Reich und Arm - Joseph Stiglitz - E-Book

Reich und Arm E-Book

Joseph Stiglitz

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Beschreibung

Warum die Ungleichheit wächst und was wir dagegen tun können

Mit seinem Bestseller »Der Preis der Ungleichheit« hat sich Joseph Stiglitz an die Spitze der Debatte über die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft in Reich und Arm gesetzt. In seinem neuen Buch beweist der Nobelpreisträger erneut, dass er nicht nur ein brillanter Ökonom, sondern auch ein scharfsinniger politischer Denker ist, der beherzt für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands kämpft.

Wachsende Ungleichheit ist kein Schicksal, sondern Folge politischer Entscheidungen, diese Überzeugung vertritt Joseph Stiglitz vehement. Deswegen fordert er eine Politik, die den Wohlstand endlich wieder gerechter verteilt. In seinem neuen Buch zeigt er uns, jenen 99 Prozent der Bevölkerung, denen die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm schadet, welche Risiken die wachsende Ungleichheit birgt und was wir gegen sie tun können. »Reich und Arm« versammelt die einflussreichsten Texte von Joseph Stiglitz aus den letzten Jahren, erstmals sind seine kämpferischen Einwürfe nun auf Deutsch zu lesen. Wer über die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft mitdiskutieren will, wird an »Reich und Arm« nicht vorbeikommen.

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Zum Buch

Dass die Ungleichheit in unserer Gesellschaft ständig wächst, ist kein unvermeidbares Schicksal, sondern das Ergebnis einer fehlgeleiteten Politik – das weist Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz anhand vieler Beispiele nach. Er zeigt, welche Risiken die wachsende Ungleichheit birgt und was wir, jene 99 Prozent der Bevölkerung, denen die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm schadet, gegen sie tun können. Das vorliegende Buch versammelt die einflussreichsten Texte von Joseph Stiglitz aus den letzten Jahren, erstmals sind seine kämpferischen Einwürfe nun auf Deutsch zu lesen. Wer über die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft mitdiskutieren will, wird an Reich und Arm nicht vorbeikommen.

Zum Autor

Joseph Stiglitz, geboren 1943, war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993 zu einem Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung wurde. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank und wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Heute lehrt Stiglitz an der Columbia University in New York und ist ein weltweit geschätzter Experte zu Fragen von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Bei Siedler erschienen unter anderem seine Bestseller Die Schatten der Globalisierung (2002), Die Chancen der Globalisierung (2006), Im freien Fall (2010) und zuletzt Der Preis der Ungleichheit (2012).

Joseph Stiglitz

Reich und Arm

DIE WACHSENDE UNGLEICHHEIT IN UNSERER GESELLSCHAFT

Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt

Siedler

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Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Great Divide. Unequal Societies and What We Can Do About Them« bei W. W. Norton & Company, New York.

Erste Auflage

September 2015

Copyright © 2015 by Joseph E. Stiglitz

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Siedler Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Nico Schröder, Hamburg

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-17310-4

www.siedler-verlag.de

Meinen vielen Lesern, die meine Schriften zum Thema Ungleichheit und Chancengerechtigkeit so begeistert aufgenommen haben.

Meinen Kindern, Siobhan, Michael, Jed und Julia, und meiner Frau Anya, die alle auf ihre Weise danach streben, eine gerechtere und bessere Welt zu schaffen.

Und den Wissenschaftlern und Aktivisten auf der ganzen Welt, die sich so nachdrücklich für soziale Gerechtigkeit engagieren.

Danke für die Inspiration und Ermutigung.

Inhalt

Einleitung

AUFTAKTErste Risse

Die wirtschaftlichen Folgen von Mr. Bush

Narren des Kapitalismus

Die Anatomie eines Mordes: Wer hat die amerikanische Wirtschaft auf dem Gewissen?

Ein Weg aus der Finanzkrise

TEIL IStand der Dinge

Des 1 Prozents, durch das 1 Prozent und für das 1 Prozent

Das Problem des 1 Prozents

Eine Politik gegen Wachstumsschwäche und Ungleichheit

Ungleichheit wird zum globalen Thema

Ungleichheit ist eine Wahl

Demokratie im 21. Jahrhundert

Scheinkapitalismus

TEIL IIPersönliche Betrachtungen

Wie Dr. King mein wirtschaftswissenschaftliches Werk prägte

Der Mythos von Amerikas Goldenem Zeitalter

TEIL IIIDimensionen der Ungleichheit

Chancengleichheit, unser nationaler Mythos

Studienschulden und die Zerstörung des amerikanischen Traums

Gerechtigkeit für manche Menschen

Die einzige verbliebene Lösung für die Immobilienkrise: massenhafte Umschuldung von Hypotheken

Ungleichheit und das amerikanische Kind

Ebola und Ungleichheit

TEIL IVUrsachen der zunehmenden Ungleichheit in den USA

Amerikas Sozialismus für die Reichen

Ein Steuersystem zum Nachteil der 99 Prozent

Bei der Globalisierung geht es nicht nur um Profite, sondern auch um Steuern

Die Denkfehler von Mitt Romney

TEIL VFolgen der Ungleichheit

Die falsche Lehre aus dem Bankrott Detroits

Niemandem vertrauen wir

TEIL VIPolitik

Wie die Politik zur ökonomischen Spaltung beigetragen hat

Warum nicht Larry Summers, sondern Janet Yellen die Fed führen sollte

Der Wahnsinn unserer Lebensmittelpolitik

Auf der falschen Seite der Globalisierung

Die Freihandelsfarce

Wie geistiges Eigentum die Ungleichheit verstärkt

Indiens kluge Patententscheidung

Die Beseitigung extremer Armut: einnachhaltiges Entwicklungsziel, 2015–203o

Die Krisen nach der Krise

Ungleichheit ist nicht unvermeidlich

TEIL VIIRegionale Perspektiven

Das Wunder von Mauritius

Was wir von Singapur über die Ungleichheit in den USA lernen können

Japan sollte auf der Hut sein

Japan ist ein Vorbild, kein abschreckendes Beispiel

Chinas Fahrplan

Die Reform des Gleichgewichts zwischen Staat und Markt in China

Medellín: Ein Lichtblick unter den Städten

Amerikanische Illusionen in Down Under

Die Unabhängigkeit Schottlands

Die spanische Depression

TEIL VIIIDie Arbeitslosigkeit in den USA bekämpfen

Wie wir den Amerikanern wieder Arbeit geben können

Ungleichheit bremst die Erholung

Das Buch der Jobs

Knappheit in einer Zeit des Überflusses

Zum Wachstum links abbiegen

Das Rätsel der Innovation

Nachwort

Dank

Quellennachweis

Anmerkungen

Einleitung

NIEMAND KANN BESTREITEN, dass es heute in den USA einen tiefen Graben gibt, der die Superreichen – die auch das »1 Prozent« genannt werden – vom Rest trennt. Ihr Leben sieht ganz anders aus: Sie haben andere Sorgen, andere Ziele und andere Lebensstile.

Der Durchschnittsamerikaner fragt sich besorgt, wie er das Studium seiner Kinder finanzieren soll, was geschieht, wenn ein Mitglied seiner Familie ernsthaft erkrankt, und wie er im Alter über die Runden kommen wird. Und auf dem Höhepunkt der Großen Rezession fragten sich zig Millionen Amerikaner voller Sorge, ob sie wohl ihr Eigenheim weiterhin halten können – viele von ihnen konnten es nicht.

Diejenigen, die dem obersten 1 Prozent angehören – und mehr noch diejenigen des obersten 0,1 Prozent –, haben andere Sorgen: Was für einen Privatjet sollen sie kaufen? Wie entziehen sie ihr Vermögen am besten dem Zugriff des Fiskus? (Und was geschieht, wenn die Vereinigten Staaten das Ende des Bankgeheimnisses in der Schweiz erzwingen – sind als Nächstes die Cayman Islands an der Reihe? Ist Andorra weiterhin sicher?) An den Stränden von Southampton auf Long Island beklagen sie sich über den Lärm, den ihre Nachbarn machen, wenn sie mit dem Hubschrauber aus New York City anreisen. Auch sie machen sich Sorgen darüber, was wohl geschehen würde, wenn sie von ihrem hohen Ross herunterfielen – es ist ein tiefer Sturz, und hin und wieder geschieht es tatsächlich.

