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Walter Abendroth

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Beschreibung

Walter Abendroth ist der Frage nachgegangen, was Reinkarnation in der Anthroposophie Rudolf Steiners bedeutet. Die hier zusammengestellten und kommentierten Rudolf-Steiner-Texte bilden ein Kompendium anthroposophischen Reinkarnationsverständnisses, sind ein Plädoyer wider das Gesetz der Einmaligkeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Walter Abendroth

Reinkarnation

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Inhalt

Perspektiven der Anthroposophie [...]§ 94Jedermann kennt jenen fundamentalen [...]Die Wissenschaftlichkeit der AnthroposophieReinkarnation und Karma, vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige VorstellungenWie Karma wirktGeisteswissenschaft und soziale FrageAnmerkungen Rudolf Steiners zu den TextenQuellennachweis

Perspektiven der Anthroposophie

 

Herausgegeben von Johannes M. Mayer und Wolfgang Niehaus

§ 94

… Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?

§ 95

Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

§ 98

Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?

§ 99

Darum nicht? – Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß ich es vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?

 

aus: Lessing Die Erziehung des Menschengeschlechts

Jedermann kennt jenen fundamentalen Satz, der in irgendeiner gedanklichen Variante, irgendeiner sprachlichen Formulierung bei allen Völkern im Schwange ist, gleich einem unabänderlichen Refrain in allen Literaturen, aller volkstümlichen Dichtung, nicht zuletzt in zahlreichen Werken der leichten Unterhaltungskunst wiederkehrt und dessen lapidarste Fassung lautet:

»Man lebt ja nur einmal in dieser Welt!«

Wie ein unumstößlicher, unbeweglicher Block steht dieser Satz da, und er »blockiert« das Daseinsbewußtsein der heutigen Menschen, wie nur die Einsicht einer unausweichlichen Naturtatsache das menschliche Denken, Fühlen und Wollen zu blockieren vermag. Aber trotz dieser blockierenden, dieser Grenzen setzenden, gewissermaßen lähmenden Wirkung enthält er doch ein Potential verschiedenartigster Folgerungen.

Es ist merkwürdig, daß dieselben Menschen, die sich so ungern daran erinnern lassen, daß sie einmal sterben müssen, ohne Beklemmung jenen Satz hersagen oder ihn auf irgendeine heitere Liedweise trällern – obwohl er doch nichts anderes besagen will als das gefürchtete Memento mort. Sie unterliegen dabei einer »heimlichen Aufforderung«, die in der Einmaligkeitsfeststellung liegt; einer Lockung, die nur einmal gegebene Chance auszunutzen. Auszunutzen – wozu? Da eben eröffnen sich die verschiedenen Möglichkeiten.

Am meisten entspricht besagter »Lockung« das Bestreben, die kurze Zeitspanne so freudenreich, sorglos und unbeschwert wie es eben gehen will, zu durchlaufen, kein Vergnügen zu versäumen, jede Unbequemlichkeit tunlichst zu meiden. So folgert der »goldene Leichtsinn«, das optimistische Temperament, der naive Egoismus. Verhärten sich diese Wesensanlagen, so geht die egoistische Folgerung noch weiter: da wartet der Mensch die sich von selbst ergebenden Glücksfälle nicht mehr ab, sondern er macht seinen Anspruch auf Freude, Genuß, Vorteil und Bequemlichkeit auf eigene Faust und ohne Rücksicht auf die Ansprüche der anderen Menschen geltend, sei es mit List, sei es mit Gewalt. Ganz anders, aber doch nicht frei von selbstsüchtigen Beweggründen ist das Verhalten solcher Menschen, die zwar ebenfalls von dem »nur einmal« ausgehen, aber an ein Weiterleben in veränderter Form und, im Zusammenhange damit, an so etwas wie ein »höheres Gericht«, an Lohn und Strafe, Auserwählung oder Verdammung glauben. Sie verstehen das Leben als einmalige Prüfung, deren Bestehen oder Nichtbestehen über ihr Ewigkeitsschicksal entscheidet. Wieder anders als diese Religiösen, Gottesfürchtigen stellen sich die Pflicht- und Gewissensmenschen ein, denen ein mehr oder minder klares Verantwortungsgefühl von Geburt an mitgegeben wurde. Das sind die eigentlichen »Ethiker«, die Leute mit »Grundsätzen« und »Charakter«. Ihnen gilt es für schlechthin »anständig«, daß jeder an dem Platz, auf den ihn das Leben gestellt hat, sein Bestes leiste, ohne nach dem Warum, Woher und Wohin zu fragen. In ähnlicher Weise auf den Pflichtbegriff gegründet ist die modernste Spielart der Auffassung des einmaligen Lebens als einer Aufgabe, eines Auftrags, einer Bewährungsprobe: die »sozialideologische Lehre« vom »Soll« der Lebenden zugunsten einer »besseren Welt« für die künftigen Generationen. Sie teilt mit der religiösen Einstellung den Zukunftsaspekt – jedoch in ausschließlich irdischer Blickrichtung; und sie teilt mit der Auffassung der ethischen Gewissensmenschen die Selbstbeherrschung, indessen unter völliger Ignorierung aller persönlichen Lebensansprüche.

