Europa spart sich kaputt - Joseph Stiglitz - E-Book

Europa spart sich kaputt E-Book

Joseph Stiglitz

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Beschreibung

Raus aus der Dauerkrise. Wie Europa sich (und den Euro) retten kann

Joseph Stiglitz ist einer der schärfsten Kritiker jener Sparpolitik, die aus Sicht der deutschen Bundesregierung der einzige Weg aus der Eurokrise ist. Doch kein noch so hartes Spardiktat, so Stiglitz, kann die Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung ausgleichen. Damit die gemeinsame Währung Europas Einheit nicht vollends zerstört, müssen die Mitgliedsstaaten der Eurozone vielmehr neue Wege beschreiten. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz zeigt, wie diese Wege aus der Krise aussehen könnten.

Schonungslos legt Joseph Stiglitz in seinem neuen Buch dar, warum die Austeritätspolitik Europas Einheit ebenso gefährdet wie das europäische Wirtschaftswachstum und warum die Europäische Zentralbank falsch liegt, wenn sie zur Krisenbewältigung vor allem auf Inflationsbekämpfung setzt. Statt diese fehlgeleitete Politik weiterhin als »alternativlos« darzustellen, zeigt Stiglitz, wie drei mögliche Wege aus der Krise aussehen könnten: erstens eine grundlegende Reform der Eurozone und der Auflagen, die den Krisenländern gemacht werden; zweitens eine geregelte Auflösung der Europäischen Union; oder drittens die Etablierung eines neuen europäischen Finanzsystems – des »flexiblen Euro«. Mit seinem Buch bringt der Nobelpreisträger neue Argumente in eine Debatte, die viel zu lange um die ewig gleichen Fragen gekreist hat. Und er eröffnet einen Ausblick, wie die Eurokrise wirklich gelöst werden kann.

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Zum Buch

Joseph Stiglitz ist einer der schärfsten Kritiker jener Sparpolitik, die aus Sicht der deutschen Bundesregierung der einzige Weg aus der Eurokrise ist. Schonungslos legt Stiglitz in seinem neuen Buch dar, warum diese Austeritätspolitik die Einheit Europas ebenso gefährdet wie das Wirtschaftswachstum und warum die Europäische Zentralbank falsch liegt, wenn sie zur Krisenbewältigung vor allem auf Inflationsbekämpfung setzt. Denn kein noch so hartes Spardiktat kann die Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung ausgleichen. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten der Eurozone neue Wege beschreiten, anstatt diese fehlgeleitete Politik weiterhin als »alternativlos« darzustellen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz zeigt auf, wie diese Wege aussehen könnten und bringt damit neue Argumente in eine Debatte, die viel zu lange um die ewig gleichen Fragen kreiste. Und er eröffnet – insbesondere nach dem Brexit – einen Ausblick, wie die Eurokrise wirklich gelöst werden kann.

Zum Autor

Joseph Stiglitz, geboren 1943, war Professor für Volkswirtschaft an den Universitäten in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993 zu einem Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung wurde. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank und wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Heute lehrt Stiglitz an der Columbia University in New York und ist ein weltweit geschätzter Experte zu Fragen von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Bei Siedler erschienen unter anderem seine Bestseller »Die Schatten der Globalisierung« (2002), »Die Chancen der Globalisierung« (2006), »Im freien Fall« (2010), »Der Preis der Ungleichheit« (2012) und zuletzt »Reich und Arm« (2015).

Joseph Stiglitz

Europa spart sich kaputt

WARUM DIE KRISENPOLITIK GESCHEITERT IST UND DER EURO EINEN NEUSTART BRAUCHT

Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Euro. How a Common Currency Threatens the Future of Europe« bei W. W. Norton & Company, New York.

Erste Auflage

September 2016

Copyright © 2016 by Joseph E. Stiglitz

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Siedler Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Umschlagmotiv: Ryan Etter/Getty Images

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-20092-3V002

www.siedler-verlag.de

Gewidmet der Zukunft Europas und des europäischen Projekts, von dem so viel abhängt: Möge dieses Buch einen Beitrag leisten zu einer Politik, die den Wohlstand Europas mehrt und seine Solidarität fördert.

Inhalt

Vorwort

TEIL IEuropa in der Krise

Die Eurokrise

Der Euro: Hoffnung und Wirklichkeit

Europas klägliche Leistung

TEIL IIDie Geburtsfehler des Euro

Wann kann eine Einheitswährung überhaupt funktionieren?

Der Euro: Ein divergentes System

Geldpolitik und die Europäische Zentralbank

TEIL IIIPolitische Fehler

Krisenpolitik: Wie die Troika-Politik die Konstruktionsfehler der Eurozone verschlimmerte

Das Debakel der Strukturreformen

TEIL IVLösungsansätze

Eine funktionierende Eurozone schaffen

Ist eine einvernehmliche Scheidung möglich?

Der Übergang zu einem flexiblen Euro

Wie geht es weiter?

NachwortDer Brexit und seine Folgen

Dank

ANHANG

Anmerkungen

Register

Vorwort

Die Welt wird mit schlechten Nachrichten aus Europa überhäuft. Griechenland befindet sich in einer Depression, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent. Die extreme Rechte verbucht in Frankreich große Stimmengewinne. In Katalonien, der nordostspanischen Region um Barcelona, ist eine Mehrheit der Abgeordneten im Regionalparlament für die Abspaltung von Spanien. Weite Teile Europas haben ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich, an dessen Ende das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf niedriger ist als vor der globalen Finanzkrise.

Selbst das, was Europa als Erfolg feiert, bedeutet ein Versagen: Die Arbeitslosigkeit in Spanien ist von 26 Prozent im Jahr 2013 auf 20 Prozent Anfang 2016 gesunken. Aber nach wie vor ist fast jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit, und die Arbeitslosigkeit wäre noch höher, wenn nicht so viele der begabtesten jungen Leute das Land verlassen hätten, um im Ausland Beschäftigung zu suchen.1

Was ist geschehen? Sollten wir in Anbetracht der Erkenntnisfortschritte in den Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage sein, Volkswirtschaften besser zu steuern? So erklärte etwa der Nobelpreisträger Robert Lucas 2003 in seiner Begrüßungsansprache auf der Jahrestagung der American Economic Association, dass »das zentrale Problem der Vermeidung von Depressionen gelöst« sei.2 Und sollte es angesichts all der Verbesserungen bei der Gestaltung von Märkten nicht sogar noch leichter sein, das Wirtschaftsgeschehen zu steuern? Das Kennzeichen einer gut funktionierenden Volkswirtschaft ist schnelles Wachstum mit breit gestreuten Wohlstandsgewinnen und niedriger Arbeitslosigkeit. In Europa aber ist das genaue Gegenteil geschehen.

Es gibt eine einfache Antwort auf dieses scheinbare Rätsel: Die fatale Entscheidung im Jahr 1992, eine einheitliche Währung einzuführen, ohne zugleich Institutionen vorzusehen, die dafür Sorge getragen hätten, dass diese Währung auch langfristig funktioniert. Eine sachgerechte Währungsordnung kann Wohlstand nicht garantieren, aber eine mangelhafte Währungsordnung kann Rezessionen und Depressionen Vorschub leisten. Und zu den Währungssystemen, die seit Langem mit Rezessionen und Depressionen in Verbindung gebracht werden, gehören Wechselkursbindungen, bei denen der Wert der Währung eines Landes dauerhaft in einem bestimmten Verhältnis zum Wert einer fremdländischen Währung oder einer Ware festgeschrieben wird.

Die Depression in den Vereinigten Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts hing mit dem Goldstandard zusammen; dabei band jedes Land den Wert seiner Währung an Gold und damit indirekt an die Währungen aller anderen: Da keine nennenswerten neuen Goldfunde gemacht wurden, führte die Goldknappheit dazu, dass die Preise gewöhnlicher Güter im Verhältnis zu Gold sanken – wir nennen dieses Phänomen heute Deflation.3 Tatsächlich wurde Geld wertvoller. Und dies führte zur Verarmung amerikanischer Farmer, für die es immer schwieriger wurde, ihre Schulden zurückzuzahlen. Der US-Präsidentschaftswahlkampf von 1896 stand ganz im Zeichen eines heftigen Streits darüber, ob Amerika »die Menschheit an ein Kreuz aus Gold schlagen« wolle, wie es William Jennings Bryan ausdrückte, der Kandidat der Demokraten.4

Der Goldstandard soll nach verbreiteter Ansicht überdies die Große Depression – die Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts – vertieft und verlängert haben. Denn jene Länder, die den Goldstandard frühzeitig aufgaben, erholten sich schneller.5

Ungeachtet dieser zur Vorsicht gemahnenden historischen Beispiele beschloss eine Reihe europäischer Länder, sich durch eine einheitliche Währung enger aneinanderzubinden – womit sie Europa das gleiche starre Währungsregime aufzwangen, das der Goldstandard der Welt auferlegt hatte. Der Goldstandard scheiterte, und bis auf einige wenige »Goldbugs« (Goldkäfer) will ihn niemand zurückhaben.

Europa muss nicht ans Kreuz des Euro geschlagen werden – der Euro kann funktionieren. Die hierfür notwendigen zentralen Reformen betreffen die Struktur der Währungsunion selbst, nicht die Volkswirtschaften der einzelnen Mitgliedstaaten. Allerdings bleibt fraglich, ob der politische Zusammenhalt und die europäische Solidarität ausreichen, um diese Reformen tatsächlich anzupacken. Ohne diese Reformen wäre eine einvernehmliche Scheidung dem gegenwärtigen »Durchwursteln« bei Weitem vorzuziehen. Ich lege dar, wie eine solche Trennung am besten bewerkstelligt werden könnte.