Vor kurzem nahm ich an einer Abendgesellschaft teil, deren Gastgeber ein intelligentes und besorgtes Mitglied des »1 Prozents« war. Er war sich des tiefen gesellschaftlichen Grabens wohl bewusst und hatte führende Milliardäre, Wissenschaftler und andere Persönlichkeiten zusammengebracht, denen die Ungleichheit Sorgen zu bereiten schien. Während die abendliche Unterhaltung dahinplätscherte, hörte ich zufällig, wie ein Milliardär – der mit geerbtem Vermögen den Grundstock zu seinem Reichtum gelegt hatte – mit einem anderen Gast über »faule« Amerikaner sprach, die sich auf Kosten der anderen einen schönen Lenz machen wollten. Wenig später wechselten die beiden nahtlos zu dem Thema »Steueroasen«, wobei sie anscheinend die Ironie nicht bemerkten. Mehrmals an diesem Abend beschworen die versammelten Plutokraten das Schicksal von Marie Antoinette und die Guillotine herauf, um sich gegenseitig an die Risiken zu erinnern, die mit übermäßiger Ungleichheit verbunden sind: »Denkt an die Guillotine« wurde gewissermaßen zum Leitmotto des Abends. Und mit diesem Refrain bestätigten sie eine zentrale Botschaft dieses Buches: Das Ausmaß der Ungleichheit in den USA ist nicht unabänderlich, es ist nicht das Ergebnis unerbittlicher ökonomischer Gesetze. Es ist vielmehr eine Frage politischer Entscheidungen und Prozesse. Diese mächtigen Männer schienen zu sagen, dass sie etwas gegen die Ungleichheit unternehmen können.

Dies ist nur einer der Gründe dafür, weshalb die soziale Ungleichheit selbst unter dem 1 Prozent zu einem Anlass zur Sorge geworden ist: Immer mehr Superreiche erkennen, dass anhaltendes Wirtschaftswachstum, von dem ihr Wohlstand abhängt, unmöglich ist, wenn die Einkommen der großen Mehrheit der Bürger stagnieren.

Oxfam hat das Ausmaß der zunehmenden Ungleichheit in der Welt auf dem Jahrestreffen der politischen und wirtschaftlichen Elite in Davos im Jahr 2014 besonders eindrücklich veranschaulicht: Die Organisation wies darauf hin, dass die 85 reichsten Milliardäre der Welt zusammen genauso viel Vermögen besitzen wie die einkommensschwächsten 50 Prozent der Weltbevölkerung, etwa drei Milliarden Menschen.1 Ein Jahr später ist die Zahl auf nur noch 80 gesunken. Genauso dramatisch war eine weitere Erkenntnis der Oxfam-Studie: Dem reichsten Prozent der Welt gehört mittlerweile fast die Hälfte des weltweiten Vermögens – und schon 2016 könnte es genauso viel Vermögen besitzen wie die restlichen 99 Prozent zusammen.

Die tiefe Kluft hat sich über einen längeren Zeitraum entwickelt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die amerikanische Wirtschaft in einem historisch beispiellosen Tempo. Alle Bevölkerungsgruppen verzeichneten einen Einkommenszuwachs – der Wohlstand kam also allen zugute. Die Einkommen der Geringverdiener wuchsen schneller als die Einkommen der Spitzenverdiener.

Es war ein Goldenes Zeitalter in den USA, aber meine jungen Augen sahen auch dunkle Stellen. Ich wuchs am Südufer des Michigansees auf, in einer der archetypischen Industriestädte des Landes: Gary im Bundesstaat Indiana. Dort sah ich mit eigenen Augen Armut, Ungleichheit, Rassendiskriminierung und immer wieder Arbeitslosigkeit, wenn das Land von einer Rezession nach der anderen gebeutelt wurde. Arbeitskämpfe waren an der Tagesordnung, da Arbeiter einen fairen Anteil an dem zu Recht gelobten Wohlstand der USA einforderten. Ich hörte rhetorische Floskeln über die »amerikanische Mittelschichtgesellschaft«, aber die Menschen, die ich sah, besetzten zumeist die unteren Ränge, und ihre Stimmen gehörten nicht zu denen, die das Land prägten.

Wir waren nicht reich, aber meine Eltern hatten ihren Lebensstil an ihr Einkommen angepasst – und damit ist schon viel erreicht. Ich trug gebrauchte Kleidungsstücke meines Bruders, die meine Mutter immer zu reduzierten Preisen gekauft hatte, wobei sie stärker auf Haltbarkeit als auf kurzfristiges Sparen achtete: sparsam im Kleinen, doch im Großen verschwenderisch, wie sie zu sagen pflegte. Während meiner Kindheit half meine Mutter, die mitten in der Großen Depression einen Abschluss an der University of Chicago gemacht hatte, meinem Vater in seiner Versicherungsagentur. Wenn sie arbeitete, sah unsere »Hausangestellte«, Minnie Fae Ellis, nach uns, eine liebevolle, hart arbeitende und intelligente Frau. Noch als zehnjähriger Junge fragte ich mich verwundert, weshalb sie die Schule nur bis zur sechsten Klasse besucht hatte, in einem Land, das angeblich so reich war und angeblich jedem seine Chance bot. Weshalb sah sie nach mir statt nach ihren eigenen Kindern?

Nach meinem Highschool-Abschluss verfolgte meine Mutter ihren Lebenstraum weiter – sie setzte ihr Studium fort, um die Lehrerprüfung abzulegen und in der Grundschule zu unterrichten. Sie lehrte an öffentlichen Schulen in Gary; als die weißen Einwohner allmählich wegzogen, wurde sie eine der wenigen weißen Lehrkräfte in einer Schule, in der es de facto zu einer Rassentrennung gekommen war. Nachdem sie mit 67 Jahren in Pension gehen musste, begann sie am Northwest Indiana Campus der Purdue University zu unterrichten und sich darum zu bemühen, möglichst vielen einen Zugang zum Studium zu ermöglichen. In ihren Achtzigern trat sich schließlich in den Ruhestand.

Wie so viele meiner Zeitgenossen wünschte ich mir Veränderungen. Man sagte uns, es sei schwer und brauche Zeit, die Gesellschaft zu verändern. Auch wenn ich in Gary nicht unter denselben Entbehrungen litt wie meine gleichaltrigen Kameraden (abgesehen von einer leichten Diskriminierung), identifizierte ich mich mit ihnen. Erst Jahrzehnte später sollte ich die Einkommensstatistiken eingehend analysieren, aber ich hatte schon damals das Gefühl, dass Amerika nicht jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten war, das es zu sein behauptete: Einigen boten sich außerordentliche Chancen, anderen dagegen nur wenige. Durch harte Arbeit vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden – das war zumindest in mancher Hinsicht ein Mythos, denn für viele hart arbeitende Amerikaner wurde dieser Traum nie wahr. Ich gehörte zu den Glücklichen, denen das Land Chancen bot, und ging mit einem Stipendium des National Merit Scholarship Program ans Amherst College. Mehr als alles andere eröffnete mir diese Chance im Lauf der Zeit eine Welt weiterer Chancen.