Alle diese Konsequenzen aus dem Kehrreim vom einmaligen Leben – es sind natürlich noch mancherlei weitere möglich – haben das eine gemeinsam: sie können nichts daran ändern, daß, wie auch immer der einzelne Mensch sich unter dem Gesetz der Einmaligkeit verhalte, die Rechnung niemals aufgeht; daß in das ganze Treiben, Tun oder Lassen, Sichfreuen oder Leiden kein vernünftiger Sinn zu bringen ist; daß nichts dabei herauskommen kann, was mit der ungeheuerlichen Widersprüchlichkeit dieses einmaligen Daseins und seiner schließlichen Auslöschung durch den Tod zu versöhnen vermöchte. Wie man die Sache auch betrachte, ob aus dem Blickwinkel der uns mit diesem Leben gegebenen physischen Wirklichkeit oder aus dem einer geglaubten »höheren«: das Resultat bleibt das gleiche. Es ist hinsichtlich der Frage nach dem Sinn des Ganzen auch von keiner Bedeutung, ob die verschiedenen möglichen Verhaltensweisen gelegentlich einzelnen Menschen tatsächlich soviel Befriedigung gewähren, daß sie infolgedessen (jedenfalls für ihre eigene Person) das Dasein sinnvoll genug und in keinem Betracht mehr fragwürdig fänden. Denn nicht auf das subjektive Befinden kommt es zuletzt und entscheidend an, sondern auf den objektiven, den realen Sachverhalt. Diesem sind alle möglichen Subjektivismen untergeordnet. Vom Sinn oder Un-sinn jenes objektiven Sachverhalts hängt der Wirklichkeitswert aller subjektiven Empfindungen und ihres Sinnverständnisses ab: ob mehr darin steckt als bloße Selbsttäuschung, irrige Unterstellungen eines Schein-Sinnes, aus Gefühlsgründen resultierende denkerische Rechenfehler. Sinn oder Un-sinn der übergeordneten Realität steht also einzig zur Frage.

Alle Erfahrungen und Beobachtungen zeigen ja auch, daß jederzeit nur die primitivsten Naturen von dieser Frage unberührt geblieben sind. Andererseits haben immer wieder Skeptiker (vielleicht auch Zyniker) den vielfältigen Denkbemühungen der Philosophen um die Ergründung des Lebenssinnes den Einwand entgegengehalten: es sei ja gar nicht gesagt, daß Leben, Dasein und Weltall einen »Sinn« haben müßten; es sei daher eine Torheit, sich darauf zu kaprizieren. Allein darauf gibt es wiederum eine Antwort, die jedem Unbefangenen einleuchten kann: Da im Kleinen und Einzelnen der natürlichen Wirklichkeit alles in geradezu erstaunlichem Maße sinnvoll ist – beispielsweise der tierische oder menschliche Körperbau mit seinen sämtlichen Funktionen, den Bewegungen und Verrichtungen der Organe wie der Glieder, so wäre es absurd anzunehmen, das übergeordnete Große und Ganze entbehre eines Sinnes. Die Sinnerfülltheit des Kleinen und Einzelnen hat einem gesunden Denken nahezu Beweiskraft für die Sinnerfülltheit des Großen und Ganzen. Aber ohne Annahme eines »Sinnes« der kolossalen Veranstaltung des kosmischen Daseins und des einzelnen Lebens in ihm wäre das eine wie das andere keine der unzähligen Mühen, Nöte, Ängste und Qualen wert, die ihm anhängen. Insbesondere wäre alles ernsthafte Wollen, alles höhere Streben, alles Trachten und Denken, alle Ethik und Moral – die als lebendige Impulse angeboren sind – schlechthin gegenstandslos. Denn es wöge gleich viel oder gleich wenig, ob einer sein Leben als Wohltäter oder als Nassauer, als Heiliger oder als Verbrecher verbringt. Ein unerträglicher, vom Standpunkt der Vernunft sogar unmöglicher Gedanke. Nein, ein Sinn muß da sein, ebenso wie das unablässige Fragen nach ihm. Dieses Fragen ist angesichts des Weltablaufs mit seiner Rätselhaftigkeit und Bedrohlichkeit das Natürlichste und Menschenwürdigste.