Im Jahr 2015 war die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt – mit geschätzten 507,4 Millionen Bürgern und einem Bruttoinlandsprodukt von 16,2 Billionen Dollar, das etwas kleiner war als das der Vereinigten Staaten.6 (Mit den Wechselkursen schwankt auch die relative Größe von Volkswirtschaften. Im Jahr 2014 war die EU die größte Volkswirtschaft.) Innerhalb der Europäischen Union haben 19 Länder eine gemeinsame Währung, den Euro. Das »Experiment« mit einer gemeinsamen Währung begann erst vor relativer kurzer Zeit – Bargeld gelangte erst 2002 in Umlauf. Allerdings hatte sich Europa bereits zehn Jahre zuvor im Vertrag von Maastricht auf eine gemeinsame Währung verständigt, und drei Jahre zuvor hatten die Länder der Eurozone die Wechselkurse ihrer Währungen im Verhältnis zueinander endgültig festgelegt.7 2008 geriet die Eurozone gemeinsam mit der restlichen Welt in eine Rezession. Heute haben sich die Vereinigten Staaten davon weitgehend erholt – zwar ist es eine kraftlose und verspätete Erholung, aber dennoch eine Erholung –, während Europa und insbesondere die Eurozone noch immer in Stagnation verharrt.

Dieses Scheitern hat weitreichende Konsequenzen für die gesamte Welt, nicht nur für die Länder der Eurozone. Besonders schlimm ist es für die Menschen, die in den Krisenländern leben, von denen viele weiterhin in einer Depression stecken. In unserer globalisierten Welt zieht alles, was in einer so wichtigen Region der Weltwirtschaft zu einer Stagnation führt, auch alle anderen in Mitleidenschaft.

Wie das Beispiel von Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika so eindringlich vor Augen führt, kann ein Außenstehender Kultur und Politik bisweilen zutreffender und unvoreingenommener analysieren als diejenigen, die unmittelbar in die aktuellen Geschehnisse verwickelt sind. Bis zu einem gewissen Grad gilt das Gleiche für die Wirtschaft. Seit 1959 reise ich regelmäßig nach Europa – in den letzten Jahrzehnten mehrmals im Jahr –, und ich habe dort sechs Jahre lang unterrichtet und geforscht. Ich habe mit vielen europäischen Regierungen eng zusammengearbeitet (überwiegend Mitte-links-Regierungen, aber auch, nicht selten, mit gemäßigt konservativen Regierungen). Als sich 2008 die weltweite Finanzkrise und bald darauf die Eurokrise zusammenbrauten und ausbrachen, arbeitete ich eng mit mehreren der Krisenländer zusammen (so gehörte ich einem Beratungsgremium des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero an und beriet außerdem den damaligen griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, einen langjährigen Freund). Ich erfuhr aus erster Hand, was in den Krisenländern geschah und welche Maßnahmen zur Beilegung der Krise bei den Treffen der Führungsgremien der Eurozone vereinbart wurden.

Für einen Wirtschaftswissenschaftler ist das Euro-Experiment faszinierend.8 Ökonomen können keine Experimente im Labor durchführen. Wir müssen unsere Annahmen anhand von Experimenten überprüfen, welche uns die Natur beziehungsweise die Politik anbieten. Der Euro hat uns meines Erachtens eine Menge gelehrt. Er basiert auf einer Mischung aus falschen ökonomischen Konzeptionen und ideologischen Überzeugungen. Es war ein System, das nicht lange funktionieren konnte – und während der sogenannten Großen Rezession (zwischen 2007 und 2009) wurden seine Schwächen für alle sichtbar. Ich glaube allerdings, dass die grundlegenden Mängel von Beginn an offenkundig waren für jeden, der genau genug hinsah. Diese Schwächen trugen dazu bei, dass sich Ungleichgewichte aufbauten, die eine zentrale Rolle bei der entstehenden Krise spielten und deren Überwindung Jahre dauern wird.

Dieses Experiment war für mich besonders interessant, weil ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema der wirtschaftlichen Verflechtung beschäftige, insbesondere seitdem ich in den Neunzigerjahren unter Präsident Bill Clinton Vorsitzender seines wirtschaftswissenschaftlichen Beirats gewesen bin. Wir arbeiteten daran, im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA die Grenzen für den Handel zwischen den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko zu öffnen. Wir brachten auch das Projekt der Welthandelsorganisation voran, die schließlich im Jahr 1995 aus der Taufe gehoben wurde und einen verbindlichen Rechtsrahmen für den zwischenstaatlichen Handel aufstellte. Das 1994 in Kraft getretene NAFTA war nicht so ehrgeizig wie die Europäische Union, die die grenzüberschreitende Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet. Es war auch weit weniger ambitioniert als die Eurozone – die drei teilnehmenden Staaten haben keine gemeinsame Währung. Aber schon diese begrenzte Verflechtung warf zahlreiche Probleme auf. So zeigte sich insbesondere, dass der Name »Freihandelsabkommen« selbst eine grob irreführende Werbung war: In Wirklichkeit war es ein gesteuertes Handelsabkommen, das insbesondere den Interessen von Großkonzernen vornehmlich in den USA dienen sollte. Damals begann ich mich für die Folgen des Missverhältnisses von wirtschaftlicher und politischer Integration sowie für die Auswirkungen internationaler Abkommen zu interessieren, die im Rahmen keineswegs perfekter demokratischer Prozesse von Staats- und Regierungschefs – so gut deren Absichten auch sein mögen – geschlossen werden.

Nach meiner Tätigkeit für Präsident Clinton wurde ich Chefvolkswirt der Weltbank. Hier war ich erneut mit Problemen einer ökonomischen Integration konfrontiert, die mit einer politischen Integration nicht Hand in Hand ging. Ich sah, wie unsere Schwesterorganisation, der Internationale Währungsfonds (IWF), Ländern, die seine Hilfe benötigten, aus seiner Sicht (und der anderer Kapitalgeber) sinnvolle wirtschaftspolitische Maßnahmen aufzuerlegen versuchte. Aber diese Sichtweise war falsch – und oftmals schädlich –, und die IWF-Auflagen führten oft zu Rezessionen und Depressionen. Ich bemühte mich, diese Fehlschläge zu verstehen und eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb der IWF so verfuhr.9

Wie ich an mehreren Stellen in diesem Buch darlegen werde, gibt es große Übereinstimmungen zwischen den Programmen, die der IWF (manchmal gemeinsam mit der Weltbank) Entwicklungs- und Schwellenländern auferlegte, und jenen, die Griechenland und den anderen Krisenländern im Gefolge der Großen Rezession aufgezwungen wurden. Ich erläutere auch, warum diese Programme aus ganz ähnlichen Gründen enttäuschen und wieso es in den Ländern, denen sie auferlegt wurden, einen breiten öffentlichen Widerstand gegen sie gibt.

Heute werden die Länder der Welt von neuen Initiativen bedrängt, die darauf abzielen, die Kräfte der Globalisierung zum Wohl der wenigen einzuspannen. Diese transatlantischen und -pazifischen Handelsabkommen (TTIP und TPP) werden einmal mehr hinter verschlossenen Türen von politischen Entscheidungsträgern ausgehandelt, wobei Vertreter der Konzerne mit am Tisch sitzen. Diese Abkommen bezeugen den anhaltenden Wunsch nach ökonomischer Verflechtung, die nicht mit einer entsprechenden politischen Integration einhergeht. Eine der umstrittensten Bestimmungen dieser Abkommen würde es Unternehmen erlauben, Staaten mit Klagen zu drohen, wenn sich eine neue gesetzliche Vorschrift negativ auf ihre Gewinnerwartungen auswirken würde – etwas, das kein Staat innerhalb seiner eigenen Grenzen hinnehmen würde. Das Recht zu regulieren – und Vorschriften und Verordnungen veränderten Umständen anzupassen – ist eine ureigene Gestaltungsbefugnis eines jeden Staates.

Das Projekt der Eurozone unterschied sich von diesen Beispielen jedoch in einem wesentlichen Aspekt: Dahinter stand der ernsthafte Versuch einer vertieften politischen Integration. Bei neuen Handelsabkommen dagegen beabsichtigt niemand, harmonisierte regulatorische Standards von einem parlamentarischen Gremium festlegen zu lassen, das den Willen der Bürger aller Länder in dem Handelsraum repräsentiert. Die Konzerne wollen vor allem eins: Regulierung unterbinden beziehungsweise lieber noch rückgängig machen. Aber der Plan für das »Projekt Gemeinschaftswährung« war so sehr von ideologischen Überzeugungen sowie von Partikularinteressen beeinflusst, dass er nicht nur sein ehrgeiziges ökonomisches Ziel verfehlte, nämlich Wohlstand zu bringen, sondern auch das zweite Ziel, die Mitgliedsländer einander politisch näherzubringen.

Obgleich dieses Buch daher vor allem eine kritische Hinterfragung des Euro-Projekts ist, geht es doch darüber hinaus: Es soll zeigen, dass selbst wohlgemeinte Bemühungen um eine vertiefte wirtschaftliche Integration scheitern können, wenn fragwürdige ökonomische Doktrinen, die mehr von Ideologie und Sonderinteressen als von harten Fakten und wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt sind, die Agenda bestimmen. Die Geschichte, die ich hier erzähle, veranschaulicht auf dramatische Weise etliche Themen, die mich in den letzten Jahren beschäftigt haben – Themen, die ein globales Echo haben sollten: Erstens der Einfluss von Ideen, insbesondere die Frage, auf welche Weise Ideen über die Effizienz und Stabilität freier und nicht-regulierter Märkte (eine theoretische Strömung, die bisweilen auch als Neoliberalismus bezeichnet wird) in den letzten 35 Jahren nicht nur die Politik, sondern auch Institutionen beeinflusst haben. Ich bin an anderer Stelle auf die wirtschaftspolitischen Konzepte eingegangen, die den Entwicklungsdiskurs beherrschten – die sogenannten Leitlinien des »Washington Consensus« – und maßgeblich die politischen Auflagen prägten, die den Entwicklungsländern gemacht wurden.10 Dieses Buch zeigt, wie die gleichen Ideen den angestrebten nächsten Schritt in dem so überaus wichtigen Projekt der europäischen Integration – die Einführung einer Gemeinschaftswährung – prägten und scheitern ließen.

