Redefreiheit - Timothy Garton Ash - E-Book

Redefreiheit E-Book

Timothy Garton Ash

4,8

Beschreibung

Noch nie konnten so viele Menschen wie heute ihre Meinung auf der ganzen Welt verbreiten. Internet und Globalisierung haben eine neue Epoche der Redefreiheit möglich gemacht, gleichzeitig provozieren sie neue kulturelle und religiöse Konflikte. Müssen wir rassistische Kommentare auf Facebook hinnehmen? Darf Satire den Propheten Mohammed verhöhnen? 2011 hat Timothy Garton Ash eine Debatte angestoßen, seitdem diskutieren Teilnehmer aus der ganzen Welt die Frage, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen, wie wir das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Andersdenkender sichern können. Es ist der Stoff für sein neues Buch: Ein Standardwerk zur Redefreiheit im 21. Jahrhundert.

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Noch nie konnten so viele Menschen wie heute ihre Meinung auf der ganzen Welt verbreiten. Eine neue Epoche der Redefreiheit ist angebrochen, gleichzeitig brechen neue kulturelle und religiöse Konflikte aus. Müssen wir rassistische Kommentare auf Facebook hinnehmen? Darf Satire den Propheten Mohammed verhöhnen? 2011 hat Timothy Garton Ash eine Debatte über die Redefreiheit angestoßen. Teilnehmer aus der ganzen Welt diskutieren seitdem Konflikte, die aus der Kollision unterschiedlicher Überzeugungen entstehen. Aus den Erfahrungen dieser internationalen Diskussion hat er Prinzipien entwickelt, die das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Andersdenkender sichern sollen. Diese Debatte lieferte Timothy Garton Ash den Stoff für sein neues Buch: Ein Standardwerk über die Frage, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen wollen.

Hanser E-Book

TIMOTHY GARTON ASH

REDEFREIHEIT

PRINZIPIEN FÜR EINE

VERNETZTE WELT

Aus dem Englischen von

Helmut Dierlamm

und Thomas Pfeiffer

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

Free Speech:

Ten Principles for a Connected World

Yale University Press, New Haven & London 2016

Die Seiten 11–174, 275–596 (Mitte) sowie 607–664 wurden von Helmut Dierlamm, die Seiten 177–273 und 596 (Mitte)–606 von Thomas Pfeiffer übersetzt.

Die Texte aus Nina Simones Song »I Wish I Knew How It Would Feel To Be Free« (S. 115), verfasst von Billy Taylor und Dick Dallas, werden mit freundlicher Genehmigung zitiert.

Die Texte für Eminems Song »White America« (S. 369f.), verfasst von Steven King, Jeffrey Bass, Luis Resto und Marshall Mathers, © veröffentlicht von Eight Mile Style LLC und Martin Affiliated LLC, verwaltet von Kobalt Music Publishing Limited, werden mit freundlicher Genehmigung zitiert.

ISBN 978-3-446-25425-1

Copyright © Timothy Garton Ash 2016

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2016

2. E-Book-Version Februar 2017

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Allen, die bei Free Speech Debate

auf freespeechdebate.com mitarbeiten

INHALT

POST-GUTENBERG

Teil I

KOSMOPOLIS

Sprache

Kosmopolis

Cyberspace, CA 94305

Der Kampf um die Wortmacht

Die großen Hunde

Die großen Katzen

M2

Die Macht der Maus

»Innocence of the Muslims« und die verlorene Unschuld von YouTube

IDEALE

Warum sollte die Meinungsäußerung frei sein?

Wie frei sollte die Rede sein? Wie sollte die freie Rede sein?

Nicht nur per Gesetz

Gesetze und Normen

Beleidigt? Was soll daran schlimm sein?

Ein Seminar über John Stuart Mill in Peking

Zu einem universelleren Universalismus

Teil II

EINE BEDIENUNGSANLEITUNG

1. DER LEBENSSAFT

In der Lage und befähigt

In der eigenen Sprache

Ersuchen, empfangen und mitteilen

Ohne Rücksicht auf Grenzen

2. GEWALT

Das Veto des Mörders

Den Brandenburg-Test modernisieren

Gefährliche Rede

Gerechter Krieg?

Dem Veto des Mörders entgegentreten

Karikaturen und das Dilemma der Neuveröffentlichung

Den friedlichen Konflikt praktizieren

3. WISSEN

Wissenschaftlich gesprochen

Auf dem Campus

Vergangenheit per Gesetz

Alles offen für alle?

Öffentliche Güter durch private Mächte

Von Babel zu Babble

Homo Zappiens

4. JOURNALISMUS

Medien

Unzensiert, aber nicht unbeschränkt

Vielfältig: Medienpluralismus zwischen Geld und Politik

Vom Daily Me zum täglichen Kiosk

Vertrauenswürdig: Was ist ein Journalist? Was ist guter Journalismus?

Unterwegs zu einer vernetzten Pnyx

5. VIELFALT

Offenheit und robuste Zivilität

Zivilität erzwingen?

Warum reife Demokratien Gesetze gegen Hassrede überwinden sollten

Die Schaffung einer Zivilgesellschaft

Kunst und Humor

Pornografie

Zivilität und Macht

6. RELIGION

Das Argument für eine besondere Behandlung der Religion

Aber was ist eine Religion?

Zwei Arten von Respekt

Per Gesetz oder aus Gewohnheit?

Das Problem mit dem Islam

Toleranz

7. PRIVATSPHÄRE

Sind Sie je allein?

Privatsphäre, Ruf und öffentliches Interesse

Schlachtfelder der Mächtigen

Von Twitter verurteilt

Kampf gegen Rufmord

Ein »Recht auf Vergessenwerden«?

Lasst euch nicht verzuckern

Janus Anonymus

8. GEHEIMHALTUNG

Die Sicherheit und das Prinzip der Hinterfragung

Der Preis der Geheimhaltung

Auf diesem Gebiet sind Gesetze erforderlich

Wer wacht über die Wächter?

Whistleblower und Leaker, eine wichtige Sicherung

Das Problem mit »gut informierten Quellen«

Warum es wichtig ist, nicht anonym zu sein

9. EISBERGE

Eisberge

Ein Internet, unter wem?

Netzneutralität

Privatisierung und Zensurexport

Ethische Algorithmen?

Die Macht des Geldes (ist zu groß)

10. MUT

Mut

Zwei Geister der Freiheit

DIE HERAUSFORDERUNG

Anmerkungen

Bibliografie

Dank

Abbildungen

Karten

Register

POST-GUTENBERG

Wir sind heute alle Nachbarn. Es gibt mehr Telefone als Menschen, und fast die Hälfte der Menschheit hat Zugang zum Internet.1 In unseren Städten leben wir mit Menschen aus aller Herren Länder und den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen auf engstem Raum. Die Welt ist kein globales Dorf, sondern eine globale Großstadt – eine virtuelle Kosmopolis. Auch können die meisten von uns heute Autoren und Verleger sein. Wir können unsere Gedanken und Fotos online posten, wo sie theoretisch Milliarden Menschen erreichen. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es solche Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung. Und noch nie waren die Nachteile der schrankenlosen freien Meinungsäußerung – Todesdrohungen, pädophile Bilder, ganze Schlammfluten von Beschimpfungen und Beleidigungen – so leicht über alle Grenzen zu verbreiten.

Diese beispiellose Welt-als-Großstadt ist insbesondere von den Vereinigten Staaten, dem liberalen Leviathan, und in geringerem Ausmaß auch von den anderen Ländern des historischen Westens geprägt. Heute jedoch werden das Recht und die Macht des Westens, die Verhältnisse in der Kosmopolis zu bestimmen, massiv in Frage gestellt: insbesondere durch China, aber auch durch aufsteigende Mächte wie Brasilien und Indien. Jede neue und jede alte Macht bringt ihr eigenes kulturelles Erbe und ihre eigenen historischen Erfahrungen in die Diskussion um die Redefreiheit ein. Dabei ist es freilich auch innerhalb all dieser Länder höchst umstritten, welche Lehren aus diesen Erfahrungen zu ziehen sind.

Einige Konzerne haben mehr Macht als die meisten Staaten, wenn es darum geht, die freie Meinungsäußerung weltweit zu ermöglichen oder einzuschränken. Würde man die Nutzer von Facebook als dessen Bürger betrachten, hätte es eine größere Bevölkerung als China.2 Was Facebook tut, hat mehr Wirkung als alles, was Frankreich tut, und die Entscheidungen von Google wirken sich stärker aus als die der deutschen Regierung. Konzerne wie Facebook und Google sind private Supermächte. Doch sie sind wie der riesige Monarch auf dem Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan aus zahllosen Einzelpersonen zusammengesetzt.3 Ohne ihre Nutzer, also ohne uns, wären diese Giganten nichts.

Dieses Buch erklärt, warum wir die Redefreiheit in unserer neuen Kosmopolis mehr denn je brauchen und lädt zu einem Gespräch über dieses Thema ein. Es beginnt mit der Geschichte der dramatischen technologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Veränderungen, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts und mit gesteigerter Intensität seit 1989 vollzogen haben und immer noch vollziehen. Im Jahr 1989 spielten nicht weniger als vier Ereignisse in Bezug auf die freie Meinungsäußerung im 21. Jahrhundert eine grundlegende Rolle: der Fall der Berliner Mauer, die Erfindung des World Wide Web, die Fatwa, die Ajatollah Chomeini gegen Salman Rushdie erließ, und das seltsame Überleben der kommunistischen Herrschaft in China. Das Pferd der Geschichte galoppiert seither unermüdlich weiter, und ich bin mir der Warnung von Walter Raleigh lebhaft bewusst, dass sich, »wer immer eine moderne Geschichte schreibt und der Wahrheit zu dicht auf den Fersen folgt, leicht die Zähne ausschlagen kann«4. Dennoch behaupte ich, dass die Herausforderungen, mit denen wir in dieser Welt von Nachbarn konfrontiert sind, heute im Wesentlichen klar sind.