Die Frage nach dem Sinn des Daseins, demnach als berechtigt und einem vernunftbegabten Wesen wohlanstehend, sei nunmehr der Satz vom Nur-einmal-leben in kritischer Überlegung gegenübergestellt. Wir werden sehen, wie dabei sogleich ein wahres Gebirge von Fragwürdigkeit vor unseren geistigen Augen aufsteigt. Um es in seiner ganzen Fülle wahrzunehmen und seine Unüberwindbarkeit zu erkennen, muß unser Blick völlig unverschleiert bleiben von den Nebeln autoritativer Gewohnheitsvorstellungen, wie sie das reine Wirklichkeitsbild heute verschieben und verzerren. Gewohnheitsvorstellungen entgegengesetzter Art, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen und deren doch jede verlangt, dogmatische Geltung zu haben. Aber keine von ihnen ist imstande, die Frage nach Sinn oder Un-sinn des ein-maligen Lebens zu beantworten.

Die unser Zeitalter beherrschende materialistisch-mechanistische Naturauffassung vermag zwar durchschnittlicher Urteilskraft einzuleuchten durch die immensen Leistungen der Forschungsarbeit und die phantastischen Perspektiven, welche die technische Erfindungen dem menschlichen Tatendrang eröffnen. Jedoch auch die »exakte« Wissenschaft bleibt immer nur dem »Was« des Lebensgeheimnisses auf der Spur, ohne dem »Wie« jemals näher zu kommen. Allein das »Wie« indessen böte die gesuchte Erklärung dar. Erklärung auch der Naturtatsachen, die von der modernen Wissenschaft lediglich festgestellt und in ihrem Wirken durchschaut, nie in ihrem Wesen und ihrem Ursprung erkannt werden können. Zu finden wäre das »Wie« nur jenseits der Erkenntnisgrenzen, welche materialistischer Weltdeutung und ihren Denkmethoden gezogen sind. Der Begrenztheit dieser Denkmethoden ist es ferner zuzuschreiben, daß die moderne Wissenschaft den Menschen nur als Gattungswesen begreift und kaum berücksichtigt, daß sein individuelles Selbstbewußtsein, seine selbstbewußte individuelle Geistesgegenwärtigkeit ihn über alle uns bekannten Lebewesen hinaushebt und zugleich jedes einzelne Wesen zu einem einmaligen, unvertauschbaren macht. Kraft dieser Einzelheit hat jeder Mensch ein höchsteigenes Schicksal, einen mit keinem anderen übereinstimmenden, mit keinem anderen gleichbedeutenden Lebenslauf. Daraus ergibt sich, gerade unter dem Aspekt des nur einmaligen Lebens, eine so bunte Vielartigkeit des Daseins-Erlebnisses, daß es eigentlich nicht mehr statthaft erscheint, zu erwarten, besagtes einmaliges Leben könne für die einzelnen Menschen überhaupt einen gültigen Sinn und gar noch für alle den gleichen haben.