So findet heute die gleiche Schlacht um Ideen in zahllosen Gefechten statt. In einigen Fällen sind sogar die präsentierten Argumente und Daten im Wesentlichen dieselben. Die Schlacht um die Sparpolitik verläuft in Europa ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, wo Konservative versuchten, die Staatsausgaben zurückzuschrauben, selbst für dringend notwendige Infrastrukturinvestitionen, obwohl die Arbeitslosigkeit noch immer hoch ist und Ressourcen ungenutzt bleiben. Die Auseinandersetzungen um den richtigen Haushaltsrahmen in Europa gleichen jenen zwischen IWF und Weltbank, an denen ich selbst während meiner Tätigkeit für die Bank beteiligt gewesen bin. Tatsächlich habe ich dieses Buch auch deshalb geschrieben, um die globale Reichweite dieser Auseinandersetzungen aufzuzeigen.

Die Ideen, die in diesen Schlachten aufeinanderprallen, werden nicht nur von ökonomischen Interessen bestimmt. Mein Blickwinkel hier ist breiter als derjenige eines eng gefassten ökonomischen Determinismus: Man kann die Überzeugungen eines Individuums nicht ausschließlich mit seinem Streben erklären, sich ökonomisch besser zu stellen. Dennoch dienen gewisse Ideen bestimmten Interessen, und daher sollte es uns nicht überraschen, wenn politische Maßnahmen im Großen und Ganzen den Interessen derjenigen dienen, die sie beschließen, selbst wenn sie ihr Handeln mit abstrakten Ideen begründen. Diese Analyse führt unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass sich Wirtschaft und Politik nicht voneinander trennen lassen – jedenfalls nicht so weit, wie sich dies einige Wirtschaftswissenschaftler wünschen. Breite Bevölkerungsgruppen in Industrie- und Entwicklungsländern haben oftmals vor allem deshalb nicht von der Globalisierung profitiert, weil die ökonomische Globalisierung viel schneller als die politische Globalisierung voranschritt, und das gilt auch für den Euro.

Ein weiteres Thema hängt mit meinen jüngsten Forschungen zur Ungleichheit zusammen.11 Volkswirte und manchmal auch Politiker orientieren sich an Durchschnittswerten, also an Kenngrößen wie dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder dem BIP pro Kopf und deren Veränderung. Aber selbst wenn das BIP steigt, können die meisten Bürger schlechter gestellt sein. Das geschah in den Vereinigten Staaten in den letzten 35 Jahren, und es gibt in zunehmendem Maße ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern. Ökonomen behaupteten lange Zeit, es spiele keine Rolle, wie die Früchte der Wirtschaftstätigkeit verteilt würden – dies sei ein Ergebnis, das vielleicht einen Politikwissenschaftler oder einen Soziologen interessiere, aber jedenfalls keinen Ökonomen. Robert Lucas ging sogar so weit zu sagen: »Von all den Tendenzen, die einer soliden Wirtschaftswissenschaft abträglich sind, ist die verlockendste und meines Erachtens schädlichste die Fokussierung auf Verteilungsfragen.«12

Wir wissen, dass sich Ungleichheit auf die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft auswirkt, sodass man diese Fragen nicht einfach beiseiteschieben kann und sollte.13 Ungleichheit wirkt sich auch darauf aus, wie – gut oder schlecht – unsere Demokratien und Gesellschaften funktionieren. Allerdings glaube ich, dass wir uns nicht nur wegen dieser Konsequenzen Gedanken über Ungleichheit machen sollten, denn es geht dabei auch um grundlegende ethische Fragen.

Der Euro hat zu einer Zunahme der Ungleichheit geführt. Ein zentrales Argument dieses Buches lautet, dass der Euro die Spaltung vertiefte – und dazu führte, dass schwächere Länder noch schwächer und starke Länder noch stärker wurden: So ist zum Beispiel das BIP Deutschlands vom 10,4-Fachen des BIP Griechenlands im Jahr 2007 auf das 15-Fache des griechischen BIP im Jahr 2015 angestiegen. Aber die Spaltung führte auch zu einer Zunahme der Ungleichheit innerhalb der Länder der Eurozone, insbesondere in den Krisenländern. Und das gilt auch für jene europäischen Länder, die vor der Einführung des Euro Fortschritte bei der Verringerung der Ungleichheit machten.

Dies sollte uns nicht weiter überraschen: Hohe Arbeitslosigkeit trifft vor allem die Menschen am Fuß der Einkommenspyramide, hohe Arbeitslosigkeit setzt Löhne unter Druck, und die staatlichen Ausgabenkürzungen im Rahmen der Sparpolitik wirken sich besonders negativ auf die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen aus, die von staatlichen Programmen abhängig sind. Auch dies ist ein übergreifendes Thema unserer Zeit: Der neoliberalen ökonomischen Agenda mag es nicht gelungen sein, die durchschnittlichen Wachstumsraten zu erhöhen, aber wir können sicher sein, dass es ihr gelungen ist, die Ungleichheit zu vergrößern. Der Euro liefert uns eine detaillierte Fallstudie darüber, wie sie dies erreicht hat.

Zwei andere Themen stehen in einem direkteren Zusammenhang mit Studien über Wirtschaftssysteme, die mich seit Langem beschäftigen. Heute wird (endlich) allgemein anerkannt, dass Märkte, sich selbst überlassen, ineffizient sind.14 Adam Smiths »unsichtbare Hand« – wonach das eigennützige Streben der Einzelnen in der Summe zum Wohlergehen der gesamten Gesellschaft führen soll – ist unsichtbar, weil es sie schlichtweg nicht gibt. Viel zu wenig Beachtung wurde der Instabilität der Marktwirtschaft geschenkt. Krisen gehörten von Beginn an zum Kapitalismus.15

Das von den Ökonomen angewandte Standardmodell nimmt einfach an, dass sich die Wirtschaft im Gleichgewicht befindet; anders gesagt, wenn es jemals zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung komme, kehre das System schnell wieder auf seinen normalen Pfad zurück.16 Die Annahme, dass sich Volkswirtschaften nach einer Störung wieder zügig dem Gleichgewicht annähern, ist der Schlüssel zum Verständnis der Konstruktion der Eurozone. Meine eigenen Forschungen erklären, weshalb Volkswirtschaften oftmals nicht konvergieren, und die Geschehnisse in Europa sind ein mustergültiges, wenngleich trauriges Beispiel für die Richtigkeit dieser Hypothese.

Ein weiterer zentraler Akteur der Geschichte, die hier erzählt wird, ist das Finanzsystem. Finanzsysteme sind ein notwendiger Bestandteil einer jeden modernen Volkswirtschaft. Aber an anderer Stelle habe ich beschrieben, dass Finanzsysteme, sofern sie nicht gründlich reguliert werden, zu wirtschaftlicher Instabilität mit Auf- und Abschwüngen führen können.17 Auch dies veranschaulichen die Ereignisse in Europa in plastischer Weise – ebenso wie die Tatsache, dass die in modernen Marktwirtschaften stets vorhandenen Probleme durch die Konstruktion der Eurozone und die Krisenpolitik verstärkt wurden.

Ein letztes Thema, das mich seit Langem beschäftigt, das ich in diesem Buch jedoch nur streifen kann, betrifft Werte, die über die Wirtschaftswissenschaften hinausgehen: (a) die Wirtschaftspolitik soll ein Mittel zu einem Zweck sein, nämlich das Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft zu mehren; (b) das Wohlergehen des Einzelnen lässt sich nicht allein mit Standardmaßen wie dem BIP erfassen, selbst wenn dieses Maß um die ökonomische Sicherheit erweitert würde, vielmehr hängt das individuelle Wohlergehen von einer viel breiteren Gesamtheit von Werten wie etwa Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt, Vertrauen in unsere gesellschaftlichen und politischen Institutionen und demokratischer Mitbestimmung ab; (c) auch der Euro sollte ein Mittel zu einem Zweck sein, kein Zweck an sich – er sollte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den politischen wie gesellschaftlichen Zusammenhalt in ganz Europa stärken. Dies sollte wiederum helfen, übergeordnete Ziele zu erreichen, also das Wohlergehen zu mehren und die von mir erwähnten grundlegenden Werte zu fördern. Aber dies ist offensichtlich gründlich misslungen. Mittel wurden zu Selbstzwecken, und die übergeordneten Ziele wurden unterminiert. Europa hat seinen Kompass verloren. Aber diese launenhafte Unberechenbarkeit ist kein spezifisch europäisches Phänomen. Sie zeigt sich auch an vielen anderen Orten und scheint geradezu eine globale Krankheit unserer Zeit zu sein.

In gewisser Weise sind die Vorgänge in der Eurozone daher ein moralisches Lehrstück: Sie verdeutlichen, dass sich Regierungen, die den Draht zu ihren Wählern verloren haben, mitunter Systeme ausdenken, die nicht dem Wohl ihrer Bürger dienen. Sie zeigen, dass sich bei den Fortschritten der ökonomischen Integration oftmals Finanzinteressen durchsetzen und wie ideologische Überzeugungen und Partikularinteressen, sofern ihnen keinerlei Einhalt geboten wird, ökonomische Strukturen hervorbringen können, von denen einige wenige profitieren mögen, während sie breite Bevölkerungsgruppen hohen Risiken aussetzen.

Es ist auch eine Geschichte der Plattitüden, die Politiker äußern, die wenig oder gar keine ökonomische Sachkenntnis besitzen und sich ihre eigene Wirklichkeit zurechtzimmern. Sie handelt auch von Positionen, die aus kurzfristigem politischem Kalkül eingenommen werden, aber enorme langfristige Konsequenzen haben. Die beharrlich vorgetragene Auffassung, es sei falsch, die Eurozone so zu gestalten, dass starke Länder schwächeren Ländern bei einem vorübergehenden Problem helfen, mag bei Wählern, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, einen gewissen Anklang finden. Aber ohne ein Mindestmaß an Risikoteilung kann eine Währungsunion schlicht nicht funktionieren.

