Reformvisionen - Michael Walter - E-Book

Reformvisionen E-Book

Michael Walter

0,0

Beschreibung

Zu Beginn des neuen Jahrtausends erlebte Deutschland einen regelrechten Boom von wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen. Unter Namen wie Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, BürgerKonvent, Marke Deutschland, Deutschland packt's an! oder Partner für Innovationen ("Du bist Deutschland") drängte eine beachtliche Phalanx mit ihren spektakulären PR-Kampagnen in die politische Arena, um die "blockierte Republik" zu reformieren. In seiner empirischen Studie nimmt Michael Walter die Bildpolitik der Initiativen in den Blick, mit denen diese ihre "Reformvisionen" propagierten. Er verbindet dafür die poststrukturalistische Hegemonietheorie im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit Analysekonzepten der Visual Culture Studies. Auf diese Weise macht er das Konzept der beiden Autoren für die Analyse visueller Repräsentationspraktiken fruchtbar. Seine Studie leistet so nicht nur einen substantiellen empirischen Beitrag zur Rekonstruktion des wirtschafts- und sozialpolitischen Paradigmenwechsels der 2000er-Jahre, sondern stellt auch einen innovativen Ansatz zur Erforschung der Visuellen Kultur bereit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 673

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und

die Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er

nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu

betrachten: nämlich ihn mit dieser Bilderreihe zu

vergleichen. Ich habe seine Anschauungsweise

geändert.«

Ludwig Wittgenstein

»Müssen nur wollen

Wir müssen nur wollen

Wir müssen nur wollen

Wir müssen nur

Müssen nur wollen

Wir müssen nur wollen

Wir müssen nur wollen

Wir müssen nur«

Wir sind Helden

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Reforminitiativen im Spiegel von Medien und Wissenschaft

2.1 Die Reforminitiativen in den Medien

2.2 Forschungsarbeiten zu den Reforminitiativen

Hegemonietheoretischer Bezugsrahmen

3.1 Prolog: Das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis

3.1.1 Poststrukturalistische Hegemonietheorie als Neogramscianismus

3.1.2 Soziohistorischer Entstehungskontext des Hegemoniebegriffs

3.1.3 Das Konzept der »Kulturellen Hegemonie«

3.2 Entwicklung des hegemonietheoretischen Analyserahmens im Anschluss an Laclau/Mouffe

3.2.1 Diskursbegriff

3.2.2 Das Konzept der »Artikulation«

3.2.3 Die »Unmöglichkeit von Gesellschaft«

3.2.4 Subjekt, Identität und Identifikation

3.2.5 Das Soziale als »konstitutiver Antagonismus«

3.2.6 Die Rhetorik der Hegemonie

3.2.7 Reartikulatorische Betrachtungen

3.3 Hegemonie und Visualität

3.3.1 Visual Culture Studies, empirische Bildwissenschaften und visuelle Hegemonieforschung

3.3.2 Visuelle Hegemonieforschung als Bestandteil der Visual Culture Studies

3.3.3 »Was ist ein Bild?«

3.3.4 Grundriss einer visuellen Hegemonietheorie

3.4 Zusammenfassung

Die Kampagnenpolitik der Reforminitiativen im Kontext der individualisierten Mediengesellschaft

4.1 Die Medialisierung der Politik und der Gesellschaft in der Bundesrepublik

4.1.1 Merkmale individualisierter Mediengesellschaften

4.1.2 Medialisierung der Politik – Politisierung der Medien

4.2 PR-Kampagnen als moderne Gattung politischer Kommunikation

4.2.1 Individualisierungsprozesse und Erosion des neokorporatistischen Konsensmodells in der Bundesrepublik

4.2.2 Die Allgegenwärtigkeit von Kampagnenpolitik im »Age of Marketing«

4.2.3 Marketing- und Kampagnenspezialisten als hegemoniale Akteure

4.3 Kampagnenpolitik als hegemoniale Praxis

4.3.1 Soziale und politische Funktionen von PR-Kampagnen in der individualisierten Mediengesellschaft

4.4 Zusammenfassung

Die Reforminitiativen im Kontext der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformpolitik in der Bundesrepublik

5.1 Die Formierung des hegemonialen Projekts der Sozialen Marktwirtschaft nach 1945

5.1.1 Die ordoliberalen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft

5.1.2 Die Formierungsphase der Sozialen Marktwirtschaft

5.2 Wirtschafts- und sozialpolitische Reformpolitik zwischen den 1970er und 1990er Jahren

5.2.1 Der Sozialstaat in der Krise und die Geburt eines Reformdiskurses

5.2.2 Die wirtschafts- und sozialpolitische Konsolidierungsphase

5.2.3 Die »neosoziale Wende« der 1990er Jahre

5.3 Die Reformpolitik im Zeichen der »Agenda 2010«

5.4 Zusammenfassung

Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen der Jahre 2000-2006

6.1 Der Auftakt: Die

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

6.2 Die Blütezeit der wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen

.

6.2.1 Die Formierung einer »Reform-Phalanx«

6.2.2

Deutschland packt's an!

6.2.3 Die

Marke Deutschland

6.2.4 Der

BürgerKonvent

6.3 Fusionierungs- und Kooperationsprojekte

6.4 Der große Abschluss: Die »Du bist Deutschland«-Kampagne

6.5 Das Ende der »Nadelstreifen-Apo«

6.6 Zusammenfassung

Methodisches Vorgehen

Die Bildpolitik der

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

8.1 Die Printanzeigen

8.1.1 Allgemeine Popularisierungs- und Reartikulationsstrategien

8.1.2 Die Funktion der medialen Populärkultur in den Printanzeigen am Beispiel des Mediensports

8.1.3 Die Funktion der ›Botschafter‹ und Testimonials in den Printanzeigen

.

8.2 Die Protestinszenierungen

8.3 Zusammenfassung

Die Bildpolitik des

BürgerKonvent

9.1 Analyse des Spots »Trümmerfrauen«

9.1.1 Inhaltliche und formale Beschreibung des Spots

9.1.2 Erster Teil: Audiovisuelle Repräsentation der »Stunde Null«

9.1.3 Zweiter Teil: Das Narrativ der Trümmerfrauen als nationale Aktivgemeinschaft

9.1.4 Dritter Teil: »Erkenntnis, Wille und Kraft«

9.1.5 Epilog: »Deutschland ist besser als jetzt.«

9.2 Analyse des Spots »Oderflut«

9.3 Zusammenfassung

Die Bildpolitik der »Du bist Deutschland«-Kampagne

10.1 Analyse des »Du bist Deutschland«-Spots

10.1.1 Das ›Manifest‹

10.1.2 Inhaltliche und formale Beschreibung des Spots

10.1.3 Die Eingangseinstellungen

10.1.4 Die Funktion der Testimonials

10.1.5 Das Vergemeinschaftungsmodell: Die audiovisuelle Konstruktion einer nationalen Aktivgemeinschaft

10.2 Zusammenfassung

Schlussbetrachtung

Anhang: Partitur »Du bist Deutschland« (Auszug)

Literatur

Abbildungsnachweise

1 Einleitung

Im Herbst 2003 hat der lang währende Konflikt um wirtschafts- und sozialpolitische Reformen in Deutschland einen vorläufigen und krisenhaften Kulminationspunkt erreicht. In Gefolge von Gerhard Schröders im März jenen Jahres in einer Regierungserklärung vorgestellter »Agenda 2010«, die eine entscheidende Phase eines wirtschafts- und sozialpolitischen Paradigmenwechsels einläuten wird, hat sich ein breiter gesellschaftlicher Widerstand manifestiert: Der Unmut über die »Agenda« und die sogenannten »Hartz-Gesetze« in der Bevölkerung treibt zehntausende Menschen auf die Straße, die gegen eine vermeintliche Politik der sozialen Kälte demonstrieren. Aber auch viele SPD-Politiker sehen die geplanten Arbeitsmarktreformen und Einschnitte in das soziale Netz als Bruch mit grundlegenden sozialdemokratischen Werten an. Inmitten dieses ›heißen‹ Reformherbstes des Jahres 2003 identifiziert der Sozialwissenschaftler und Publizist Meinhard Miegel im sonntäglichen Polit-Talk von Sabine Christiansen lakonisch das zugrunde liegende Problem dieser gesellschaftlichen Krise: »Meine feste Überzeugung ist, dass das Hauptproblem in der gegenwärtigen Debatte die Bürger selbst sind« (zit. n. Rossum 2004: 21). Die Bürger hätten, wie Miegel bereits zuvor in verschiedenen öffentlichen Interventionen beharrlich zum Ausdruck gebracht hatte,1 nicht verstanden, dass wirtschafts- und sozialpolitische Reformen unabdingbar seien. Während Deutschland sich ökonomisch und sozialstrukturell grundlegend verändert habe, verharrten die Bürger weiterhin in ihrer sozialstaatsgläubigen überkommenen Weltanschauung und verdrängten die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Miegels Diagnose ist ein bezeichnendes Element eines Reformdiskurses, der sich insbesondere seit Ende der 1990er Jahre formierte. An die reformerische Sozialstaatskritik der 1970er Jahre anknüpfend, hatte sich Anfang des neuen Jahrtausends ein vielstimmiger Chor aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft zusammengefunden, der eindringlich die Notwendigkeit wirtschafts- und sozialpolitischer Veränderungen beschwor. Im Geiste von Roman Herzogs Berliner ›Ruck‹-Rede aus dem Jahr 1997, die zum paradigmatischen Bezugspunkt der Debatte avancierte und deren diskursiven Grundelemente bereitstellte, durchzog eine sozial- und wirtschaftspsychologische Krisenrhetorik die Republik. Deutschland befinde sich in einer Krise, die sich durch den Verlust der wirtschaftlichen Dynamik, ein Gefühl der Lähmung und mentale Depression auszeichne. In der »blockierten Republik« (Darnstädt 2003) hätten sich durch ein konsensfixiertes, erstarrtes parlamentarisches Parteiensystem und den eingeübten Ruf des »ewig verzweifelten Versorgungsbürgers« (Herzog 2004) nach dem ausufernden Sozialstaat notwendige Reformen aufgestaut, die eine existenziell notwendige wirtschaftliche Modernisierung Deutschlands verhinderten. Zur ökonomischen Rettung des Landes bedürfe es eines kollektiven wirtschafts- und sozialpolitischen ›Rucks‹, der mit mehr Mut zu ökonomischer Eigeninitiative, Flexibilität und weniger Sozialstaat einhergehen müsse.

Zur Durchsetzung dieser eingeforderten neuen ökonomischen Rationalität bediente sich der angeführte Reformdiskurs mit Beginn des neuen Jahrtausends in einer für die Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Intensität einer populären Kampagnenpolitik, um den Boden für wirtschafts- und sozialpolitische Reformen zu bereiten und – wiederum mit den Worten Miegels – die »Denk-, Sicht- und Verhaltensweisen der Bürger an die veränderten Rahmenbedingungen« (Fiedler-Winter 2003) anzupassen, die sich durch Globalisierung, Individualisierung und den Wandel Deutschlands von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft auszeichneten.