Wie sollte das möglich sein, da offenkundig – immer auf den einmaligen, vom Tode endgültig abgerissenen Erdenwandel bezogen – Menschenleben nicht gleich Menschenleben ist? Sind nicht die Erfahrungen und Erlebnisse, welche dem Menschen zufallen, völlig verschiedene, je nachdem: ob er als Mann oder Frau geboren wird, ob er in glückliche Verhältnisse versetzt ist oder in unglückliche; ob ihm viele Jahre, Monate, Tage beschieden sind, oder nur wenige; ob er die Fähigkeiten eines Hochbegabten oder die eines Durchschnittsmenschen mitgebracht hat; ob ihm ein cholerisches, ein sanguinisches, phlegmatisches oder melancholisches Temperament zuteil wurde; ob seine Arbeit flüchtigen Zwecken dient und im nächsten Augenblick schon wie nie gewesen ist, oder ob sie sogenannte »unvergängliche Werte« schafft, die den Namen ihres Urhebers noch über lange künftige Zeiträume hinwegtragen? Endlich erlebt der Mensch auch ein gänzlich verschiedenes Dasein, eine total andere Welt, je nachdem, in welches Zeitalter, welche Kultur er hineingeboren ist; ob in das Inkareich, in das klassische Griechentum, in die italienische Renaissance, in einen Primitivstamm oder in die Hochzivilisation und der Raumfahrtplanung. Allein: so unterschiedlich, miteinander kaum vergleichbar alle diese Welt- und Daseinserlebnisse auch sein mögen: unter dem Blickwinkel des einmaligen Lebens und (nach naturwissenschaftlicher Anschauungsweise) dessen Annullierung durch den Tod gleichen sie sich sämtlich darin, daß ihnen keine akzeptable höhere Sinndeutung unterlegt werden kann; keine, die vor einem konsequenten, nüchternen, von Wunschträumen unbestochenem Zuendedenken des Existenzproblems zu bestehen vermöchte. Da darf man am Ende getrost Arthur Schopenhauer beipflichten, dessen Philosophie in der Erklärung gipfelte, dem Sein sei das Nichtsein entschieden vorzuziehen …

Betrachten wir die Dinge jetzt aus religiöser Sicht. Das einmalige Leben als Aufgabe und Bewährungsprüfung: »diesseits« zwar schwer verständlich, »jenseits« aber nach den Maßen göttlicher Weisheit und Güte belohnt oder bestraft. Lassen wir dabei den hypothetischen Charakter aller bloßen Glaubensinhalte ruhig außer Betracht; nehmen wir an, die »Diesseits-Jenseits«-Vorstellung vom Menschen als Gottesgeschöpf, vom belohnenden und strafenden himmlischen Vater, von der Auserwähltheit und Verwerfung, wie die Kirchen es lehren, seien erweisbare Wirklichkeiten, gleich den wissenschaftlich ergründeten Tatsachen. Dann wäre zunächst einmal festzustellen, daß dabei der gestellten Aufgabe und der auferlegten Prüfung mehrere Grundvoraussetzungen fehlen; nämlich die volle Selbstverantwortlichkeit des Menschen für seine Wesensanlagen, und damit wirkliche Entscheidungsfreiheit sowie gerecht verteilte, d.h. gleiche Gaben und Fähigkeiten und schließlich auch gleiche Chancen. Aber wenn es schon heißt, Gott habe den Menschen »nach seinem Bilde« geschaffen, mithin makellos, der Mensch selbst habe erst durch den Sündenfall den Tod erworben, die Möglichkeit »Gut und Böse zu erkennen«, die Notwendigkeit, zwischen ihnen zu wählen und sich vor dem »ewigen Richter« zu bewähren – so muß von einem allmächtigen und allwissenden Schöpfer dies wohl vorausgesehen, ja geplant gewesen sein. In der Tat: mit dem Fall aus der ursprünglichen fraglosen Gottzugehörigkeit wurde der Mensch erst auf eigene Füße gestellt. Es wurde ihm damit die Verantwortlichkeit für sein Dasein zugeschoben. Doch die Entscheidungsfreiheit, welche ihm damit zugleich geschenkt sein konnte, ist nur eine scheinbare und vorgebliche, da der Mensch – wie die Kirchen es lehren – ohne sein Zutun, einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt mit bestimmten gottverliehenen Eigenschaften in bestimmte Verhältnisse und Zustände, bestimmt begrenzte Möglichkeiten hineingeboren und dann zu bestimmter Stunde wieder daraus abberufen wird – alles nach Gottes Willen und »unerforschlichem Ratschluß«. Wer aber könnte bei soviel Bedingtheit von wirklicher Freiheit, echter, uneingeschränkter Selbstverantwortlichkeit reden? Und wer von Gerechtigkeit, wenn er sich die so empörend ungleichen Chancen vor Augen hält, wie sie aus den verschiedenen denkbaren Daseinsgegebenheiten ersichtlich sind? Auch die göttliche Güte will in diesem Zusammenhang dem grübelnden Verstande nicht leicht eingehen. Der christliche Theologe wird hier auf den Begriff der »Gnade« und auf die Erlöserrolle des Heilands hinweisen, der »die Sünden der Welt auf sich genommen« habe; und er wird, anstatt sich auf eine Erläuterung der dargelegten Widersprüchlichkeit einzulassen, die ganze Fragestellung zurückweisen; wird behaupten, es stehe uns nicht zu, wissen zu wollen, auf welche Weise Gnade und Erlösung jene Widersprüche auflösen oder außer Kraft setzen; es stehe uns nicht zu, daran zu zweifeln, daß im »Jenseits« schon alles, was wir mit unserem beschränkten Erkenntnisvermögen nicht begreifen können, seine gerechte Lösung und vollkommene Sinnerfüllung finden werde. Indessen hört an diesem Punkt, wo die Befunde des aus der Beobachtung der »diesseitigen« Wirklichkeit abgeleiteten Denkens durch Offenbarungslehren ergänzt werden sollen, welche ihrerseits nicht an die Erkenntnis, sondern an den Glauben appellieren, die verständige, begrifflich-exakte Auseinandersetzung auf. Eben darum jedoch läßt sich auch nicht behaupten, die Anfrage bei der religiösen Weltauffassung habe einen mit standfesten Argumenten untermauerten, einleuchtenden Sinn des einmaligen Menschenlebens zutage gefördert.