Für die meisten Europäer ist das europäische Projekt, also die immer engere Verflechtung der Länder auf dem Kontinent, das wichtigste politische Ereignis der vergangenen 60 Jahre. Sein Scheitern oder auch nur die Andeutung, es selbst oder ein Teil des Projekts – seine Währung – könne scheitern, gilt beinahe als Verrat an der europäischen Idee. Aber die Wirklichkeit hält manchmal schmerzliche Botschaften für uns bereit: Das Eurosystem ist kaputt, und wenn es nicht repariert wird, steigen die Kosten sehr schnell gigantisch. Selbst mit den jüngsten Reformen kann das gegenwärtige System langfristig nur um den Preis immenser Kosten für viele Bürger am Leben gehalten werden. Und die Kosten gehen weit über die ökonomischen Kosten hinaus: Ich habe bereits auf die beunruhigenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die Zunahme von Extremismus und Rechtspopulismus hingewiesen. Auch wenn das Scheitern des Euro nicht die einzige Ursache dieser Entwicklungen ist, bin ich doch überzeugt davon, dass der enorme ökonomische Tribut, der so vielen Bürgern der Eurozone auferlegt wurde, eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Ursache ist.

Besonders hoch sind diese Kosten für die Jugend Europas, deren Zukunft bedroht ist, deren Hoffnungen zerstört werden. Sie mögen die Geschehnisse nicht zur Gänze durchschauen, sie mögen die zugrunde liegenden ökonomischen Zusammenhänge nicht vollständig verstehen, aber eines verstehen sie: Sie wurden von denjenigen belogen, die sie zu überreden versuchten, die Einführung des Euro und den Beitritt zur Eurozone zu unterstützen. Diese versprachen ihnen, der Euro werde ihnen ungekannten Wohlstand bescheren und die ärmeren Länder der Eurozone würden sich den reicheren Ländern annähern, solange alle Länder die grundlegenden Regeln befolgten, nämlich ihre Haushaltsdefizite und Schuldenstände im Verhältnis zum BIP niedrig zu halten. Heute bekommen sie oftmals von denselben Politikern oder Politikern derselben Parteien zu hören: »Vertraut uns. Wir haben ein Rezept, ein politisches Maßnahmenpaket, das kurzfristig ein wenig wehtun mag, doch langfristig dafür sorgen wird, dass es allen besser geht.«

Ungeachtet der düsteren Schlussfolgerungen meiner Analyse für den Fall, dass sich die Eurozone nicht verändert – und der noch negativeren Erwartungen für den Fall, dass die Eurozone so umgestaltet wird, wie es die deutsche Regierung und andere fordern –, ist dieses Buch letztlich hoffnungsvoll. Es ist eine Botschaft der Hoffnung, die besonders wichtig ist für die Jugend Europas und für diejenigen, die an das europäische Projekt glauben, an die Idee, dass ein Europa, das politisch enger zusammenrückt, ein stärkeres und wohlhabenderes Europa sein kann. Es gibt eine Zukunftsstrategie, die sich von derjenigen unterscheidet, die heute von vielen Verantwortlichen in Europa propagiert wird. Tatsächlich gibt es mehrere Strategien, die jeweils unterschiedliche Grade europäischer Solidarität verlangen.

Europa beging einen ebenso einfachen wie verständlichen Fehler: Seine führenden Politiker waren der Meinung, der beste Weg, die Einigung Europas zu vertiefen, sei eine Währungsunion, die Einführung einer Gemeinschaftswährung. Heute ist klar, dass die Eurozone und der Euro – sowohl die Struktur als auch die Politik – tief greifend reformiert werden müssen, wenn das europäische Projekt gerettet werden soll. Und das kann es.

Der Euro ist eine Konstruktion von Menschenhand. Ihre Gestalt verdankt sich nicht dem Walten unerbittlicher Naturgesetze. Die Währungsordnung Europas lässt sich umgestalten; wenn nötig, kann der Euro sogar aufgegeben werden. In Europa wie andernorts können wir unseren Kompass neu ausrichten, wir können die Regeln unser Wirtschaft und unserer politischen Ordnung umschreiben, um das Wohlstandsniveau für alle zu heben und Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Dieses Buch ist in der Hoffnung geschrieben, eine gewisse Orientierungshilfe bei der Bewältigung dieser großen Herausforderung, vor der Europa steht, zu bieten – und es will zugleich Europa ermuntern, dieses ambitionierte Vorhaben zügig anzupacken. Europa muss den hohen Idealen und Werten, denen es sich bei der Gründung der Europäischen Union verschrieb, neues Leben einhauchen. Das europäische Projekt ist zu bedeutend, als dass es durch den Euro zerstört werden dürfte.

TEIL IEuropa in der Krise

1 Die Eurokrise

Europa, die Wiege der Aufklärung und der modernen Naturwissenschaft, steckt in der Krise. Die Weltfinanzkrise des Jahres 2008 ging nahtlos in die »Eurokrise« des Jahres 2010 über. Diese Region der Welt, in der die industrielle Revolution ihren Ausgang nahm, die ihrerseits in den vergangenen 200 Jahren zu einem beispiellosen Wandel des Lebensstandards führte, ist in eine lange Phase der nahezu vollständigen Stagnation eingetreten. Schätzungen zufolge war das (inflationsbereinigte) BIP pro Einwohner für die Eurozone1 – die europäischen Länder, die den Euro als gemeinsame Währung haben – im Jahr 2015 niedriger als 2007.2 Einige Länder stecken schon seit Jahren in einer Depression.3

Als die Arbeitslosigkeit in den USA im Oktober 2009 10 Prozent erreichte, hielten die meisten Amerikaner das für nicht hinnehmbar. Mittlerweile ist sie auf unter 5 Prozent gefallen. Auch in der Eurozone erreichte die Arbeitslosigkeit im Jahr 2009 10 Prozent, und sie ist seither zweistellig geblieben.4 Im Durchschnitt der Eurozone ist mehr als jeder fünfte arbeitssuchende Jugendliche arbeitslos; in den am schlimmsten betroffenen Krisenländern sucht sogar nahezu jeder zweite Jugendliche eine Beschäftigung.5 Hinter trockenen Statistiken über die Jugendarbeitslosigkeit verbergen sich die zerstörten Träume und Hoffnungen Millionen junger Europäer, von denen viele hart gearbeitet und fleißig studiert haben. Familien werden zerrissen, denn wer kann, wandert aus, um im Ausland Arbeit zu suchen. Diese Statistiken verheißen Europa – vielleicht auf Jahrzehnte hinaus – eine Zukunft mit niedrigerem Wachstum und sinkendem Lebensstandard.

Diese ökonomischen Tatsachen haben ihrerseits weitreichende politische Folgen. Sie erschüttern die Fundamente der europäischen Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Parteien der extremen Rechten und Linken sowie andere, die sich für die Abspaltung ganzer Regionen von Nationalstaaten einsetzen, verzeichnen vor allem in Spanien und Italien wachsenden Zulauf. Was lange als unausweichlicher historischer Prozess angesehen wurde – die Herausbildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert –, wird heute infrage gestellt. Und das betrifft auch die bedeutendste Errungenschaft im Europa der Nachkriegszeit – die Europäische Union.

Die Ereignisse, welche die akute Eurokrise auslösten, waren Symptome tieferer struktureller Probleme der Eurozone, nicht deren Ursachen: Die Zinsen auf von Griechenland und mehreren anderen Ländern der Eurozone begebene Staatsanleihen stiegen sprunghaft an und erreichten, im Fall Griechenlands, mit 22,5 Prozent im Jahr 2012 ihren Höchststand.6 Einige Länder hatten überhaupt keinen Zugang zu den Finanzmärkten mehr – sie konnten sich die Mittel nicht beschaffen, die sie für die Rückzahlung fälliger Schulden benötigten. Europa half mit kurzfristigen Krediten aus, die allerdings mit strengen Auflagen versehen waren.

Nach dem Ausbruch der Eurokrise Anfang 2010 ergriffen die Verantwortlichen der Eurozone eine Reihe von Maßnahmen, welche die Märkte jedes Mal scheinbar eine Zeit lang beruhigten. Gegenwärtig ist sogar die Griechenlandkrise in den Hintergrund gerückt, da Europa hofft, die jüngste Vereinbarung vom Sommer 2015 stelle endlich eine wirksame Lösung in Aussicht, und andere Krisen in den Vordergrund getreten sind: die Flüchtlingskrise, der Austritt Großbritanniens aus der EU (»Brexit«) und die terroristische Bedrohung, die durch die Attentate von Paris und Brüssel so deutlich vor Augen geführt wurde. Der Euro sollte zu einer engeren ökonomischen und politischen Verflechtung führen und Europa stärken, um künftigen Herausforderungen besser zu begegnen. Wie wir im nächsten Kapitel darlegen, ist die Realität eine andere: das Scheitern des Euro hat es für Europa schwieriger gemacht, den anderen Krisen wirkungsvoll zu begegnen. Obwohl in diesem Buch wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund stehen – die wirtschaftlichen Ursachen für das Scheitern der gemeinsamen Währung und mögliche Maßnahmen, mit denen sich der Euro retten ließe –, sind diese ökonomischen Fragen eng mit den politischen Belangen verknüpft. Politische Interessen erschweren die Schaffung jenes wirtschaftlichen Ordnungsrahmens, den der Euro bräuchte, um zu einer erfolgreichen Währung zu werden. Und dieses Versagen wiederum hat gravierende politische Folgen.

Dieses Buch wird erklären, warum die bislang ergriffenen Maßnahmen zur »Lösung« der Eurokrise lediglich ein vorübergehend wirksames Herumdoktern an Symptomen waren: Wahrscheinlich erwartet uns in nicht allzu ferner Zukunft die nächste Episode der Eurokrise.