Der Ursprung dieser Kampagnenpolitik findet sich in der im Jahr 2000 gegründeten und vom Arbeitgeberverband Metall finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die einen neuen Stil politischer Kommunikation in Deutschland einführte und sich in ihrer Organisationsform und Öffentlichkeitsarbeit als Mischung aus advokatorischem Think Tank, PR-Agentur und bürgerlicher Protestbewegung präsentierte. Mit professionellen und innovativen PR- und Politmarketing-Strategien trat die Initiative dem propagierten Selbstverständnis nach als überparteiliche, bürgerlich orientierte Reformbewegung an, um die »ökonomische Rationalität in die Öffentlichkeit zu tragen«2 und die Bürger von der Notwendigkeit wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen in Form von Bürokratieabbau, Entstaatlichung des Sozialstaats und mehr Eigenverantwortung zu überzeugen. In den Folgejahren, insbesondere mit Beginn der zweiten Regierungsperiode Gerhard Schröders und der »Agenda 2010«-Politik, hatte sich diese stilbildende Form des Reformmarketings pluralisiert und enger mit einem bürgergesellschaftlichen Diskurs artikuliert. Angesichts des wahrgenommenen ›Reformstaus‹ und des breiten Widerstandes gegen die Reformvorhaben der Regierung hatte sich eine ganze »Phalanx von Reform-Initiativen« (Wieking 2003) formiert. Unter Namen wie Deutschland packt's an, Aufbruch jetzt, Marke D, Konvent für Deutschland, Projekt Neue Wege, BürgerKonvent oder den die »Du bist Deutschland«-Kampagne organisierenden Partnern für Innovation brachte eine heterogene Diskurskoalition eine Kampagnenpolitik zum Einsatz, deren erklärtes Ziel die Auflösung des institutionellen und mentalen ›Reformstaus‹ darstellte.

Die vorliegende empirische Studie fokussiert die Kampagnenpolitik dieser Reforminitiativen aus einer hegemonietheoretischen Perspektive im Kontext des wirtschafts- und sozialpolitischen Transformationsprozesses in Deutschland im Zeitraum der Jahre 2000 bis 2006. Der Blick der Studie richtet sich spezifisch auf die Bildpolitik der Reforminitiativen, die eine gewichtige strategische Rolle für die Hegemonialisierung des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskurses im Kontext der »Agenda 2010« in den 2000er Jahren einnahm. Im Fokus des Erkenntnisinteresses der empirisch-interpretativen Analyse stehen einerseits die visuellen Popularisierungsstrategien, die ein wesentliches Strukturmerkmal der Kampagnenpolitik der Reforminitiativen darstellen. Die PR-Kampagnen der Reforminitiativen sind darauf ausgerichtet, so die Ausgangsthese, mit ihren Bildwelten interdiskursiv die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskurse als Spezialdiskurse in die alltägliche Lebenswelt der Adressaten zu ›übersetzen‹ und sowohl affektiv, normativ als auch kognitiv mit deren Common Sense zu verbinden. Andererseits liegt das Augenmerk der Analyse auf den mit dieser Popularisierungspraxis verbundenen visuellen Identitätspolitiken und Reartikulationsstrategien, mit denen die Reforminitiativen die adressierten Individuen als ›zu reformierende‹ Subjekte zu repositionieren suchen, um so einen neuen ökonomischen Common Sense im Sinne der propagierten wirtschafts- und sozialpolitischen Reformpositionen zu schaffen.

Die Studie verortet sich im Kontext einer poststrukturalistischen Soziologie. Hinsichtlich ihres programmatischen Erkenntnisinteresses ist sie darauf fokussiert, eine poststrukturalistisch informierte Hegemonie- und Diskurstheorie im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit einer materialen empirischen Analyse der Bildpolitik der im Blick stehenden Reforminitiativen zu verschränken. Die Originalität von Laclaus/Mouffes oft als »postmarxistisch« bezeichneter Theorie besteht vor allem darin, durch die Zusammenführung von poststrukturalistischen Theorien und neomarxistischen Konzepten erstere für eine politik- und sozialwissenschaftliche Perspektive geöffnet zu haben (vgl. auch Reckwitz 2006; Critchley/Marchart 2004). Seit Erscheinen ihres Grundlagenwerkes Hegemonie und radikale Demokratie (Laclau/Mouffe 1991) hat sich ihre innovative Hegemonietheorie als leistungsfähiger Ansatz etabliert, der disziplinenübergreifend auf verschiedene wissenschaftliche Felder ausstrahlt und zahlreiche empirische Studien im Bereich der Sozial- und Kulturwissenschaften inspiriert hat.

Bisher vorliegende empirische Studien richten ihre Aufmerksamkeit primär auf sprachliche Dimensionen hegemonialer Praktiken. Beispielhaft hierfür kann Martin Nonhoffs (2006) Monographie zum hegemonialen Projekt der »Sozialen Marktwirtschaft« angeführt werden, die sich ausschließlich auf die Analyse von Textdokumenten beschränkt. Im Kontrast dazu geht es in meiner Studie primär darum, den hegemonietheoretischen Ansatz von Laclau/Mouffe für die Analyse visueller Repräsentationspraktiken zu erweitern. Mehr als 15 Jahre nach der Ausrufung des »pictorial turn« und des »iconic turn« (Boehm 1994; Mitchell 2008) gehört es zum wissenschaftlichen Common Sense, dass visuelle Repräsentationspraktiken in modernen Mediengesellschaften eine zentrale Rolle für die Produktion gesellschaftlicher Wirklichkeit einnehmen. Medial vermittelte populäre Bildwelten und die damit verbundenen Technologien durchdringen alle gesellschaftlichen Bereiche und weisen eine spezifisch politische Dimension auf: Sie übernehmen essentielle gesellschaftspolitische Steuerungsfunktionen und fungieren als Identitätspolitiken, über die Identitäten und Subjektpositionen konstituiert werden. Aus hegemonietheoretischer Perspektive kann daraus gefolgert werden, dass ohne die Einbeziehung visueller Repräsentationspraktiken die konkrete Herausbildung hegemonialer Formationen und die damit verbundenen Subjektivierungsprozesse weitgehend unverständlich bleiben müssen. Ungeachtet dessen stellen Phänomene der Visualität und der Bildlichkeit überraschenderweise einen blinden Fleck innerhalb der hegemonietheoretischen Tradition dar. Zwar ist auf der einen Seite die Rede von der »Hegemonie der Bilder« zu einem wissenschaftlichen Topos avanciert, der rituell die Wirkmächtigkeit der Bilder in der (Post-)Moderne beschwört. Ironischerweise liegen aber in diametralem Gegensatz dazu weder in klassischer noch in poststrukturalistischer Variante hegemonietheoretische Studien vor, die sich methodologisch und empirisch mit visuellen Phänomenen auseinandersetzen.

Auf diese Lücke antwortend, zielt die vorliegende Arbeit darauf, einen hegemonietheoretischen Zugang zu visuellen Repräsentationspraktiken zu entwickeln, der eine Analysestrategie bereitstellt, mit der die Bildpolitik der Reforminitiativen als hegemoniale Praxis konzeptioniert und empirisch rekonstruiert werden kann. Das enge Zusammenspiel von Theorie und Empirie in Anlehnung an die »Grounded Theory« von Glaser und Strauss (2010) ist dabei bezeichnend für die hier eingenommene Forschungsperspektive. So versteht sich die vorliegende Arbeit auf der einen Seite als konkrete zeithistorische ›Fallstudie‹, die anhand der Analyse der Bild- und Kampagnenpolitik der fokussierten Reforminitiativen eine wichtige diskursive Dimension des wirtschafts- und sozialpolitischen Paradigmenwechsels erschließen will, der sich im letzten Jahrzehnt in Deutschland vollzogen hat. Auf der anderen Seite zielt sie in methodologischer und theoretisierender Absicht darauf, durch die konkrete Arbeit am Material auszuloten, inwieweit sich durch eine Fruchtbarmachung der Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe eine Perspektive entwerfen lässt, mit der visuelle Repräsentationspraktiken im Feld des Politischen erforscht werden können. Denn trotz der offenkundigen Konjunktur der Visual Studies lässt sich mit Stephanie Geise feststellen, dass es nach wie vor an theoretischen Ansätzen mangelt, die die »Logik visueller Kommunikation auf den spezifischen Anwendungsbereich der Politischen Kommunikation übertragen« (Geise 2011: 26), um konkrete empirische Fragestellungen zu erforschen. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Studie auch als genereller Beitrag zur Erforschung der gegenwärtigen politischen visuellen Kultur.

Aufbau und Gliederung der Studie

Am Beginn der Arbeit (Kap. 2) steht eine Erörterung sowohl des wissenschaftlichen als auch des medialen Diskurses über die Reforminitiativen und ihre PR-Kampagnen. Der Blick auf die mediale Rezeption der Reforminitiativen dient vor allem dazu, die mediale Resonanz und Wirksamkeit der gezielt auf die massenmedialen Aufmerksamkeitsmechanismen ausgerichteten PR-Kampagnen der Reforminitiativen zu beurteilen. So soll erstens rekonstruiert werden, inwieweit es sowohl den einzelnen Reforminitiativen als auch den Reforminitiativen als ›Gesamtphänomen‹ gelungen ist, sich und ihre Botschaften in den medialen wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurs einzuspeisen. Zweitens richtet sich das Interesse auf qualitativer Ebene auf die kritische mediale Rezeption der Initiativen, insbesondere auf die Frage, in welchem Maße sie ihre Positionen medial zu hegemonialisieren vermocht haben.

Im Anschluss daran erfolgt die Entwicklung des hegemonietheoretischen Rahmens der Arbeit (Kap. 3), der als Grundlage für die empirische Analyse fungieren wird. Dies geschieht in einem ersten Schritt durch die Ausarbeitung eines offenen und am Gegenstand ausgerichteten Analysemodells, das sich an den Schlüsselkonzepten der poststrukturalistischen Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe orientiert. Hierbei richtet sich das Augenmerk insbesondere auf die rhetorischen Theorieelemente, die Laclau in seinen späten Arbeiten poststrukturalistisch reformuliert und in innovativer Weise zum Verständnis hegemonialer Praktiken nutzbar macht. Der erarbeitete analytische Rahmen wird schließlich um spezielle Überlegungen zum Verhältnis von Hegemonie und visuellen Repräsentationspraktiken erweitert. Zwar schließen Laclau/Mouffe in ihrem umfassenden Diskursbegriff Bildlichkeit und Visualität explizit mit ein, der Entwicklung ihres Hegemoniekonzepts liegt aber merklich ein linguistisches Modell zugrunde, das den Fokus auf sprachliche Signifikation richtet. Aus diesem Grund soll in diesem Abschnitt unter Einbezug bestehender bildwissenschaftlicher Ansätze die Spezifik visueller Repräsentationspraktiken und deren Bedeutung für die hegemoniale Diskurspraxis herausgearbeitet werden.

Kapitel 4 verortet die Reforminitiativen in einem größeren sozialstrukturellen Kontext und betrachtet sie vor dem Hintergrund des sich – im Zuge von Medialisierungs- und Individualisierungsprozessen vor allem seit Anfang der 1990er Jahre – vollziehenden Strukturwandels der politischen Kommunikation und der damit verbundenen Bedeutungszunahme einer am politischen Marketing ausgerichteten Kampagnenpolitik. In Abgrenzung zu alarmistischen und kulturpessimistischen Diagnosen, die in dieser Entwicklung eine zunehmende mediale Inszenierung bzw. entpolitisierende Theatralisierung des Politischen beklagen, richtet das Kapitel seinen Fokus analytisch auf die gesellschaftlichen Funktionen visueller Repräsentationspraktiken als hegemoniale Praxis, wie sie in der Kampagnenpolitik der Reforminitiativen zum Einsatz kommen.