Nachdem wir auf die Frage nach dem Daseinssinn sowohl aus der Anschauungsweise der materialistisch-mechanistischen Wissenschaft wie aus dem dogmatischen Weltbilde der Kirchenlehre aufzuhellen vergeblich versucht haben, müssen wir noch eine dritte Betrachtungsart zu Rate ziehen. Diejenige, die sich darum bemüht, jene beiden gegensätzlichen Lebensdarstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Und von neuem wird sich erweisen, daß auch diesem Unterfangen das »einmalige Leben« ein unüberwindbares Hindernis entgegenstellt.

Schon seit langem haben sich in gewissen zeitlichen Abständen selbständige Geister gefunden, denen es klar war, daß auf dem Wege der Naturwissenschaften allein den Welträtseln keinesfalls beizukommen sein werde; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil, um mit Schopenhauer zu reden, »die physische Erklärung, überhaupt und als solche, noch einer metaphysischen bedarf, welche den Schlüssel zu allen ihren Voraussetzungen lieferte, eben deshalb aber auch einen ganz anderen Weg einschlagen müßte«. Solche Denker sahen also das Schimärische aller nur physikalischen, chemischen und mechanischen Welterklärungen ein und suchten nach einer tragfähigen Brücke von der Erforschung der physischen, zur Erkenntnis der jene erst wirklich erklärenden metaphysischen Wirklichkeit. Anders gesagt: eine Brücke zwischen Naturwissenschaft und Religion. »Religion« als Inbegriff der gläubigen Ahnung oder denkerischen Überzeugung von einer die sinnliche Wirklichkeit verursachenden und in ihr wahrnehmbar werdenden übersinnlichen Wirklichkeit verstanden. Zunächst konnte es sich nur um eine Fortsetzung des wissenschaftlichen Denkens in das philosophische hinein handeln. Wer sich daran wagen wollte, mußte gleichermaßen vertraut sein mit dem einen wie mit dem anderen. Dies kann man dem französischen Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin zuerkennen, der in jüngster Zeit mit dem Entwurf eines derartigen Brückenschlags hervorgetreten ist. Doch leider verbot diesem Gelehrten und redlichem Denker seine unverbrüchliche Gebundenheit an die Grundlehren der theologischen Dogmatik, in seinem Philosophieren von jener unbedingten ideologischen Voraussetzungslosigkeit auszugehen, ohne welche das Denken niemals in völliger Freiheit sich zu entfalten vermag. So konnte nicht ausbleiben, daß seine weltanschauliche Konstruktion ungeachtet mancher mutiger, ihn vor dem Forum der Dogmatiker schwer kompromittierenden gedanklichen Vorstöße, dennoch der Schlüssigkeit ermangelt und daher als gescheitert zu betrachten ist. Diese Behauptung sei mit wenigen Andeutungen begründet.