Die zentralen Thesen

Auch wenn viele Faktoren zu den Problemen Europas beitragen, gibt es einen grundlegenden Fehler: Die Schaffung der Einheitswährung, des Euro. Oder, genauer gesagt, die Schaffung einer Einheitswährung ohne gleichzeitige Errichtung eines institutionellen Ordnungsrahmens, der einer so vielfältigen Region wie Europa ermöglicht hätte, mit einer einheitlichen Währung erfolgreich zu funktionieren. Teil II dieses Buches (Kapitel 4 bis 6) betrachtet die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Währungsunion und die Schritte, die Europa tatsächlich unternommen hat. Wir untersuchen, wie die Kluft zwischen dem, was notwendig gewesen wäre, und dem, was getan wurde, zum Scheitern des Euro, zu den Krisen, die schon kurz nach seiner Einführung folgten, und zur Divergenz führte, der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen reichen und armen Ländern – was es für das System der Einheitswährung noch schwieriger machte, zu funktionieren. Teil III (Kapitel 7 und 8) beschäftigt sich eingehend mit den Reaktionen der Eurozone auf die Krisen, ihren vermeintlichen »Rettungsprogrammen«, die jedoch tatsächlich die Rezessionen nur vertieften und verlängerten. Teil IV (Kapitel 9 bis 12) erläutert, was getan werden kann, um Europa wieder auf den Pfad der Wohlstandsmehrung zurückzuführen.

Eine Anmerkung zur Geschichte des Euro und zum Rahmen dieses Buches

In diesem Buch gehe ich weder ausführlich auf die Geschichte des Euro ein noch beschreibe ich im Detail seine Institutionen. Aber zur Orientierung möchte ich einige wichtige Fakten hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Euro in Erinnerung rufen. Die Gemeinschaftswährung war letztlich ein Nebeneffekt von Bemühungen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts begannen, als Europa noch unter dem Schock des Blutvergießens und der Zerrüttung durch die beiden Weltkriege stand, die rund 100 Millionen Menschenleben gefordert hatten. Die führenden Politiker Europas erkannten, dass eine friedlichere Zukunft eine tief greifende politische und wirtschaftliche Neuordnung des Kontinents und auch eine Neubestimmung nationaler Identitäten erforderte. Im Jahr 1957 wurde diese Vision ein Stück weit Wirklichkeit, als mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, der Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Westdeutschland angehörten. In den folgenden Jahrzehnten, die im Zeichen des Kalten Krieges standen, traten weitere westeuropäische Staaten der EWG bei. Schritt für Schritt wurden Schranken für den Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr zwischen der wachsenden Liste von EWG-Ländern abgebaut.

Aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges kam die europäische Integration so richtig in Schwung. Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 zeigte, dass die Zeit für eine Erweiterung und Festigung der europäischen Bande näher rückte. Die Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft in gemeinsamem Wohlstand waren sowohl bei den Regierungen als auch bei den Bürgern größer denn je. Dies führte 1992 zur Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht, durch den die Europäische Union offiziell gegründet wurde und der zugleich einen Großteil der rechtlichen Grundlagen für die Wirtschaftsordnung und die Institutionen der EU schuf. Er setzte außerdem den Prozess zur Einführung einer Gemeinschaftswährung in Gang, die »Euro« heißen sollte.

Allerdings war man sich uneins darüber, wie diese größere Einheit erreicht werden sollte. Heute mag die offizielle Geschichte der EU einer Stichpunktliste von Ereignissen gleichen, die unweigerlich zur Schaffung eines sich stetig erweiternden gemeinsamen Marktes und eines gemeinsamen Währungsraums, der Eurozone, führten. Aber tatsächlich war die Errichtung dieser Institutionen das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen, die von tiefen Meinungsverschiedenheiten über das Ausmaß und die Form der Europäischen Integration geprägt waren. Die Resultate waren nur möglich aufgrund politischer Tauschgeschäfte und Kompromisse zwischen den europäischen Regierungschefs. Im Fall des Euro soll der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl seiner Einführung unter der Bedingung zugestimmt haben, dass sich der französische Staatspräsident François Mitterrand mit der Wiedervereinigung Deutschlands einverstanden erklärt. Beide Männer waren ausschlaggebend für eine Vertiefung der europäischen Einigung – und hatten maßgeblichen Anteil an vielen der politischen Entscheidungen, die ich in diesem Buch diskutiere.

Diese Vorgeschichte des Euro ist wichtig, interessiert uns hier aber nur am Rande. Mir geht es vor allem um die Feststellung, auf die ich wiederholt zurückkommen werde, dass der Euro ein politisches Projekt war und dass, wie bei jedem politischen Projekt, politische Interessen eine Rolle spielten.

In der Politik kommt es außerdem auch auf die Persönlichkeiten an – man denke etwa an Jacques Delors, dessen Kommission im Jahr 1989 den Plan für die Einführung des Euro erarbeitete. Allerdings liegt auch dies jenseits des thematischen Schwerpunkts dieses Buches. Ich kann nur erahnen, was in den Köpfen derjenigen vor sich ging, die den Euro aus der Taufe hoben. Sie waren überzeugt davon, das System würde funktionieren – sonst hätten sie ihm nicht zugestimmt. Es wäre naiv gewesen, hätten sie gedacht, Probleme würden in der Zukunft nicht zum Vorschein kommen; wahrscheinlich glaubten sie, sämtliche Probleme könnten und würden gelöst werden. Sie glaubten, die Gemeinschaftswährung, der Euro, und die dafür zuständigen Institutionen, vor allem die Europäische Zentralbank (EZB), würden auf Dauer Bestandteil der Europäischen Union sein. Aber in diesem Buch geht es nicht um diese Geschichte oder darum, wie sich jeder der Euro-Gründungsväter die Funktionsweise dieses neuen Systems vorstellte.

Mich interessieren vielmehr die Ergebnisse dieser Vorgeschichte – wie sie sich interpretieren lassen und was wir daran ändern können. Es geht in diesem Buch um ökonomische Sachverhalte, ökonomische Ideologien und deren Wechselwirkungen mit politischen Interessen: Es ist eine Fallstudie darüber, dass es nicht nur enttäuschende, sondern sogar verheerende Konsequenzen haben kann, wenn neue Institutionen und Politiken auf der Grundlage einer grob vereinfachenden Sicht ökonomischer Zusammenhänge geschaffen beziehungsweise konzipiert werden, selbst wenn dies in bester Absicht geschieht.

Geburtsfehler

Die Eurozone war von Beginn an eine Fehlkonstruktion. Schuld an der Leistungs- und Wachstumsschwäche der gesamten Region sowie an ihren zahlreichen Krisen ist die Struktur der Eurozone, das heißt ihr rechtlicher und institutioneller Ordnungsrahmen. Die Vielfalt Europas war immer seine Stärke. Aber eine Einheitswährung kann in einer ökonomisch und politisch so extrem heterogenen Region nur schwerlich funktionieren. Eine Einheitswährung ist mit einem festen Wechselkurs zwischen den teilnehmenden Ländern und einem einheitlichen Zinssatz verbunden. Selbst wenn diese so festgesetzt werden, dass sie den Verhältnissen in den meisten Mitgliedstaaten entsprechen, bedarf es angesichts der großen ökonomischen Unterschiede zwischen ihnen einer Reihe von Institutionen, die jenen Ländern helfen können, deren Volkswirtschaften mit diesen Vorgaben nur schlecht zurechtkommen. Aber Europa hat es unterlassen, solche Institutionen zu schaffen.

Außerdem müssten die Regeln hinreichend flexibel sein, um eine Anpassung an unterschiedliche Verhältnisse, Überzeugungen und Werte zu erlauben. Europa hat dies in seinem Grundsatz der Subsidiarität verankert, der besagt, dass möglichst viele politische Entscheidungen auf nationaler und nicht auf europäischer Ebene getroffen werden sollten, weil die untergeordnete Ebene besser mit den zu regelnden Sachverhalten vertraut ist.7 Da das Budget der Europäischen Union lediglich etwa 1 Prozent ihres BIP beträgt (im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo sich die Ausgaben des Bundes auf mehr als 20 Prozent des BIP belaufen),8 ist die EU tatsächlich nur für einen kleinen Teil der öffentlichen Ausgaben zuständig.9 Aber ausgerechnet in einem Bereich, der für das Wohlergehen der einzelnen Bürger von zentraler Bedeutung ist – der Geldpolitik, die die Arbeitslosigkeit und die Existenzgrundlage der Menschen entscheidend beeinflusst –, wurde der 1998 gegründeten Europäischen Zentralbank die alleinige Zuständigkeit übertragen. Und aufgrund strenger Vorgaben in Bezug auf die zulässige Defizitfinanzierung der Staatshaushalte verfügen die einzelnen Länder nicht mehr über genügend fiskalpolitischen Gestaltungsspielraum (Beeinflussung der Konjunktur durch Steuern und Ausgaben), um bei einer rückläufigen konjunkturellen Entwicklung eine tiefe Rezession abzuwenden.10

Schlimmer noch, in der Struktur der Eurozone selbst sind gewisse Grundannahmen über die Voraussetzungen einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung verankert – zum Beispiel, dass sich die Zentralbank auf die Bekämpfung der Inflation konzentrieren sollte, wohingegen das Mandat der US-Notenbank (Federal Reserve) auch die Ziele Vollbeschäftigung, Wachstums- und Stabilitätsförderung umfasst.11 Nicht nur wurde die Eurozone nicht so gestaltet, dass sie den wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Euroländern Rechnung getragen hätte – vielmehr war die Struktur der Eurozone, ihr rechtlicher Ordnungsrahmen, nicht auf die Förderung von Wachstum, Beschäftigung und Stabilität ausgerichtet.

Verschärft wurden die strukturellen Probleme der Eurozone durch die politischen Maßnahmen, die in der Eurozone und in den Krisenländern ergriffen wurden, insbesondere im Gefolge der Krise. Ungeachtet der Konstruktionsfehler der Eurozone gab es Handlungsspielräume. Aber Europa hat diese nicht richtig genutzt. Es verdonnerte die Krisenländer zu einer Austeritätspolitik – drastischen Kürzungen der Staatsausgaben. Es verlangte »Strukturreformen«, unter anderem Neuordnungen der Arbeitsmärkte und der Rentensysteme. Dabei hat die Eurozone jene Reformen, die am ehesten die tiefen Rezessionen in diesen Ländern beendet hätten, größtenteils sträflich vernachlässigt. Selbst wenn diese politischen Vorgaben perfekt umgesetzt worden wären, hätte dies die Wirtschaft in den Krisenländern beziehungsweise in der Eurozone insgesamt nicht wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückgebracht.