In Kapitel 5 folgt eine konzise Erörterung der politökonomischen Entwicklungen und der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformpolitik der Bundesrepublik ab 1945, die als Kontext für das Verständnis der Reforminitiativen und ihrer Kampagnenpolitik fungieren soll. Das Kapitel gliedert diese Entwicklungen grob in drei Phasen. 1) Die hegemoniale Formierung der Sozialen Marktwirtschaft nach 1945, die nach wie vor einen zentralen diskursiven Bezugspunkt der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik darstellt. 2) Die wirtschafts- und sozialpolitischen Wandlungsprozesse, die sich seit den späten 1960er Jahren vollziehen und die auch den Beginn der vielbeschworenen Krise der keynesianisch geprägten sozialstaatlichen Formation der Nachkriegszeit markieren. 3) Das Hauptaugenmerk wird auf den wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen seit den 1990er Jahren liegen. So wird einerseits die Formierung des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskurses behandelt, der – auch hinsichtlich der maßgeblichen Akteure – aufs Engste mit der Gründung und der Kampagnenpolitik der Reforminitiativen verbunden ist. Auf der politisch-institutionellen Ebene umfasst dies andererseits die Reformpolitik der Regierung Schröder, die insbesondere in der zweiten Regierungszeit auf Grundlage der »Agenda 2010« eine krisenhafte »neosoziale Wende« (Lessenich 2008) der Wirtschafts- und Sozialpolitik einläutet.

Auf diese Kontextanalyse aufbauend folgt in Kapitel 6 eine Gesamtdarstellung der Reforminitiativen aus einer hegemonietheoretischen Perspektive, in der die Reforminitiativen und ihre PR-Kampagnen hinsichtlich Organisations- und Akteursstruktur, Programmatik sowie hinsichtlich ihrer hegemonialen Strategien beleuchtet werden sollen. Dieses Kapitel markiert den Übergang zum empirischen Teil und fungiert auch als Kontext für die sich anschließende empirische Analyse der Bildpolitik der Reforminitiativen.

Den Auftakt des empirischen Teils der Studie bilden methodische Fragen zur ›Operationalisierung‹ des hegemonietheoretischen Rahmens in Kapitel 7. Wie schon in Bezug auf visuelle Repräsentationspraktiken oben angeführt, stellt die Hegemonietheorie Laclaus/Mouffes aufgrund ihres Abstraktionsniveaus selbst keine Analysestrategie und Methodik zur Rekonstruktion hegemonialer Praktiken bereit. Als Antwort auf diese Problematik soll der hegemonietheoretische Rahmen mit Methoden aus der qualitativen empirischen Sozialforschung verbunden werden.

Die empirische Analyse der Bildpolitik der Reforminitiativen erstreckt sich auf den Zeitraum von 2000 bis 2006, in dem sich deren Kampagnenpolitik primär entfaltet. Wie einleitend erwähnt, beginnt die Zeit der im Blick stehenden Reforminitiativen mit der Gründung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und findet einen Schluss- und Höhepunkt in der »Du bist Deutschland«-Kampagne, in deren Verlauf auch die große Koalition ihre Arbeit aufnehmen wird und mit der die ›große Ära‹ der wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen ihr Ende findet. Für die Analyse wurden PR-Kampagnen der drei wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Reforminitiativen ausgewählt, die auch hinsichtlich ihrer spezifischen organisatorischen und programmatisch-diskursiven Ausrichtung das Spektrum der Reforminitiativen repräsentieren:

Als Pionierin der Reforminitiativen steht zunächst die Kampagnenpolitik der

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)

im Blickpunkt, die im Jahr 2000 als Tochtergesellschaft des

Instituts der deutschen Wirtschaft

gegründet wurde und bis heute von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird. Sie kann als die einflussreichste Stimme im ›Reformchor‹ der zahlreichen Reforminitiativen im fokussierten Zeitraum angesehen werden und hat zweifellos auch, wie eingangs erwähnt, eine stilbildende Wirkung auf die ab 2002 sich formierenden Reforminitiativen. Strategisch verfolgte die Organisation von Anfang an den Ansatz einer ›orchestrierten Kommunikation‹ und verbreitete ihre Botschaften aufeinander abgestimmt über zahlreiche Medien wie Printanzeigen, Broschüren, Fernsehen etc. Zudem führte sie insbesondere in der ›heißen‹ Phase der Reformdebatte um das Jahr 2003 spektakuläre Aktionen im öffentlichen Raum durch. Für die Analyse der visuellen hegemonialen Strategien der

INSM

werde ich auf verschiedene Printmotive/Werbeanzeigen sowie auf ausgewählte PR-Aktionen der Initiative im öffentlichen Raum zurückgreifen, in denen visuelle Repräsentationspraktiken eine zentrale Rolle spielen.

Im zweiten Fall steht die Kampagnenpolitik des

BürgerKonvent

im Fokus, der im Mai 2003 von dem schon eingangs zu Wort gekommenen Publizisten und Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel gegründet wurde. Der

BürgerKonvent

ist der einflussreichste Vertreter der zahlreichen bürgerlichen Reforminitiativen, die sich mittels einer neuartigen Kampagnenpolitik um das Jahr 2003 herum in den Reformdiskurs einschalteten. In seinen PR-Kampagnen, die in Zusammenarbeit mit der Werbeagentur

Abels & Grey

konzipiert wurden, verbindet der

Bürger-Konvent

einen bürgergesellschaftlichen Diskurs mit marktliberalen Reformpositionen. Die Analyse richtet sich auf die zur Gründung der Initiative lancierte, vieldiskutierte PR-Kampagne »Deutschland ist besser als jetzt«, die aus einer Serie von Werbeanzeigen und Werbespots besteht. Die Werbespots, die im Zentrum der Analyse stehen werden, charakterisieren sich durch den dramaturgischen Bezug auf bedeutende geschichtliche Ereignisse und Phasen der Bundesrepublik – Wiederaufbau, Mauerfall und Oderflut – die als Krisenlösungsmodelle und Leitbilder für die zu reformierende Gesellschaft des Jahres 2003 fungieren.

Den Abschluss bildet die »Du bist Deutschland«-Kampagne, die im Rahmen der Initiative

Partner für Innovation

entstand und von September 2005 bis Januar 2006 von 25 Medienunternehmen durchgeführt wurde. An ihr lässt sich die zentrale Rolle der Medien und der ›Kreativbranche‹ in den hegemonialen Projekten der Reforminitiativen ablesen. Initiiert und operativ geleitet wurde die Kampagne vom

Bertelsmann Konzern

. Nach eigenen Angaben handelte es sich bei »Du bist Deutschland« um »die größte Social Marketing-Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland« (vgl.

Kap. 6.4

). Die Kampagne besteht aus einem zweiminütigen Spot als Herzstück der Kampagne, der mit einem ›unbeschwerten Patriotismus‹ und mit Hilfe zahlreicher prominenter und nichtprominenter Testimonials die Rezipienten zu ›aktivieren‹ sucht. Zudem wurden mehrere Printmotive plakatiert und als Werbeanzeigen in überregionalen Magazinen und Zeitungen abgedruckt.

1 So etwa in seinem 2002 verfassten und öffentlich vieldiskutierten Buch Die deformierte Gesellschaft (Miegel 2002).

2 So charakterisierte der spätere Geschäftsführer der INSM, Max A. Höfer, pointiert die Zielsetzung der Initiative. Vgl. hierzu Nicoll (2008).

2 Die Reforminitiativen im Spiegel von Medien und Wissenschaft

2.1 Die Reforminitiativen in den Medien

In Mediengesellschaften wie der Bundesrepublik haben die Massenmedien eine zentrale Rolle in der Herstellung von politischer Öffentlichkeit eingenommen (Hierzu mehr in Kap. 4). Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass die Erzeugung medialer Aufmerksamkeit eine unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Hegemonialisierung politischer Projekte ist. Dies gilt insbesondere für populäre Diskursformen wie die hier im Fokus stehenden PR-Kampagnen der Reforminitiativen, die mit ihren explizit auf die Aufmerksamkeits- und Selektionsmechanismen des Medienfeldes ausgerichteten PR- und Marketingtechniken auf einen breiten gesamtgesellschaftlichen Wertewandel innerhalb der Bevölkerung abzielen, der nur über die Massenmedien herstellbar ist. Auch die weiter unten zu behandelnde Forschungsliteratur hebt die besondere strategische Rolle der Massenmedien sowohl als Adressat als auch Akteur der Reforminitiativen hervor. Die Art der medialen Rezeption der PR-Kampagnen und die von ihr erzeugte Anschlusskommunikation sind insofern ein wichtiger Indikator für deren öffentliche Reichweitenmacht und geben Aufschluss darüber, inwieweit es den Reforminitiativen gelungen ist, sich in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen und ihre Positionen (medial) zu hegemonialisieren.3 Aus diesem Grund erfolgt an dieser Stelle ein Rekurs auf die mediale Rezeption der Reforminitiativen und ihrer Kampagnen. Ich konzentriere mich vor allem auf die meinungsführenden Medien, die aufgrund genau dieser Eigenschaft wichtige Adressaten und Multiplikatoren, aber eben auch selbst Initiatoren und Akteure der Reforminitiativen und ihrer Kampagnenpolitik darstellen, wie die »Du bist Deutschland«-Kampagne eindrucksvoll demonstriert.

Überblickt man die Berichterstattung zwischen den Jahren 2000 und 2006, ist deutlich erkennbar, dass die mediale Aufmerksamkeit für die wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen in der Hauptgründungsphase der Initiativen nach der Verkündung der »Agenda 2010« in Gerhard Schröders Regierungserklärung im März 2003 einsetzt. Mit der Konjunktur der Reforminitiativen steigt auch das mediale Interesse sprunghaft an. So widmen sich zahlreiche journalistische Beiträge, allen voran die überregionalen Tageszeitungen, den die öffentliche Arena betretenden neuen Reforminitiativen, die allgemein als sich formierende und gewichtige Stimme im Reformdiskurs wahrgenommen werden. Thematisiert werden zudem auch die Koordinierungs- und Fusionierungsbestrebungen der Initiativen. Während die Aufmerksamkeit nach dieser Gründungswelle 2003 durch die nachlassende Kampagnentätigkeit vieler Initiativen in der Folgezeit sukzessive sinkt, revitalisiert sich die Berichterstattung durch den Start der »Du bist Deutschland«-Kampagne im Herbst 2005 beträchtlich, die durch ihre intensive mediale Rezeption das Thema Reforminitiativen wieder verstärkt auf die mediale Agenda setzt (Renken 2009: 17 ff.). Mit dem Ende der Kampagne und der Bildung der großen Koalition endet auch weitgehend die Ära der Reforminitiativen als Gegenstand der medialen Aufmerksamkeit.