Teilhard de Chardin ist, gleich Goethe, davon durchdrungen, daß »Natur weder Kern noch Schale« habe, daß sie »Alles mit einemmale« sei; daß mithin jedes Ding wie jedes Geschehen ein »Innen« und ein »Außen« besitze, allem Materiellen etwas Geistiges zugrunde liege. Was den Menschen über die übrige Schöpfung hinaushebt, ist: daß in ihm jenes Geistige seiner selbst bewußt wird. Und zwar in zunehmendem Maße, wie die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zeigt. In Entwicklung begriffen ist alles, Evolution das Prinzip der Welt. Der Entwicklungsweg des Menschen bewegt sich vom Ursprungspunkt Alpha zum Endpunkt Omega in mehreren Etappen. Die erste führte ihn aus einem »prävitalen« Sein zum eigentlichen physischen Leben, zur »Biosphäre«. Die zweite von der Biosphäre zum bewußten Sein. Je weiter der Mensch in seiner Bewußtseinssphäre vorschreitet, desto mehr individualisiert er sich, fällt – als Gattungswesen – in die »Divergenz«, die Vereinzelung. Wenn diese mit der vollen Ausprägung der Personalität, des selbstverantwortlichen Ich-Bewußtseins ihren Höhepunkt erreicht haben wird, wird die Evolution zu Ende sein und von Involution abgelöst werden; die Divergenz vom Prinzip der Konvergenz. Das bedeutet aber nicht etwa den Rückfall in die Unpersönlichkeit, sondern den Aufstieg ins Überpersönliche. Beim »Omega« angelangt, wird die Menschheit im Zustande endgültiger Vergeistigung sein, wird der Geist die materielle Hülle abgestreift haben. Den Inbegriff der konvergierenden Macht aber, durch welche die Schöpfung auf höherer Stufe wieder zusammengefaßt sein wird, stellt Jesus Christus dar. In ihm ist das Prinzip des kosmischen Weltplans personifiziert. Soweit das Teilhardsche Konzept, dem Größe, Kühnheit und die Kraft einer bedenkenswerten Sinngebung nicht abzusprechen sind. Weder von seiten der Naturwissenschaft noch von seiten einer liberalen christlichen Glaubenshaltung können dagegen Einwendungen erhoben werden, die das Gewicht faktischer Widerlegung hätten. Dennoch hat auch dieses Konzept seine Achillesferse, ist auch seine Sinngebung nur eine scheinhafte – jedenfalls für den, dem die Sinnfrage auf den Nägeln brennt. Den, den sie am meisten und aufs schmerzlichste betrifft: den einzelnen, nur einmal lebenden Menschen. Was interessiert, so darf und muß man fragen, den einzelnen, einmal lebenden Menschen, eigentlich die schönste Entwicklung der Menschheit, oder gar eine kosmische Evolution, an deren Früchten er nur dann teilhaben kann, wenn er zufällig dem letzten Menschenschub angehört, der als glücklicher Nutznießer aller vorhergegangenen die Stufe der Überpersönlichkeit besetzen und in den Vergeistigungshimmel eingehen wird? Welchen Sinn hat das ganze Entwicklungsprogramm der Gattung, die schließlich einzig in den Einzelexemplaren konkret existiert, nur in ihnen real da ist, lebt, leidet und sich abquält. Wie können sie, die einzelnen Menschen, einen sich über die Jahrtausende erstreckenden Individualisierungsprozeß, eine progressive Steigerung und Verfeinerung ihres Ich-Bewußtseins durchmachen, wie können sie, diese konkreten, jeweils einmal lebenden Einzelmenschen jenen Evolutionsweg von »Alpha« bis »Omega« durchmessen, da jeder von ihnen doch nur einen kurzen Weltaugenblick lang vorhanden ist – jedenfalls hier, auf dem notwendigen Schauplatz dieser Verwandlungswanderung? Da der Tod jedem einmaligen Leben ein endgültiges Ziel setzt, kann der einzelne Mensch an der fortschreitenden Entwicklung des Ich-Bewußtseins ja nur bis zu einer bestimmten Grenze teilhaben; die Fortsetzung der Entwicklung – von der erreichten Grenzlinie an weiter in die Zukunft – fällt dann wieder anderen Menschen zu und so fort. Welchen befriedigenden Sinn kann es haben, solcherart Träger eines bloßen Entwicklungsbruchstücks zu sein? Der konkrete Einzelmensch – nichts als eine von vielen Stufen der Trittleiter, über welche das Abstraktum »Menschheit« zu einem irgendwann eintretenden Vollkommenheitsglück emporklettert! Ist das nicht eine Paraphrase über das Wort von den »Letzten«, welche die »Ersten« (nämlich die Vollendeten und Erlösten) sein werden – auf Kosten sämtlicher Vorangegangenen? Oder soll geglaubt werden, die die in Vergeistigung einsgewordene, zu Gott heimgekehrte, vergöttlichte »Menschheit« werde irgendwie die lange Kette der vorangegangenen Menschengenerationen in sich einschließen? Auch dadurch wäre das Los jener Früheren nicht sinnvoller geworden, und nicht einzusehen, warum sie die Mühen des Entwicklungsgangs tragen mußten, welche den Zuletztgekommenen erspart bleiben, warum sie die steinigen Umwege absolvieren mußten, während jene glorios durch die geöffnete Pforte in die ewige Seligkeit einziehen?