Wie ich in »Der Mythos von Amerikas Goldenem Zeitalter« berichte, sattelte ich in meinem ersten Studienjahr in Amherst von Physik auf Volkswirtschaftslehre um. Ich wollte herausfinden, warum unsere Gesellschaft so funktionierte, wie sie es tat. Ich studierte nicht nur deshalb Volkswirtschaftslehre, um Ungleichheit, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit zu verstehen, sondern auch, weil ich etwas gegen die Probleme unternehmen wollte, die unser Land plagten. Das wichtigste Kapitel meiner Doktorarbeit am MIT, die ich unter der Aufsicht von Robert Solow und Paul Samuelson schrieb (beide wurden später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet), befasste sich hauptsächlich mit den Bestimmungsfaktoren der Einkommens- und Vermögensverteilung. Dieser Teil meiner Dissertation, den ich im Jahr 1966 auf einer Tagung der Econometric Society (der internationalen Vereinigung von Volkswirten, die sich auf Mathematik und statistische Anwendungen in der Volkswirtschaftslehre spezialisiert haben) vorstellte und der 1969 in der von dieser Vereinigung herausgegebenen Zeitschrift Econometrica veröffentlicht wurde, dient auch nach fünfzig Jahren noch vielfach als Bezugsrahmen für die Analyse dieser Phänomene.

Sowohl unter Laien als auch unter Ökonomen fand diese Abhandlung über die Ungleichheit allerdings nur eine begrenzte Leserschaft. Die Menschen interessierten sich schlichtweg nicht für dieses Thema. Seitens anderer Volkswirte schlugen mir gelegentlich regelrechte Anfeindungen entgegen. Daran änderte sich auch dann nichts, als die Ungleichheit in den USA deutlich zunahm – etwa zu der Zeit, als Ronald Reagan Präsident wurde. Ein bekannter Ökonom, der Nobelpreisträger Robert Lucas von der University of Chicago, formulierte es unmissverständlich: »Der verlockendste und … verderblichste aller Ansätze, die einer soliden wirtschaftswissenschaftlichen Forschung schaden, besteht darin, sich auf Verteilungsfragen zu konzentrieren.«2

Wie viele konservative Ökonomen behauptete auch er, den Armen könne man am besten dadurch helfen, dass man den volkswirtschaftlichen Kuchen insgesamt vergrößere. Wenn man sich allzu sehr auf das schmale Stück Kuchen, das den Armen gegeben wird, konzentriere, lenke dies nur von der viel wichtigeren Frage ab, wie man den Kuchen insgesamt vergrößern könne. Tatsächlich gibt es eine traditionsreiche volkswirtschaftliche Lehrmeinung, wonach sich die beiden Fragen (der Effizienz und der Distribution, der Größe des Kuchens und seiner Aufteilung) nicht voneinander trennen ließen und Ökonomen eine eng umschriebene, wichtige, aber schwierige Aufgabe hätten: nämlich Mittel und Wege zu ersinnen, um die Größe des Kuchens zu maximieren. Demnach war die Aufteilung des Kuchens eine politische Frage, aus der sich die Volkswirte heraushalten sollten.

Da Lucas’ Standpunkt von vielen in der Zunft der Ökonomen geteilt wurde, war es nicht weiter verwunderlich, dass Wirtschaftswissenschaftler der wachsenden Ungleichheit in den USA so gut wie keine Beachtung schenkten. Sie nahmen kaum Notiz von der Tatsache, dass die Einkommen der meisten US-Amerikaner trotz steigenden Bruttoinlandsprodukts (BIP) stagnierten. Diese Vernachlässigung hatte zur Folge, dass sie die ökonomischen Veränderungen nicht befriedigend erklären, die Konsequenzen einer wachsenden Ungleichheit nicht verstehen und keine politischen Handlungsempfehlungen erarbeiten konnten, die dieser Entwicklung vielleicht Einhalt geboten hätten. Aus diesem Grund habe ich im Jahr 2011 das Angebot der Zeitschrift Vanity Fair gern angenommen, diese Fragen einem größeren Publikum nahezubringen. Der daraus hervorgegangene Artikel »Des 1 Prozents, durch das 1 Prozent und für das 1 Prozent« fand weit mehr Leser als mein Econometrica-Artikel Jahrzehnte davor. Die neue soziale Realität, die ich in meinem Artikel in der Vanity Fair diskutierte – die 99 Prozent der Amerikaner, die im selben Boot stagnierender Einkommen sitzen –, wurde zum Slogan der Protestbewegung Occupy Wall Street: »Wir sind die 99 Prozent.« In diesem Beitrag stellte ich die Grundthese vor, die sich wie ein roter Faden durch die dortigen Artikel und meine späteren Publikationen zieht: Fast alle – darunter auch viele im 1 Prozent – stünden besser da, wenn es weniger Ungleichheit gäbe. Es liegt im aufgeklärten Selbstinteresse des 1 Prozents, die sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft zu verringern. Ich will keinen neuen Klassenkampf anzetteln, sondern vielmehr den sozialen Zusammenhalt stärken, der in dem Maße geschwunden ist, in dem die Spaltung unserer Gesellschaft zugenommen hat.

Im Mittelpunkt des Artikels stand die Frage, weshalb uns die starke Zunahme der Ungleichheit Sorgen bereiten sollte. Es ging dabei nicht nur um Wertvorstellungen und Moral, sondern auch um ökonomische Zusammenhänge, die Natur unserer Gesellschaft und unsere nationale Identität. Auch allgemeine strategische Interessen kamen ins Spiel. Wenngleich die Vereinigten Staaten weiterhin die stärkste militärische Macht sind – das US-Verteidigungsbudget allein hat einen Anteil von fast 50 Prozent an den weltweiten Militärausgaben –, haben die langen Kriege im Irak und in Afghanistan die Grenzen dieser Macht enthüllt: In Ländern, die den Vereinigten Staaten militärisch haushoch unterlegen waren, konnten wir nicht einmal kleine Gebiete dauerhaft unter unsere Kontrolle bringen. Die Stärke der Vereinigten Staaten war immer ihre »Soft Power« und insbesondere ihr moralischer und ökonomischer Einfluss, das Beispiel, das sie anderen geben, und die Anziehungskraft ihrer Ideen, einschließlich ihrer ökonomischen und politischen Ordnung.

Aufgrund der wachsenden Ungleichheit hat das amerikanische Wirtschaftsmodell leider für weite Teile der Bevölkerung seine Versprechungen nicht eingelöst – der typischen amerikanischen Familie geht es heute, unter Berücksichtigung der Inflation, materiell schlechter als vor 25 Jahren. Selbst der Prozentsatz der in Armut lebenden Bevölkerung hat zugenommen. Auch wenn das aufstrebende China durch hohe Ungleichheit und Demokratiedefizite gekennzeichnet ist, hat die chinesische Wirtschaft die Erwartungen der meisten Bürger übertroffen – in dem gleichen Zeitraum, in dem das Einkommen der amerikanischen Mittelschicht stagnierte, hat sie etwa 500 Millionen Menschen aus der Armut herausgeholt. Ein Wirtschaftsmodell, das der Mehrheit der Menschen keinen wachsenden Wohlstand bringt, wird für andere Länder kaum zu einem nachahmenswerten Vorbild.

Aus dem Artikel in der Vanity Fair ging mein Buch Der Preis der Ungleichheit hervor, in dem ich viele der dort nur angeschnittenen Themen vertiefte, und dies wiederum führte dazu, dass mich die New York Times im Jahr 2013 einlud, eine Reihe von Artikeln über Ungleichheit zu betreuen, die wir »The Great Divide« (»Die große Kluft«) nannten. Ich hoffte, die Öffentlichkeit durch diese Serie noch stärker für das Problem zu sensibilisieren, vor dem wir standen: Die USA waren nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das sie zu sein glaubten – und für das sie auch viele andere hielten. Wir waren zu dem Industrieland mit der höchsten Ungleichheit geworden, und wir gehörten zu den Ländern mit der niedrigsten Chancengleichheit. Unsere Ungleichheiten verdeutlichten sich in vielfältiger Weise. Aber sie waren nicht unvermeidlich und das zwangsläufige Resultat ökonomischer Gesetzmäßigkeiten; sie waren vielmehr das Ergebnis politischer Entscheidungen und Prozesse. Verschiedene Strategien konnten zu jeweils ganz anderen Ergebnissen führen: zu besserer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (wie auch immer diese gemessen wird) und zu geringerer Ungleichheit.

