiden. Doch wirft Haennigs Verhalten, wenn man es paradigmatisch versteht, erschreckende Fragen auf, deren Lösung potenziell noch katastrophaler wäre als die der von den Anführern von Unterdrückung und Rassismus in Europa gestellten. Denn in Joseph Haennigs Vermeidung zentraler Realitäten, in seiner Bereitschaft, Sprache im Dienst eines rechtlichen Überbaus zu schaffen, von dem er wusste, dass dieser soeben Tausende von Franzosen in Lager gefegt hatte, legte er dasselbe fatale ausweichende Verhalten an den Tag, durch das sich die breitere Kultur und deren Institutionen auszeichneten. Gute und schlechte Menschen hatten das Unakzeptable akzeptiert. Wörter, die einst schrill und propagandistisch klangen, förderten das monströse Vorhaben ohne großes Aufheben, indem sie es diskutierbar machten. War die grundlegende Prämisse des Rassismus erst einmal stillschweigend akzeptiert, konnte die Kasuistik juristischer Rhetorik so einfach angewendet 18werden, als handele es sich um einen Grundstücksvertrag oder einen Autounfall.

Ungefähr hundert Jahre früher hatten auch amerikanische Juristen und Gesetzgeber versäumt, eine verrottete, rassistische Struktur direkt anzugehen. Doch kennzeichnete sich das Haennig-Syndrom durch den merkwürdigen Aspekt, eine derartige Struktur ohne jeden offensichtlichen historischen oder wirtschaftlichen Grund bereitwillig zu akzeptieren. Frankreich weidete sich an den rassischen Möglichkeiten, die ihnen der fremde Eroberer ins Land gebracht hatte. Durch die Reaktion der französischen Kultur unter deutscher Besetzung schälte sich die Angelegenheit als paneuropäisches Dilemma heraus; der westliche Egalitarismus und der Liberalismus begrüßten die Ächtung von Rassen und letztendlich den Genozid mit mehr Enthusiasmus, als dies in den anscheinend neobarbarischen und tief romantischen germanischen Staaten der Fall war. Die Implikationen für die gesamte westliche Kultur einschließlich Amerika ließen sich nicht leugnen.

Auch in der literarischen Gemeinde Frankreichs führte die Anwesenheit des Hunnen zur Freisetzung vieler Bände veröffentlichter und ausgesprochener Worte. Und auch in diesem Fall wurden die virulenten Antisemiten wie Céline und Brasillach nach dem Ende des Wahnsinns nie als Repräsentanten französischer Kultur betrachtet. Aber die alltägliche Kollaboration weniger auffälliger Autoren und Verleger, die vom Schauspiel der Razzien des Jahres 1942 oder der Ächtung nicht arischer Künstler weitgehend ungestört blieben, führte zu Unklarheiten, die noch mehr Rätsel aufgaben als die Texte, die daraus entstanden. Simone de Beauvoir, deren Karriere florierte, hatte ein – nach ihren Worten politisch neutrales – beliebtes Programm im Vichy-Rundfunk. Der Terror in den Straßen ließ diejenigen ungerührt, die das Glück hatten, den umjubelten Pariser Premieren von Sartres Les Mouches und Huis clos beizuwohnen.

Recht und Literatur, die wichtigsten Stützen einer modernen, genormten europäischen Sprache, verbogen sich und brachen schließlich unter den Stiefeln der Faschisten. Zu Fragen, die von der europäischen Kultur früher als exzentrisch und widerlich befunden worden wären, ergoss sich ein endloser Strom ernsthafter Diskussionen. Viele Karrieren von Juristen und Künstlern gingen unverändert weiter; nicht wenige blühten auf.

19Was Friedrich Nietzsche vorhergesehen hatte, ein Europa, das von Menschen voller gewaltsamer Ressentiments bevölkert wurde und zum Tode krank war, kam in Sicht- und Hörweite, und das mit der Unterstützung von Männern und Frauen mit außerordentlichen sprachlichen Talenten. Ihre passive oder aktive Beteiligung hat für die kommenden Generationen nichts weniger als die Sprachen und Organisationsstrukturen ihrer diversen Betätigungsfelder in Misskredit gebracht. Haennigs Aufsatz, der in der Gazette du Palais, der traditionellen Zeitschrift für französisches Recht, veröffentlicht worden war, macht die Alltagsrhetorik seines Berufsstands problematisch. Und Sartres Nachkriegsphilosophie (wie Heideggers vor dem Krieg erschienenes Werk Sein und Zeit) scheint den Makel seiner komfortablen Karriere während der Besatzungszeit zu tragen.