Überdies eröffnen sich durch die Transformation der Kommunikation selbst neue Möglichkeiten, um sich mit diesen Veränderungen schon auseinanderzusetzen, während sie sich vollziehen. Als ich dieses Buch zu schreiben begann, dachte ich, dass ich einfach nur ein Buch schreiben würde. In diesem Fall wäre etwa neun Monate, nachdem ich es bei meinem Verleger ablieferte (das Abliefern ist für ein Manuskript traditionell das, was die Geburt für ein Baby ist), ein erfreuliches kleines Objekt, in Windeln gewickelt, in meinem Briefkasten gelandet. Was Johannes Gutenberg »das Werk der Bücher« nannte, hätte fortbestanden, wie es seit Jahrhunderten bestand.5 Dann jedoch, als ich an der Stanford University, im Herzen des Silicon Valley, recherchierte, stellte ich mir folgende Frage: Wenn dein Gegenstand die Post-Gutenberg-Welt ist, wie kannst du dich dann damit begnügen, dein Buch nur auf die alte gutenbergsche Art zu schreiben? Wenn das Internet Menschen auf der ganzen Welt beispiellose Möglichkeiten bietet, frei zu sprechen und über freie Meinungsäußerung zu debattieren, warum erkundest du diese Möglichkeiten dann nicht und machst sie zu einem integralen Bestandteil der Arbeit an diesem Buch?

Also machte ich den Umweg, mit einem Team an der Oxford University die experimentelle Website freespeechdebate.com zu entwickeln. Sie enthält Fallstudien, Audio- und Videointerviews, Analysen und persönliche Kommentare aus der ganzen Welt und lädt zu einer Online-Debatte ein. Ein großer Teil ihrer Inhalte ist in 13 Sprachen übersetzt, von denen etwa zwei Drittel der heutigen Internetnutzer mindestens eine sprechen.6 Ermöglicht hat dies eine inspirierende Gruppe von Studenten, die eine der 13 Sprachen als Muttersprache haben und von Ideen, Beispielen und Einwänden förmlich übersprudeln. Auf meinem Weg über freespeechdebate.com reiste ich von Kairo bis Berlin, von Peking bis Delhi, von New York bis Yangon, hielt Vorträge über das Projekt und lauschte aufmerksam den Ansichten anderer, eine Erfahrung, die dieses Buch bereichert und verwandelt hat. Als Ergebnis der, live wie online, geführten Debatten wurden die ursprünglich auf der Website vorgeschlagenen zehn Prinzipien neu formuliert und neu geordnet.7 Etliche der Geschichten, die ich zu ihrer Illustration erzähle, sind, insbesondere wenn sie aus nichtwestlichen Ländern stammen, im Lauf dieses Experiments aufgetaucht.

Wenn Sie, lieber Leser, diese Worte in der traditionellen Gutenberg-Form auf Papier gedruckt lesen, finden Sie in den Anmerkungen neben vielen anderen Quellen auch das Material der Website Free Speech Debate. Wenn Sie sie jedoch auf einem Gerät mit Internetzugang lesen, haben sie es mit einem Post-Gutenberg-Buch zu tun. Die Post-Gutenberg-Bücher der Zukunft werden zweifellos viele unterschiedliche Formen haben, aber dieses Buch würde ich als eine elektronische Pyramide visualisieren.

Abb. 1: Ein Post-Gutenberg-Buch

Wenn Sie im Online-Text zum Beispiel auf diesen Punkt klicken, kommen Sie zu einem Essay auf freespeechdebate.com. Dort wird berichtet, dass der amerikanische Historiker Bernard Lewis 1995 von einem französischen Gericht verurteilt wurde, weil er in einem Interview mit der Zeitung Le Monde bezweifelte, dass das schreckliche Leid, das in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches den Armeniern begegnet ist, ganz präzise mit dem Wort »Genozid« zu beschreiben ist. Klicken Sie auf einen Link in dem Essay, und Sie können das Urteil des französischen Gerichts im Original lesen.8 Bei anderen Themen sind vielleicht ein oder zwei Klicks mehr notwendig, je nachdem, wie viele Ebenen oder versteckte Kammern der Pyramide man erkunden will. Dass man sich durchklickt, ist eine völlig vertraute Praxis im Online-Journalismus, hat sich aber beim E-Book noch nicht durchgesetzt, also ist die Einbettung von Links in den Haupttext als solche schon eine Erkundung der Möglichkeiten einer vernetzten Welt.

Meine These ist, dass wir mehr Meinungsfreiheit von besserer Qualität brauchen, um in dieser Welt-als-Großstadt gut zusammenzuleben. Da Meinungsfreiheit nie unbeschränkte Redefreiheit bedeutet hat (jeder gibt alles von sich, was ihm in den Sinn kommt: globaler Sprechdurchfall), muss diskutiert werden, welche Grenzen die Meinungs- und Informationsfreiheit in wichtigen Bereichen wie etwa der Privatsphäre, der Religion, der nationalen Sicherheit oder der Art, wie wir über die Unterschiede zwischen Menschen reden, haben sollte. Genauso wichtig ist die Bestimmung positiver Methoden und Stile, mit denen wir die Sprache als grundlegende Gabe der Menschheit unter den heutigen Bedingungen beispielloser Möglichkeiten und Risiken optimal nutzen können.

Nach dem Philosophen Michel Foucault vertrat der epikureische Denker Philodemos (der wiederum die Lehren Zenos von Sidon wiedergab) die Ansicht, dass die freie Rede wie Medizin oder Navigation als eine Fertigkeit gelehrt werden sollte. Ich weiß nicht, was von dem Gedanken von Zeno oder Philodemos stammt und was von Foucault, aber mir kommt er für unsere Zeit besonders wertvoll vor.9 In dieser überfüllten Welt müssen wir lernen, mit Sprache zu navigieren, wie die Seeleute der Antike sich beibrachten, über das Ägäische Meer zu segeln. Doch wir werden es nie lernen, wenn wir nicht mit dem Schiff aufs Meer hinausfahren dürfen.

Ziel dieser Reise kann es nicht sein, die Konflikte zwischen menschlichen Sehnsüchten, Werten und Ideologien aufzuheben. Das wäre nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert, weil dabei eine sterile Welt herauskäme, monoton, unkreativ und unfrei. Stattdessen sollten wir einen Rahmen für die friedliche und zivilisierte Austragung von Konflikten erarbeiten, der in dieser Welt von Nachbarn anwendbar und nachhaltig ist.

Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass ich einen unparteiischen universalen Standpunkt im Nirgendwo (oder überall) anbieten könnte. Ich habe einen festen Standpunkt, den liberal zu nennen und für den zu kämpfen ich stolz bin. Dieser starke individuelle Standpunkt ist absolut vereinbar mit der Überzeugung, dass es wichtig ist, die Grenzen einer nur auf den Westen beschränkten Debatte zu überschreiten. Soweit ich sehen kann, gibt es keinen besseren Weg zu einem universaleren Universalismus als dem heutigen (der unverzichtbar ist, wenn wir in der Welt-als-Großstadt des 21. Jahrhunderts gut zusammenleben wollen), als die Regeln auszuformulieren, die für uns alle am besten wären, wenn sie von allen angewendet würden. Danach können andere unsere Behauptungen bestreiten und ihre eigenen Regeln vorschlagen.

Der Philosoph Isaiah Berlin ist für die Ansicht berühmt, nach der es eine Pluralität von Werten gibt, die nicht alle gleichzeitig vollständig realisiert werden können. Persönlich war Berlin immer von den Unterschieden zwischen Denkern und Kulturen fasziniert. Dennoch bemerkte er gegen Ende seines Lebens, dass »mehr Menschen in mehr Ländern öfter gemeinsame Werte akzeptieren, als oft angenommen wird«.10 Vielleicht hatte er recht. Ich jedenfalls bin zu demselben Schluss gekommen, nachdem ich viele Jahre lang viele Länder bereist hatte. Wenn Sie an einen neuen Ort kommen, fällt Ihnen zunächst alles auf, was im Vergleich zu Ihrem eigenen Zuhause anders und merkwürdig ist. Bleiben Sie etwas länger, entdecken Sie das allgemein Menschliche unter der Oberfläche. Aber vielleicht hatte Berlin auch unrecht, und was gelegentlich als »moralische Globalisierung« bezeichnet wird, ist ein naives liberales Hirngespinst. Eines ist jedoch sicher: Wir werden es nie wissen, wenn wir nicht versuchen, es herauszufinden.

TEIL I

KOSMOPOLIS

SPRACHE

Eine Art menschlicher Sprache entstand vermutlich vor mindestens 100.000 Jahren durch eine evolutionäre Weiterentwicklung des Gehirns, des Brustkorbs und des Vokaltrakts.1 Sprechen auf diese höchst elementare Art bedeutet, dass man den Luftstrom aus der Lunge durch Bewegungen des Brustkorbs, des Kiefers, der Zunge und der Lippen moduliert und dadurch unterscheidbare Laute mit erkennbaren Bedeutungen produziert. Wenn wir von einem Kleinkind sagen: »Es redet schon«, hat es diese Art zu sprechen gelernt.