Der ursprüngliche Artikel in der Vanity Fair und die Serie von Artikeln, die ich für die New York Times schrieb, bilden den Kern dieses Buches. Außerdem verfasste ich in den letzten fünfzehn Jahren eine monatliche Kolumne für Project Syndicate, die in mehreren Zeitungen erschien. Das ursprüngliche Anliegen von Project Syndicate war es, Ländern, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf ein marktwirtschaftliches System umstellten, moderne ökonomische Theorien nahezubringen. Im Lauf der Zeit wurde es so erfolgreich, dass die dort veröffentlichten Artikel mittlerweile in Zeitungen auf der ganzen Welt erscheinen. Viele der Artikel, die ich dafür geschrieben habe, befassten sich mit dem einen oder anderen Aspekt der Ungleichheit, und einige davon – sowie Beiträge, die in verschiedenen anderen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden – habe ich in dieses Buch aufgenommen.

Obwohl die Ungleichheit im Mittelpunkt dieser Aufsätze steht, habe ich beschlossen, auch einige über die Große Rezession mit aufzunehmen – Artikel, die ich im Vorfeld der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 sowie danach geschrieben habe, als die USA und die ganze Welt in die große Malaise schlitterten. Diese Beiträge verdienen einen Platz in diesem Band, weil die Finanzkrise und die Ungleichheit sehr eng miteinander zusammenhängen: Ungleichheit führte mit zu der Krise, die Krise verschlimmerte bereits bestehende Ungleichheiten, und die Verschlimmerung dieser Ungleichheiten hat eine starke konjunkturelle Abwärtsdynamik geschaffen, die eine stabile Erholung umso schwieriger macht. Wie die Ungleichheit selbst, so hatten weder die Tiefe noch die Dauer der Krise etwas Unabwendbares. Tatsächlich war die Krise kein unvorhersehbares Ereignis höherer Gewalt, wie eine einmal in hundert Jahren auftretende Flut oder ein Erdbeben. Sie war etwas, für das wir selbst gesorgt haben; wie übermäßige Ungleichheit war auch sie das Ergebnis politischer Weichenstellungen.

In diesem Buch geht es vor allem um die ökonomischen Faktoren der Ungleichheit. Aber wie gerade dargelegt, kann man Politik und Ökonomie nicht präzise voneinander trennen. In verschiedenen Aufsätzen in diesem Band und in meinem Buch Der Preis der Ungleichheit beschreibe ich die Wechselwirkungen zwischen Politik und Ökonomie: den Teufelskreis, der mehr ökonomische Ungleichheit in politische Ungleichheit übersetzt, insbesondere in dem politischen System der USA, in dem Geld eine so ungezügelte Macht besitzt. Politische Ungleichheit steigert ihrerseits ökonomische Ungleichheit. Aber dieser Prozess hat sich noch verstärkt, seitdem viele Durchschnittsbürger von dem politischen Prozess enttäuscht sind: Im Zuge der Krise von 2008 flossen Hunderte von Milliarden Dollar in die Bankenrettung, während die Eigenheimbesitzer weitgehend leer ausgingen. Unter dem Einfluss des Finanzministers Timothy Geithner und des Vorsitzenden des Nationalen Wirtschaftsrats Larry Summers – beide gehörten zu den Architekten der Deregulierungspolitik, die die Krise erst anfachte – hat die Regierung Obama Bemühungen zur Umstrukturierung von Hypotheken, die darauf abzielten, Millionen von Amerikanern, die unter den ausbeuterischen und diskriminierenden Kreditpraktiken der Banken gelitten hatten, zu entlasten, nicht unterstützt beziehungsweise offen abgelehnt. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass so viele Menschen nichts mehr von der Politik erwarten.

Ich habe der Versuchung widerstanden, die hier zusammengestellten Artikel zu überarbeiten oder gar zu aktualisieren. Und ich habe auch nicht die vielen »Kürzungen« in den ursprünglichen Aufsätzen rückgängig gemacht – wichtige Ideen, die ich weglassen musste, da ich die vorgegebene Anzahl der Wörter einhalten wollte.3 Das journalistische Format hat vieles für sich: Die Beiträge sind kurz und prägnant und greifen aktuelle Probleme auf, ohne all die Einschränkungen und Vorbehalte, die so viele wissenschaftliche Publikationen kennzeichnen. Als ich diese Artikel schrieb, mit denen ich mich an den oftmals hitzigen aktuellen Debatten beteiligte, behielt ich immer die tieferen Botschaften im Auge, um die es mir ging. Ich hoffe, dass diese grundlegenden Anliegen in diesem Buch deutlich werden.

Als Vorsitzender des wirtschaftswissenschaftlichen Beirats und als Chefökonom der Weltbank schrieb ich gelegentlich Kommentare, tat es aber erst regelmäßig, als mir Project Syndicate im Jahr 2000 anbot, eine monatliche Kolumne zu verfassen. Diese Herausforderung hat meinen Respekt für all jene enorm erhöht, die ein- oder zweimal pro Woche eine Kolumne schreiben müssen. Aber eine der größten Herausforderungen beim Schreiben einer monatlichen Kolumne ist die richtige Auswahl: Welche der zahllosen ökonomischen Fragestellungen, die in jedem Monat weltweit auftauchen, wird auf das größte Interesse stoßen und sich als Aufhänger für die Übermittlung einer Botschaft von größerer Tragweite eignen?

Im vergangenen Jahrzehnt waren vier unserer zentralen gesellschaftlichen Probleme die »große Kluft« (zwischen Arm und Reich) – die enorme Ungleichheit, die in den Vereinigten Staaten und vielen anderen Industrieländern immer deutlicher zutage tritt –, wirtschaftliches Missmanagement, Globalisierung und die jeweilige Rolle von Staat und Markt. Dieses Buch zeigt, dass die vier Themen miteinander zusammenhängen. Die wachsende Ungleichheit war sowohl Ursache als auch Folge unserer makroökonomischen Probleme, der Krise von 2008 und der sich daran anschließenden langen Stagnation. Trotz der Tatsache, dass die Globalisierung das Wachstum angekurbelt haben mag, hat sie höchstwahrscheinlich auch die Ungleichheit erhöht – und zwar vor allem deshalb, weil wir die Globalisierung nicht so gestaltet haben, wie es notwendig gewesen wäre. Die Fehlsteuerung unserer Wirtschaft und das Missmanagement der Globalisierung hängen ihrerseits mit den Interessen unserer Politik zusammen – einer Politik, die in zunehmendem Maße die Interessen des 1 Prozents repräsentiert. Aber wenngleich die Politik unsere gegenwärtigen Probleme mitverursacht hat, können wir nur mit ihr gemeinsam Lösungen finden: Der Markt wird das von sich aus nicht leisten. Völlig unregulierte Märkte führen zu mehr Monopolmacht, mehr unlauteren Praktiken im Finanzsektor und mehr unausgewogenen Handelsbeziehungen. Allein eine Reform unserer Demokratie – dadurch, dass wir die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber allen Bürgern stärken und erreichen, dass sie ihre Politik stärker am Gemeinwohl ausrichtet – wird es uns ermöglichen, die große Kluft zu überbrücken und den Wohlstand unseres Landes wieder gleichmäßiger zu verteilen.

Die in diesem Buch versammelten Aufsätze habe ich acht Themenbereichen zugeordnet. Jeder Teil beginnt mit einer kurzen Einleitung, die den Kontext erklärt, in dem die Artikel geschrieben wurden, oder die einige der Themen streift, auf die ich in den engen Grenzen der hier wieder abgedruckten Artikel nicht eingehen konnte.

Ich beginne mit »Auftakt: Erste Risse«. In den Jahren vor der Krise konnten unsere Wirtschaftsführer einschließlich des Chefs der Notenbank, Alan Greenspan, mit einer New Economy prahlen, in der wir ökonomische Schwankungen, diese Geißel der Vergangenheit, hinter uns lassen würden. Die sogenannte »Great Moderation« (große Mäßigung) brachte eine neue Ära niedriger Inflation und scheinbar hohen Wachstums mit sich. Aber wer auch nur ein bisschen genauer hinsah, erkannte sofort, dass all dies bloß eine Fassade war, hinter der sich ökonomisches Missmanagement und politische Korruption großen Stils verbargen (ein Teil davon war durch den Enron-Skandal ans Tageslicht gekommen). Schlimmer noch: Das Wachstum, das sich einstellte, kam den meisten Amerikanern nicht zugute. Die große Kluft wurde immer breiter. Die Kapitel beschreiben die Vorgeschichte der Krise und ihre Auswirkungen.