Die Problematik europäischer Werte – ihr Umkippen im Holocaust und die Suche nach Ersatz – reicht weit über Einzelpersonen und sogar die speziellen Institutionen hinaus. Dostojewski stellte sich diese Fragen wie sein Bewunderer Nietzsche schon zwei Generationen vor dem Fall. Auch er erkannte – freilich aus der Perspektive einer Kultur, die noch hoffte, ihre eigenen, nicht westlichen Werte zu finden –, dass sich das Christentum in großer Bedrängnis befand. Vermittelt durch seine intellektuellen und juristischen Figuren sagte Dostojewski die brutale Kraft fehlgeleiteter Wörter, die Grausamkeit der Sprache und der Formen voraus, die von geistig-seelisch hohlen Individuen geschaffen würden.

Und in der Tat zeigt sich in der modernen Literatur verschiedener nationaler Kulturen der Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs in den Schriften von ansonsten recht unterschiedlichen Autoren ein sehr stark selbstkritisches Interesse an verbaler Falsifizierung. Protagonisten mit ansonsten makellosen intellektuellen Referenzen bemühen sich, die Realität mit narrativem Sinn zu füllen, doch enden ihre Versuche mit bemerkenswerter Übereinstimmung im Scheitern. Unabhängig von ihren persönlichen Schicksalen in diesen Werken lassen die wortreichen Protagonisten oder ihre in weniger zentralen Figuren heraufbeschworenen Abbilder eine Reihe verwirrender, wenn nicht sogar verlogener verbaler Strukturen hinter sich.

Iwan Karamasow übernimmt wie der Mann aus dem Kellerloch, sein literarischer Vorläufer, eine von allen Formen freie Philosophie 20und legt gleichzeitig eine überwältigende Unfähigkeit an den Tag, sich positiv in die tatsächlichen menschlichen Situationen einzubringen, mit denen er konfrontiert wird. Nikolai Neljudow, Ippolit Kirillowitsch und Fetjukowitsch, die sprachbegabten Juristen in Die Brüder Karamasow, konstruieren eine Theorie zur Ermordung von Fjodor Karamasow, die logisch und künstlerisch bestechend, aber total falsch ist. In ähnlicher Weise führt die Weigerung, wesentliche Informationen zu erfassen, in Der Fremde zur ironischen Verzerrung der Argumentation des Untersuchungsrichters und des Staatsanwalts in der Konfrontation mit der unstrukturierten, nicht kognitiven und sinnlichen Realität Meursaults. Noch unverhohlener warnt uns der Anwalt Jean-Baptiste Clamence, Camus’ dostojewskischster Protagonist, nichts von dem zu glauben, was er sagt. Seine Ausbildung und seine Neigung lassen ihn Sprache und Form zur Täuschung seiner Zuhörer und seiner selbst verwenden. Und Melvilles Kapitän Vere, der als eine Art Staatsanwalt agiert, übernimmt, was er als »Form, Maß und Form« des Rechts ausgibt, und lässt sich zu einer Reihe von juristischen und moralischen Irrtümern hinreißen, die er seinen eingeschüchterten Zuhörern nur aufgrund seiner Redegewandtheit verbergen kann.

Doch fast alle diese Figuren haben Bewunderer bei denen gefunden, die sich mit ihren Dilemmata beschäftigen. Auch der sorgfältigste Leser, der ihre literarischen Sensibilitäten teilt, übersieht manchmal die negative Grundeinstellung dieser Figuren oder hat die Tendenz, sie zu entschuldigen, wenn er sie erkennt. Der Leser kann bei solchen Figuren sogar dasselbe narrative Faible gutheißen, das für ihn die Lektüre selbst attraktiv macht; sicher kann ein redegewandter Sprecher fast immer damit rechnen, mit Sympathie statt mit harscher Kritik aufgenommen zu werden.