Was die einzelnen Initiativen betrifft, sind es vor allem die INSM, der Bürger-Konvent und die »Du bist Deutschland«-Kampagne, die mit ihren Interventionen in größerem Umfang zum Gegenstand der medialen Berichterstattung werden, während die zahlreichen anderen Initiativen trotz zum Teil aufwändiger und finanzstarker PR-Kampagnen meist unterhalb der öffentlichen und medialen Wahrnehmungsschwelle bleiben, wie der Landauer Medientenor in einer Medienanalyse zu den Reforminitiativen gezeigt hat (vgl. Speth 2004: 28 ff.). Diese Initiativen finden vor allem dann Erwähnung, wenn es um eine Gesamtschau der Reforminitiativen geht. Eine Ausnahmestellung nimmt hier zweifellos die INSM ein, der es als einziger Initiative gelingt, mit ihrer innovativen Medien-PR über den gesamten Erhebungszeitraum mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Unter den anderen Reforminitiativen kann lediglich der BürgerKonvent – im Gegensatz zu Initiativen wie Deutschland packt's an! oder Marke Deutschland – vor allem in seiner Gründungsphase durch die als Aufmerksamkeitsgeneratoren eingesetzten bundesweiten Werbeanzeigen und -spots schlagartig das mediale und öffentliche Interesse auf sich ziehen. Durch die mangelhafte Organisation der Initiative und ausbleibende Folgekampagnen schwindet das mediale Interesse in den Folgemonaten jedoch relativ schnell. Der »Du bist Deutschland«-Kampagne als »zweiter Welle« (Speth 2006) der Reforminitiativen gelingt es, durch die synchron gestarteten, bundesweit konzertierten Kampagnenaktivitäten im September 2005 ebenfalls sowohl schlagartig in der Bevölkerung Bekanntheit zu erlangen als auch Gegenstand intensiver Medienberichterstattung zu werden. Als Initiative der großen Medienkonzerne in Deutschland nicht verwunderlich, besteht diese aus einer ausführlichen, informierenden Berichterstattung zum Kampagnenstart sowie aus Interviews mit den Macherinnen und partizipierenden Akteuren der Kampagne. Zudem führt die Kampagne zu einer intensiven medialen Rezeption und Debatte, die sowohl in den Feuilletons der großen Tageszeitungen in Deutschland als auch auf Blogs und in Diskussionsforen im Internet stattfinden. Der Initiative gelingt es, bis zum Ende der Kampagne im März 2006 in der medialen Öffentlichkeit präsent zu sein.

Inhaltlich-qualitativ sind die medialen Auseinandersetzungen mit den Reforminitiativen weit gefächert und reichen von positiven Beurteilungen bis hin zu dezidiert kritischen Einschätzungen. Die Beiträge lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:

Anhand von Interviews und Gastbeiträgen bieten die Medien den Reforminitiativen eine Plattform, auf der deren Repräsentanten aus

ihrer Perspektive

den Charakter und die Ziele ihrer Initiativen präsentieren können. Eindrücklich lässt sich dies anhand der

INSM

und ihres Kuratoriumsvorsitzenden Hans Tietmeyer illustrieren, der in dieser Funktion aufgrund offenkundig exzellenter Medienkontakte regelmäßig in zahlreichen Interviews und Gastbeiträgen in meinungsführenden Medien zu Wort kommt.

4

Eine weitere wichtige Rolle nehmen die als Multiplikatoren fungierenden sogenannten »Botschafter« der Initiative ein, die sich regelmäßig in den Medien zu Wort melden. So beziehen z.B. in der

Bild

-Zeitung in der Blütezeit der Reforminitiativen Ende August 2003 unter der Rubrik »Hat Deutschland keine Kraft für Reformen?« neben dem genannten Hans Tietmeyer auch Arnulf Baring, Hans D. Barbier, Gertrud Höhler und Roland Berger in ihrer Funktion als

INSM

-›Botschafter‹ Stellung (vgl. Stuhr 2003). Für den

BürgerKonvent

ist es neben dessen Sprecher Gerhard Langguth vor allem der Initiator Meinhard Miegel, der im Anschluss an die Gründung zur repräsentativen Figur der Initiative in den (vor allem konservativen) Medien wird. So referiert, um nur zwei Beispiele zu nennen, Miegel unmittelbar nach Gründung des

BürgerKonvent

in der

Welt

in einem Interview

5

und einem Gastbeitrag mit dem Titel »Der Staat schafft es nicht mehr« (Miegel 2003) darüber, wie der »Reform- und Wahrheitsstau« in Deutschland aufgelöst werden könne und welche Rolle der

BürgerKonvent

dabei spiele.

6

Diese Form der direkten medialen Aufmerksamkeitserzeugung ist für die »Du bist Deutschland«-Kampagne, zumindest was den Start der Kampagne betrifft, am ausgeprägtesten und umfasst Interviews, Gastbeiträge und Stellungnahmen von den beteiligten Medienakteuren, Werbeagenturen und Prominenten.

7

Bei den journalistischen Beiträgen

über

die Reforminitiativen und ihre Öffentlichkeitsarbeit handelt es sich auf der einen Seite um mehr oder weniger nachrichtenorientierte Beiträge, die zum Teil auf den Pressemitteilungen der Reforminitiativen beruhen und über deren Gründung, Programmatik und Kampagnen berichten. Hierfür wird häufig auf zentrale Begriffe und Zitate maßgeblicher Protagonisten zurückgegriffen, um die Arbeit und die Zielsetzungen der Initiativen zu charakterisieren. Neben den ›Eigenbeiträgen‹ wird auch auf diese Weise in vermittelter Form die Reformrhetorik der Reforminitiativen in die mediale Öffentlichkeit getragen.

Schließlich widmet sich eine beträchtliche Zahl medialer Beiträge aus einer

analytischen

respektive

normativen

Perspektive dem Phänomen der Reforminitiativen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Die Beiträge weisen in der Tendenz einen kritischen Impetus auf, wobei wenig überraschend dezidierte Kritik an den tendenziell elitären und wirtschaftsnahen Reforminitiativen vor allem bei den eher linksorientierten Medien wie dem

stern

oder der

taz

zu finden ist, während konservativ orientierte Medien wie z.B. die

Welt

deutlich wohlwollender über die Initiativen berichten.

8

Wie erwähnt, registrieren diese Beiträge vor allem ab dem Jahr 2003 die Entstehung thematisch und personell miteinander verbundener neuartiger Reform- und Bürgerinitiativen, die als politischer Formierungsprozess einer »Generation Ruck« (Kissler 2003) gedeutet wird. In Einklang damit wird die Konjunktur der Reforminitiativen mit markigen Formulierungen hervorgehoben.

9

Einer der Interessenschwerpunkte der journalistischen Erörterungen ist die Klassifizierung und Charakterisierung der neuartigen bürgerlichen Reforminitiativen hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur, ihres Rekrutierungsmilieus und ihrer Kampagnenpolitik.10 Während konservativ ausgerichtete Medien wie die Welt zum Teil in Initiativen wie dem BürgerKonvent, deren Eigenpositionierung folgend, durchaus den »Versuch einer echten ›Grassroots‹-Bewegung« (Rübel 2003a) sehen, ist der Großteil der journalistischen Beiträge deutlich skeptischer ausgerichtet. Die vorherrschende mediale Perspektive auf die Reforminitiativen ist gerade die kritische Hinterfragung der Eigenpositionierung als breite Bürgerbewegung, die häufig, wie beim BürgerKonvent, schon in der Namensgebung der Initiativen zum Ausdruck kommt.

Bezeichnend ist hierfür etwa die Charakterisierung der Reforminitiativen in einem stern-Artikel als »Revolution von oben« (Grill 2003), die auf das elitäre Rekrutierungsmilieu der Initiativen rekurriert. Der wahrgenommene Widerspruch zwischen ausgeprägter Allgemeinwohlrhetorik und der Inszenierung als bürgerliche »Grassroots-Bewegung« einerseits und faktischer elitärer und wirtschaftsnaher personeller Zusammensetzung der Initiativen andererseits wird in zahlreichen ironischen Komposita zum Ausdruck gebracht, wie z.B. »Krawatt-Attac« (Vornbäumen 2003), »Nadelstreifen-Apo« (Rickens 2006), »Bürosessel-APO« (Grauel 2004), »wirtschafts & friends«11 (Winkelmann 2004) oder »Lautsprecher des Kapitals« (Hamann 2005). In diesem Zusammenhang betont der mediale Diskurs auch den in gewisser Spannung zum ›Graswurzelcharakter‹ stehenden intensiven Einsatz kampagnenförmig organisierter unternehmerischer Marketingstrategien, die als charakteristischer Zug der Öffentlichkeitsarbeit nahezu aller Reforminitiativen identifiziert werden.12 Hinsichtlich der Beschreibung und Bewertung der Öffentlichkeitsarbeit wird das Wirken der Reforminitiativen diesem Blickwinkel entsprechend weitgehend als innovative Form des Wirtschaftslobbyismus betrachtet, mit der wirtschaftsnahe Kreise im Gewande von Allgemeinwohlrhetorik und professionellen Marketingmethoden gesamtgesellschaftliche Akzeptanz für marktwirtschaftliche bzw. neoliberale Reformen schaffen wollen: So stellt ein Beitrag des Deutschlandradios (Hillebrand 2004) heraus, dass die Reforminitiativen sich gezielt mit einer Aura der Überparteilichkeit und Allgemeinwohldienlichkeit umgeben würden, jedoch faktisch »die Begleitmusik zur wirtschaftsliberalen Umgestaltung unserer Gesellschaft spielen«. Eine ähnliche Perspektive findet sich in der taz, die im Sinne von Laclau/Mouffe die wirtschaftspolitischen Reforminitiativen als hegemoniale Projekte verstehen, die mit ihren Kampagnen auf eine »Okkupation des Gesamtguten« zielten, durch die »der Konsens der Wirtschaftslobby sich über das öffentliche Leben stülpt« (Winkelmann 2004). Am kritischsten positioniert sich wohl diesbezüglich der stern, der die Initiativen als »Propagandatrupps« des Arbeitgeberlagers klassifiziert, die mit ihren Kampagnen den Boden für einen »radikalen Sozialabbau« bereiten sollen (Grill 2003).

Wie dieser kurze Überblick über die mediale Rezeption deutlich macht, gelingt es den Reforminitiativen mit ihrer Kampagnenpolitik insbesondere in der zweiten Regierungsperiode Gerhard Schröders, eine intensive mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen und mit ihrer Reformrhetorik den medialen Raum zu durchdringen. Das mediale Feld nimmt die zahlreichen Reforminitiativen als mehr oder weniger kohärentes Projekt wahr, das implizit oder explizit als Evidenz eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses rezipiert wird. Darin liegt unabhängig von der jeweils konkreten Kampagnenpolitik eine wichtige strategische Funktion der Reforminitiativen begründet. Als ›Gesamtkunstwerk‹ zeichnen die Initiativen und ihre Kampagnenpolitik das Bild einer Gesellschaft in einer krisenhaften Umbruchsphase, wodurch es ihnen gelingt, sich mit dem bestehenden medialen und politischen Reformdiskurs zu artikulieren und diesen zu verstärken.