Während ich in Teil I einen Überblick über einige Schlüsselprobleme der Ungleichheit gebe (unter anderem mit meinem Artikel aus der Vanity Fair »Des 1 Prozents, durch das 1 Prozent und für das 1 Prozent« und meinem einleitenden Beitrag zur Serie »The Great Divide« in der New York Times), geht es in Teil II um zwei Artikel, die meine persönlichen Erinnerungen aufgreifen und das frühe Erwachen meines Interesses an dem Thema zeigen. Die Teile III, IV und V befassen sich mit den Dimensionen, Ursachen und Folgen der Ungleichheit; Teil VI präsentiert eine Reihe von Diskussionen politischer Schlüsselkonzepte. Teil VII befasst sich mit Ungleichheit und den politischen Maßnahmen anderer Länder, um sie zu bekämpfen. In Kapitel VIII befasse ich mich schließlich mit einer der wesentlichen Ursachen der heutigen Ungleichheit in den USA – mit der anhaltenden Schwäche unseres Arbeitsmarktes. Ich stelle die Frage, wie wir die Amerikaner wieder in Arbeit bringen und anständige Jobs mit auskömmlichen Löhnen schaffen können. Als Nachwort gibt es ein kurzes Interview mit Cullen Murphy, dem Herausgeber der Vanity Fair, in dem es um einige der Fragen geht, die bei Diskussionen über Ungleichheit immer wieder gestellt werden: Wann schlug Amerika die falsche Richtung ein? Sind die 1 Prozent nicht diejenigen, die die Arbeitsplätze schaffen, sodass mehr soziale Gleichheit zu guter Letzt auch den 99 Prozent schaden wird?

AUFTAKTErste Risse

DER AUSGANGSPUNKT DIESES BUCHES ist die Große Rezession – die mehrere Jahre, bevor ich meine Kolumne über die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich (»The Great Divide«) zu schreiben begann, einsetzte. Die ersten Aufsätze erschienen im Dezember 2007 in der Vanity Fair – im selben Monat, in dem die US-Wirtschaft in eine Abschwungphase eintrat, die sich als die schlimmste seit der Großen Depression erweisen sollte. In den drei Jahren davor hatte ich zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer Ökonomen vor der drohenden Implosion gewarnt. Tatsächlich waren die Warnzeichen unübersehbar – aber allzu viele Leute verdienten zu viel Geld. Es war eine Party im Gange, zu der allerdings nur ein paar der oberen Zehntausend eingeladen waren, während wir Übrigen die Rechnung serviert bekamen. Doch leider waren jene, die eigentlich für den wohlgeordneten Ablauf des Wirtschaftsgeschehens sorgen sollten, etwas zu eng mit denjenigen verbandelt, die die Party schmissen und den ganzen Spaß hatten (und den ganzen Reibach machten). Da diese Kapitel die Vorgeschichte der Krise beleuchten, habe ich sie mit in dieses Buch aufgenommen. Die sich immer breiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich hat maßgeblich zur Entstehung der Großen Rezession in Amerika beigetragen.

Stecken wir zunächst einmal den Rahmen ab: Angeheizt durch ein Spekulationsfieber bei Technologie-Aktien, deren Kurse steil anstiegen, kam es in den Neunzigerjahren zu einer ausgeprägten Boomphase. Nachdem die Blase geplatzt war, schlitterte die Wirtschaft im Jahr 2001 in eine Rezession. Das Allheilmittel der Regierung George W. Bush für jedes Problem waren Steuersenkungen – und insbesondere Steuersenkungen für die Vermögenden.

Für alle, die während der Regierung Clinton hart daran gearbeitet hatten, das Haushaltsdefizit abzubauen, war diese Strategie aus mehreren Gründen beunruhigend. Sie brachte die Defizite zurück – und machte damit all die Bemühungen der zurückliegenden acht Jahre zunichte. Nur um das Defizit zu verringern, hatte die Regierung Clinton Investitionen in die Infrastruktur, in das Bildungswesen und in Hilfsprogramme für sozial Schwache hinausgeschoben. Mit einigen dieser Maßnahmen war ich nicht einverstanden gewesen – meines Erachtens waren kreditfinanzierte Investitionen in die Zukunft unseres Landes ökonomisch durchaus sinnvoll, und ich befürchtete, eine zukünftige Regierung könnte diese hart erkämpften Erfolge für weniger edle Ziele vergeuden.

Als die US-Wirtschaft im Jahr 2001 in eine Rezession rutschte, waren die politischen Entscheidungsträger einhellig der Meinung, ein Konjunkturprogramm sei sinnvoll und notwendig. Doch hätte sich die Konjunktur mithilfe der Investitionen, die wir auf die lange Bank geschoben hatten, weitaus besser ankurbeln lassen als mit den von der Regierung Bush beschlossenen Steuersenkungen für die Reichen.4 Die wachsende Ungleichheit in den USA gab bereits damals Anlass zur Sorge, und diese ungerechten Steuersenkungen machten alles nur noch schlimmer. Ich begann meinen Artikel »Bushs Steuerplan – die Gefahren« in der New York Review of Books vom 13. März 2003 mit diesen Worten: »Selten haben so wenige von so vielen so viel bekommen.«

Schlimmer noch, ich hielt die Steuersenkungen für relativ wirkungslos. Und dies stellte sich als richtig heraus – ein Punkt, auf den ich in diesem Buch immer wieder zurückkomme. Ungleichheit schwächt alles in allem die Gesamtnachfrage und die gesamtwirtschaftliche Leistungskraft. Die zunehmende Ungleichheit in den USA bewirkte eine Geldumverteilung von der Basis zur Spitze der Pyramide, und da die Wohlhabendsten einen geringeren Prozentsatz ihres Geldes ausgeben als die Einkommensschwächsten, dämpfte dies die Gesamtnachfrage. In den Neunzigerjahren verschleierten wir diesen Missstand, indem wir die Technologieblase schufen – und für einen Investitionsboom sorgten. Doch als die Technologieblase platzte, fiel die Wirtschaft in eine Rezession. Bush reagierte mit einer Steuersenkung für die Reichen. Doch da die Verbraucher nur negative Zukunftserwartungen hatten, blieb der erhoffte Effekt der Steuersenkungen zur Ankurbelung der Wirtschaft weitgehend aus. Die weitere Absenkung der Kapitalertragsteuer – zusätzlich zu jener, die ein paar Jahre zuvor von Präsident Clinton durchgeführt worden war – förderte nur die Spekulation. Da hauptsächlich die Spitzenverdiener von dieser Steuersenkung profitierten, war sie besonders ineffektiv und führte dazu, dass die Ungleichheit stark anstieg.