Am dringlichsten sind daher Reformen der Struktur der Eurozone selbst – nicht in den einzelnen Mitgliedsländern –, und tatsächlich wurden einige zögerliche Schritte in diese Richtung unternommen. Aber es sind zu wenige und sie werden zu langsam umgesetzt. Deutschland und andere Länder gaben den Opfern die Schuld, jenen Ländern, die infolge der politischen Fehlentscheidungen und der Fehlkonstruktion der Eurozone in eine Wirtschaftskrise schlitterten. Doch ohne tief greifende Reformen des Ordnungsgefüges der Eurozone selbst kann Europa seine Wachstumsschwäche nicht überwinden.

Die Ursachen der Konstruktions- und Politikfehler

Weshalb sollten Staatsmänner mit hehren Absichten, die die europäische Einheit festigen und intensivieren wollen, etwas schaffen, was das genaue Gegenteil bewirkt? In diesem Buch geht es nicht nur um dieses bedeutende Ereignis, die Eurokrise, die Europa tief greifend verändert, und die ökonomischen Faktoren, die ihr zugrunde liegen. Es geht um die enge Verflechtung von Politik und Ökonomie und um den Einfluss von Ideen und Überzeugungen.

Der Euro war zwar ein politisches Projekt, aber der politische Zusammenhalt – insbesondere was die Bereitschaft und den Willen anlangt, Zuständigkeiten von den souveränen Nationalstaaten an die EU zu übertragen – war nicht stark genug, um die ökonomischen Institutionen zu schaffen, die aus dem Euro vielleicht eine Erfolgsgeschichte gemacht hätten. Zudem ließen sich die Gründerväter des Euro von einer Reihe von Ideen leiten, ökonomischen Konzepten, die dem damaligen Zeitgeist entsprachen, aber schlichtweg falsch sind.12 Sie glaubten, die Märkte würden alles schon von selbst regeln, und verstanden nicht die Begrenzungen von Märkten und die Notwendigkeit, sie mitunter aktiv zu gestalten. Diese unerschütterliche Marktgläubigkeit wird auch Marktfundamentalismus oder Neoliberalismus genannt.13 Marktfundamentalisten glauben zum Beispiel, die Märkte würden von selbst Wachstum und Wohlstand für alle schaffen, sofern der Staat nur für eine stabil niedrige Inflationsrate sorge. Während der Marktfundamentalismus insbesondere seit der Weltfinanzkrise von 2008 in den meisten Ländern weitgehend diskreditiert ist, überdauert er hartnäckig in Deutschland, das in der Eurozone eine Vormachtstellung einnimmt. Hier halten viele mit einer solch unbeirrbaren Überzeugung und Gewissheit an diesen Glaubenssätzen fest – selbst wenn sie von neuen empirischen Befunden widerlegt worden sind –, dass man von einer Ideologie sprechen muss. Im Vorwort habe ich bereits angedeutet, dass ähnliche Ideen, die von der Weltbank und dem IWF weltweit propagiert wurden, zu einem verlorenen Vierteljahrhundert in Afrika, einer verlorenen Dekade in Lateinamerika und einer zumindest enttäuschend verlaufenden marktwirtschaftlichen Transformation in den ehemaligen Ostblockstaaten führten.

Die strukturellen und politischen Defizite der Eurozone können daher größtenteils einer verfehlten Wirtschaftsideologie, die zum Zeitpunkt der Vorbereitung und Konzipierung des Euro tonangebend war, und mangelnder politischer Solidarität zugeschrieben werden. Diese Kombination führte dazu, dass der Euro mit Geburtsfehlern zur Welt kam, die seine »Lebenserwartung« in absehbarer Weise verkürzten.

Falsche Vorstellungen über wirtschaftliche und politische Reformen

Auch falsche Vorstellungen über den Reformprozess hatten ihren Anteil. Die Verantwortlichen wussten, dass das Projekt der Eurozone unvollständig war. Aber man sah darin nur einen Schritt in einem längerfristigen Prozess. Die durch den Euro angestoßene Dynamik würde schon dafür sorgen, dass notwendige, aber noch fehlende Institutionen geschaffen würden. Dieser Erfolg würde dann die politische und wirtschaftliche Einigung weiter vertiefen.

In meiner Zeit als Chefökonom der Weltbank lernte ich, dass man bei der zeitlichen Planung und beim Tempo von Reformen außerordentlich vorsichtig sein muss.14 Ein anfängliches Scheitern erhöht den Widerstand gegen weitere Reformen. Das ist die Geschichte des Euro.

Alternativen

Verfechter der gegenwärtigen Politik innerhalb der Eurozone haben, angeführt von Deutschland, behauptet, die heutige Struktur (von den geringfügigen Modifikationen einmal abgesehen) und die von ihr auferlegten politischen Maßnahmen seien »alternativlos«. Dies wurde so oft wiederholt, dass diese »Alternativlosigkeit« mittlerweile keiner näheren Begründung mehr zu bedürfen scheint. Teil IV (Kapitel 9–12) zeigt jedoch, dass es durchaus Alternativen zur gegenwärtigen Vorgehensweise gibt – Reformen, die den Euro zu einer gut funktionierenden Währung machen würden (Kapitel 9), die eine »einvernehmliche Scheidung« (Kapitel 10) oder auch eine Zwischenlösung ermöglichten (Kapitel 11), aus der bei hinreichendem politischem Willen mühelos eine erfolgreiche Einheitswährung hervorgehen könnte. Aber der gegenwärtige halbgare Kompromiss – eine Gemeinschaftswährung ohne die institutionellen Mindestvoraussetzungen für einen gemeinsamen Währungsraum – hat nicht funktioniert und wird aller Voraussicht nach nicht funktionieren. Es gibt nur die Wahl zwischen »mehr Europa« oder »weniger Europa«.

Schlimmer als ein verlorenes Jahrzehnt?

Schlägt die Krise einmal zu, dauert es mitunter Jahre, bis Volkswirtschaften wieder das Wachstums- und Beschäftigungsniveau der Zeit vor der Krise erreichen. Doch sind die Aussichten für Europa düsterer: In den meisten europäischen Ländern wird der Lebensstandard höchstwahrscheinlich nie das Niveau erreichen, das er ohne Eurokrise erreicht hätte – oder das er erreicht hätte, wenn die Eurokrise besser bewältigt worden wäre. Aber das Scheitern des Euro reicht noch tiefer.

Anhänger des Euro behaupten zu Recht, der Euro sei kein bloß ökonomisches Projekt, welches den allgemeinen Wohlstand dadurch heben wolle, dass es die Ressourcenzuteilungen effizienter mache – entsprechend den Grundsätzen des komparativen Vorteils, durch Förderung des Wettbewerbs, durch Nutzung von Skaleneffekten und durch Stärkung der wirtschaftlichen Stabilität. Noch wichtiger war der Euro als politisches Projekt; er sollte die politische Einigung Europas vorantreiben, die Menschen und Länder Europas näher zusammenbringen und eine friedliche Koexistenz sicherstellen.

Der Euro hat keines seiner beiden wichtigsten Ziele – Wohlstand und politische Integration – erreicht: Diese Ziele liegen heute in weiterer Ferne als vor der Gründung der Eurozone. Statt in Frieden und Eintracht zu leben, begegnen sich die Länder Europas heute mit Misstrauen und Wut. Alte Stereotype werden wiederbelebt, wenn Nordeuropa den Süden als faul und unzuverlässig verunglimpft, während zugleich Erinnerungen an das Verhalten Deutschlands in den Weltkriegen heraufbeschworen werden.

Eine gravierende Wachstumsschwäche

Die ökonomische Leistungsbilanz der Länder der Eurozone fällt enttäuschend aus. Die Eurozone stagniert mehr oder weniger, und seit der Weltfinanzkrise ist ihre Wirtschaftskraft besonders stark eingebrochen. Kritiker des Euro sagten schon immer, dessen eigentliche Bewährungsprobe komme, wenn ein asymmetrischer Schock die Länder der Eurozone treffe, ein überraschendes Ereignis also, das die Länder unterschiedlich stark in Mitleidenschaft ziehe. Die Nachwirkungen der globalen Finanzkrise von 2008 haben gezeigt, dass sich diese Befürchtungen bewahrheiteten, und mehr als das: Die Volkswirtschaften der Eurozone entwickelten sich schlechter, als es selbst die größten Kritiker vorhersagten. Die Krise begann in den Vereinigten Staaten, aber die Vereinigten Staaten haben sich regeneriert – wenngleich es eine anämische Erholung ist; so lag das reale BIP im Jahr 2015 10 Prozent höher als 2007.15 Das BIP der Eurozone dagegen hat sich seit 2007 kaum verändert – tatsächlich ist das inflationsbereinigte Pro-Kopf-Einkommen, wie erwähnt, gesunken.16 Die Eurozone hat sogar eine Double-Dip-Rezession (zwei aufeinanderfolgende Rezessionen mit einer zwischenzeitlichen kurzen Erholung) durchgemacht. Einige Länder außerhalb der Eurozone wie etwa Schweden und Norwegen haben sich recht gut geschlagen. Es gibt einen Faktor, der maßgeblich für die Wachstumsschwäche der Eurozone verantwortlich ist: der Euro.

Selbst Deutschland steht schlecht da

Deutschland stellt sich selbst als Erfolgsgeschichte hin, als das Land, an dem sich andere ein Beispiel nehmen sollten. Die deutsche Wirtschaft ist seit 2007 um 6,8 Prozent gewachsen, was einer durchschnittlichen Wachstumsrate von lediglich 0,8 Prozent pro Jahr entspricht.17 Diese würde unter normalen Umständen als Quasi-Stagnation angesehen.18 Es sollte ebenfalls erwähnt werden, dass gewisse Entwicklungen in Deutschland vor der Krise, zu Beginn der Nullerjahre – als das Land Reformen durchführte, die drastische Einschnitte im sozialen Sicherungsnetz mit sich brachten – auf Kosten der Arbeitnehmer gingen, besonders der einkommensschwächsten. Während die Reallöhne stagnierten (nach manchen Quellen sogar sanken), wurde die Kluft zwischen den unteren und mittleren Einkommensgruppen größer – um ungefähr 9 Prozent in der kurzen Zeitspanne von weniger als einem Jahrzehnt. Und in den Nullerjahren wuchsen auch Armut und Ungleichheit.19 Deutschland kann nur im Vergleich zu den anderen Ländern der Eurozone als »Erfolgsgeschichte« angesehen werden.