Die Fähigkeit zu gutem Sprechen und Schreiben ist beim wortreichen Protagonisten freilich häufig mit einer Tendenz zur Selbstbespiegelung gepaart. Die exzessive Wahrnehmung der Funktionsweise seines eigenen kognitiven Apparats wiederum rührt von einem generalisierten Drang her, alle Phänomene zu überanalysieren, so dass in der Regel die für eine akkurate Erfassung von Handlungen erforderlichen Grenzen überschritten werden. In allen hier behandelten repräsentativen Texten gerät der von mir so genannte »Hang zum Juristischen« des Formulierungskünstlers in Konflikt mit der sich um ihn entwickelnden Realität, und er scheitert daran, 21mit dieser Realität ehrlich umzugehen. Würde es sich lediglich um ein persönliches Scheitern handeln, könnte es einem letztlich positiven Urteil über den Wortreichtum kaum etwas anhaben. Zum Beispiel fügt Lambert Strether, die einzige Figur in Die Gesandten, die die Komplexität von Sprache an die Stelle des Verständnisses im Wesentlichen einfacher Sachverhalte setzt, niemandem Schaden zu außer sich selbst und stellt sogar eine Bereicherung für viele aus seiner Umgebung dar. Aber im Gegensatz zu Henry James’ Version narrativer Vorstellungskraft sieht und betont der literarische Mainstream die harten Konsequenzen des Scheiterns des wortgewandten Protagonisten für die Gemeinschaft. Derartige Romane sind so aufgebaut, dass weitschweifige Figuren erhebliche Machtpositionen über ihre im Wesentlichen sprachlich nicht sonderlich bewanderten Gegenüber erringen. Letztere sind implizit Vertreter einer Reihe positiver Qualitäten, die für den Formulierungskünstler unerreichbar sind und in ihm oft unterdrückte Bitterkeit erzeugen; diese findet dann ihren Ausdruck anhand des indirekten Mediums einer signifikanten Erzählstruktur.

Juristische Verfahren oder philosophische Formulierungen kommen dem Drang des Formulierungskünstlers entgegen, eine Erzählstruktur um oder gegen den spontanen Ablauf der Realität aufzubauen und gleichzeitig Rache an den positiven Figuren zu nehmen, die sich für eine nicht verbale Teilnahme an der herrlichen Formlosigkeit des Lebens entschieden haben. Juristisches, philosophisches und künstlerisches Ressentiment als negative Kraft in Gesellschaft und Geschichte wird deckungsgleich mit der Darstellung des Hangs zum Juristischen ein wichtiges Anliegen dieser Romane.

Es überrascht daher nicht, dass viele große Autoren das Recht als passendes Milieu für ihre sprachgewandten Figuren gesehen haben. Diese Autoren sind ein Hinweis darauf, dass äußerlich anscheinend kühle Formen rechtlicher Verfahren häufig die bitteren subjektiven Ziele derjenigen verschleiern, die sie einsetzen – Ziele, die in Melvilles Worten »nie […] offen genannt« werden und die nur durch sorgfältige Analyse aufgedeckt werden können. Freilich sind Juristen für Autoren gleichzeitig attraktiv und abstoßend. Einerseits sind sie das Ziel bissiger Karikaturen und Sarkasmen, aber sie dienen auch als Metapher für die thematischen, formalen und sogar persönlichen Anliegen des Romanschreibers, der sich an ihnen 22auslässt. Wenn Hamlet den Schädel seines hypothetischen Juristen malträtiert, liefert er damit die Vorlage für die weitere Verwendung von Juristen durch Literaten. Er macht sich über die »Klauseln und Praktiken« der Juristen lustig, doch die Angriffe seiner schauerlichen Polemik sind am überzeugendsten auf seinen eigenen verstörenden Fall anwendbar.