Die wirksamsten Instrumente zur Stärkung der Nachfrage und zur Förderung der Gleichheit sind fiskalpolitische – steuer- und ausgabenpolitische – Maßnahmen, über die in den USA der Kongress entscheidet. Eine mangelhafte Fiskalpolitik setzt die Geldpolitik, die der US-Notenbank (Federal Reserve System, kurz: Fed) obliegt, extrem unter Druck. Die Fed kann die Konjunktur (manchmal) dadurch ankurbeln, dass sie die Zinsen senkt und die Regulierung lockert. Aber diese geldpolitischen Maßnahmen sind gefährlich und sollten mit einem großen Warnhinweis versehen werden: »Sehr behutsam einsetzen und dies auch nur unter der strengen Aufsicht jener, die alle Risiken umfassend verstehen.« Leider hatten die geldpolitischen Entscheidungsträger diesen Warnhinweis nicht gelesen; außerdem waren sie naive Marktfundamentalisten, die glaubten, Märkte seien immer effizient und stabil. Während sie die Risiken ihrer Maßnahmen für die Wirtschaft – und auch für den Staatshaushalt – unterschätzten, schien sie die Tag für Tag zunehmende Ungleichheit nicht weiter zu stören. Das Ergebnis ist mittlerweile bekannt: Sie erzeugten eine Blase, und ihre Politik führte dazu, dass die Einkommens- und Vermögensungleichheit beispiellos zunahm. Die Fed hielt den Motor der Wirtschaft mit einer Niedrigzinspolitik und laxer Regulierung am Laufen. Aber der Preis dafür war eine Immobilienpreisblase. Jeder hätte erkennen können, dass die Immobilienpreisblase und der Konsumboom, den sie hervorbrachte, lediglich eine zeitlich befristet wirksame Symptombehandlung sein konnten. Blasen platzen immer. Unser Konsumrausch bedeutete, dass (die unteren) 80 Prozent der Amerikaner durchschnittlich 110 Prozent ihres Einkommens ausgaben. Im Jahr 2005 liehen wir uns als Nation über 2 Milliarden Dollar täglich im Ausland. Das ließ sich langfristig nicht durchhalten, und in meinen Reden und Schriften habe ich immer wieder davor gewarnt – wobei ich einen meiner Vorgänger als Vorsitzenden des wirtschaftswissenschaftlichen Beirats (des US-Präsidenten) zitierte –, dass das, was langfristig nicht tragfähig ist, auch keinen Bestand haben wird.

Als die Fed in den Jahren 2004 und 2005 die Leitzinsen anzuheben begann, rechnete ich damit, dass die Immobilienpreisblase platzen würde. Das geschah nicht, auch deshalb, weil wir eine Art Gnadenfrist erhielten: Die langfristigen Zinssätze stiegen nicht gleichzeitig an. Am 1. Januar 2006 sagte ich voraus, dass dies nicht so weitergehen könne.5 Bald darauf platzte die Blase, aber es sollte noch gut zwei Jahre dauern, ehe sich die Wirkungen voll entfalteten. So schrieb ich wenig später: »Genauso vorhersehbar wie das Platzen der Immobilienblase sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben …«6 In Anbetracht der Tatsache, dass »nach manchen Berechnungen über zwei Drittel der Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion und der Beschäftigung in den [zurückliegenden] sechs Jahren … mit der Entwicklung des Immobiliensektors zusammenhängen – worin sich sowohl eine erhöhte Neubautätigkeit als auch eine Zunahme des Bestandes der Hypothekendarlehen widerspiegeln, die beide einen Konsumrausch stützen«, hätte es niemanden überraschen dürfen, dass die anschließende Rezession tief und lange war.7

Die Artikel in diesem ersten Abschnitt beschreiben die politischen Maßnahmen, die die Grundlagen für die Große Rezession legten: Was haben wir falsch gemacht? Wer trägt die Schuld? Während die maßgeblichen Akteure und Entscheidungsträger auf den Finanzmärkten, bei der US-Notenbank und im US-Finanzministerium gern so tun, als wäre dies einfach so passiert – als handele es sich um ein unvermeidbares Ereignis, um eine Sintflut, die alle hundert Jahre über uns hereinbreche –, war ich schon damals anderer Ansicht: Die Krise wurde von Menschen verursacht. Heute bin ich sogar noch entschiedener dieser Meinung. Es war etwas, dass das oberste 1 Prozent (tatsächlich ein Bruchteil dieses 1 Prozents) dem Rest der Gesellschaft angetan hat. Die Tatsache, dass es überhaupt geschehen konnte, war schon an sich ein Beleg für die große Spaltung.

Wie es zur Krise kam

DASS DIE GROSSE REZESSION OPFER FORDERTE, ist unbestritten. Aber wer waren die Täter dieses »Verbrechens«? Wenn wir dem Justizministerium, das keinen der Chefs der Großbanken anklagte, die in diesem Drama eine zentrale Rolle spielten, Glauben schenken würden, war dies ein Verbrechen ohne Täter. Ich bin nicht dieser Meinung – wie übrigens auch die meisten Amerikaner. In drei der hier wieder abgedruckten Artikel will ich herausfinden, wer die US-Wirtschaft auf dem Gewissen hat, und den historischen Bogen nachzeichnen, der uns in diese Krise führte.8 Ich wollte weiter ausholen und detaillierter in die Vergangenheit zurückgehen. Der schlecht geplante und ausgeführte Krieg im Irak, der uns letztlich Billionen von Dollar kosten wird, war das aufschlussreichste Beispiel.9 Die Hauptschuld trägt meines Erachtens jedoch ideologische Voreingenommenheit, verbunden mit dem Druck von Interessengruppen – dieselbe Kombination, die zu der wachsenden Ungleichheit in den USA geführt hat. Ich möchte hier insbesondere auf die Überzeugung verweisen, freie, unbeschränkte Märkte seien notwendigerweise effizient und stabil. Wir sollten es besser wissen: Starke ökonomische Schwankungen haben den Kapitalismus von Anfang an begleitet. Einige haben behauptet, der Staat solle sich darauf beschränken, die Makrostabilität zu gewährleisten – als würde Marktversagen nur in großen »Makrodosen« auftreten. Ich behaupte das Gegenteil: Die Makrokrisen sind nur die Spitze des Eisbergs, viel unauffälliger sind die zahllosen Ineffizienzen. Die Krise selbst liefert dafür unzählige Beispiele: Der Zusammenbruch des Marktes war das Ergebnis zahlreicher Fehlentscheidungen bei der Absicherung von Risiken und der Kapitalzuteilung – Fehler, die von Hypothekenbanken, Investmentbanken und Ratingagenturen, ja von Millionen von Beschäftigten im Finanzsektor und in anderen Branchen gemacht wurden.10

Aber ich behaupte auch, dass bei allen, die für freie Märkte eintreten, ziemlich viel Heuchelei im Spiel ist. Dies bewahrheitete sich einmal mehr in der Großen Rezession: Die vermeintlichen Befürworter einer freien Marktwirtschaft nahmen nur allzu bereitwillig staatliche Förderung an – einschließlich massiver Rettungspakete. Solche staatlichen Interventionen verzerren das Wirtschaftsgeschehen und mindern die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Aber sie haben auch Verteilungseffekte – da die Reichen dadurch noch reicher werden, während alle anderen die Rechnung bezahlen müssen, womit wir beim Thema dieses Buches wären.

Als ich darüber nachdachte, wer die amerikanische Volkswirtschaft zugrunde richtete, stand für mich schnell fest, dass der damalige Präsident ganz oben auf der Liste der Verdächtigen zu finden ist. In dem Beitrag »Die wirtschaftlichen Folgen von Mr. Bush« werden einige der wirtschaftlichen Folgen des Präsidenten beziehungsweise seiner Politik ausführlich erläutert. Obwohl Konservative gegen Defizite wettern, scheinen sie ein besonderes Talent dafür zu besitzen, diese zu erzeugen. In der Amtszeit von Präsident Reagan kam es erstmals zu hohen Haushaltsdefiziten, und erst unter Präsident Clinton wurden aus den Defiziten wieder Überschüsse. Aber Bush hat diese Situation schnell wieder rückgängig gemacht – die größte Wende (in die falsche Richtung) in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Dies war zum einen darauf zurückzuführen, dass er zwei Kriege mit der Kreditkarte bezahlte, zum zweiten eine Folge der Steuersenkungen für die Reichen und zum dritten ein Ergebnis seiner Großzügigkeit gegenüber Pharmakonzernen und der Ausweitung anderer Formen der »Konzern-Wohlfahrt«. Zu Letzterer zählt eine zunehmende staatliche Unterstützung für finanzstarke Konzerne aus einem breiten Spektrum unterschiedlichster Sektoren. Ein Teil dieser Beihilfen versteckt sich im Steuersystem beziehungsweise in staatlichen Bürgschaften, andere fließen in geradezu schamlos unverhohlener Weise. (Während wir gleichzeitig das soziale Sicherungsnetz für bedürftige Privatpersonen zurückstutzen, mit der Begründung, wir könnten es uns nicht leisten.)