Eine hoch entwickelte Kommunikationsfähigkeit unter Verwendung von Sprache und abstraktem Denken unterscheidet uns Menschen von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos. Je mehr wir über die Welt der Tiere lernen, umso höher schätzen wir das Kommunikationsniveau bei Delphinen oder Schimpansen ein. Videos im Netz zeigen, wie gut Kanzi, der bis jetzt sprachbegabteste Bonobo, die menschliche Sprache versteht. Sie zeigen auch, wie er »antwortet«, indem er Lexigramme auf einem Computerbildschirm antippt. Kanzi hat angeblich gelernt, etwa 500 Wörter zu »sagen« und etwa 3000 zu verstehen. Dennoch besteht immer noch ein großer qualitativer Unterschied zwischen seiner Ausdrucksfähigkeit und der der meisten Menschen, selbst wenn man nicht berücksichtigt, dass er mit Brust- und Vokaltrakt nicht wie der Mensch längere Folgen erkennbarer Laute produzieren kann.2

Gegen Ende einer Lebenszeit, die er der Erforschung des Tierreichs gewidmet hat, antwortete der britische Tierfilmer und Naturforscher David Attenborough auf die Frage, was seiner Ansicht nach das erstaunlichste Geschöpf auf Erden sei: »Das einzige Geschöpf, bei dem mir vor Staunen so der Mund offen stehen bleibt, dass ich mich fast nicht losreißen kann, ist ein neun Monate altes menschliches Baby: Wie schnell es wächst. Wie schnell es lernt. Wie schnell es Nerven entwickelt. Es ist von allen Geschöpfen das komplexeste und das außergewöhnlichste. Nichts lässt sich mit ihm vergleichen.«3 Eines der Dinge, die es wie kein anderes Tier lernt, ist die Sprache. Nach dem Evolutionspsychologen Robin Dunbar kann ein durchschnittliches Kind mit drei Jahren etwa 1000 Wörter gebrauchen (doppelt so viele wie der von Kanzi aufgestellte Bonobo-Weltrekord), mit sechs sind es etwa 13.000 und mit achtzehn etwa 60.000. »Das heißt, es hat seit seinem ersten Geburtstag im Durchschnitt 10 neue Wörter pro Tag gelernt; also alle 90 Minuten der im wachen Zustand verbrachten Zeit ein neues Wort.«4

Die Sprache ist nicht nur eines von vielen menschlichen Merkmalen, sie ist ein prägendes Merkmal des Menschlichen. Als der Historiker Tony Judt durch Amyotrophe Lateralsklerose langsam die Fähigkeit zur verständlichen Kommunikation verlor, sagte er, zwischen zwei Atemzügen, die bereits von einer an seine Nasenlöcher angeschlossenen Beatmungsmaschine gesteuert wurden, zu mir die unvergesslichen Sätze: »Solange ich kommunizieren kann, lebe ich noch« (Pause für einen maschinell gesteuerten Atemzug). »Wenn ich nicht mehr kommunizieren kann« (Pause für einen maschinell gesteuerten Atemzug), »bin ich nicht mehr am Leben.«5 Ich kommuniziere, also bin ich.

Menschliche Kommunikation ist nie allein auf die Sprache beschränkt. Körperkontakt, Handbewegungen und Gesichtsausdruck spielten bestimmt schon eine wichtige Rolle, bevor der Brustkorb, die Zunge und das Gehirn zum ersten Sprechakt in der Lage waren. Donald Brown fasst in einer Skizze der von ihm so genannten Universal People zusammen, was er für anthropologisch gesicherte universale Eigenschaften des Menschen hält. Dabei behandelt er sehr ausführlich Sprechen und Sprache, schließt aber auch körperliche Gesten und eine ganze Bandbreite per Gesichtsausdruck vermittelter Botschaften mit ein.6

Außerdem nutzen wir schon seit Urzeiten nicht nur unseren Körper, um zu kommunizieren. Die ältesten bekannten Höhlenmalereien sind vor etwa 40.000 Jahren entstanden. Es gibt Hinweise auf Musikinstrumente, die vermutlich genauso alt sind, und auf Schmuck, der noch älter ist.7 All das sind entfernte Vorläufer der Kunstwerke, Cartoons, YouTube-Clips, Demonstrationsplakate, Fahnenverbrennungen, Theatervorstellungen, Lieder, Tätowierungen, Kleidungsstücke, Speisen, Instagram- und GIF-Bilder, Second-Life-Avatare, Emojis und Myriaden anderer zeitgenössischer Ausdrucksformen, die alle unter den Begriff »Redefreiheit« fallen. Oder wie es der Dichter John Milton in der Schrift Areopagitica formulierte, durch die er sich Mitte des 17. Jahrhunderts in England gegen die Zensur wandte: dass »alles, was wir hören oder sehen, sei es im Sitzen, Gehen, Reisen, oder im Gespräch, füglich unser Buch genannt werden kann«.8

Der neue Kontext, in dem sich die Frage der freien Meinungsäußerung heute stellt, ist freilich das Ergebnis neuerer Entwicklungen im Bereich der Kommunikation. Ihre Beschleunigung lässt sich auf zwei Hauptvektoren verfolgen: dem physischen und dem virtuellen9. Auf einer Zeitachse könnte man extrem selektiv folgende Mittel auflisten, die die Menschen nacheinander gefunden haben, um sich einander physisch zu nähern: Gehen, Rennen, Schwimmen, Einbaum, Reittier, Rad, Flussboot, hochseetüchtiges Schiff, Zug, Kraftfahrzeug, Propellerflugzeug, Düsenflugzeug. Die technische Entwicklung des Massentransports ist mit dem Düsenflugzeug vorläufig zum Stillstand gekommen, doch es wird von immer mehr Menschen benutzt. Im Jahr 1970 wurden gut 300 Millionen Passagierflüge registriert. Heute sind es mehr als drei Milliarden im Jahr, also kommt knapp ein Flug auf je zwei Erdenbürger.10

Abb. 2: Zunahme von Passagierflügen

Quelle: World Development Indicators, 2014.

Die meisten Flugzeugpassagiere besuchen andere Länder, aber manche wandern auch aus. Die UNO schätzt, dass etwa jeder 30. Mensch auf der Erde einmal in seinem Leben in ein neues Land zieht.11 In einem Dokument des Vatikans heißt es: »Die heutigen Migrationsbewegungen sind die größten aller Zeiten«.12 Die Erde ist heute ein großstädtischer Planet. Im Jahr 2014 lebte bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Großstädten, und laut Schätzungen der UNO werden die Großstädte auf der Welt bis 2020 um weitere 2,5 Milliarden Menschen wachsen.13 Dabei wird es sich, insbesondere in den sogenannten Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, um Männer, Frauen und Kinder aus aller Welt handeln. Heute ist in mindestens 25 Weltstädten mehr als jeder vierte Einwohner im Ausland geboren, und 2011 kam eine kanadische Volkszählung zu dem überraschenden Ergebnis, dass 51 Prozent der Bevölkerung Torontos im Ausland geboren sind.14 Dabei sind die sogenannten Postmigranten, die Kinder und Enkel von Migranten, im Deutschen auch »Menschen mit Migrationshintergrund« genannt, noch gar nicht mitgerechnet. In solchen Großstädten lebt man routinemäßig mit Männern und Frauen aus allen möglichen Ländern, Kulturen, Religionen und Volksgruppen auf engstem Raum.

Abb. 3: Hyperdiversität: Torontos sichtbare Minderheiten

Zeigt einen Abriss der definierten »sichtbaren Minderheiten«, die im Jahr 2011 49 Prozent der Bevölkerung von Toronto ausmachten.

Quelle: Canadian National Household Survey, 2011.

Man braucht nur die U-Bahn, die Metro, die Tube oder den Subway zu nehmen, und die ganze Menschheit fährt mit. Diese beispiellose Vielfalt wurde nicht allein durch die technologischen Fortschritte bei den physischen Transportmitteln verursacht. Zu den tieferen Ursachen gehören postkoloniale Altlasten, der Einfluss von Kriegen, Revolutionen und Hungersnöten, der gähnende ökonomische Abgrund zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens, die Anziehungskraft offener und die abstoßende Kraft geschlossener Gesellschaften. Wie schon vor 5000 Jahren gehen Menschen auch heute noch Hunderte von Kilometern zu Fuß und überqueren gefährliche Gewässer, weil sie für sich und ihre Angehörigen ein besseres Leben erhoffen. Aber dank den neuen Technologien des physischen Transports können sie sich heute leichter bewegen.

Dieselben neuen Transportmittel versetzen die Migranten und ihre postmigrantischen Kinder und Kindeskinder heute auch in die Lage, oft in ihr eigenes Heimatland oder das ihrer Eltern oder Großeltern zu reisen: von Spanien nach Marokko, von Großbritannien nach Pakistan, von Australien nach Vietnam.15 Genauso wichtig für unser Thema ist der intensive virtuelle Kontakt, den Migranten und Postmigranten mittels Satellitenfernsehen, Internet, E-Mail und Mobiltelefon mit den Menschen, der Kultur und der Politik ihrer zweiten Heimat haben. Es ist nur wenig übertrieben zu sagen, dass sie dank der physischen und virtuellen Reduktion der Entfernung in zwei Ländern zugleich leben.

Das digitale Zeitalter ist sowohl durch die Beschleunigung als auch durch die Konvergenz zweier früher getrennter Arten von Kommunikation gekennzeichnet: der Kommunikation zwischen zwei Personen und der zwischen einer Person und vielen Personen. Wichtige Fortschritte in der Kommunikation zwischen Individuen waren die Entwicklung der Post, der Telegraf, das Telefon, das Mobiltelefon, die E-Mail und das Smartphone. Durch das Smartphone bekommt man Zugang zum »mobilen Internet«, in dem die Kommunikation zwischen zwei Personen mit der zwischen einer Person und vielen Personen und der zwischen vielen Personen und vielen Personen konvergiert.