Wie der Euro die Eurokrise schuf

Verfechter des Euro entgegnen, der Euro habe sich sehr wohl bewährt, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Zwischen 1999 und 2007 sei es tatsächlich zu einer Konvergenz gekommen, wobei die schwächeren Länder schneller wuchsen, weil die öffentlichen Hände und Unternehmen für ihre Kredite weniger Zinsen zahlen mussten.20 Es sei dem Euro gelungen, die ökonomische Integration zu fördern, da Kapital in die ärmeren Länder floss. Für die Euro-Anhänger war der Euro das Opfer eines verhängnisvollen Sturms, der von der anderen Seite des Atlantiks heraufzog, eines Jahrhundert-Hurrikans. Die Tatsache, dass der Hurrikan schwere Verwüstungen anrichtete, dürfe nicht dem Euro angelastet werden: Robuste Wirtschaftssysteme trotzten normalen Stürmen, aber selbst ein optimal gestaltetes System könne solch seltenen Ereignissen nicht standhalten, behaupten die Verfechter.

Es stimmt, dass die Weltfinanzkrise den schwächsten Punkt des Euro aufdeckte: die Tatsache, dass er Anpassungen an Schocks behinderte, die sich auf verschiedene Länder der Eurozone unterschiedlich auswirkten. Aber der Euro war nicht das unschuldige Opfer einer Krise, die andernorts entstand. Märkte, die immer für irrationalen Überschwang und Pessimismus anfällig sind, haben fälschlicher- und irrationalerweise angenommen, die Beseitigung des Wechselkursrisikos (bei einer Einheitswährung besteht kein Risiko mehr, dass sich der Wert zum Beispiel der italienischen Lira im Verhältnis zur spanischen Peseta ändert) bedeute, dass auch das Länderrisiko verschwinde – das Risiko, dass ein Staat seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Die Märkte teilten die Euphorie über die Einführung des Euro, und wie die Politiker, die mithalfen, ihn aus der Taufe zu heben, dachten sie nicht weiter über die ökonomischen Aspekte der neuen Währung nach. Sie erkannten nicht, dass der Euro so, wie er konzipiert worden war, das Länderrisiko de facto erhöhte (vgl. Kapitel 4).

Nach der Einführung des Euro im Jahr 1999 verzeichneten die Länder der Peripherie – die kleineren Länder wie Griechenland, Spanien und Portugal, die den »Kern« Europas, Frankreich, Deutschland und Großbritannien, umgeben – hohe Kapitalzuflüsse und die Zinsen sanken. Entsprechend dem Muster, das weltweit überall dort auftrat, wo Märkte liberalisiert wurden, folgte auf den massiven Kapitalzufluss in ein Land ein ebenso jäher Abfluss, als den Märkten plötzlich aufging, dass sie übermäßig euphorisch gewesen waren. In diesem Fall war die Weltfinanzkrise der Auslöser: Unvermittelt hatten Griechenland, Spanien, Portugal und Irland keinen Zugang mehr zu Krediten, und dies in einer Krise, für welche die Gründerväter der Eurozone keine Vorkehrungen getroffen hatten. Als sich in der Asienkrise zehn Jahre zuvor die Kapitalströme infolge eines plötzlichen Stimmungsumschwungs bei den Investoren jäh umkehrten, verloren die Währungen der betroffenen Länder massiv an Wert – was diesen Ländern bei der Bewältigung der Krise half. Die peripheren Euroländer hatten diese Möglichkeit nicht.21 Die Verantwortlichen der Eurozone hatten nicht mit einem solchen Ereignis gerechnet, das sie daher völlig unvorbereitet traf.

Divergenz statt Konvergenz

Zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Publikationen befassen sich mit der Frage, was eine Gruppe von Ländern, die eine Gemeinschaftswährung einführen wollen, tun muss, damit diese allen Wohlstandszuwächse beschert.22 Die Ökonomen waren sich einig, dass eine Einheitswährung nur dann funktionieren könne, wenn hinreichende Gemeinsamkeiten zwischen den teilnehmenden Ländern bestehen.

Man kann darüber diskutieren, welche Art von Gemeinsamkeit notwendig ist, aber hier mag der Hinweis genügen, dass das, was viele Europäer (insbesondere die deutsche Regierung) für erforderlich hielten – eine sogenannte solide Finanzpolitik, geringe Haushaltsdefizite und eine niedrige Staatsverschuldung – nicht ausreichte, um den Euro zu einer gut funktionierenden Währung zu machen, und vermutlich nicht einmal notwendig ist.

Diesen fiskalischen Aspekten wurde ein so großes Gewicht beigemessen, dass sie Konvergenzkriterien genannt wurden. Aber so, wie der Euro designt wurde, führte dies zu einer Divergenz: Wenn eine Volkswirtschaft von einem »Schock« getroffen würde, würden die stärkeren Länder auf Kosten der schwächeren gewinnen. Die fiskalischen Vorgaben im Rahmen der Konvergenzkriterien – Begrenzungen der Haushaltsdefizite und des staatlichen Schuldenstands im Verhältnis zum BIP – trugen selbst zur Divergenz bei.

In Kapitel 5 erläutern wir ausführlich, wie die Struktur der Eurozone der Abwanderung von Arbeitskräften – insbesondere der talentiertesten und bestausgebildeten – und dem Fluss von Kapital aus den armen, wachstumsschwachen Ländern in die reichen, leistungsstarken Länder Vorschub leistete. Die reichen, leistungsstarken Länder konnten in bessere Schulen und Infrastruktur investieren. Ihre Banken konnten mehr Kredite vergeben, was Existenzgründungen erleichterte. Schlimmer noch, schwächere Länder wurden durch EU-Vorgaben davon abgehalten, politische Maßnahmen zu ergreifen, durch die ihnen vielleicht der Anschluss an die stärkeren gelungen wäre.

Abgesehen von rhetorischen Solidaritätsbekundungen ist die Realität ein gespaltenes Europa, das kaum die Kraft für jene politischen Entscheidungen aufbringen wird, die Europa wieder auf den Pfad der Wohlstandsmehrung zurückführen würden.

Das Opfer zum Sündenbock machen

Die negativen Auswirkungen eines Ordnungsgefüges, das beinahe zwangsläufig zur Divergenz innerhalb der Eurozone führen musste, wurden durch politische Entscheidungen verstärkt, die die Verantwortlichen der Eurozone vor allem im Zuge der Eurokrise trafen. Selbst innerhalb der engen Vorgaben der Eurozone wäre eine andere Politik möglich gewesen. Dass es dazu nicht kam, ist keine Überraschung: Eine Kernthese dieses Buches lautet, dass die gleiche Denkweise, die den Konstruktionsfehlern des Euro zugrunde liegt, auch die politischen Fehlentscheidungen motivierte.

Es ist vielleicht verständlich, dass die Entscheidungsträger der Eurozone dem Opfer die Schuld geben möchten, dass sie die Länder, die in einer Rezession oder Depression stecken, für diese Missstände verantwortlich machen wollen. Sie wollen sich nicht selbst und den großartigen Institutionen, die sie geschaffen haben und an deren Spitze sie heute stehen, die Schuld geben. Dem Opfer die Schuld zu geben wird die Eurokrise nicht lösen – und außerdem ist es in hohem Maße unfair. Und in Anbetracht dieser Einstellung, das Opfer zum Sündenbock zu machen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Solidarität zunehmend bröckelt.

Als Griechenland in die Krise geriet, konnte man leicht sagen, das Land sei selbst schuld. Griechenland müsse nur endlich Reformen anpacken – sich an die Regeln halten, seine Verschuldung abbauen und sein Sozialhilfe-, Renten- und Gesundheitssystem umgestalten –, und schon würde seine Wirtschaft wieder florieren und seine Probleme ließen sich mühelos lösen. Natürlich kann man mit Fug und Recht vieles an der Politik und den Institutionen Griechenlands kritisieren. Die Wirtschaft befindet sich weitgehend in der Hand von Oligarchen (relativ wenige superreiche Familien nehmen enormen Einfluss auf die Wirtschaft und haben in einigen wichtigen Sektoren wie dem Kreditgewerbe und den Medien eine beherrschende Stellung). Aufeinanderfolgende Regierungen haben skrupellos Schulden aufgetürmt, wobei die desolate Haushaltslage dadurch verschlimmert wurde, dass die Einziehung von Steuerschulden noch schlechter als in anderen Ländern funktionierte, in denen Kleinunternehmen eine tragende Rolle spielen. Die Frage war nicht, ob Griechenland perfekt war. Diese Probleme machten Griechenland bereits zu schaffen, als es schneller wuchs als der Rest Europas. Sie existierten bereits, als Europa beschloss, Griechenland in die Europäische Union und die Eurozone aufzunehmen. Die Frage war, welche Rolle diese Probleme in der Krise spielten. Die Behauptung, die Eurokrise sei durch Versäumnisse in Griechenland verursacht worden, wäre vielleicht überzeugend, wenn Griechenland das einzige Land der Eurozone mit Schwierigkeiten wäre. Aber dem ist nicht so. Irland, Spanien, Portugal, Zypern und mittlerweile sogar Finnland, Frankreich und Italien stehen vor gravierenden Problemen. Wenn so viele Länder mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, drängt sich der Verdacht auf, dass die Ursachen dafür irgendwo anders liegen müssen.