Wie ich immer wieder geschrieben habe, sind Defizite nicht unbedingt ein Problem – nämlich dann nicht, wenn das Geld für Investitionen ausgegeben wird, und insbesondere dann nicht, wenn diese Ausgaben in einer konjunkturellen Abschwungphase getätigt werden.11 Aber die Defizite, die Bush zu verantworten hatte, waren besonders problematisch: Sie fielen in eine Zeit scheinbarer Prosperität, auch wenn dieser Wohlstand nur einige wenige erreichte. Diese Ausgaben stärkten nicht die Volkswirtschaft insgesamt, sondern spülten lediglich Geld in die Kassen einiger weniger Konzerne sowie in die Brieftaschen der Superreichen. Am beunruhigendsten waren die Stürme, die ich heraufziehen sah: Würden wir das nötige Kleingeld haben, um den Stürmen standzuhalten? Würden die Konservativen zu diesem Zeitpunkt wieder strenge Haushaltsdisziplin verlangen und ausgerechnet dann eine Sparpolitik verordnen, wenn die Wirtschaft das genaue Gegenteil benötigte?

Besonders wichtig für das Thema dieses Buches ist jedoch die Tatsache, dass in den Bush-Jahren die Ungleichheit zunahm. Bush selbst hat es nie zugegeben, geschweige denn etwas dagegen unternommen – im Gegenteil, er hat alles noch schlimmer gemacht. Dies war ein kurzer Artikel, in dem ich nicht alle Fehler auflisten konnte, die gemacht wurden. Mir entging, dass die Ungleichheit in den Clinton-Jahren zwar leicht zurückging, das inflationsbereinigte Einkommen eines typischen Amerikaners (mittleres Einkommen) aber unter Bush fiel – und dies war auch schon der Fall, bevor die Rezession alles noch viel schlimmer machte. Die Zahl der nicht krankenversicherten Amerikaner nahm zu. Und auch die Arbeitsplatzunsicherheit wuchs – also das Risiko, seine Stelle zu verlieren.12

Aber sein vielleicht gravierendster Fehler war, dass er die Voraussetzungen für die Große Rezession schuf. Mit diesen Themen befasse ich mich ausführlicher in den folgenden beiden Kapiteln. Bushs Steuergeschenke an die Reichen, um die es weiter oben ging, spielen in dem Drama eine herausragende Rolle – während sie die Konjunktur nicht nennenswert ankurbelten, verschärften sie die ohnehin schon große Ungleichheit innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Sie veranschaulichen ein zweites Thema, auf das ich später zurückkommen werde und das mittlerweile vom Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgegriffen wurde, einer Organisation, die nicht für »radikale« Positionen bekannt ist: Ungleichheit geht mit Instabilität einher.13 Die Vorgeschichte der Krise von 2008 zeigt, wie dies geschieht: Zentralbanken erzeugen als Reaktion auf eine durch wachsende Ungleichheit geschwächte Wirtschaft Spekulationsblasen. Irgendwann platzt die Blase – mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft. (Selbstverständlich hätte die Fed dieses Risiko kennen müssen. Aber deren Entscheidungsträger legten eine beinahe blinde Marktgläubigkeit an den Tag, und, wie Bush – der Alan Greenspan als Präsident der Notenbank bestätigte und später seinen ehemaligen obersten wirtschaftspolitischen Berater Ben Bernanke zum Fed-Chef ernannte –, so schien auch die Institution der Tag für Tag wachsenden Ungleichheit in den USA nur wenig Beachtung zu schenken.)

Gleichzeitig verdeutlicht dies ein drittes Thema: den Einfluss politischer Interessen. Es kommt ebenso sehr auf politische Inhalte wie auf politische Prozesse an. Die Vereinigten Staaten hätten mit Investitionen in die Zukunft des Landes oder mit einer die Ungleichheit bekämpfenden Politik auf die geschwächte Wirtschaft reagieren können. Beides hätte die Wirtschaft gestärkt und die Gesellschaft gerechter gemacht. Doch wirtschaftliche Ungleichheit führt zwangsläufig zu politischer Ungleichheit. Von einem Staat mit einer gespaltenen Gesellschaft ist genau das zu erwarten, was in Amerika geschah. Statt mehr Investitionen bekamen wir Steuersenkungen und »Konzern-Wohlfahrt« für die Reichen. Statt einer strengeren Regulierung, die die Wirtschaft stabilisiert und gewöhnliche Bürger geschützt hätte, erhielten wir eine Deregulierung, die zu Instabilität führte und viele Amerikaner zu einer leichten Beute der Banken machte.

Deregulierung

UM DIE VORGESCHICHTE der Großen Rezession zu verstehen, muss man zeitlich zurückgehen, nämlich zu der Deregulierungsbewegung, die durch Präsident Reagan starken Auftrieb erhielt. In »Narren des Kapitalismus« identifiziere ich fünf entscheidende »Fehler«, die allgemeine Trends in unserer Gesellschaft zeigen und die sich zugleich gegenseitig verstärkten – was in dem schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit 75 Jahren gipfelte. Einige davon veranschaulichen die neue Macht des Finanzsektors – die Ernennung von Greenspan, weil er die Deregulierung unterstützte, die Deregulierung selbst, die unter Reagan begann und von Clinton fortgesetzt wurde, einschließlich des Niederreißens regulatorischer Mauern zwischen Investment- und Geschäftsbanken.14

Die Aufseher vernachlässigten ihre Pflichten, aber die Verbrechen selbst wurden vom Finanzsektor begangen. Als ich diese Artikel schrieb, hatten wir nur einen oberflächlichen Eindruck davon, wie schlecht die Lage wirklich war. Wir wussten, dass die Banken Risiken kaum abgesichert und Kapital fehlgeleitet hatten – während sie gleichzeitig ihren Spitzenmanagern gewaltige Boni dafür zahlten, dass sie so »hervorragende« Arbeit leisteten. Wir wussten, dass das Bonussystem selbst Anreize für überzogene Risikobereitschaft und kurzsichtiges Verhalten geschaffen hatte. Wir wussten, dass die Ratingagenturen bei ihrer Aufgabe der Risikobewertung jämmerlich versagt hatten. Wir wussten, dass die Verbriefung, die lange Zeit als wirksames Instrument der Risikoabsicherung gerühmt worden war, Anreize für Hypotheken-Anbieter geschaffen hatte, die Standards abzusenken (ein Beispiel für das Problem des »moralischen Risikos«). Und wir wussten, dass die Banken mit unlauterer Kreditvergabe begonnen hatten.

Aber wir kannten noch nicht das ganze Ausmaß der moralischen Verkommenheit der Banken, ihrer Bereitschaft, ausbeuterische Praktiken anzuwenden, oder ihrer Rücksichtslosigkeit. Wir wussten zum Beispiel nicht, wie sehr sie bei der Kreditvergabe bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminierten. Wir wussten nichts von ihrer Manipulation von Devisen- und anderen Märkten. Wir wussten nichts von ihrer schludrigen Buchführung, in dem Bestreben, immer mehr hochriskante Hypothekendarlehen auszugeben. Und wir kannten noch nicht das ganze Ausmaß betrügerischen Verhaltens, nicht nur seitens der Banken, sondern auch seitens der Ratingagenturen und anderer Marktteilnehmer. Der Wettbewerb unter den Ratingagenturen um eine hohe Bonitätsbewertung (sie wurden nur bezahlt, wenn die Investmentbanken ihre Ratings »verwendeten«, und sie verwendeten nur die günstigsten Ratings) hatte diese dazu bewogen, absichtlich relevante Informationen zu ignorieren, die vielleicht ein weniger günstiges Rating ergeben hätten.

Die hier veröffentlichten Aufsätze beschreiben die Fehlentwicklungen im Finanzsektor.