Gleichsam ist klar erkennbar, dass es den Reforminitiativen und ihrer Kampagnenpolitik keineswegs gelingt, ihre Positionen medial in einem engen Sinne zu hegemonialisieren. Trotz maßgeblicher Beteiligung von Medienakteuren13herrscht, wie gezeigt, tendenziell eine kritische Sicht auf die Reforminitiativen vor. So werden sowohl die Eigenpositionierungen nahezu aller Reforminitiativen als allgemeinwohlorientierte bürgerliche Protestbewegungen als auch deren Kampagnenpolitik problematisiert bzw. dekonstruiert. Dieser Umstand ist jedoch nicht schlicht als Scheitern der hegemonialen Strategien zu verstehen, sondern verweist vielmehr auch auf eine strategische Ausrichtung der Reforminitiativen. Wie in den Aussagen von maßgeblichen Akteuren deutlich wird, zielt die Kampagnenpolitik der Initiativen nicht nur darauf, ihre Reformpositionen vollständig hegemonialisieren zu wollen, sondern in einem grundlegenden Sinne darauf, mit ihren Interventionen eine Reformdiskussion anzustoßen, um bestehende soziale Praktiken und Einstellungen im Sinne von Laclau/Mouffe zu reaktivieren und damit zu repolitisieren (vgl. hierzu Kap. 3).

Schließlich macht die charakteristische Kurve der medialen Aufmerksamkeit den problemspezifischen und zeitgebundenen Entstehungskontext der Reforminitiativen evident. Einerseits lässt sich die Konjunktur der bürgerlichen Reforminitiativen verallgemeinernd als Ausdruck eines politischen Strukturwandels im Kontext eines sich formierenden bürgergesellschaftlichen Diskurses betrachten, auf dessen Boden sich die Reforminitiativen als Diskurskoalitionen formieren. Andererseits wird deutlich, dass sich die Ära der Reforminitiativen auf einen klar umgrenzten Zeitraum erstreckt, in dem sich auf Grundlage der rot-grünen Reformpolitik eine entscheidende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Umbruchsphase vollzieht, die mit einer ›organischen Krise‹ einhergeht. Aus diesem Problemkontext heraus – konkret dem Scheitern einer Hegemonialisierung der Reformpolitik der Regierung Schröder – formieren sich die Reforminitiativen als zivilgesellschaftliche Diskurskoalitionen, die sich zum hegemonialen Akteur eines wirtschafts- und sozialpolitischen Wandels machen.

2.2 Forschungsarbeiten zu den Reforminitiativen

Im Vergleich zur intensiven medialen Rezeption der Reforminitiativen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit ist die wissenschaftliche Aufmerksamkeit überschaubar geblieben, insbesondere was dezidiert soziologische oder kulturwissenschaftliche Arbeiten betrifft. So liegen zu den hier im Fokus stehenden Reforminitiativen gerade einmal, die studentischen Abschlussarbeiten eingerechnet, etwas mehr als ein dutzend Studien vor, wobei es sich bei der Mehrzahl davon um Aufsatzartikel oder essayistische Betrachtungen handelt, die sich – mit Ausnahme von zwei Arbeiten – auf einzelne Reforminitiativen beschränken.

Die mit Abstand größte wissenschaftliche Aufmerksamkeit unter den Reforminitiativen hat die INSM auf sich gezogen, der eine exponierte Stellung unter den verschiedenen Initiativen zugewiesen wird. Zwar führen die Autoren in ihren Erörterungen zur INSM meist auch andere Initiativen wie etwa den BürgerKonvent oder die Marke Deutschland ins Feld, jedoch wird die INSM als bedeutsamste Stimme im Reformchor wahrgenommen, wie z.B. Norbert Nicoll betont: »Der Tenor ist aber immer die INSM« (Nicoll 2008: 237). Im Vergleich erscheint sie einhellig als »ressourcenstärkste Reforminitiative« (Tenscher/Laux 2007: 79), die am professionellsten arbeite und die größte Wirksamkeit entfalte (Speth/Leif 2006: 304; Nuernbergk 2009: 168).

Die INSM wird primär im Hinblick auf die Themenfelder politische Kommunikation und Medialisierungsprozesse betrachtet. Innerhalb dieses Rahmens beleuchten die Studien die Initiative und ihre Öffentlichkeitsarbeit unter dem Blickwinkel Lobbying, Public Relation und bezüglich des Verhältnisses der Initiative zu den Medien. Ein charakteristischer zugrunde liegender Befund, den nahezu alle Studien teilen, ist die These, dass die Öffentlichkeitsarbeit der INSM einen Indikator für einen grundlegenden Strukturwandel der politischen Kommunikation darstellt. Dies betrifft vor allem die vieldiskutierte Medialisierung der Politik und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust der politischen Parteien. Beispielhaft für diese Perspektive ist die Position von Rudolf Speth und Thomas Leif, die argumentieren, dass sich durch die Medialisierung der Politik die Medien zu einer »eigenständigen Machtsphäre« (Speth/Leif 2006: 303) entwickelt hätten, die in zunehmendem Maße das politische Agenda-Setting bestimmten. Die INSM fungiert in ihrer Studie als besonders eindrückliches Exempel, an dem sich die »zunehmende Verbindung von Lobbying, Journalismus und PR« (ebd.) dokumentiert. Der Verwischung dieser Grenzen zwischen PR und Journalismus widmen sich zwei quantitativ ausgerichtete Evaluationsstudien, die einerseits mittels einer »Out-Input-Analyse« (Nuernbergk 2005: 168) von Presseartikeln rekonstruieren, wie die meinungsführenden Medien die PR-Materialien und -Aktivitäten der INSM in ihre Berichterstattung integrieren, und andererseits mittels einer standardisierten Befragung von politischen Entscheidungsträgern und Journalisten die subjektive Einschätzung der »relevanten Zielgruppen der Lobbying-Aktivitäten« (Tenscher/Laux 2007: 80) der INSM beleuchten. Neben diesen auf Lobbying und PR fokussierten Studien liegen auch zwei Einzelstudien vor, die die INSM und ihre Kampagnenpolitik aus einer weiteren politikwissenschaftlichen Perspektive analysieren und in Ansätzen auch ideengeschichtlich einzuordnen versuchen. Rudolf Speth (2004) geht im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung den »politischen Strategien« der INSM nach. Die Studie aus dem Jahr 2004 hat einen erkennbar explorativen Charakter und betrachtet das ›Phänomen‹ INSM deskriptiv aus unterschiedlichen Perspektiven. Über die Beschreibung der PR-Techniken und Marketingmethoden hinaus, die auch Gegenstand der oben behandelten Arbeiten sind, nimmt Speth darin auch eine politisch-inhaltliche und institutionelle Verortung der Initiative vor, indem er deren ordo- bzw. neoliberale Ausrichtung herausarbeitet und die INSM als »modernen Think Tank« (vgl. ebd.: 34) einordnet. Eine ›universalistische‹ Perspektive ist für die Dissertation von Norbert Nicoll zur INSM bezeichnend, der – abgesehen von den angesprochenen studentischen Abschlussarbeiten – die einzige Monographie zu den wirtschaftspolitischen Reforminitiativen vorgelegt hat. Er zielt in seiner Studie auf eine »umfassende Gesamtanalyse« (Nicoll 2008: 19) der Arbeit und Funktionsweise der INSM sowie auf die Offenlegung der Ursachen des Erfolgs der Initiative und des von ihr »propagierten wirtschaftsliberalen Gedankengutes« (ebd.: 18). Als methodologische Selbstverortung versteht Nicoll seine Arbeit als deskriptive Einzelfallstudie, die auf das Instrumentarium der kritischen Diskursanalyse zurückgreift. Ungeachtet dieser Selbstverortung handelt es sich bei der Studie jedoch nicht wirklich um eine methodisch reflektierte empirische Diskursanalyse, sondern vielmehr um eine detail- und materialreiche politikwissenschaftlich orientierte Analyse, die analog zu Speth die INSM, wie schon die sehr allgemein gehaltene Fragestellung vermuten lässt, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, indem sie z.B. die programmatischen bzw. ideologischen Charakteristika der Initiative, ihren organisatorischen Aufbau sowie mediale Kommunikationsstrategien herausarbeitet. Die einzige Arbeit, die sich ansatzweise interpretativ mit der INSM auseinandersetzt, hat Martin Wengeler vorgelegt, der sich in einem Aufsatz mit den Kommunikations- und Sprachstrategien der INSM beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem darum, anhand eines kleinen Datenkorpus' aus linguistischer Perspektive zu demonstrieren, wie in den Texten der INSM Faktizität und »Wissenschaftlichkeit prätendiert« (Wengeler 2008: 89) wird, strukturelle Medienbedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Unterhaltung bedient werden und »über das Besetzen von Begriffen Diskurshegemonie« (ebd.) zu erzielen versucht wird.

Zu den ›bürgerlichen‹ Reforminitiativen liegt bisher nur eine kleine Studie zum BürgerKonvent vor, die von Rudolf Speth ebenfalls für die Hans-Böckler-Stiftung 2003 erstellt wurde. Auch bei dieser Studie handelt es sich eher um eine explorative und deskriptive Bestandsaufnahme der im Mai 2003 hervorgetretenen ›Bürgerbewegung‹. Im Vergleich zur Studie über die INSM richtet Speth hier seine Aufmerksamkeit interpretativ stärker auf die »neuartige Kampagnenpolitik« (Speth 2003: 5) des BürgerKonvent, die er einer rudimentären Analyse unterzieht.

Während sich die Arbeiten zur INSM und zu den bürgerlichen Reforminitiativen primär auf das Feld der politischen Kommunikation beschränken, sind die vorliegenden Studien zur »Du bist Deutschland«-Kampagne thematisch und disziplinär heterogener ausgerichtet. So betrachtet Stefanie Schröder die Kampagne aus einer Foucault'schen Perspektive mit Bezug zum zeitgenössischen wirtschafts- und sozialpolitischen Aktivierungsdiskurs als Bestandteil einer herrschenden Regierungstechnik, die ein »semantisches Netz« (Schröder 2007: 148) aufspanne, das sowohl auf die unternehmerische Nutzbarmachung der humanen Ressourcen ziele als auch zur »Redefinition staatlicher Sozialpolitik« (ebd.) beitrage. Sabine Dubbratz beschäftigt sich in einer Medieninhaltsanalyse mit der »Wahrnehmung und Repräsentation der Social Marketing-Kampagne ›Du bist Deutschland‹ in der deutschen Medienlandschaft« (Dubbratz 2007: 2), für die sie mehrere überregionale Tageszeitungen nach formalen und inhaltlichen Kriterien auswertet. Jens Ruchatz setzt sich in seinem Aufsatz mittels einer systemtheoretischen Perspektive mit der Kampagne auseinander. Sein Interesse richtet sich auf die Funktion der auftretenden Stars und Prominenten als populäre Akteure, die als Muster für Individualisierung und Inklusion in der Kampagne fungierten – und anhand derer er ein neuartiges Inklusionsmodell identifiziert, das er als »Inklusionsindividualität« (Ruchatz 2007: 186) bezeichnet. Werner Hollys (2007, 2009) linguistisch ausgerichtete Studien zu »Du bist Deutschland« nehmen insofern eine Sonderstellung ein, indem sie sich als einzige methodisch und interpretativ auch mit der visuellen Dimension der Kampagnenpolitik der Reforminitiativen auseinandersetzen. Der Kampagne kommt hierbei, wie bei Ruchatz, vor allem eine illustrierende Funktion zu, indem der Autor an ihr interpretativ die Prinzipien einer »audiovisuellen Hermeneutik« aufzuzeigen sucht.