Die juristische Kampagne gegen eine Reihe Verdächtiger, von denen manche total unschuldig, andere einer Übertretung schuldig sind, aber dann wegen einer anderen verurteilt werden, führt stets zu einer langwierigen narrativen Erklärung eines angeklagten Protagonisten. Da der fiktionale Kontext dieser Erklärung – im wirklichen Leben selten möglich – ein »wahrhaftiges« Portrait der vom Ankläger analysierten vorhergehenden Situation geliefert hat, entdeckt der aufmerksame Leser allmählich die Entstellungen und Unwahrheiten, mit denen der Ankläger gewisse eigennützige Zwecke verfolgen kann. So wie Ippolit Kirillowitsch die ganze Kraft seiner rhetorischen Talente gegen Dmitri Karamasow einsetzt, der des Vatermords nicht, wohl aber der Verführung von Ippolits Frau schuldig ist, versuchen Juristen als literarische Figuren häufig, ihre rein persönlichen Ressentiments zu institutionalisieren.

Auf gleiche Weise erheben die »Philosophen« in diesen Werken eine Ethik theoretischer Freiheit von allen Strukturen in den Stand narrativer Formulierungen, um ihre Unfähigkeit zu verschleiern, in die Gemeinschaft berührenden Situationen positiv zu handeln. Häufig deckt der Rest des Romans, in dem ihre Philosophie dargelegt wird, eine ihnen spezifische Kränkung auf, die schließlich alle Gedanken des unversöhnten Verbalisierers beherrscht und bestimmt. Wenn Schahabarim, der äußerst sprachgewandte kastrierte karthagische Priester Flauberts, mit der noblen Erscheinung und der unverklemmten Sinnlichkeit seiner Schülerin Salammbô konfrontiert ist, flüstert er ihr mit Verbitterung provokative Gedanken ein, mit denen er sie auf Abwege bringen will. Der Mann aus dem Kellerloch, der wegen seiner übertriebenen Selbstbespiegelung alle seine persönlichen Beziehungen verfehlt hat, greift vermittelt durch Wörter die im Wesentlichen nicht verbale Annäherung an die Realität an, die anderen Erfüllung bringt.

So führt die Konfrontation des reaktiven Formulierungskünstlers mit spezifischen Beispielen aktiver Alternativen in sehr effizienter Weise zur Dramatisierung der selbstkritischen Problematik 23moderner literarischer Verfahren. Die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der kreativen Tat des Handlungsträgers – die Wahrheit oder Falschheit seiner narrativen Reaktion auf eine bereits offen gelegte Realität – steht als Emblem für die Effizienz oder Ineffizienz des Erzählmodus selbst. Denn immer, wenn die Vorgehensweise eines Juristen oder die Philosophie eines Intellektuellen in einem literarischen Werk ins Zentrum der Bühne rückt, formuliert der Autor genau an dieser Stelle eine Bewusstheit seines eigenen Unterfangens. Insoweit zahlreiche verbale Strukturen in modernen Romanen die Realität verzerren, die sie angeblich begreifen, nehmen diese Werke Notiz von den negativen Aspekten moderner literarischer Methoden und Bedeutungen.

Wären die hier betrachteten Romane atypisch für die Art der Entwicklung des Genres in den letzten ca. hundert Jahren, könnte ihre kollektive Skepsis über den Erzählmodus unbemerkt bleiben. Doch kann man wohl sagen, dass die durch eine vergleichende Analyse enthüllte fundamentale Identität einflussreicher Werke wie dieser mit ihren festgestellten Ähnlichkeiten wahrscheinlich im Zentrum romanhafter Bedeutung unserer Zeit liegt.

Selbstkritik, die bis dahin üblicherweise auf private Kommunikation beschränkt war, wird im modernen Roman zu einer öffentlichen Angelegenheit. Es ist, als ob sich die großen Autoren in diesen unruhigen Zeiten der westlichen Kultur (die hier betrachteten Werke reichen über ein blutrünstiges, zerrissenes Jahrhundert von 1862 bis 1956) stillschweigend geeinigt hätten, dass die in der Literatur behandelte Mitschuld der narrativen Institutionen zum Trend gesellschaftlich akzeptierter Gewalt und Ungerechtigkeit nur durch das machtvolle Medium dieser Einrichtungen selbst entlarvt werden konnte. Auf Recht, Philosophie, Geschichte, Theologie – die sich verschworen hatten, die Vorherrschaft von Erzählstrukturen über das tatsächliche Handeln von Personen zu unterstützen – konnte man nicht rechnen, um eine selbstzerstörerische Dialektik zu propagieren.