Es ist misslich, dass ausgerechnet Griechenland als erstes Land von der Krise getroffen wurde, denn die griechischen Probleme ermöglichten Deutschland und anderen, sich auf die vermeintlichen Versäumnisse Griechenlands zu konzentrieren, insbesondere seine angebliche unsolide Haushaltspolitik, und gleichzeitig die Probleme zu ignorieren, von denen andere Länder gebeutelt wurden, die keine hohen Schuldenstände oder Defizite (zumindest nicht vor der Krise) aufwiesen. Vor der Krise erzielten Spanien und Irland Haushaltsüberschüsse – ihre Einnahmen waren größer als ihre Ausgaben –, und beide hatten einen niedrigen Schuldenstand im Verhältnis zum BIP. Wenn die Theorie der deutschen Regierung, wonach Defizite und Schulden die Ursache der Krise sind, richtig wäre – und die beste Krisenpräventionsstrategie folglich darin bestünde, strenge Defizit- und Verschuldungsauflagen durchzusetzen –, dann hätten Spanien und Irland nie in eine Krise schlittern dürfen. Im Anschluss an die Weltfinanzkrise von 2008 verzeichneten beide hohe Schuldenstände und Haushaltsdefizite – aber es war die Tiefe und lange Dauer der Krise, die zu den Schulden und Defiziten führte, und nicht umgekehrt.

Herbert Hoover scheitert erneut

Die Kritik am Euro konzentrierte sich auf die »Programme«, die den Krisenländern auferlegt wurden, die um Finanzhilfen ersuchten: Portugal, Irland, Griechenland, Spanien und später Zypern. Diese von der Troika – dem Triumvirat aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission – ausgearbeiteten Programme zwangen die Krisenländer de facto dazu, im Gegenzug für die Finanzhilfen einen Großteil ihrer wirtschaftspolitischen Autonomie an ihre »Partner« abzutreten. Dem Krisenland werden unter strengen Auflagen Hilfsgelder als Kredite (und nur selten als nicht rückzahlbare Zuschüsse) zur Verfügung gestellt. Der Kredit samt Auflagen und dem Zeitplan für die Erfüllung der Auflagen wird Programm genannt.

Anders als bei gewöhnlichen Krediten, bei denen die Kreditbedingungen im Allgemeinen das Kreditausfallrisiko minimieren sollen, erstrecken sich die Auflagen der Eurozone auf Bereiche, die nicht direkt mit der Kreditzurückzahlung zusammenhängen. Sie versuchen sicherzustellen, dass die Wirtschaftspolitik des Landes dem entspricht, was dieses nach Ansicht der Finanzminister der Eurozonenländer (unter Führung insbesondere Deutschlands) tun sollte. Dieser Zwang bewirkte das Gegenteil, denn die Auflagen verstärkten oftmals die konjunkturelle Talfahrt. Entsprechend wuchs das Risiko, dass die Hilfskredite nicht zurückgezahlt werden konnten.

Diese Programme retteten die Banken und die Finanzmärkte, waren aber ansonsten ein Fehlschlag: Was hätte sinken sollen, stieg an, und was hätte ansteigen sollen, ging zurück. Die Verschuldung hat sowohl absolut als auch im Verhältnis zum BIP zugenommen, das heißt, dass sie weniger tragfähig ist. In vielen Krisenländern ist die Ungleichheit gewachsen, es gibt mehr Suizide und Massenarmut, während die Einkommen sinken.23 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat nur eines der Krisenländer (Irland) wieder sein BIP vor der Krise erreicht. Die Troika lag mit ihren Prognosen durchweg sehr weit daneben. So wurde etwa vorhergesagt, dass die Krisenländer schnell auf den Wachstumspfad zurückkehren würden. Dabei waren die Rezessionen viel tiefer und dauerten viel länger, als es die Modelle der Troika errechnet hatten.

Austerität

Jedes Programm besteht aus zwei gleich wichtigen Teilen – den makroökonomischen Anpassungen, vor allem Ausgabenkürzungen, und den Strukturreformen. Die tonangebenden Mächte in der Eurozone glaubten (irrigerweise) nicht nur, niedrige Defizite und Schuldenstände würden Krisen verhindern, sie waren auch der Ansicht, einem Land in einer Rezession werde am besten mit einer großen Dosis Austerität geholfen – Ausgabenkürzungen, die das Defizit verringern sollen. Zur Zeit des Börsencrashs im Jahr 1929 war Herbert Hoover Präsident der Vereinigten Staaten; seine Sparpolitik machte aus dem Börsenkrach die Große Depression. Seit Hoover wurde diese Politik immer wieder angewandt, und sie scheiterte wiederholt: der IWF hat es in jüngerer Vergangenheit in Argentinien und Ostasien ausprobiert. In Kapitel 7 werde ich ausführlicher erläutern, warum die Austeritätspolitik dort scheiterte – und warum sie in Europa scheiterte. Statt die Voraussetzungen für eine Erholung der Konjunktur zu schaffen, hat sie die Rezessionen verschlimmert. Austerität hat immer und überall die gegenteiligen Effekte gehabt, die wir in Europa beobachten: Je stärker der Sparkurs, umso stärker der konjunkturelle Abschwung. Es ist schleierhaft, wieso die Troika glaubte, dass es diesmal in Europa anders sein würde.

Strukturreformen

Der zweite Teil jedes »Programms« bestand aus einem Forderungskatalog notwendiger Änderungen an den wirtschaftlichen und rechtlichen »Spielregeln«, den sogenannten Strukturreformen. Auch wenn die Troika überbordende öffentliche Ausgaben als die eigentliche Ursache der Krise ansah, erkannte sie das Problem, das in der Rigidität des Euro liegt.

Da Eurokrisenländer keine nationalen Währungen mehr besitzen, können sie nicht durch Abwertungen ihre Exportgüter verbilligen und so den Außenhandel ankurbeln. Nach Ansicht der Troika können sie ihre »Wettbewerbsfähigkeit« daher nur zurückerlangen, indem sie Löhne und Preise senken und ihre Volkswirtschaften restrukturieren, um sie beispielsweise durch die Zerschlagung von Monopolen effizienter zu machen. Leider hat die Troika nicht die Strukturreformen auf die Agenda gesetzt, die sinnvoll gewesen wären. Einige Reformen bezogen sich auf Nebensächliches, andere mögen den Lebensstandard langfristig heben, wirken sich jedoch kurzfristig kaum auf das Leistungsbilanzdefizit aus.24 Kapitel 8 wird zeigen, dass einige Reformen kurzfristig sogar kontraproduktiv waren, was die Überwindung der Wachstumsschwäche anlangt.

Ein Teil der Reformen der Troika führte entweder direkt (durch Schwächung der Arbeitnehmerrechte bei Tarifverhandlungen) oder indirekt (durch steigende Arbeitslosigkeit) zu Lohnsenkungen. Die Troika hoffte, die niedrigeren Löhne würden zu Preissenkungen bei Exportgütern und folglich einem Anstieg der Exporte führen. Doch die Ausweitung der Exporte war in den meisten Fällen enttäuschend.

Die Eurozone hätte selbstverständlich andere Möglichkeiten gehabt, notwendige Anpassungen voranzubringen. Wenn die Löhne und Preise in Deutschland gestiegen wären, hätte dies den Wert des Euro gedrückt, sodass die Krisenländer international wettbewerbsfähiger geworden wären. Dies wäre eine weitaus effizientere Weise der Anpassung gewesen – die Deutschland auferlegten Kosten wären gering gewesen im Verhältnis zu denen, die nun den Krisenländern aufgebürdet werden. Aber dann hätte Deutschland ein wenig mehr von den Anpassungslasten tragen müssen, und das wollte es nicht. Es ist heute das dominierende Land innerhalb der Eurozone, und daher konnte die deutsche Regierung dafür sorgen, dass die ärmeren »Partner«, die Krisenländer, die gesamten Anpassungslasten schultern müssen.

Sowohl der Sparkurs als auch die Strukturreformen haben die Krisenländer nicht zurück auf den Wachstumspfad geführt. Deutschland und andere Länder der Eurozone haben die Ursache des Problems falsch diagnostiziert, als sie den Krisenländern selbst die Schuld gaben und sich auf die Haushaltsdefizite konzentrierten. Notwendig sind weniger Strukturreformen in einzelnen Ländern – insbesondere wenn sie (wie so oft) schlecht durchdacht sind, zur Unzeit erfolgen oder rundweg kontraproduktiv sind –, als vielmehr eine Strukturreform der Eurozone selbst. Natürlich sind in jedem Land Strukturreformen notwendig. In den Vereinigten Staaten sollten wir das Gesundheitssystem, das Bildungswesen, den Energiesektor, das Urheberrecht und den Verkehrssektor reformieren. Länder, die solche Anpassungen nicht rechtzeitig durchführen, werden mit sinkendem Lebensstandard bestraft. Derartige Reformen sind für ärmere Länder wie Griechenland besonders wichtig. Aber irgendetwas hält sie offensichtlich davon ab. Dass diese Reformen wünschenswert sind, steht außer Frage. Allerdings müssen Reformen sorgfältig geplant und aufeinander abgestimmt werden, wenn sie Erfolg haben sollen, und die Bürger müssen sie befürworten – das heißt, sie müssen ihren Nutzen erkennen. Es genügt nicht, nur zu sagen, dass es nach diesen Reformen langfristig allen besser gehen wird.25

Der Troika ist es überhaupt nicht gelungen, die Bürger der Länder, denen sie Strukturreformen auferlegten, von Sinn und Zweck dieser Maßnahmen zu überzeugen, teils weil sie schlecht geplant und koordiniert wurden, und teils weil viele Reformen bestenfalls fragwürdig sind. Selbst ein noch so guter Verkäufer hätte sie nicht »verkaufen« können. Das belegen die folgenden Kapitel mehr als hinlänglich.

Das Rätsel einer kontraproduktiven Politik

Man muss sich hinsichtlich der Programme in Europa fragen, warum die Kreditgeber (die Troika) kontraproduktive Auflagen machten, die die Wahrscheinlichkeit der Kreditrückzahlung verringerten. Glaubten die Kreditgeber wirklich, ihre Programme würden den Volkswirtschaften zügig wieder Wachstum bringen? Dass sie mit ihren Vorhersagen danebenlagen, und zwar mehrfach und sehr deutlich, bestätigt diese Hypothese. Aber angesichts der Geschichte gescheiterter Sparprogramme muss man fragen, weshalb irgendjemand glauben konnte, dass sie in Europa erfolgreich sein würden, wenn sie andernorts scheiterten.