Neben diesen Einzelstudien beschäftigen sich Uta Renken und Rudolf Speth mit den Reformkampagnen als Gesamtphänomen im Kontext der Reformpolitik seit Anfang der 2000er Jahre. Renkens (2009) Diplomarbeit richtet ihren Fokus auf die Kampagnenpolitik der drei Reforminitiativen, die auch in der vorliegenden Arbeit primärer Gegenstand der empirischen Analyse sind: die INSM, den BürgerKonvent und »Du bist Deutschland«. Sie betrachtet die PR-Kampagnen hauptsächlich in Bezug auf deren beabsichtigte »Förderung des Bürgerbewusstseins« (ebd.: 5), die in ihrer Konzeption als verbindendes Element der in Motiven und Ausprägungsformen divergierenden Reforminitiativen fungiert. Hierfür entwickelt sie ein instruktives grafisches Modell, das die drei Initiativen jeweils in acht Akteursgruppen einteilt (vgl. ebd.: 23). Die auf Grundlage der Modelle durchgeführte Motivanalyse beschränkt sich dagegen weitgehend auf die Wiedergabe der offen propagierten Ziele der Initiativen14 und das Aufstellen von Hypothesen über die untergründigen Motive der Reforminitiativen, ohne über die bereits vorliegenden Studien hinaus neue Einsichten bereitzustellen. Den bislang einzigen umfassenden und systematischen Zugang zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Reforminitiativen von der INSM bis zur »Du bist Deutschland«-Kampagne hat Rudolf Speth in zwei Aufsätzen entwickelt (vgl. Speth 2006, 2009). Speth stellt darin die »Wirtschaftskampagnen« in den größeren Kontext einer »bundesrepublikanischen Werbegeschichte für die Soziale Marktwirtschaft« (ebd.: 214), die schon in der Frühphase der Bundesrepublik ihren Anfang nimmt. Narrativer Bezugspunkt der Kampagnen ist Speth zufolge die zentrale Gründungserzählung der »Sozialen Marktwirtschaft«, die in den Kampagnen »›umerzählt‹« und an die Erfordernisse eines neuen kapitalistischen Modells« (ebd.) angepasst werde. Aufbauend auf einer Beschreibung und Analyse der Kampagnenpolitik der Reforminitiativen, macht er insbesondere anhand der »Du bist Deutschland«-Kampagne eine neue Form von »Wirtschaftspatriotismus« und »Nation-Branding« (vgl. ebd.: 233 ff.) aus. Darin sieht er einen generellen Trend zur Emotionalisierung der politischen Kommunikation durch professionelle Medien- und Werbeakteure, die in zunehmendem Maße patriotische Emotionen als wirtschaftliche Ressource nutzbar machten (vgl. ebd.: 234 ff.; Speth 2006: 24 ff.).

Resümierend lässt sich feststellen, dass die vorliegenden Forschungsansätze zu den Reforminitiativen und ihrer Kampagnenpolitik vor allem die institutionellen und strukturellen Veränderungen politischer Kommunikation in Deutschland fokussieren, die sich anhand der Reforminitiativen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit dokumentieren. Sie machen deutlich, dass die Reforminitiativen und ihre PR-Kampagnen als Anpassungsprozess an die Bedingungen komplexer, individualisierter Mediengesellschaften zu verstehen sind. Die Ansätze beschreiben ausführlich die neuartigen PR-Techniken und kampagnenförmig organisierten populären Kommunikationsstrategien, mit denen die Reforminitiativen auf diese neuen Anforderungen antworten. Zudem hat Rudolf Speth entgegen der vorherrschenden ›partikularistischen‹ Sichtweise die Reforminitiativen als Gesamtphänomen analysiert und in gewinnbringender Weise in den soziohistorischen Kontext wirtschafts- und sozialpolitischer Kampagnen in Deutschland gestellt. Seine Perspektive ist dabei durchaus anschließbar an die hier verfolgte hegemonietheoretische Konzeption der Kampagnen, indem er die Kampagnenpolitik der Reforminitiativen als eine diskursive ›Einpassung‹ (durch ›Umerzählen‹ des Basisnarrativs »Soziale Marktwirtschaft«) von Subjekten in ökonomische Produktionsweisen versteht. Insofern stellen die Ansätze wichtige konzeptuelle Anknüpfungspunkte zu einem hegemonietheoretischen Verständnis der Kampagnenpolitik bereit.

Was jedoch anhand der vorliegenden Ansätze deutlich wird, ist – mit Ausnahme von Holly und eingeschränkt Ruchatz15 – die fehlende methodisch-interpretative Auseinandersetzung mit dem empirischen Material der Kampagnenpolitik. Ungeachtet der z.B. von Speth und Nicoll hervorgehobenen Dominanz populärer Kommunikationsformen, mit denen die »ökonomischen Rationalitäten in die Öffentlichkeit getragen«16 werden, werden die spezifischen Popularisierungsstrategien der Kampagnen als Form einer Identitätspolitik nur marginal berücksichtigt. Das gilt insbesondere für die in meiner Studie im Fokus stehende Bildpolitik der Reforminitiativen. Die visuelle Dimension der Kampagnen wird zwar allgemein als zentrales und wirkmächtiges Element der Kampagnenpolitik betrachtet, eine theoretisch und methodisch fundierte empirische Interpretation der visuellen Repräsentationspraktiken bleibt jedoch aus. So betrachtet ist auch verständlich, warum die Aussagen zur »ideologischen Wirksamkeit« (Nicoll 2008: 22) der Reforminitiativen letztlich im Bereich des Vagen und Unbestimmten verbleiben. Dies wird besonders deutlich an Speths metaphorischer Darlegung, dass die INSM den »Boden« für ein »wirtschaftsfreundliches Klima« (Speth 2004: 34) bereitet habe – ohne jedoch die diskursiven Prozesse in den Blick zu nehmen, durch den dieser gebildet wird.

Genau an diesem Punkt setzt das vorliegende empirische Forschungsprojekt an. In prinzipieller Übereinstimmung mit Speth und Nicoll gehe ich davon aus, dass die Kampagnen- und Bildpolitik der Reforminitiativen einen substantiellen Beitrag zur Popularisierung und Hegemonialisierung des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskurses insbesondere in der ersten Hälfte der 2000er Jahre geleistet hat. Im Kontrast zu den behandelten Forschungsarbeiten geht es mir jedoch darum, empirisch die konkreten sprachlichen und visuellen Repräsentationspraktiken der Reforminitiativen als hegemoniale Praxis zu rekonstruieren, mit denen – um in Speths Sprache zu bleiben – der diskursive ›Boden‹ für einen wirtschafts- und sozialpolitischen Wandel geschaffen wird.

3 Die kontinuierliche Beobachtung der eigenen Präsenz in den Medien war insbesondere für die INSM ein strategischer Aspekt ihrer Arbeit. So bemerkte Klaus Dittko, damaliger Geschäftsführer der für die INSM arbeitenden Werbeagentur Scholz & Friends, im Juni 2004 in einem Interview, dass die Messung der Medienpräsenz ein »wichtiger Indikator für unsere Arbeit« sei, der mit »wissenschaftlichen Methoden untersucht« werde (zit. nach Speth 2004: 28). Ich beziehe mich im Folgenden auf die erkennbar den Reforminitiativen zuordbaren PR-Aktivitäten. Gerade im Hinblick auf die INSM muss hervorgehoben werden, dass ein wichtiger Teil ihrer PR-Strategie darin besteht, mehr oder weniger ›inkognito‹ selbsterstellte Beiträge in den Medien zu platzieren, die naturgemäß in der Regel nicht zum Gegenstand medialer Aufmerksamkeit werden (vgl. dazu auch Nuernbergk 2005).

4 So hält Tietmeyer z.B. in einem Gastbeitrag für die FAZ anlässlich der Gründung der INSM ein »Plädoyer für eine Neue Soziale Marktwirtschaft« (Tietmeyer 2000). In einem ZEIT-Interview vom Januar 2001 führt Tietmeyer aus, wie die INSM »die Menschen von unserer Vision für das zukünftige System der Bundesrepublik überzeugen« wolle (Caspary 2000). In einem Gastbeitrag mit dem Titel »Dieser Sozialstaat ist unsozial. Nur mehr Freiheit schafft mehr Gerechtigkeit: Zur Verteidigung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (Tietmeyer 2001) antwortet Tietmeyer im gleichen Jahr ebenfalls in der ZEIT auf die aufkommende Kritik an der Initiative.

5 »›Gewaltiger Zulauf‹. Der Bürgerkonvent von Meinhard Miegel trifft den Nerv der Zeit. Das Ziel: endlich Reformen voranbringen – denn sonst drohen ›revolutionäre Umbrüche‹« (Siems 2005).

6 Im Juni 2003 verfasst Norbert Blüm (2003) in der FAZ einen Gastbeitrag mit dem Titel »Das soll ich sein!«, der eine kritische Antwort auf die Gründung und die Forderungen des Bürger-Konvent darstellt.

7 So erscheint zum Kampagnenstart im September 2005 ein Interview mit dem Initiator und damaligen Chef der Bertelsmann AG Gunter Thielen in der Welt am Sonntag (»Die Deutschen sind es leid, immer die Verlierer zu sein«) (T. Kaiser 2005). In der gleichen Zeitung folgt im November ein weiteres umfangreiches Interview (»Man kann in diesem Land vieles bewegen«) mit Gruner & Jahr-Chef Bernd Kundrun (Iken/Kaiser 2005). Auf Seiten der involvierten Werbeagenturen tritt Holger Jung, Geschäftsführer der für die Kampagnengestaltung verantwortlichen Werbeagentur Jung von Matt, mit einem Interview in der taz (»Da ist was losgetreten«) in Erscheinung (Grimberg 2006). Oliver Voss, Kreateur des Kampagnenslogans, wird im November 2005 in der FAZ interviewt (Reents 2005) und verfasst zum Abschluss der Kampagne einen resümierenden Gastbeitrag in der Welt am Sonntag (Voss 2006). In einem Stern-Artikel (Kühn 2005) kurz nach Beginn der Kampagne erläutern zudem die im Werbespot auftretenden prominenten Testimonials in kurzen Statements, warum sie sich für die Initiative engagieren.

8 Dies folgert auch Christoph Nuernbergk auf Grundlage seiner Inhaltsanalyse in Bezug auf die INSM, der feststellt, dass die konservative und die Wirtschaftspresse häufiger über die Initiative berichteten und zudem in ihrer Berichterstattung weniger kritisch ausgerichtet seien als die linksliberale Presse (vgl. Nuernbergk 2006: 93).

9 So erblickt die taz im Juni 2003 »Initiativen soweit das Auge reicht«. Die Zeitschrift werben & verkaufen spricht von einer »Phalanx von Reform-Initiativen«, die aufmarschiert sei, um »die Deutschland AG vor der Insolvenz zu retten und die Politik unter Reformdampf« (Wieking 2003) zu halten.