Joseph Haennigs juristische Abhandlung von 1943, die mit der Absicht geschrieben worden war, das französische Recht und Vichy dank der Übernahme der Auslegung der antisemitischen Rassengesetze durch die Nazi-Gerichte »humaner« zu machen, lässt uns sprachlos. Doch hätte dieser Text, der von einem wortgewandten und durchaus nicht schlechten Menschen stammte, die noch be24gabteren Wortschmiede nicht überrascht, deren Werke hier betrachtet werden. Sie wussten, dass die spirituellen Grundlagen der westlichen Kultur seit Jahrhunderten am Verrotten waren. Ihre größten Romanfiguren, Intellektuelle und Juristen, sind auch ihre verklemmtesten und gewalttätigsten.

Anders als manche der wortreichen Nihilisten, deren Formulierungen ihre Geschichten füllen, führen diese Autoren ihre Leser jedoch zur Perspektive eines positiven Existenzmodells. Aus der Asche der juristischen Weitschweifigkeit erhebt sich in diesen Werken der Gerechte, manchmal freilich in Form eines strukturellen Umkehrschlusses. Diese mit einer scharfen Intelligenz ausgestattete Figur verbindet Handlung mit Vernunft, eine sich selbst auferlegte Haltung, die ebenfalls unsere Aufmerksamkeit verdient.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Figuren mit Rechtsberührung bereits in erheblicher Zahl in Romanen aufgetreten. Cooper, Scott und Hawthorne ließen kaum eine Gelegenheit aus, einen Anwalt, einen Gerichtsauftritt oder ein juristisches Plot zu schaffen. Balzacs Comédie humaine liest sich wie eine französische Version von Martindale-Hubbell. Und die Juristen bei Dickens schlugen ihr Publikum in ihren Bann und flößten ihnen abwechselnd Heiterkeit und Furcht ein. Der Prototyp des Genres knapp vor unserem Betrachtungszeitraum ist Mr. Jaggers (in Große Erwartungen), der das Leben aller wichtigeren Figuren des Buchs kontrolliert.

Aber die echte Blütezeit des Protagonisten als Jurist fand erst Generationen nach diesen großen Romanciers statt. Die europäische Kultur machte eine Phase der Reflexion durch. Kapitalismus, Industrialisierung und in ihren Diensten das Recht boomten und wurden komplexer. Der mimetische Autor trat einen Schritt zurück und bemerkte plötzlich, dass er ganz von Recht und juristischer Argumentation umgeben war. Die althergebrachten absoluten Werte der christlichen Religion und andererseits das individuelle Heldentum zogen sich von seinem Horizont zurück. Napoleon war verschwunden, doch seine Gesetzbücher lebten weiter und fanden große Verbreitung. Die ekklesiastische Tradition wich säkularer Legalität. Orientierungshilfen suchte man nun beim Anwalt, nicht mehr beim Priester. Juristen oder Intellektuelle, die für Interaktion und Entscheidungsfindung anwaltsähnliche Denkmodelle anwendeten, wurden für die Schicksale zentraler Figuren mehr als Kata25lysatoren. Sie wurden zu den »Helden« der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Die Figuren in diesen Werken wurden anders. Dasselbe gilt für die Plots. Immer häufiger verfolgen ganze Romane das Paradigma empfundener Kränkung, vereitelter Rache und fehlgeleiteter Gewalt. Protagonisten antworten nicht mehr einfach und direkt auf wirkliche oder eingebildete Ungerechtigkeiten. Ihr bohrendes Gefühl der Sinnlosigkeit führt sie dazu, aus Unschuldigen die Zielscheibe ihrer manchmal kühlen, aber dennoch fatalen Eloquenz zu machen. Wenn die »Nichtjuristen« unter ihrem Einfluss versuchen, ein unabhängiges, harmonisches Leben zu führen, machen die verbitterten Formulierungskünstler sie sich wieder gefügig und veranlassen sie womöglich sogar, gegen sich selbst oder andere physische Gewalt anzuwenden.