Die Kommunikation zwischen einer Person und vielen Personen hat eine lange Vorgeschichte, die mit der Erfindung der Schrift beginnt: auf Tafeln aus Stein oder Ton (wie etwa die Edikte des indischen Königs Ashoka im 3. Jahrhundert v.u.Z.), auf Papier (in China, etwa ab dem 2. Jahrhundert n.u.Z.), auf Schriftrollen und, ab dem 3. Jahrhundert n.u.Z., in einem Kodex, einem Buch mit Seiten zum Umblättern. Ein großer Sprung nach vorn war für dieses Medium der Buchdruck. Es ist bemerkenswert, dass er zuerst in China, im 11. Jahrhundert und mit Lettern aus Keramik, erfunden wurde. Lettern aus Metall wurden zwei Jahrhunderte später in Korea entwickelt. Die Welt veränderte jedoch die (Wieder-)Entdeckung des Drucks mit beweglichen Lettern durch den deutschen Erfinder und Unternehmer Johannes Gutenberg in den Vierzigerjahren des 15. Jahrhunderts und die Ausbreitung des Buchdrucks über ganz Europa in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts.16 Die Ausbreitung von Radio und Fernsehen war ein weiterer großer Sprung in der Kommunikation von einer Person mit vielen – der Grundbedeutung des englischen Worts »broadcast« (das Wort wurde im Englischen des 19. Jahrhunderts für das Ausstreuen von Samen verwendet). Dennoch kommen wir nicht an einer Tatsache vorbei, die inzwischen zur atemlos hervorgestoßenen Binsenweisheit geworden ist: Ja, die Erfindung des Internets hat den größten Fortschritt in der menschlichen Kommunikation seit Gutenberg eingeleitet.

Am 29. Oktober 1969 wurde von einem Computer an der University of California, Los Angeles, eine Nachricht an einen Computer im Stanford Research Institute geschickt. Diese vermutlich erste Nachricht des Internetzeitalters lautete schlicht und einfach: »Lo«.17 Dabei handelte es sich weder um eine krypto-biblische Begrüßung des Internets als Messias im Sinne von »Siehe, er kommt!« noch um den lässigen Slang einer amerikanischen Comicfigur, sondern um eine verstümmelte Nachricht. Der Computer in Stanford stürzte nämlich ab, bevor er den letzten Buchstaben des Wortes »Log« empfangen konnte. Auf einer Karte vom Dezember1969, die das Phänomen zeigt, das sich später zum Internet entwickeln sollte, sind vier Computer eingezeichnet.18 Das Oxford English Dictionary datiert das Wort »Internet« auf das Jahr 1974.19 Im August 1981 gab es erst 213 Internet-Hosts.20 Der Vorschlag, ein World Wide Web zu entwickeln, wurde 1989 von Tim Berners-Lee gemacht, und er war es, der Ende 1990 die erste Website erstellte.21

Danach ging alles rasend schnell. Moores Gesetz, dass sich die Zahl der Transistoren, die auf einen Mikrochip passen, regelmäßig verdoppelt und die Rechenleistung der Computer deshalb exponentiell zunimmt, gilt mittlerweile seit etwa 50 Jahren, da der Chiphersteller Gordon Moore diese Voraussage 1965 traf, wenngleich es so aussieht, dass sich die Wachstumsrate jetzt doch verlangsamt.22

Abb. 4: Moores Gesetz

Quelle: Intel/The Economist, 2015.

Neue Wörter müssen erfunden werden, um die Byte-Zahl der online gespeicherten Informationen zu benennen. Ein Byte ist die Standardeinheit der digitalen Speicherkapazität. Es besteht in der Regel aus einem »Oktett« von acht Einsen und Nullen. Die online gespeicherten Informationen reichen von Megabyte (MB oder 10002 Bytes) und Gigabyte (GB oder 10003 Bytes), mit dem die Speicherkapazität unserer heutigen PCs beziffert wird, bis hinauf zum Exabyte, Zettabyte und schließlich Yottabyte, das aus 1.000.000.000.000.000.000.000.000 Bytes besteht.23 Laut einer Schätzung von Cisco Systems würde es etwa sechs Millionen Jahre dauern, alle in den globalen Netzwerken in einem einzigen Monat übertragenen Videos anzuschauen.24

Im Jahr 2015 gibt es etwa drei Milliarden Internetnutzer. Die genaue Zahl ist davon abhängig, wie man die Begriffe Internet und Nutzer genau definiert, aber sie steigt jedenfalls rapide.25 Es wird allgemein erwartet, dass das schnellste Wachstum außerhalb der westlichen Welt im drahtlosen Bereich und insbesondere bei den mobilen Geräten stattfinden wird. Heute existieren weltweit mehr als zwei Milliarden Smartphones, und ihre Zahl wird sich bis 2020 vermutlich auf vier Milliarden verdoppeln.26 Etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben in Reichweite eines Handymasts, der Daten übertragen kann. Tim Berners-Lee, Mark Zuckerberg und viele andere setzen sich dafür ein, dass alle Menschen Zugang zum Internet bekommen.27

Dennoch sollte man nicht vergessen, dass immer noch Milliarden Menschen von diesem beispiellosen Kommunikationsnetz ausgeschlossen sind. Wie aus Karte 1 ersichtlich, ist die Internetnutzung sehr ungleich auf dem Erdball verteilt.

Karte 1: Ungleiche Internetnutzung weltweit

Die Größe der Länder ist proportional zu den absoluten Zahlen der Nutzer. Länder mit weniger als 450.000 Personen online sind weggelassen.

Quelle: Oxford Internet Institute, 2013.

Selbst wer ständigen und erschwinglichen Zugang zum Netz hat, der so vielen immer noch fehlt, braucht ein Minimum an Bildung, um ihn auch zu nutzen. Laut Schätzungen der UNO gibt es auf der Erde immer noch 900 Millionen Analphabeten, und zwar gemäß der Minimaldefinition, dass eine Person nicht in der Lage ist »eine kurze einfach Aussage über ihren Alltag zu lesen, zu schreiben und zu verstehen«. In mehreren afrikanischen Staaten besteht gemäß dieser Minimaldefinition mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Analphabeten.28

Karte 2: Analphabetismus weltweit

Die Karte zeigt die Anteile der gemäß der Minimaldefinition im Text alphabetisierten Erwachsenen.

Quelle: UNESCO Institute for Statistics, 2013.

Das notwendige Bildungsniveau, um an einem größeren Online-Gespräch teilzunehmen, von einem globalen ganz zu schweigen, ist eindeutig höher. Auch grundlegende Einrichtungen wie Licht zum Lesen sind erforderlich. Hier ist weder der Raum, noch verfüge ich über die nötige fachliche Kompetenz, um zu untersuchen, wie diese Vorbedingungen menschlicher Entwicklung für die freie Meinungsäußerung herbeizuführen sind, doch sie sind eindeutig ein sehr wichtiger Faktor. Deshalb gilt vieles, was ich in diesem Buch schreibe, heute erst für eine Hälfte der Menschheit, wenngleich dieser internetfähige Teil wächst.

Technologisch jedoch besteht kein Grund mehr, warum in Zukunft nicht alle Menschen auf der Erde durch ein kleines Kästchen in ihrer Hand miteinander und mit fast allen bekannten Dingen verbunden sein sollten. In seinem satirischen Roman Super Sad True Love Story nennt Gary Shteyngart ein solches Kästchen »Äppärät« (der Plural ist Äppäräti).29 Für unsere Zwecke ist es sowohl fruchtlos als auch unnötig, über die nächsten Phasen dieser großen Konvergenz zu spekulieren, zu jubeln oder zu stöhnen. Vermögen werden gemacht und verloren werden, Wirtschaftsimperien werden aufsteigen und fallen, und die jeweils neueste Erfindung wird in den Himmel gelobt werden, während junge Leute gleich um die Ecke in Palo Alto, in Bangalore oder im Haidian in Peking schon an ihrer Nemesis arbeiten.

Ohne uns lange mit technischen Details aufzuhalten, können wir heute schon sicher voraussagen, dass im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jeder, der über ein Smartphone, ausreichend Bildung und genügend Geld für den Datenzugriff verfügt, bereits die konvergierte Welt der Äppäräti erreicht haben wird. Alle traditionell voneinander getrennten Ausdrucksmedien (»Zeitung«, »Radio«, »Film«, »Fernsehen«, »Orchester«), alle Quellen von Informationen und Ideen (»Buch«, »Archiv«, »Fachzeitschrift«) und alle Kommunikationsmittel (»Telefon«, »E-Mail«, »SMS«, »Videokonferenz«) sind heute schon durch das Kästchen in Ihrer Hand verfügbar oder werden es bald sein. Oder wenn Sie es lieber anders wollen, dann auch durch einen großen Bildschirm in einer Ecke Ihres Wohnzimmers oder ein kleines Gerät an Ihrem Handgelenk oder einen Chip, der in Ihrem Schädel implantiert ist.

Da die satirischen Umlaute von Shteyngarts Äppärät mit der Zeit nerven könnten, bezeichne ich das universale Kommunikationsgerät in diesem ganzen Buch schlicht als Ihr Kästchen. Und ich verwende das Wort Internet in einem besonders breiten Sinn, um das ganze weltweite Informations- und Kommunikationsnetz zu bezeichnen, dessen Universalität immer noch durch politische, rechtliche, kulturelle und wirtschaftliche, aber nicht mehr durch technische Faktoren ernsthaft begrenzt ist.

Abb. 5: Mehr Geräte als Menschen

Quelle: Frei nach Mary Meeker, Internet Trends 2014.

Das Internet zersetzt die traditionellen Einheiten Zeit und Raum. Es komprimiert den Raum, indem es uns zu virtuellen Nachbarn macht, und es quetscht auch die Zeit. Was einmal online ist, bleibt gewöhnlich für immer dort. Egal, ob eine unkluge Bemerkung erst heute Morgen oder schon vor 20 Jahren gemacht wurde, sie gehört, wenn sie bei einer Online-Suche auftaucht, immer noch auf eine wichtige und neue Art zum Hier und Jetzt. Nur mit größten Schwierigkeiten kann Material wieder entfernt, kann eine Publikation ungeschehen gemacht werden.