10 Die Welt zieht in einem Artikel im Mai 2003 eine Parallele zur Entwicklung der linken Neuen Sozialen Bewegungen: »Inzwischen grassiert die Empörung landauf, landab, ein hochgradiges Gründungsfieber ist ausgebrochen. Das, was von der Apo zu den Neuen Sozialen Bewegungen der achtziger Jahre führte, scheint sich im Jahr fünf der rot-grünen Koalition weit entfernt vom linken Lager zu entwickeln« (Graw 2003).

11 Der Titel ist eine Anspielung auf die Werbeagentur Scholz & Friends, die für das Marketing der INSM zuständig war und auch weitere Reforminitiativen unterstützte.

12 Dies dokumentiert sich nicht zuletzt auch in zahlreichen Artikeln zu den Reforminitiativen in Fachmagazinen aus dem Ressort Werbung und Marketing. So bringt Ralf Grauel (2004) in der Zeitschrift brand eins die für die Reforminitiativen charakteristische Symbiose aus politischem Protest und Marketingprojekt auf die griffige Formel: »Die neue APO spricht Marketing«.

13 Interessant ist hier vor allem die »Du bist Deutschland«-Kampagne. Obwohl die Kampagne von führenden Medienhäusern initiiert und durchgeführt wurde, wurde die Debatte insbesondere in den Feuilletons teilweise äußerst kritisch rezipiert. Dies verweist auf die Komplexität und Heterogenität des medialen Feldes in der Bundesrepublik, die einige bisweilen ›verschwörungstheoretisch‹ anmutende Perspektiven auf die Reforminitiativen und die darin beteiligten Medienorganisationen zu wenig berücksichtigen.

14 Indem sie z.B. die vom BürgerKonvent propagierte Auflösung eines »Wahrheitsstaus« als Ziel der Reformkampagnen identifiziert (Renken 2009: 91).

15 Wobei beide Arbeiten partikular an der »Du bist Deutschland«-Kampagne ausgerichtet sind und zudem die Kampagne demonstrativ bzw. illustrativ betrachten.

16 Dieses in der Einleitung angeführte Zitat des ehemaligen INSM-Chefs Max A. Höfer ist auch Teil des Titels von Nicolls (2008) Monographie zur INSM.

3 Hegemonietheoretischer Bezugsrahmen

Die folgenden Ausführungen zielen darauf, einen hegemonietheoretischen Rahmen zu erarbeiten, der als Grundlage für die empirische Analyse spezifisch visueller Repräsentationspraktiken, wie sie im Fokus dieser Studie stehen, fungieren soll. Hierfür orientiere ich mich grundlegend am Konzept der Diskurs- und Hegemonietheorie, wie sie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ausgearbeitet worden ist.

Im Theoriegebäude der beiden genannten Autoren verbinden sich marxistische Theorieelemente mit verschiedenen zentralen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, wie der Lebenswelttheorie von Edmund Husserl, den (post-)strukturalistischen Theorien von Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida, der Diskurstheorie Michel Foucaults und der kulturwissenschaftlich orientierten Theorie der Psychoanalyse von Jacques Lacan, zu einer innovativen Theorie des Sozialen und Politischen. Die besondere Leistung der Konzeption von Laclau/Mouffe besteht darin, poststrukturalistische Theorieelemente durch die intelligible Verbindung mit einem radikalisierten Hegemoniekonzept Gramscis für die Analyse politischer Phänomene anwendbar gemacht zu haben. Dadurch gelingt ihnen die Reformulierung ›klassischer‹ politik- und sozialwissenschaftlicher Kategorien wie Repräsentation, Ideologie, Macht – und ganz grundlegend die der Gesellschaft, des Sozialen und des Politischen (vgl. Critchley/Marchart 2004: 5). Mit ihrem Ansatz dekonstruieren sie auf der einen Seite die Vorstellung zugrunde liegender kohärenter ›objektiver‹ gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen, indem sie deren diskursive Verfasstheit und fragilen Charakter zum Vorschein bringen. Sie machen in ihrem Konzept sichtbar, dass soziale Wirklichkeit nicht auf einem gesellschaftlichen Fundament beruht, sondern notwendigerweise das Produkt kontingenter und prekärer diskursiver Artikulationen in einem antagonistischen und überdeterminierten diskursiven Raum darstellt, der keine stabilen und vollständigen Sinnschließungen zulässt. In dieser Perspektive sprechen Laclau/Mouffe in bewusster Abgrenzung zu einem soziologischen Essentialismus von einer »Unmöglichkeit der Gesellschaft« (vgl. Laclau 1990a). Im Gegensatz zu vielen dekonstruktivistischen Ansätzen bleiben sie jedoch nicht bei der diagnostizierten Dezentrierung des Sozialen stehen; mit ihrem Hegemoniebegriff ziehen sie eine theoretische Ebene ein, mit der sich begreifen lässt, wie trotz dieser grundlegenden Dezentrierung des Sozialen Sinnschließungen als – letztlich immer scheiternde – hegemoniale Anstrengung um die vollständige Instituierung des Sozialen möglich werden. Mit dieser ›bahnbrechenden‹ Konzeption haben Laclau/Mouffe die rezipierten poststrukturalistischen Konzepte zum Arbeiten gebracht und für theoretische und empirische kultur- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen geöffnet.

Der Einfluss des Ansatzes von Laclau/Mouffe zeigt sich faktisch eindrücklich an der Rezeption seit dem Erscheinen ihres Hauptwerkes Hegemonie und radikale Demokratie (im Original: Hegemony and Socialist Strategy) (Laclau/Mouffe 1991). So lässt sich neben einer intensiven (und anhaltenden) theoretischen Diskussion mittlerweile auf zahlreiche empirische Studien im Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften blicken, die den hegemonietheoretischen Ansatz der beiden Autoren als Analyseinstrument einsetzen und so auf dessen analytisches Potential verweisen. Zu nennen sind hier zuerst die Studien, die im Kontext des 1982 geschaffenen »Ideology and Discourse Analysis Program« an der Universität Essex entstanden sind.17 Dieses Programm, das sich mittlerweile als Essex School of Discourse Theory etabliert und institutionalisiert hat, orientiert sich in seiner Ausrichtung maßgeblich an der Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe. Neben diesen vornehmlich politikwissenschaftlich orientierten Studien findet das Hegemoniekonzept von Laclau/Mouffe auch im weiteren Bereich der Kulturstudien Anwendung. So zielen Nico Carpentier und Erik Spinoy mit Blick auf das enge disziplinäre politikwissenschaftliche Korsett der genannten Studien programmatisch darauf, das analytische Instrumentarium von Laclau/Mouffe für das Feld der Kulturanalyse fruchtbar zu machen (vgl. Carpentier/Spinoy 2008a: 2 ff.). Entsprechend versammelt ihre Anthologie eine Reihe von Studien, die Laclaus/Mouffes Hegemonietheorie empirisch auf den Feldern der Medien, Literatur, Kunst und Werbung zum Einsatz bringen (Carpentier/Spinoy 2008b). Auch im deutschsprachigen Raum hat die Hegemonietheorie vor allem seit Mitte des letzten Jahrzehnts zunehmend an Bedeutung gewonnen. Diese Studien sind thematisch und disziplinär im Vergleich zum englischsprachigen Raum relativ breit gestreut. Im politikwissenschaftlichen Bereich lassen sich Martin Nonhoffs großangelegte Studie zum hegemonialen Projekt der »Sozialen Marktwirtschaft« (Nonhoff 2006) und die bildungspolitische Studie zum Bologna-Prozess von Jens Maeße (2010) anführen. Weitere empirische Einsatzfelder finden sich in der Humangeographie und der Landschafts- und Raumforschung (Mattissek 2005, 2008; Glasze 2007, 2013, Weber 2015; Fischer/Weber 2015), den Security Studies (Bonacker 2006) sowie im Bereich der Medien- und Netzwerkkultur (Lummerding 2005; Marchart 2004).

Prinzipiell lässt sich den empirischen Arbeiten nicht nur die in der Einleitung behandelte Textzentriertheit, sondern auch eine deduktionistische Ausrichtung im Umgang mit konkreten empirischen Phänomenen bescheinigen.18 Wie Keller zu Recht hervorhebt, fungieren die Hegemonietheorie Laclaus/Mouffes und die damit verbundenen Konzepte in der Regel als »kategorischer Bezugsrahmen« (Keller 2008: 166), in den die empirischen Daten – tendenziell methodisch-interpretatorisch unterbestimmt – illustrierend eingepasst und demzufolge nicht als »eigenständige Ebene der Theoriebildung« (ebd.) betrachtet werden. Diese deduktionistisch-funktionalistische Vorgehensweise dokumentiert sich stellvertretend in Nonhoffs oben angeführter Studie, die – soweit ich sehen kann – die bisher methodisch systematischste und umfassendste Anwendung von Laclaus/Mouffes Hegemonietheorie darstellt. So dienen die von ihm einbezogenen empirischen Daten vornehmlich zur Überprüfung hegemonietheoretischer Konstruktionen. Entsprechend charakterisiert Nonhoff seine methodische Ausrichtung damit, »theoretisch fundierte Hypothesen über eine bestimmte diskursive Funktion, nämlich die diskursive Formierung von Hegemonie, herzuleiten, um sie dann am empirischen Material zu überprüfen« (Nonhoff 2006: 248).

Im Unterschied dazu richtet sich meine Studie stärker an ihrem empirischen Gegenstand aus. Damit geht eine pragmatische Einstellung gegenüber dem Theoretischen einher, die der Theorie, an Stuart Hall anschließend, keinen Selbstzweck zuweist, sondern vielmehr die Aufgabe, einen verbesserten Zugang zur Erschließung konkreter historischer und kultureller Phänomene zu ermöglichen (vgl. Hall 1988: 69 f.). Dieser Vorgehensweise liegt die Überzeugung zu Grunde, dass Theorie und Empirie in einem engen Wechselverhältnis stehen und sich daher gegenseitig informieren müssen. In diesem Sinne ist die hier verfolgte Perspektive auf Laclaus/Mouffes Hegemonietheorie dadurch bestimmt, ein an die Problemstellung angepasstes und offenes theoretisches Gerüst zu entwickeln, das als Analysestrategie ermöglicht, theoriegeleitet sprachliche und visuelle hegemoniale Strategien zu rekonstruieren, ohne die empirischen Ergebnisse durch einen starren begrifflichen Bezugsrahmen zu präformieren. Diese offene Perspektive schließt auch den ergänzenden Einbezug von theoretischen Perspektiven insbesondere der Cultural Studies ein. Diese sind – maßgeblich vermittelt über die Laclau-Rezeption Stuart Halls – von der Hegemonietheorie Laclaus/Mouffes merklich beeinflusst worden und stellen vor allem hinsichtlich der Subjekt- und Identitätskonzeption sowie der subjektiven Aneignungsprozesse von Diskursen wichtige Ergänzungen zum Verständnis hegemonialer Praktiken bereit.