Übrigens steckt da noch eine andere, besondere und vertrackte Unklarheit in Teilhard de Chardins Evolutionsvorstellung. Wie ist der Vorgang zu erklären, daß die Entwicklungsfolge des Ich-Bewußtseins sich von dem Ich einer Generation jeweils auf das Ich der nächsten übertragen soll? Ist Ich nicht das Allerpersönlichste überhaupt? Ist Ich nicht schlechthin gleichbedeutend mit Individualität, als unübertragbar und – im Gegensatz zu den leiblichen Eigenschaften und den reinen Gattungsqualitäten – unvererbbar? Und ist das Ich-Bewußtsein nicht gerade ein Erwachen oder Erwachtsein des geistigen Wesenskernes im Menschen zur Klarheit über seine Ichheit, seine Unübertragbarkeit, Unvertauschbarkeit, Unvererbbarkeit und Unteilbarkeit? Hat dieses Bewußtsein und seine stetig wachsende Macht dieses Ich-Bewußtsein in seiner Konfliktstellung zur Gattung nicht gerade die Bedeutung eines schlagenden Beweises dafür, daß der Geist keineswegs eine bloße Ausschwitzung der Materie, sondern, im Gegenteil, deren Schöpfer, Former und Umformer ist? So meint es ja auch Teilhard de Chardin. Um so problematischer wirkt seine »Ich«-Vorstellung. Um so problematischer sein ganzer Entwurf.

Man drehe und wende es, wie man wolle – die Frage nach dem Sinn des einmaligen Lebens bleibt unbeantwortet. Nicht einmal der menschliche Anspruch auf Gerechtigkeit scheint Aussicht auf Erfüllung zu haben. Er ist jedoch genau so legitim, weil im natürlichen Empfinden und im denkenden Bewußtsein verankert, wie überhaupt der Anspruch auf Bestätigung einer sittlichen Gesetzlichkeit in der Weltordnung. Die Natur, so glauben manche Menschen, kenne weder Sitte noch Recht, und außerhalb der menschlichen Gesellschaft danach zu fragen, hieße das Weltganze mit Gewalt nach menschlichen Ordnungsbegriffen zurechtbiegen zu wollen. Aber diese Logik übersieht, daß ja der Mensch als irdisches Lebewesen auch zur Natur gehört und daß die Inhalte jener Begriffe ihm als instinktive Bedürfnisregungen bereits eingepflanzt waren, lange bevor er sie begrifflich zu formulieren imstande war. Das ist doch wohl eine Realität, eine »Naturtatsache«, nur, daß sie eben speziell beim Menschen veranlagt gewesen und zum Range eines unüberhörbaren Anspruchs gediehen ist. Mögen Theoretiker einer gewissen vermeintlichen »Vorurteilslosigkeit« uns einzureden versuchen, Sittengesetze und Moralforderungen hätten auch innerhalb der menschlichen Gesellschaft keine andere Bestimmung, denn als Mittel zur Menschenbeherrschung zu dienen. Mögen sie lehren, die Zehn Gebote würden nur von Gläubigen und nur aus Furcht vor dem strafenden Gotte befolgt, nicht aus sittlicher Selbstzucht. Mögen sie nicht bloß Kants »Kategorischen Imperativ« als schlecht begründetes Philosophem verrufen, sondern jegliche ethische Definition des Pflichtbegriffs und das »Pflichtgefühl« selbst überlegen belächeln. Mögen obendrein Zeitgenossen sich darin gefallen, sittliches Wollen in Bausch und Bogen der Spießbürgerlichkeit zu verdächtigen, das Bedürfnis nach Redlichkeit, Rechtlichkeit und Gerechtigkeit auch im Weltenplan nicht aus der unverkümmerten Menschennatur hinwegdiskutieren können. So wenig wie den Drang zu erfahren woher und wohin, warum und wozu.