Noch eine weitere technologische Möglichkeit ist erwähnenswert, nämlich dass der Computer ein solches Niveau künstlicher Intelligenz erreichen könnte, dass man ihn für sprachfähig hält. Während sich Cyberutopisten wie Ray Kurzweil auf den ruhmreichen Moment freuen, an dem die künstliche und die menschliche Intelligenz zu einer alles verwandelnden »Singularität« verschmelzen, fürchten Cyberdystopisten, dass die maschinelle Intelligenz die menschliche Intelligenz zunächst überflügeln und dann die Herrschaft übernehmen könnte – wie der mit einer hypnotischen Stimme ausgestattete Computer HAL in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum, nur dass dieses Mal der Computer gewinnt.30

Aber so weit sind wir noch nicht: Selbst wenn die Dame, die mit gleichfalls hypnotischer Stimme aus dem Navi Ihres Autos spricht, ihre Anweisungen ändert, wenn Sie die Route ändern, und selbst wenn die Spracherkennungssoftware in Ihrem Kästchen (wie zum Beispiel »Siri« von Apple) unter Verwendung aller Informationen, die sie über Sie besitzt, jetzt schon auf Ihre mündlichen Anfragen reagieren kann. Schon in den Sechzigerjahren entwickelte der Informatiker Joseph Weizenbaum das Computerprogramm Eliza, benannt nach Eliza Doolittle in Pygmalion von George Bernard Shaw – besser bekannt als Julie Andrews in My Fair Lady.31 Eliza konnte rudimentäre Gespräche mit Menschen führen, die von hohler Sympathie geprägt waren. (»Tut mir leid zu hören, dass Sie depressiv sind.«) In jüngerer Zeit behaupteten die Entwickler des Chatbots Eugene Goostman, dieser habe den Turing-Test bestanden, bei dem man nicht weiß, ob man mit einem Menschen oder einer Maschine redet. Doch ihre Behauptung wurde schnell bestritten.32 Viele Chinesen finden offenbar Trost bei Xiaoice, einem vorgeblich weiblichen Chatbot von Microsoft.33

Führende Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass wir es schneller mit künstlicher Intelligenz zu tun bekommen könnten, als wir denken, und uns deshalb ernsthaft mit diesem Problem auseinandersetzen sollten.34 Weil dieser einzigartige Moment trotzdem noch ein Weilchen auf sich warten lassen wird, befassen wir uns in diesem Buch nur mit der Sprache des Menschen und nicht mit der, die anderen Tieren oder Maschinen zugeschrieben wird. Es gibt freilich schon heute wichtige Fragen in Bezug auf das Phänomen, das der Rechtswissenschaftler Tim Wu als »Maschinensprache« bezeichnet, und ich komme darauf unter Prinzip 9 zurück, wenn wir uns mit der Ethik von Algorithmen befassen. Bis jetzt drehen sich die relevanten Fragen jedoch vor allen darum, was menschliche Programmierer Maschinen algorithmisch zu tun befehlen, und nicht darum, was eine entwickelte maschinelle Intelligenz in einem irgendwie signifikanten Sinne selbst zu sagen beschlösse. Je größer der Input an menschlichen Überzeugungen oder Werturteilen, umso eindeutiger handelt es sich um ein Problem der Redefreiheit.35

Überdies dient selbst die erstaunlichste Kommunikationstechnologie nur zweien unserer fünf Sinne. Geruch, Berührung und Geschmack sind heute noch fast völlig außen vor. Ein Online-Bankett füllt einem nicht den Magen, und virtueller Sex ist auch nicht das Wahre.36 (Einige Telefone und Spielkonsolen vermitteln rudimentäre Berührungserfahrungen. Außerdem gibt es das weite Feld der Teledildonik, der sexuellen Befriedigung durch Geräte ohne interpersonellen Körperkontakt. Die Grundlagenforschung in diesem Bereich will ich jedoch anderen überlassen.)

Trotz aller Wunder wird die größte Bandbreite menschlicher Kommunikation immer noch ausschließlich in der persönlichen Begegnung erreicht. Nur hier wirkt die ursprüngliche Macht der Sprache mit den physischen Signalen zusammen, die wir bezeichnenderweise »Körpersprache« nennen. Von Angesicht zu Angesicht ergänzen subtile Veränderungen im Ton, eine Neigung des Kopfes, ein weicher Ausdruck in den Augen, eine Berührung mit der Hand die Modulationen des Luftstroms, den der Brustkorb durch den Vokaltrakt pumpt. In dieser unvermittelten menschlichen Begegnung kommen die Worte den Taten am nächsten, und manchmal wird das Wort Fleisch. Wer weiß, vielleicht wird es durch eine Kombination von Bioengineering und Kommunikationstechnik eines Tages gelingen, über eine Entfernung von Tausenden Kilometern die unvergleichliche Fülle dieser Erfahrung cyberkognitiv zu reproduzieren. Bis dahin jedoch ist unsere transformierte Welt durch externe Kombinationen des Virtuellen und des Physischen gekennzeichnet, welche das Ergebnis von Entwicklungen sind, die ich zusammenfassend als »die Massenmigration und das Internet« bezeichne.

KOSMOPOLIS

In seinem 1962 publizierten Buch Die Gutenberg-Galaxis verkündete der Medienguru Marshall McLuhan: »Die neue elektronische Interdependenz verwandelt die Welt in ein globales Dorf«37 – eine außerordentliche, geradezu prophetische Erkenntnis, die ihrer Zeit weit voraus war. Dennoch ist der Vergleich der Welt mit einem »globalen Dorf« weder als Beschreibung noch als Empfehlung für die realen Verhältnisse ganz zutreffend. Dörfer sind kleine, in der Regel homogene und konformistische Orte. Toleranz ist nicht ihr Markenzeichen. Wenn es hart auf hart kommt, kann es passieren, dass Dorfbewohner einander umbringen, die ihr ganzes Leben lang Nachbarn gewesen sind, hier Serben und Bosniaken, da Hutu und Tutsi. Das »globale Dorf« ist weder der Ort, an dem wir uns befinden, noch der, wo wir hinwollen sollten.

Als elektronische Nachbarn leben wir eher in einer globalen Stadt. Meistens sind unsere Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen eher oberflächlich: in der U-Bahn, im Bus oder beim Einkaufen. Wir können das indische, französische oder chinesische Restaurant unten in der Straße besuchen oder auch nicht. Gelegentlich kommen wir für einen großen gemeinsamen Event zusammen: ein Fußballspiel vielleicht oder ein Konzert oder eine Kundgebung. Manchmal jedoch verändert eine mehr oder weniger zufällige Begegnung auch unser Leben, etwa wenn es sich um einen traumatischen Angriff handelt oder wenn eine geschäftliche Partnerschaft oder eine Liebesbeziehung daraus entsteht. Dasselbe ist auch online der Fall. Das ist die Welt-als-Großstadt.

»Stadtluft macht frei«, lautete ein deutsches Sprichwort im Mittelalter. »Ihrer Natur nach«, schrieb der Theologe Paul Tillich, »bietet die Metropole das, was sonst nur Reisen bietet, nämlich das Fremde. Da das Auftreten von Fremdartigem zu Fragen anleitet und an altvertrauten Traditionen rüttelt, dient es dazu, den Verstand anzuregen.«38 Dies ist ein inspirierender Gedanke, doch in Großstädten, die von Menschen aus aller Welt und ihren Nachkommen bewohnt sind, gibt es auch heftigen Streit über islamische Zentren, sektiererische Demonstrationen, umstrittene Theaterstücke und Bücher. Großstädte werden heimgesucht vom Hass zwischen Nachbarn, Intoleranz gegenüber dem Andersartigen, Aufrufen zu Zensur und Selbstzensur. Sie werden von rassischen und religiösen Unruhen erschüttert oder von einem jungen muslimischen Mann, der an einem Amsterdamer Wintermorgen des Jahres 2004 kaltblütig einen holländischen Filmemacher auf offener Straße ermordet. Bei seinem Prozess sagte der Mörder, ein göttliches Gesetz verbiete ihm »in diesem oder irgendeinem anderen Land zu leben, in dem die Redefreiheit erlaubt ist«. Statt jedoch in sein Heimatland Marokko zurückzukehren, wo die Redefreiheit entschieden begrenzt war, versuchte er die Redefreiheit in den Niederlanden, wo er nun lebte, zu ersticken. Mohammed Bouyeri, der junge Mann, der den Filmemacher Theo van Gogh ermordete, war ein häufiger Besucher von Dschihad-Websites, für die er auch Beiträge schrieb. Heute mehr denn je kann das mit einer Tastatur getippte Urteil zum Todesurteil werden.39

Da der Begriff »Weltstadt« schon verwendet wird, um große, multikulturelle Städte wie London, New York oder Tokio zu bezeichnen, und es umständlich wäre, jedes Mal »Welt-als-Großstadt« zu schreiben, habe ich das alte Wort »Kosmopolis« wieder ausgegraben und seine Bedeutung erweitert, um die Ganzheit dieser vielfach verwickelten und verbundenen Welt-als-Großstadt zu bezeichnen.40

Die Kosmopolis ist der gewandelte Kontext jeder Diskussion über Redefreiheit in unserer Zeit. Sie existiert in den vielfältig miteinander verbundenen physischen und virtuellen Welten von heute und ist deshalb, um eine Wendung aus Finnegan’s Wake von James Joyce zu borgen, »urban und orbal«. Der Taxifahrer, der vor meinem Haus in Oxford wartet, liest eine Zeitung mit Nachrichten aus Großbritannien auf Englisch und mit Nachrichten aus Pakistan auf Urdu. Dank der elektronischen Kommunikation ist das, was in Bradford veröffentlicht wird, oft auch in Lahore verfügbar und umgekehrt. Wenn die Normen für freie Meinungsäußerung an den beiden Orten sehr unterschiedlich sind und es zum Beispiel am einen Ort ganz normal ist, den Islam in Frage zu stellen, und absolut inakzeptabel am anderen, werden gewaltsame Reaktionen in einem der Länder oder in beiden wahrscheinlicher.