Zur Vorgehensweise: In einem ersten Schritt werde ich mit anwendungsbezogenem Blick auf die empirische Analyse Bausteine einer poststrukturalistischen Hegemonietheorie im dezidierten Anschluss an Laclau/Mouffe erarbeiten. Das Augenmerk liegt hierbei insbesondere auf den poststrukturalistisch reformulierten rhetorischen Konzepten in Laclaus späteren Arbeiten, die er auf innovative Weise zur Rekonstruktion hegemonialer Repräsentationspraktiken fruchtbar macht. Trotz der Bedeutsamkeit des Rhetorischen für die Hegemonietheorie Laclaus/Mouffes wird diese Dimension in den vorliegenden Arbeiten theoretisch wie empirisch weitgehend vernachlässigt. Ziel ist hierbei, die analytischen Potentiale der lediglich als ›Programm‹ dargelegten Konzeption von Laclau/Mouffe freizulegen und diese in erweiterter Perspektive für die praxisbezogene empirische Analyse sprachlicher und visueller Repräsentationsformen fruchtbar zu machen. In einem zweiten Schritt werde ich diesen allgemeinen hegemonietheoretischen Rahmen in Anlehnung an die Visual Culture Studies, innerhalb derer sich meine Studie verortet, mit Überlegungen zur Spezifik visueller Repräsentationsformen als Teil einer hegemonialen Praxis verbinden. Ziel ist hierbei, einen Grundriss einer visuellen Hegemonietheorie zu entwerfen, der die theoretische und methodische Basis für die empirische Analyse der Bildpolitik der Reforminitiativen darstellen wird.

3.1 Prolog: Das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis

3.1.1 Poststrukturalistische Hegemonietheorie als Neogramscianismus

Die Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe verortet sich selbst als »postmarxistisch« (Laclau/Mouffe 1990) und ist maßgeblich von Antonio Gramscis Hegemonietheorie beeinflusst. So entfalten die beiden Autoren in Hegemonie und radikale Demokratie ihr Konzept anhand einer genealogischen Aufarbeitung des Hegemoniebegriffs, die sich von der russischen Revolution bis hin zu Gramsci erstreckt.19 Sie zeichnen darin nach, wie der Hegemoniebegriff bereits bei Lenin, Axelrod, Plechanow und Trotzki als Antwort auf einen in die Krise geratenen Marxismus entwickelt wurde. Dieser orthodoxe Marxismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesichts der Krisenfestigkeit des Kapitalismus und den mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in den westlichen Industrieländern verbundenen Fragmentierungen der Arbeiterklasse nur noch bedingt in der Lage, als geschichtliches Erklärungsmodell und als strategische politische Praxis zu fungieren.

Die Einführung der ›Logik‹ der Hegemonie versucht in der Perspektive Laclaus/Mouffes, diesen Verwerfungen in einem gewissen Umfang Rechnung zu tragen. So erfüllt der Hegemoniebegriff nach 1918 primär die Funktion, zu erklären, warum die schwach ausgebildete russische Bourgeoisie nicht gemäß des orthodox-marxistischen Entwicklungsnarrativs in der Lage war, zum revolutionären Akteur zu werden, und daher stellvertretend die Arbeiterklasse in der Oktoberrevolution diese Führungsfunktion übernehmen musste. Zwar geht mit diesem Hegemoniekonzept eine Öffnung für kontingente historische und politische Entwicklungen einher, diese fungieren letztlich jedoch als »Supplement« (Laclau/Mouffe 1991: 86), das einem deterministischen Klassenreduktionismus untergeordnet wird. So bleibt einerseits das übergeordnete eschatologische Basisnarrativ unberührt, demzufolge sich nach ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen die klassenlose Gesellschaft entfaltet, in der die Arbeiterklasse als privilegierter Akteur eine führende Rolle einnimmt. Auf der anderen Seite geht der Hegemoniebegriff dieser Prägung zudem weiterhin von präformierten politischen Kollektividentitäten aus und reduziert sich auf das strategische Schließen von Klassenbündnissen. Das Hegemoniekonzept verbleibt dadurch ein »Nullsummenspiel« (Marchart 2007: 112), in dem die Identität der Akteure unabhängig von hegemonialen Artikulationen bestimmt ist. Der Bruch mit dieser reduktionistischen Sichtweise vollzieht sich in der Interpretation von Laclau/Mouffe erst durch die ›gramscianische Wende‹. Indem Gramscis Hegemoniekonzept die Formierung sozialer Gruppen oder Klassen als kontingente und umkämpfte hegemoniale Artikulationen begreift, verliert der Hegemoniebegriff seine grundlegende Bindung an ökonomisch präformierte Klassenidentitäten und eine von der ökonomischen Basis vorgegebenen Entwicklungslogik. Auf diese ›anti-essentialistische‹ Konzeption Gramscis setzten nun Laclau/Mouffe maßgeblich auf. Die Entwicklung erklärtermaßen fortsetzend, reartikulieren und radikalisieren sie Gramscis Hegemoniekonzept, indem sie es von dem von ihnen ausgemachten vorhandenen »verborgene[n] essentialistischen Kern« (Laclau/Mouffe 1991: 114) zu befreien suchen.

Wie sich mit Blick auf diese Ausführungen zeigt, lässt sich Laclaus/Mouffes postmarxistische Hegemonietheorie hinsichtlich ihrer Fundamente also insbesondere als neogramscianisch charakterisieren.20 Aufgrund dessen möchte ich zunächst in konziser Form zentrale Aspekte von Gramscis Hegemonietheorie behandeln, um die Spezifik des Hegemoniebegriffs herauszuarbeiten und die Verbindungslinien zu einer poststrukturalistischen Perspektive sichtbar zu machen, wie sie von Laclau/Mouffe formuliert worden ist. Darüber hinaus kann Gramscis Denken aber auch als Korrektiv für bestimmte theoretische Unterbestimmtheiten dienen, die mit der poststrukturalistischen Reinterpretation seines Hegemoniekonzepts verbunden sind. Dies umfasst, wie zu zeigen sein wird, insbesondere die konzeptuelle Vernachlässigung von ›objektivierten‹ Machtverhältnissen durch den von Laclau/Mouffe entwickelten umfassenden Diskursbegriff. Diese Vernachlässigung kann wohl auch als ein maßgeblicher Grund dafür angesehen werden, dass die an Laclau/Mouffe anschließenden empirischen Fallstudien häufig hegemoniale Prozesse engführend als sprachlichen Definitionswettkampf analysieren. Schließlich und nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit Gramsci generell gewinnbringend für die Arbeit. So stellen sein Hegemoniebegriff und damit verbundene Konzepte wie etwa zur Funktion von Intellektuellen wichtige Erkenntnisse bereit, die sich methodisch für das Verständnis der Reforminitiativen und ihrer hegemonialen Projekte fruchtbar machen lassen.

3.1.2 Soziohistorischer Entstehungskontext des Hegemoniebegriffs

Gramscis Hegemoniekonzept entfaltet sich hauptsächlich in den sogenannten Gefängnisheften, die während seiner Gefangenschaft (1926-1937) im faschistischen Italien entstanden sind. Die Schriften, die nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, stellen kein systematisches Theoriegebäude dar, sondern haben einen fragmentarischen Charakter. In Form eines erkundenden »Laboratorium[s]« (Candeias 2007: 16) entwickelt Gramsci darin eine Reihe bedeutsamer Konzepte und Begriffe wie z.B. »Zivilgesellschaft«, »integraler Staat«, »Kulturelle Hegemonie«, »Alltagsverstand«, »Fordismus«, »historischer Block« etc., die z.T. heute zum selbstverständlichen wissenschaftlichen und auch politischen begrifflichen Repertoire gehören. Durch den Umstand, dass Gramscis Denken immer wieder bestimmte Themen umkreist, Konzepte und Begriffe revidiert, sind die Gefängnishefte notwendigerweise durch gewisse begriffliche Unbestimmtheiten und Inkonsistenzen charakterisiert (vgl. Anderson 1979: 8), mit der jede Gramsci-Interpretation konfrontiert ist. Trotz und auch gerade wegen dieser assoziativen und offenen Denkweise hat Gramscis Hegemoniekonzept entscheidende Einflüsse auf die Entstehung und Entwicklung wichtiger Denkrichtungen wie z.B. der Cultural Studies21 oder der Internationalen Politischen Ökonomie ausgeübt.

Gramsci entwickelt seinen Hegemoniebegriff in den 1920er Jahren in expliziter Frontstellung zum »›historische[n] Ökonomismus‹« (ebd.: Bd. 3, H.4, 502) eines orthodoxen Marxismus, der angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche für ihn an intellektueller Strahlkraft und praktischer politischer Relevanz verloren hatte. Ein zentraler gedanklicher Ausgangspunkt von Gramsci ist dabei die Frage, warum die sozialistische Revolution nach der Oktoberrevolution 1917 in den europäischen Industrieländern ausgeblieben ist. Die Ursache sieht er in deren Zivilgesellschaft, die sich dort im Unterschied zur gesellschaftlichen Situation in Russland zu einer komplexen und widerstandsfähigen Struktur entwickelt habe. Institutionen wie Medien, Schulen, Kirchen etc., so Gramsci, fungierten als ›materiale‹ ideologische Strukturen, als »Schützengräben und Befestigungen« (vgl. ebd.: B2, H3, 373 u. B4, H7, 873) der herrschenden Klasse, die den Staatsapparat grundlegend stützten. In dieser Beobachtung liegt für Gramsci zugleich die Bedeutsamkeit ideologischer bzw. politisch-kultureller Dimensionen begründet. Es ist ihm zufolge nicht ausreichend, nur die materielle Staatsmacht zu erlangen, sondern es bedarf aufwändiger ideologischer Arbeit, mit der die zivilgesellschaftlichen Institutionen erobert werden müssen.22 In diesem Sinne kann ein mechanistischer Ökonomismus für Gramsci keine wirksame theoretische Perspektive und praktische politische Strategie sein. Als Versuch einer Neubegründung der marxistischen Theorie begegnet er diesem reduktionistischen Denken auf dem »Terrain des Hegemoniebegriffs« (ebd.: B3, H4, 502).

3.1.3 Das Konzept der »Kulturellen Hegemonie«

In Abgrenzung zum vulgärmarxistischen Basis/Überbau-Modell betont der Hegemoniebegriff Gramscis die Materialität ideologischer23, d.h. politisch-kultureller Formen. Ökonomisch-materielle und kulturell-politische Formen – Strukturen und Superstrukturen24 – müssen Gramsci zufolge in einem dialektischen Sinne als »innerlich zusammenhängend und notwendig aufeinander bezogen in Wechselwirkung« (ebd.: B6, H10, 1308) verstanden werden. Während die Strukturen das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« umfassen, »in denen die wirklichen Menschen sich bewegen und wirken, als ein Ensemble objektiver Bedingungen« (ebd.: B6, H10, 1241), bilden die Superstrukturen das kulturellpolitische Terrain, auf dem die Gesellschaft praktisch organisiert wird und – an Marx anschließend – die Menschen Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben. Die Trennung dieser beiden Ebenen ist dabei lediglich als analytische zu sehen, da diese in vielfacher Weise verschränkt sind und zusammen die Einheit der Gesellschaftsformation bilden (vgl. ebd.: B6, H10, 1308 f.).25 Diese dialektische Perspektive ist bezeichnend für das Hegemoniekonzept. So ist es für Gramsci nicht ausreichend, Strukturen und Superstrukturen jeweils getrennt voneinander zu analysieren, sondern man muss die Entwicklung der ökonomisch-materiellen und politisch-kulturellen Formen in ihrem Zusammenspiel erforschen.