Der Jurist als Protagonist – ob mit oder ohne Studium und Doktorgrad – wurde genau dadurch zu einer Bedrohung, dass er unfähig war, an seinen vermeintlichen Feinden eine mehr als formalisierte Rache zu nehmen. Angesichts dieses Interesses verbal geschickter Protagonisten am Paradigma sinnlosen Rachedursts überrascht es nicht, dass die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder Bekanntschaft mit Hamlet, dem ersten großen literarischen Juristen machte. (Mallarmé erhob Hamlet im hermetischsten und verbalsten zeitgenössischen Klima des französischen Symbolismus in gewisser Weise zum Rollenmodell.) Denn die Bücher und Formulare des vorsichtigen dänischen Prinzen müssen in jede Beschäftigung mit jüngeren wortreichen Protagonisten eingehen, die sich einer rätselhaften, ungerechten Welt gegenübersehen.

Hamlets Vorgehensweise ist die eines Juristen, nicht die eines Aristokraten oder Helden. Alles muss ihm bewiesen werden, auch das Selbstverständliche. Unabhängig von seiner intuitiven Reaktion und seiner ihm selbst bewussten »prophetischen« Seele werden endlose Kreuzverhöre und weitschweifige Argumentation zu seinem Stil. Als er bedrängt wird, auf den Bericht des Geists über Claudius’ Schurkentat direkt zu reagieren, unterdrückt er für immer den entsprechenden Impuls. Nach dem Abgang des Geists im ersten Aufzug geht Hamlet vom rhetorisch edlen Willen (»Und dein Gebot soll leben ganz allein/Im Buche meines Hirnes, unvermischt/Mit minder würd’gen Dingen.«) zu mehrdeutigen juristischen Verfahren über (»ich muß mir’s niederschreiben,/Daß einer 26lächeln kann, und immer lächeln,/Und doch ein Schurke sein«). Doch vergisst Hamlet im ganzen Stück nie, dass angesichts eines bekannten Bösen nur die erste, »unvermischte« Reaktion richtig ist. Daher setzt er im vierten Aufzug seinen Monolog über die katastrophale Niedertracht fort, zu genau nachzudenken (»Ein banger Zweifel, welcher zu genau/Bedenkt den Ausgang«). Ein edler Gedanke (das »Gebot« des Geists, den ungerechten Königsmord zu rächen) verliert, wird er durch vier geteilt, nicht nur seine ursprüngliche Kraft, sondern führt auch zu fehlgeleiteter verbaler Gewalt, Feigheit und paradoxerweise sinnloser Zerstörung. Hamlets Bildersprache im Monolog »Wie jeder Anlaß« beschwört in brillanter Weise das im Stück erfolgende Blutvergießen Unschuldiger. Sein legalistisches Zögern führt zum Tod von sechs relativ unbescholtenen Nebenfiguren. So spekuliert Hamlet am Grab darüber, dass der Schädel, in dem nutzlose Formulare einen dominanten Platz hatten, zu einem mit zwei Zungen redenden, Dinge vertuschenden Juristen gehört. Sein geduldiger Freund Horatio weiß wahrscheinlich, dass der Spott – stets Hamlets Ersatz für die in einer Situation erforderliche physische Reaktion – auf den Prinzen selbst zurückfällt. Unrecht konnte fortdauern und sogar um sich greifen, weil der Protagonist als Jurist lieber mit Wörtern spielte.

Wie Mallarmés Gedanken müssen auch unsere zu Hamlet zurückgehen, um das moralische Unternehmen moderner Literatur auszuloten. In einem Kontext deutlichen Unrechts steht das edle Beispiel von Hamlets Sensibilität im Widerstreit mit den schändlichen Auswirkungen seiner wortreichen Ermittlungen. Mit seiner Betonung des Rechts bringt der moderne Roman diese grundlegende Dialektik zur vollen Reife.

27Teil 1 – Der Konflikt zwischen Ressentiment und Gerechtigkeit

[…] der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele […] – suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen »es ist die Gerechtigkeit selbst«.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 265

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