Viele für die Redefreiheit entscheidende Momente in unserer Zeit haben genau diesen dualen, urban-orbalen Charakter. Im Jahr 1989 war das Leben des Romanschriftstellers Salman Rushdie in Gefahr, weil ein Ajatollah im fernen Teheran eine Fatwa erließ (»Was ist eine Fatwa?«, fragte der amerikanische Verleger Salman Rushdies in jener unschuldigen Zeit41) und sich die Nachricht schnell auf der ganzen Welt verbreitete. Die Drohung musste ernst genommen werden, nicht zuletzt, weil Rushdie in einer Großstadt (London) und in einem Land lebte, wo es inzwischen auch viele Muslime gab. Nur einer von ihnen wäre notwendig gewesen, um das Urteil Chomeinis zu vollstrecken. Eine Untersuchung des weltweiten Aufruhrs nach der Publikation von Mohammed-Karikaturen durch die dänische Zeitung Jyllands-Posten im Jahr 2005 hatte das Ergebnis, dass bei den Demonstrationen gegen die Karikaturen mehr als 240 Menschen ums Leben kamen.42 Keiner der Toten war in Dänemark zu beklagen und nur einer in Europa. Die meisten Menschen starben in Nigeria, Pakistan, Libyen und Afghanistan. Am Ende dieses Kapitels erzähle ich die tragisch absurde Geschichte, wie ein lächerliches antiislamisches Video, das ein verurteilter Betrüger 2012 im Süden Kaliforniens auf YouTube postete, den Tod von mehr als 50 Menschen verursachte. Keiner von ihnen starb in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2015 gab es in Pakistan und Nigeria gewaltsame Demonstrationen und Tote wegen Karikaturen des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo, das kaum einer der Demonstranten je gesehen hatte.43

Ein Mensch veröffentlicht etwas im einen Land, und ein Mensch stirbt in einem anderen. Jemand droht in diesem anderen Land mit Gewalt, und im ersten wird eine Aufführung oder Publikation unterbunden. Auch auf diese verstörende Weise sind wir heute alle Nachbarn.

CYBERSPACE, CA 94305

Neue Kommunikationstechnologien sind oft mit hochfliegenden moralischen und ethischen Erwartungen verbunden. Martin Luther bezeichnete den Buchdruck als »höchsten Gnadenakt Gottes«.44 Im Jahr 1881 erklärte die Zeitschrift Scientific American, »dass die Berührung der telegrafischen Tastatur menschliches Mitgefühl hervorruft«.45 »Das Fax wird Sie befreien«, verkündete der amerikanische Atomstratege Albert Wohlstetter in einem 1990 veröffentlichten Artikel.46 Auch das Internet ist mit extremen Erwartungen verknüpft: Manche meinen, es werde unvermeidlich zu einem Himmelreich der Redefreiheit und politischen Befreiung führen, andere fürchten eine Hölle großunternehmerischer Ausbeutung und totalitärer Überwachung.

Wir haben es hier mit dem Irrtum des technologischen Determinismus zu tun. Das Fax hat nie einen Menschen befreit. Menschen werden von Menschen befreit. Der Telegraf wurde genau wie die Druckerpresse dazu verwendet, das Beste und das Schlimmste zu übermitteln, dessen Menschen fähig sind. Aber wir sollten auch nicht dem entgegengesetzten Irrtum erliegen und Technologien für völlig neutral halten. Vielmehr besitzen sie, was wir als Affordanz oder Angebotscharakter bezeichnen.47 Neue Technologien eröffnen Möglichkeiten, die zuvor überhaupt nicht oder nicht im selben Ausmaß existierten. Wenn Ihnen jemand ein Rad gibt, können Sie es natürlich hinlegen und sich draufsetzen, aber die neue Möglichkeit, die es bietet, besteht darin, dass Sie weiter und schneller und mit mehr Gepäck als je zuvor reisen können.

Was sind die typischsten Affordanzen des Internets? Um es so einfach wie möglich zu formulieren: Es macht es leichter, etwas an die Öffentlichkeit zu bringen, und es erschwert es, etwas für sich zu behalten. Die erste Affordanz hat ein großes befreiendes Potenzial, insbesondere für die Redefreiheit; die zweite hat ein repressives Potenzial, auch als Bedrohung für die Redefreiheit. Wenn ein Staat oder ein Unternehmen alles weiß, was wir irgendeinem Menschen gegenüber je geäußert haben, sind wir weniger frei. Dabei sind sogar Dinge mit eingeschlossen, die wir gar nicht ausdrücklich sagen, sondern durch unsere Suchgeschichten im Internet enthüllen. Schon wenn wir nur fürchten, dass irgendein staatlicher oder konzerngesteuerter Großer Bruder wissen könnte, was wir privat äußern, sprechen wir weniger frei. (Die Beziehung zwischen Privatsphäre und freier Meinungsäußerung wird ausführlicher unter Prinzip 7 behandelt.)

All die erwähnten Artefakte und Systeme wurden von ganz bestimmten Männern und Frauen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit entworfen und sind von diesen Ursprüngen geprägt. Im Fall des Internets waren die Erfinder meistens Amerikaner oder englischsprachige Personen, die von den Fünfziger- bis zu den Neunzigerjahren in Amerika arbeiteten.48 Das Internet in seinem ursprünglichen, engeren Sinne ist nicht so amerikanisch wie Mutterschaft und Apfelkuchen, sondern noch viel amerikanischer. Schließlich sind Mutterschaft und Apfelkuchen gelegentlich auch in anderen Kulturen zu finden. Das ursprüngliche Internet ist ein Produkt des Kalten Krieges und der USA, als diese sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, ihres Selbstvertrauens und ihrer Innovationskraft befanden.

Dank der großzügigen Finanzierung durch die Advanced Research Projects Agency des Pentagons,49 die ursprünglich als Reaktion auf den sowjetischen Satelliten Sputnik gegründet wurde, entstand eine seltsame, aber dynamische Dreiheit von staatlichen Behörden, Privatunternehmen und Computerspezialisten. Die Computerspezialisten hatten nicht nur Rechner, sie hatten auch Ansichten, und diese waren in der Regel stark libertär gefärbt. »Wir lehnen ab: Könige, Präsidenten und Wahlen«, lautete eine berühmt-berüchtigte Äußerung aus diesem Kreis. »Wir glauben an breiten Konsens und funktionsfähige Codes.«50 Sie bauten das Netz auf, indem sie daran arbeiteten. »Erst schießen, dann zielen«, war ein weiterer ihrer Lieblingssprüche. Die informelle Organisation Internet Engineering Task Force (IETF) hat von da an bei der Gestaltung des Internets immer eine wichtige Rolle gespielt.

Das Wort »Internet« leitete sich ursprünglich vom »Internetworking« der drei vom Pentagon finanzierten Computernetzwerke ab, und es setzte sich genau deshalb gegen mögliche Alternativen durch, weil es darauf angelegt war, mit unterschiedlich konfigurierten Geräten und Netzwerken zu arbeiten.51 Das bestimmende Merkmal des Internets ist kein materieller Gegenstand, sondern eine TCP/IP genannte Familie von Netzwerkprotokollen, die es Millionen von Computern auf der ganzen Welt erlaubt, miteinander Verbindung aufzunehmen und Informationspakete auszutauschen.52 Für einige Beteiligte war das Motiv des Handelns ein »verteiltes Netzwerk«, in dem Informationspakete ihren Bestimmungsort auf so vielen alternativen Routen erreichen können, dass auf diese Art vielleicht auch nach einem atomaren Erstschlag noch Informationen ausgetauscht werden konnten.53 Doch der freie Austausch von Informationen unabhängig von ihrem Inhalt entsprach auch ihren amerikanisch-libertären Überzeugungen: Du gibst meine Pakete weiter und ich deine. Später wurde daraus das weiter gefasste Prinzip der »Netzneutralität«, das jede Diskriminierung wegen des Inhalts eines Informationspakets, der Identität des Senders oder des dabei benutzten Geräts verbietet.54 (Mehr darüber unter Prinzip 9.) Die Tiefenstruktur des Internets war also auch kulturell determiniert. Vermutlich ist es nicht falsch anzunehmen, dass iranische oder sowjetische Computerspezialisten etwas so Andersartiges entwickelt hätten, dass wir es nicht als »das Internet« erkennen würden.

Auch die Privatunternehmen, die als Erste die vom Internet gebotenen Chancen nutzten, waren amerikanisch. Ich schreibe diese Worte nur ein paar Häuser vom ursprünglichen Sitz des Stanford Research Institute entfernt, an dem die erste Botschaft des Internetzeitalters (»Lo«) ankam. Im Umkreis von 65 Kilometern um Stanford kann ich Google, Facebook, Twitter, Intel, Oracle, Cisco und Wikipedia besuchen. Diese privaten Supermächte unterscheiden sich zwar in vieler Hinsicht voneinander, aber sie sind allesamt Produkte eines einzigartigen amerikanischen Zusammentreffens von Innovation, Macht und Ideologie.