Finanzmärkte und die Zunahme der Ungleichheit

IN DIESEN ARTIKELN und an anderer Stelle dieses Buches befasse ich mich eingehend mit dem Finanzsektor, und dies aus gutem Grund. Wie Jamie Galbraith von der University of Texas überzeugend gezeigt hat, besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der zunehmenden Finanzialisierung der weltweiten Volkswirtschaften und der wachsenden Ungleichheit.15 Der Finanzsektor steht beispielhaft für das, was in unserer Wirtschaft misslungen ist – er hat maßgeblichen Anteil an der Zunahme der Ungleichheit, er ist die Hauptquelle von Instabilität in unserer Wirtschaft und eine wichtige Ursache für ihre Leistungsschwäche in den letzten dreißig Jahren. Das war selbstverständlich nicht beabsichtigt. Die Liberalisierung der Finanzmärkte (»Deregulierung«) sollte Finanzexperten erlauben, knappes Kapital effizient zu verwenden und Risiken besser abzusichern; dies sollte zu höherem und stabilerem Wachstum führen. Die Befürworter eines starken Finanzsektors hatten in einem Punkt recht: Eine leistungsstarke Wirtschaft erfordert einen leistungsstarken Finanzsektor. Aber wie wir schon mehrfach gesehen haben, funktioniert der Finanzsektor von sich aus nicht besonders gut; er benötigt eine strenge Regulierung, die konsequent durchgesetzt werden muss – um Schaden von der übrigen Gesellschaft abzuwenden und auch um sicherzustellen, dass er die Aufgaben erfüllt, die er erfüllen soll. Leider konzentrierten sich die Diskussionen über eine Reform des Finanzsektors in jüngster Zeit nur auf die erste Hälfte dieser Aufgabe – auf die Frage, wie man verhindern kann, dass die Banken und andere Finanzinstitute der übrigen Gesellschaft schaden, indem sie diese einer überzogenen Risikobereitschaft oder einer anderen Form von Ausbeutung aussetzen –, während sie der zweiten nur wenig Beachtung schenkten. Die Krise, der sich die Vereinigten Staaten und die Welt im Jahr 2008 gegenübersahen, war, wie bereits erwähnt, eine von Menschen verschuldete Katastrophe. Ich hatte schon einmal erlebt, wie überzeugende (wenn auch falsche) Ideen zusammen mit mächtigen Interessen zu verheerenden Ergebnisse führen können. Als Chefökonom der Weltbank hatte ich beobachtet, dass es dem Westen nach dem Ende des Kolonialismus gelang, Entwicklungsländern seine marktfundamentalistischen Konzepte aufzudrängen – in denen sich vielfach die Sichtweisen und Interessen der Wall Street widerspiegelten. Selbstverständlich hatten die Entwicklungsländer keine große Wahl: Die Kolonialmächte hatten diese Länder verwüstet, sie skrupellos ausgebeutet und sich ihre Ressourcen angeeignet, aber kaum etwas getan, um ihre Volkswirtschaften zu entwickeln. Sie waren auf die Unterstützung der Industrieländer angewiesen, und als Bedingung dafür machten ihnen der IWF und andere Organisationen gewisse Auflagen: Die Entwicklungsländer sollten ihre Finanzmärkte liberalisieren und ihre inländischen Märkte für eine Flut von Gütern aus den fortgeschrittenen Ländern öffnen. Zugleich weigerten sich die Industrieländer, ihre Märkte für die landwirtschaftlichen Produkte des Südens zu öffnen.

Diese Politik scheiterte: In Afrika sank das Pro-Kopf-Einkommen, Lateinamerika erlebte eine Stagnation, und die Früchte des geringen Wachstums erntete eine kleine Gruppe von Superreichen. Unterdessen schlug Ostasien einen anderen Weg ein, indem die Regierungen dort die Entwicklungsanstrengungen selbst in die Hand nahmen (man sprach in diesem Zusammenhang auch vom »Entwicklungsstaat«). Daraufhin verdoppelte, ja verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen sehr schnell – und langfristig kam es sogar zu einem Anstieg um bis zu 800 Prozent. In den gut dreißig Jahren, in denen das Einkommen der Amerikaner stagnierte, wurde China von einem verarmten Land mit weniger als 1 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens der Vereinigten Staaten und weniger als 5 Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts zur größten Volkswirtschaft der Welt (gemessen in dem, was Ökonomen Kaufkraftparitäten nennen). In 25 Jahren dürfte die chinesische Volkswirtschaft doppelt so groß wie die US-Wirtschaft sein.

Aber Ideologien sind oftmals einflussreicher als empirische Daten. Marktliberale Ökonomen nahmen kaum Notiz von den Erfolgen der gelenkten Marktwirtschaften Ostasiens. Sie sprachen lieber über die Misserfolge der Sowjetunion, die vollständig auf den Markt als zentralen ökonomischen Steuerungsmechanismus verzichtet hatte. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien die freie Marktwirtschaft triumphiert zu haben. Auch wenn diese Schlussfolgerung falsch war, nutzten die Vereinigten Staaten ihre Stärke als einzige verbliebene Supermacht, um ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen – oder, genauer gesagt, um die Interessen ihrer mächtigen Großkonzerne durchzusetzen. Und von denen waren die US-Finanzunternehmen vielleicht die einflussreichsten. Die Vereinigten Staaten drängten Länder dazu, ihre Finanzmärkte zu liberalisieren. Das Ergebnis: In einem Land nach dem anderen kam es zu Krisen, auch in einigen der Länder, die vor der Öffnung ihrer Märkte sehr gut dagestanden hatten.

Doch in gewisser Hinsicht benahmen wir uns gegenüber diesen Ländern nicht schlimmer als gegenüber uns selbst. Sowohl unter Clinton als auch unter Bush verfolgten wir im In- wie im Ausland eine Politik, die der Finanzsektor verlangte. In »Die Anatomie eines Mordes: Wer hat die amerikanische Wirtschaft auf dem Gewissen?« gehe ich kurz auf die Frage ein, wie diese Politik zu einer Krise führte. (In meinem Buch Im freien Fall erörtere ich diese Fragen eingehender.)

Hier möchte ich zeigen, wie der Finanzsektor zu der wachsenden Ungleichheit beiträgt. Die Finanzialisierung hat auf verschiedenen Wegen diese Wirkungen entfaltet. Der Finanzsektor kennt sich hervorragend mit dem sogenannten Rent-Seeking aus, der (leistungslosen) Aneignung von Vermögen. Es gibt zwei Wege, um reich zu werden: Man kann entweder den nationalen Kuchen vergrößern oder aber versuchen, sich ein größeres Stück vom vorhandenen Kuchen zu sichern – dabei kann der Kuchen insgesamt sogar schrumpfen. Die Einkommen in den Führungspositionen des Finanzsektors hängen mehr mit letzterem Weg als mit ersterem zusammen. Während ein Teil des Vermögens der Spitzenverdiener im Finanzsektor – darunter auch ein Großteil dessen, was sie sich durch Marktmanipulation verschaffen – von anderen begüterten Privatpersonen stammt, schöpfen sie auch eine Menge Geld an der Basis der ökonomischen Pyramide ab. Dies gilt etwa für die Milliarden von Dollar, die durch unlautere Praktiken mit Kreditkarten und durch ausbeuterische sowie diskriminierende Kreditvergabe erwirtschaftet wurden. Und es gilt auch für den Missbrauch ihrer Monopolmacht bei Kredit- und Debitkarten: Die überhöhten Gebühren, die sie Händlern auferlegen, wirken wie eine Steuer auf jede Transaktion – eine Steuer, die Geld in die Kassen der Banken spült, statt dem Gemeinwohl zu dienen. Auf Wettbewerbsmärkten – Märkten mit funktionierender Konkurrenz – werden diese Gebühren zwangsläufig in Form höherer Preise an die Verbraucher weitergeleitet. Zumindest vor der Krise rühmten sich die Akteure des Finanzsektors als Schrittmacher des Wirtschaftswachstums; sie behaupteten, die herausragende wirtschaftliche Leistungsbilanz der USA verdanke sich ihrer »Innovativität«.

ENDE DER LESEPROBE