Den Begriff »Cyberspace« prägte der Science-Fiction-Autor William Gibson in der 1982 veröffentlichten Short Story »Burning Chrome« und verwendete ihn danach auch in dem Roman Neuromancer. In den Neunzigerjahren, als die Inhalte der SF-Romane Wirklichkeit zu werden schienen, erreichten die amerikanischen Hoffnungen auf ein globales cyberlibertäres Paradies der Freiheit ungeahnte Höhen. John Perry Barlow, ein leidenschaftlicher Befürworter der Freiheit im Internet und früherer Texter der Rockband Grateful Dead schrieb 1996 eine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die ganz eindeutig der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 nachempfunden war. Sie prangerte sogar die »zunehmenden feindlichen und kolonialen Maßnahmen« an, als ob König George III. drauf und dran sei, seine Rotröcke in den Cyberspace zu schicken.

»Regierungen der industriellen Welt«, begann die Erklärung, »Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Souveränität mehr.« Barlow schrieb von einem »globalen sozialen Raum« und »großartigen und verbindenden Auseinandersetzungen« und verkündete: »Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft.« Und er erklärte voller Optimismus, die Regierungen besäßen keine Methoden zur Durchsetzung ihrer Herrschaft, »die wir zu befürchten hätten«.55

Dieses überschwängliche Stück amerikanischer Prosa ist ein perfekter Ausdruck für die Hoffnung auf Freiheit und insbesondere Redefreiheit, die mit dem Internet verknüpft war. Und sie steht auch für eine hochgradige Illusion. Das Internet ist nämlich niemals unabhängig vom Einfluss von Regierungen, Konzernen oder anderen irdischen Mächten gewesen. Vielmehr wurde es entscheidend von ihnen geformt – und jetzt kämpfen sie darum.

Die ursprüngliche Entwicklung des Internets wurde vom amerikanischen Verteidigungsministerium bezahlt. Seit 1998 wurden neue hochrangige Domainnamen (wie .com .net .org) und die numerischen IP-Adressen, die die Grundlage des gesamten weltweiten Systems bilden, von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) vergeben, an der angeblich viele verschiedene Interessenten beteiligt sind. Doch die ICANN ist ein gemeinnütziges Unternehmen, das im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien registriert ist, und ihre Macht, Namen zu vergeben, beruhte lange Zeit ausschließlich auf einem Vertrag mit der US-Regierung. (Erst unter Obama wurde dies geändert – als ein symbolisches Zugeständnis an eine sich verändernde Welt.56) Auf dem ganzen Planeten bezieht sich .gov nur auf eine nationale Regierung. Dreimal dürfen Sie raten, auf welche. Alle anderen heißen .gov.cn .gov.br .gov.uk und so weiter. Ein deutlicheres Symbol für Hegemonie könnte man sich gar nicht wünschen.

Die globalen Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung, die das Internet in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz bot, haben ebenfalls viel mit seiner Entstehung und seinem Standort in den USA zu tun. Seine Gründer lebten unter einem Rechtssystem, das sich im globalen Vergleich am stärksten an der Redefreiheit orientierte, und ihre Operationen standen unter dem Schutz dieses Systems. Diese Tradition wird gewöhnlich auf den Ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1791 zurückgeführt, in dem die relevante Bestimmung lautet: »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das […] die Rede- oder Pressefreiheit […] verbietet.« Tatsächlich jedoch ist die auf den Ersten Zusatzartikel gestützte Kultur in den USA, wie wir sie heute kennen, aus Gerichtsentscheidungen, Gesetzen und politischen Entscheidungen der 100 Jahre seit dem Ersten Weltkrieg entstanden, insbesondere jedoch des letzten halben Jahrhunderts.

Eine Bestimmung, die für die weltweite Freiheit im Internet sehr wichtig war, verbirgt sich in Paragraf 230 des Communications Decency Act (gegen eine frühere und schärfere Version dieses Gesetzes war Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace gerichtet). In Paragraf 230 heißt es: »Kein Provider oder Nutzer eines interaktiven Computerdienstes kann für Inhalte eines anderen Inhaltslieferanten verantwortlich gemacht werden.«57 Der Vermittler von Inhalten ist also für diese nicht verantwortlich. Dieser Haftungsausschluss ist so umfassend, dass einige amerikanische Juristen die Ansicht vertreten, dass er geändert oder sogar aufgehoben werden sollte.58 Dennoch ist es diesem einen Satz in einem amerikanischen Gesetz zu verdanken, dass jeden Monat Millionen Menschen rund um den Erdball auf google.com (die amerikanische Mutterwebsite, nicht zu verwechseln mit google.fr, google.de und so weiter, die den Gesetzen ihres jeweiligen Standorts unterworfen sind) zu einem großen Anteil all dessen Zugang haben, was Menschen je gesagt, gedacht, gesungen oder abgebildet haben. Zugleich kann es gut sein, dass man etwas nicht findet, weil der Urheber unter Berufung auf ein anderes amerikanisches Gesetz, den Digital Millennium Copyright Act von1998, verlangt hat, es aus dem Netz zu nehmen. Wer unbeschränkten Zugang zu google.com hat, ist in den Stunden, die er online ist, virtuell in die Vereinigten Staaten emigriert, und zwar gleichgültig, ob er sich gerade in Rangun, Accra oder Sao Paolo aufhält. Unter der einen Voraussetzung, und da liegt der Haken, dass seine eigene Regierung oder eine andere lokale Macht ihn nicht dabei erwischt und dafür bestraft.

In ihrer reinsten Form kann diese Freiheit der virtuellen Emigration in die USA bei der vielsprachigen, von den Nutzern geschaffenen Wikipedia studiert werden, einer der weltweit meistbesuchten Online-Ressourcen. Mike Godwin, ein führender amerikanischer Cyberjurist und für einige Jahre Chefrechtsberater der Wikipedia, vertrat mir gegenüber die Ansicht, dass die Online-Enzyklopädie durch »eine gesetzliche Firewall« geschützt sei, solange sich all ihre Server, ihre Rechtspersönlichkeit, ihre Geldmittel und ihr Stab in den USA befänden.59 In all ihren vielen Sprachen sei sie deshalb ein globaler Geltungsbereich des Ersten Zusatzartikels. Für jeden Eintrag in der Wikipedia gilt unabhängig von der Sprache dieselbe Regel: Nur wer bei einem amerikanischen Gericht das Urteil erwirkt, dass amerikanisches Recht verletzt wurde, kann juristisch gegen einen Wikipedia-Artikel vorgehen. Wer einen vernünftigen Einwand erhebt, kann bei den Herausgebern der Wikipedia vielleicht eine Korrektur in seiner eigenen Sprache erreichen. Ein »Wikipedianer«, der Beiträge für die Wikipedia schreibt, kann in einem weniger freien Land verhört oder noch schlimmer sanktioniert werden. Juristisch ist das globale Informationsmedium jedoch nur in den Vereinigten Staaten zur Verantwortung zu ziehen. Bezeichnenderweise musste die Wikimedia Foundation ein Büro, das sie in Indien eröffnete, bald wieder schließen, weil es von den indischen Behörden wegen Landkarten unter Druck gesetzt wurde, auf denen Kaschmir (völlig korrekt) als eine zwischen Indien und Pakistan geteilte Region eingezeichnet war.

Obwohl der Cyperspace-Lyriker von Grateful Dead lautstark »Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Souveränität mehr« verkündete, ist es gerade die altmodische territoriale Souveränität der Vereinigten Staaten, die der globalen freien Meinungsäußerung als Grundlage für den großen Sprung nach vorn diente. Um das dualistische Wesen dieses amerikanisch verwurzelten globalen Reichs zu kennzeichnen, bezeichne ich es als »Cyberspace, CA 94305«. CA 94305 ist die Postleitzahl der Stanford University. Die erste Webadresse von Google war google.stanford.edu. Als Präsident Barack Obama in einem Interview mit einer technischen Zeitschrift beiläufig sagte, dass »uns das Internet gehört hat«, war das vielleicht ein bisschen undiplomatisch, aber nicht falsch, allerdings nur, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass er in der Vergangenheitsform sprach.60

Künftige Historiker werden diese globalen Netzwerke der elektronischen Kommunikation und ihre vorsätzliche Offenheit vielleicht zu einem der wichtigsten Vermächtnisse des »liberalen Leviathan«61 zählen. Im 21. Jahrhundert jedoch werden zuvor offene und freie Kommunikationstechnologien sowohl von staatlichen als auch von privaten Mächten im Zaum gehalten und eingeschränkt, wie schon ihre Vorgänger vom Buchdruck bis zum Radio.62 Und die Vereinigten Staaten sind nicht mehr der digitale Hegemon, der sie in den Neunzigerjahren waren, als sie vielleicht überhaupt auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen.63 Heute hat der Cyberspace viele Postleitzahlen, und sämtliche Aspekte der globalen Kommunikation sind umstritten.

DER KAMPF UM DIE WORTMACHT

Ohne dass viele von uns es überhaupt bemerken, stecken wir mitten in einem großen Kampf um die Form, die Bedingungen und die Grenzen der globalen Redefreiheit in den Kästchen in unseren Taschen und vielleicht auch in unseren Köpfen. Ich nenne dieses Ringen den Kampf um die Wortmacht. Wie das Wort »Rede« in »Redefreiheit« schließt der Begriff »Wort« in »Wortmacht« offensichtlich viel mehr mit ein als nur Worte. Er umfasst auch Bilder, Töne, Symbole, Informationen und Wissen sowie Kommunikationsstrukturen und Kommunikationsnetze. Manuel Castells spricht von »Kommunikationsmacht«, aber mir ist das kurze Wort lieber als das lange, besonders weil ohnehin jede Bezeichnung nur einen Teil des Ganzen erfasst.64

Das Wesen der Macht, um die es hier geht, ist kompliziert. Eine der einfachsten Definitionen von Macht ist die Fähigkeit zu bekommen, was man will, was wiederum zu der Frage führt, wer was wie wo und wann bekommt. Joseph Nye und Steven Lukes haben drei Dimensionen von Macht identifiziert. Die erste und offensichtlichste besteht darin, dass man jemanden dazu bringen kann, etwas zu tun, was er ursprünglich nicht tun wollte. Man lässt ihn etwas tun. Die zweite besteht darin, dass man eine Agenda bestimmen kann, also die Macht hat, »zu entscheiden, was entschieden wird«, wie Lukes es formuliert. Die dritte und subtilste Dimension besteht in der Fähigkeit, das ursprüngliche Wollen der Menschen zu beeinflussen, sodass sie nicht einmal merken, dass ihre Entscheidungen auf der Machtausübung Dritter beruhen. Viele Beobachter würden die Wortmacht intuitiv dem Bereich der »Soft Power« zuordnen, aber Nye, der als Wissenschaftler den Begriff am genauesten definiert hat, vertritt zu Recht die Ansicht, dass man in allen drei Dimensionen sowohl harte als auch weiche Macht findet, wenn es um die von ihm so genannte Cybermacht geht.

Die Kontrolle von Wissen und Informationen ist eindeutig ein zentraler Bestandteil der zweiten und dritten Dimension der Macht. Francis Bacon machte die berühmte Beobachtung, dass Wissen Macht ist, während Michel Foucault diese Feststellung umdrehte und feststellte, dass die Macht »bestimmt, was als Wissen zählt«.65 Angesichts der heute gut erforschten Formbarkeit des Gehirns geht der Einfluss der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und der Art, wie wir sie verwenden, womöglich sogar noch tiefer und verändert unsere Art, zu denken und zu fühlen. In einem wundervollen Essay mit dem französischen Titel »Petite Poucette« (Kleines Däumelinchen) berichtet Michel Serres, Mitglied der Académie française, von den Däumlingen und Däumelinchen jener Generationen, die ihr Leben damit verbringen, mit dem Daumen auf einem Touchscreen herumzutippen. »Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf« (wie wir Alten), schreibt er.66 Eine reizende Übertreibung.

Ich will keineswegs bestreiten, dass eine theoretische Analyse der relevanten Dimensionen der Macht wichtig wäre, aber dafür müsste man ein anderes Buch schreiben. Außerdem ist es vielleicht hilfreich, mehr Material darüber zu sammeln, was tatsächlich in dieser gewandelten Welt vor sich geht, bevor man sich in die Höhen der Systemanalyse vorwagt. Ich werde also keine ausgefeilte Terminologie anbieten, wie es Castells mit seiner anspruchsvollen Unterscheidung zwischen Netzwerker-Macht, Netzwerk-Macht, vernetzter Macht und Netzwerk produzierender Macht tut (wobei Letztere die höchste, nur von »Meta-Programmierern« ausgeübte Stufe der Macht ist).67 Stattdessen werde ich die wichtigsten Akteure in diesem Machtkampf identifizieren und sein Wesen durch Beispiele erhellen.

Eindeutig geht es nicht mehr nur darum, dass die Regierung eines bestimmten Staates einem sagt, was man dort publizieren oder senden darf, oder dass ein einziger Zeitungsbesitzer bestimmt, was in seiner Zeitung gedruckt wird oder nicht. Es geht also nicht mehr nur um die Themen, von denen die Literatur über die Redefreiheit im 20. Jahrhundert hauptsächlich handelte. Selbst bei den altmodischen Printmedien ist nichts mehr so klar wie früher. Im Jahr 2005 etwa wurde die amerikanische Autorin Rachel Ehrenfeld von einem englischen Gericht verurteilt. Ein saudischer Geschäftsmann hatte sie wegen Verleumdung verklagt, und das englische Gericht erklärte sich für zuständig, weil 23 Exemplare von Rachel Ehrenfelds nur in den USA publiziertem Buch über die Finanzierung des islamistischen Terrorismus per Internet in Großbritannien verkauft worden waren.68 In Reaktion auf das britische Urteil erließ der Staat New York ein informell als »Rachel’s Law« bezeichnetes Gesetz, das amerikanische Staatsbürger vor ausländischen Verleumdungsurteilen schützte, die gegen den Ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung und gegen das amerikanische Prozessrecht verstießen.69 Im Jahr 2010 unterzeichnete Präsident Barack Obama den sogenannten SPEECH Act, der in den gesamten Vereinigten Staaten dieselbe Wirkung hat. (SPEECH ist eines der haarsträubenden Akronyme, die im US-Kongress so beliebt sind, und steht für »Securing the Protection of our Enduring and Established Constitutional Heritage«.)

In der Praxis versucht die Gesetzgebung aller Staaten wie ein alter Herr, der einen Gehweg entlangkeucht, um einen Bus zu erwischen, heute krampfhaft mit den jeweils neuesten technischen Innovationen Schritt zu halten. Mit drei Mausklicks kann ich mir von Amazon.com oder einer anderen im Ausland sitzenden Website ein Buch in mein Haus in England liefern lassen, das mich die Londoner Regierung oder die Londoner Gerichte sonst nicht lesen lassen würden. Milton, der mit seiner Areopagitica eine Breitseite gegen die Zensur der Printmedien im Herrschaftsbereich der britischen Regierung abfeuerte, jubelt bestimmt im Grab über diese Verhältnisse. Als ich dies geschrieben hatte, bestellte ich tatsächlich Rachel Ehrenfelds Buch bei Amazon.com, drehte also dem englischen Richter mit drei Mausklicks eine lange Nase. (Wie wir sehen werden, erfolgte bald danach eine Reform der britischen Verleumdungsgesetze, die die Möglichkeiten für solch unerhörten »Verleumdungstourismus« stark einschränkte.) Ich hätte natürlich auch das E-Book herunterladen können.

Online ist der Kampf noch komplizierter. Eine Fülle von internationalen Organisationen, Regierungen und Parlamenten, Unternehmen, Technikern, Medien, twitternden Prominenten und physischen und virtuellen Kampagnen mittels sozialer Netzwerke konkurrieren heute allesamt auf vielen Ebenen in einem multidimensionalen Umfeld. Die Ergebnisse sind oft abhängig von komplizierten Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Politik und Recht sowie von der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechnik. Lawrence Lessig, einer der Pioniere auf dem Gebiet, identifiziert vier Faktoren, die auf jeden gegebenen Punkt im globalen Informationssystem beschränkend wirken: das Recht, den Markt, die Normen und die Architektur des Internets. »Der Code ist das Gesetz«, sagte er in seinem vielleicht berühmtesten Apophthegma und erklärte, dass »die Software und die Hardware [also der Code des Cyberspace], die den Cyberspace zu dem machen, was er ist, den Cyberspace in seiner aktuellen Gestalt regulieren«.70 Die internen, manchmal geheimen operativen Praktiken privater Supermächte haben unter Umständen mehr Einfluss als die Entscheidungen der Gesetzgeber und Regulatoren.

Trotz dieser komplizierten Strukturen hilft uns die Analogie von den Hunden, den Katzen und den Mäusen ein gutes Stück weiter.71 Die Staaten sind die Hunde, die Unternehmen sind die Katzen, und wir sind die Mäuse. Die größten Katzen sind mächtiger als alle Hunde, abgesehen von den allergrößten. An dem Konflikt zwischen Google und China, bei dem Google 2010 seine in der Volksrepublik angesiedelte Suchmaschine google.cn zurückzog, weil China das Internet zensierte und Gmail-Konten gehackt hatte, war das Faszinierende, dass er zwischen einer der größten Katzen und einem der größten Hunde stattfand. Mindestens genauso häufig jedoch ist die enge und manchmal geheime Zusammenarbeit zwischen einem Staat und den im Internet tätigen Service-Providern, Publizisten, Medien und Softwarefirmen, die auf seinem Territorium operieren. Ich nenne dieses Phänomen Macht im Quadrat, abgekürzt M2. Unterdessen versuchen sowohl Staaten als auch Privatunternehmen die internationalen Organisationen zu beeinflussen, die die Regeln oder technischen Standards für die globale Kommunikation bestimmen.

Der Cyberspace ist kein separater einheitlicher Staat mit eigenen Gesetzen und Gerichten und einer eigenen Polizei, aber er ist auch kein Flickenteppich von nationalen Rechtssystemen. Er ist etwas dazwischen, mit vielen gemischten Lebensformen – eine verwirrende Wirklichkeit, die durch Etiketten wie »Multistakeholder« oder »Internet-Community« nur unzureichend beschrieben ist. Unglücklich über die Dominanz, die die USA wenn auch unter dem Deckmantel der »Multistakeholder Community« in Schlüsselbereichen des Internets immer noch haben, versuchen andere Staaten, und insbesondere neue Großmächte wie China, schon seit Jahren, die Kontrolle an die UN-Sonderorganisation Internationale Fernmeldeunion zu übertragen.

Natürlich erstreckt sich der Einfluss der UNO auf die globale Freiheit der Meinungsäußerung und in einem gewissen Ausmaß deren Regulierung nicht allein auf das Internet. In Artikel 19 der 1948 von der UNO verkündeten Erklärung der Menschenrechte heißt es: »Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.« In einer Zeit, als der internationale Rundfunk noch in den Kinderschuhen steckte und noch nicht einmal Science-Fiction-Autoren das Internet im Blick hatten, war dieser letzte Satz bahnbrechend, was seine explizite Missachtung nationaler Grenzen betraf. »Ohne Rücksicht auf Grenzen!«72

Die ursprüngliche Version von 1948 wurde genauer ausgeführt und in Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 aufgenommen. (Um ein Ekzem von Akronymen zu vermeiden, kürze ich diesen unhandlichen Begriff für den Rest des Buches mit »der Pakt« ab, obwohl es natürlich viele internationale Pakte gibt.73) Die wichtigste Bestimmung des Pakts ist ähnlich, aber detaillierter als in der Erklärung der Menschenrechte: