Reinschiff auf dem Betonkreuzer - Rolf Barkhorn - E-Book

Reinschiff auf dem Betonkreuzer E-Book

Rolf Barkhorn

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es dauerte einen Moment und aus dem Gebäude trat ein unrasierter Typ in einem gestreiften Bademantel. Er blieb auf der obersten Stufe der steinernen Treppe stehen, musterte schwankend unseren Zug, der vor ihm angetreten war. Dann begrüßte er uns lallend: „N’abend, Genossen, ick bin Obermaat Pfeiffer, der Sani vom Dänholm.“ Dann rief er: „Hat jemand von Euch die Scheißerei?“ Die meisten schüttelten lachend den Kopf, einige antworteten dienstgemäß: „Nein, Genosse Obermaat“. Der Sani machte sich gerade und verkündete dann: „Na gut, dann seid Ihr somit ohne Befund und könnt morgen backschaftern gehen! Weggetreten!“ Die medizinische Untersuchung für unseren Dienst in der Kombüse war damit abgeschlossen! ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Postsendung mit Folgen

Passt!

Spezialauftrag Kombüse

Vom (Un)Sinn des Soldatseins

Zum Wandertag nach ZPH

Treueschwur aufs Vaterland

Es wird scharf geschossen

Seefahrt ins Ungewisse

Neue Mitstreiter

Reiseabenteuer auf Schienen

Reinschiff auf dem Betonkreuzer

Der EK auf Urlaubsreise

Pilze sammeln nach 30/74

So richtig Sackstand

Ungleiche Waffenbrüder

Auch privat strammstehen

Lauter nützliches Zeug

Ohne Stress zum Finale

Nachschlag gefällig?

Im Grunde sinnfrei, aber…

Glossar

Rolf Barkhorn

Reinschiff

auf dem

Betonkreuzer

18 lange Monate als Landmatrose

bei der Volksmarine

Impressum

Texte: © Rolf Barkhorn

Umschlag: © Rolf Barkhorn

Lektorat: Jens Barkhorn

Verlag: Eigenverlag Rolf Barkhorn

Wittholz Ring 4

18225-Kühlungsborn

Internet: www.barkhorn.deE-Mail: [email protected]

Erschienen: © Januar 2021

Einleitung

Als ich mich noch zu den Jüngeren rechnen durfte, kam in fast jeder geselligen Männerrunde irgendwann die Sprache auf die Erlebnisse bei der „Fahne“, wie der Wehrdienst im Osten Deutschlands vor der Wende genannt wurde.

Das Pendant auf westlicher Seite war dann wohl der Austausch über die Zoten, die junge Männer beim „Bund“ erlebten. Heute sind es in Ost und West nur noch die Älteren, die sich gelegentlich Geschichten von ihren Erlebnissen beim Militärdienst erzählen. Die jüngere Generation hat zu dem Thema nichts, worüber sie sich austauschen könnte. Die Wehrpflicht ist in Deutschland seit 2011 „ausgesetzt“. Und für die wenigen Freiwilligen ist der Armeedienst heute ein bezahlter Job, über den öffentlich nicht viel geredet wird, es sei denn, irgendein Skandal kocht gerade wieder hoch.

Die Entscheidung, die Wehrpflicht auszusetzen, sei längst überfällig gewesen, sagen die einen. Andere halten sie für eine der größten politischen Dummheiten seit der Jahrtausendwende. Nicht nur, weil dadurch den Führungskräften bei Heer, Luftwaffe und Marine das „Material zum Führen“ abhandenkam, sondern auch, weil der Wegfall des Zivildienstes, für den sich Wehrpflichtige vor 2011 ersatzweise entscheiden konnten, dem deutschen Pflegesystem einen derben Tiefschlag versetzt hatte, von dem es sich bis heute nicht erholen konnte.

Eine Generation, die nicht mehr dazu verpflichtet ist, ihrem Land, in dem sie zumeist behütet aufwachsen durfte, für begrenzte Zeit einen persönlichen Dienst zu erweisen, kann den eigenen Lebensweg ganz anders planen als wir damals.

Dabei hat der gesetzlich festgelegte Pflichtdienst fürs Vaterland den meisten Beteiligten kaum geschadet. Viele der jungen Wehrpflichtigen wurden als vorlaute, unreife und verspielte Jungs eingezogen oder für den Zivildienst verpflichtet. Zurückgekehrt sind die meisten von ihnen als gereifte Persönlichkeiten. Oder wie man früher sagte: als richtige Männer! Zum Glück musste keiner von meiner Generation in den Krieg ziehen. In dem Falle ist das nämlich so eine Sache mit dem Einstehen fürs Vaterland.

Frauen mit Dienstgrad und Uniform waren zu meiner Zeit noch Ausnahmen in nur wenigen Bereichen der verschiedenen Waffengattungen.

Ausgerechnet eine solche Ausnahme spielt noch heute, aber auch schon während meiner Zeit bei der „Fahne“ eine wichtige Rolle in meinem Leben. Dazu aber später mehr.

Viele Erlebnisse, die ich hier aufgeschrieben habe, teile ich mit vielen tausend anderen ehemaligen „Angehörigen der NVA“. Beim Kramen in meinem Gedächtnis nach Anekdoten aus der Armeezeit, die ich als Wehrpflichtiger bei der Volksmarine der DDR absolvierte, ging es mir wie der Altherrenrunde, die sich darüber am Biertisch austauscht. Witziges und Kurioses fiel mir sofort ein, negative Erlebnisse, von denen es in den 18 Monaten auch reichlich gab, musste ich, sofern es überhaupt möglich war, aus der tiefen Versenkung holen.

Wir Menschen sind eben Genies im Verdrängen von allem, was uns unangenehm erscheint. Mit diesem Buch verfolge ich weder das Ziel, die Militärzeit bei der NVA politisch zu bewerten, noch sie zu beschönigen oder zu verteufeln. Auch geht es mir nicht darum, diese 18 Monate meines Lebens ganz in die Klamauk-Ecke zu packen, obwohl aus heutiger Sicht einiges zu belächeln wäre.

Jedoch so gut wie die Macher des Kinoerfolges „NVA“ *1 könnte ich das wohl auch nicht. Auch wenn ich einige der dort gezeigten Szenen selbst genauso oder zumindest ähnlich erlebt hatte. „Geklaut“ aus dem Filmstoff aber habe ich nichts, Ähnlichkeiten solcher Episoden sind dann tatsächlich rein zufällig oder gehörten wohl einfach zu den Standards, die jeder erlebte – auch ich.

Ich habe wie bei anderen Erzählungen zuvor wieder alles aus meiner eigenen Erinnerung so aufgeschrieben, wie ich es persönlich erlebt habe oder es mir von Dritten berichtet wurde. Die meisten Namen von Kameraden oder Vorgesetzten habe ich frei gewählt, auch weil mir viele längst entfallen sind.

Der zeitliche Abstand von vier Jahrzehnten auf die Ereignisse von damals sorgt allerdings gelegentlich auch für eine mildere Betrachtung. So manches habe ich damals persönlich sicher als wesentlich schlimmer, unbequemer und quälender empfunden.

1. Kapitel

* NVA – ist eine Filmkomödie des Regisseurs Leander Haußmann aus dem Jahr 2005. Quelle: de.wikipedia.org/wiki/NVA_(Film)↩

Postsendung mit Folgen

Ein einzelnes Blatt Papier, beschriftet und mit einem amtlichen Stempel versehen, sollte für befristete - und so wie ich es empfand: für sehr lange - Zeit mein Leben bestimmen.

Meine Mutter hatte mir das amtliche Dokument, das per Einschreiben an die Heimatadresse zugestellt worden war, nach Rügen, wo ich im Sommer 1979 noch in einem Kinderferienlager arbeitete, nachgesandt. Absender der amtlichen Nachricht war das Wehrkreiskommando. Als ich das las, war ich schon bedient. Auch war das Wort „Einberufungsbefehl“ nicht zu übersehen.

Ich hatte mich den Vorgaben zufolge am 1.November 1979 bis 13 Uhr an der Hauptwache der Ausbildungseinheit der Volksmarine auf der Insel Dänholm in Stralsund zu melden. Ein paar Dinge, die am ersten Tag des Armeedienstes mitzubringen waren, standen gesondert vermerkt auf einer gelben Karte. Dazu gehörten: der Wehrdienstausweis, der Gesundheitsausweis, lange weiße Unterwäsche in zweifacher Ausführung, Wasch- und Rasierzeug, Briefpapier, Schreibsachen und Briefmarken sowie Schuhputzzeug, Nähzeug, rotes Stickgarn, eine schwarze Reisetasche, ein Paar schwarze Halbschuhe und schwarze Schuhcreme.

Mir war bewusst, dass ich nicht der Einzige war, der diese Liste bekommen hatte. Außer mir waren sicher noch viele tausend andere junge Männer im Land bestrebt, sich all diese Sachen so schnell wie möglich zu beschaffen. Zwar waren bis zum Schicksalstag noch über zwei Monate Zeit, es bestand dennoch ein gewisser Grund zum schnellen Handeln. In einem Land, in dem Versorgungsmängel an der Tagesordnung waren, konnte es schnell vorkommen, dass zwei Monate vor den halbjährlich stattfindenden Einberufungen schwarze Reisetaschen im Handel nicht in ausreichender Menge vorrätig waren oder selbst das banale Nähzeug im handlichen Etui vergriffen war.

Deshalb sprach ich erst einmal mit meiner Mutter, die ich tagsüber an ihrem Arbeitsplatz telefonisch erreichen konnte. Sie gab Entwarnung, denn sie hatte nach Erhalt der Post vom Wehrkreiskommando schon vorsorglich eine Reisetasche für mich vom Sohn einer Kollegin beschafft, der im Frühjahr von der Armee entlassen worden war.

Auch Nähutensilien und Schuhputzzeug hatte Mutter für mich schon beiseitegelegt.

Ich musste mir also nur noch die schwarzen Schuhe besorgen, was ich dann doch etwas auf die lange Bank schob.

Aber da ich ohnehin in meinem letzten Urlaub als Zivilist zu meiner Freundin in den Harz fahren wollte, nahm ich mir für diese Zeit den Schuhkauf vor. Dort hatte ich dann sogar Glück. In einem kleinen Laden in Wernigerode am Harz wurde ich fündig. Die Schuhe waren gewiss keine Designerware und hätten auch gut bei der Internationalen Gartenbauausstellung einen Preis als „formschönste Gurken“ bekommen können. Aber sie waren so beschaffen, wie sie zu sein hatten – aus Leder, schwarz, glänzend und zum Schnüren. Damit waren für mich die Utensilien von der Liste komplett und ich konnte die letzten Tage in ziviler Freiheit noch etwas genießen. Jedoch rückte der Tag, an dem ich mich bei der Einheit in Stralsund auf der Insel Dänholm einzufinden hatte, in rasantem Tempo näher.

2. Kapitel

Passt!

Für nicht motorisierte Zeitgenossen gab es Ende der 1970er Jahre normalerweise nur eine vernünftige Möglichkeit, über den Landweg zur Insel Dänholm zu gelangen. Man fuhr mit dem Personenzug (D-Züge hielten hier in der Regel nicht) bis zur Station Stralsund-Rügendamm und lief dann noch den einen Kilometer zur kleinen Insel, die zwischen Stralsund und der Insel Rügen liegt, zu Fuß. Als damaliger Wahlrüganer wusste ich das. Aber ich begab mich, nachdem ich meinen Zug zusammen mit zwei Dutzend anderen langhaarigen Zivilisten, die schwarze Reisetaschen bei sich trugen, den Bahnhof Rügendamm verlassen hatte, erst einmal in die Mitropa-Gaststätte. Ich schlang in aller Eile eine Bockwurst und dazu ein trockenes Brötchen herunter.

Auf den letzten Moment in ziviler Freiheit hätte ich mir zwar noch gern ein Glas Bier gegönnt. Aber die Bedienung wies mich darauf hin, dass aus besonderem Anlass der Ausschank von Alkohol drei Kilometer im Umkreis von Armeeeinheiten behördlich untersagt worden war. Den Anlass konnte ich mir denken.

Also bestellte ich mir ein Kännchen Kaffee, das ich in Zeitlupentempo leertrank, als könnte ich damit das Unvermeidliche doch noch irgendwie aufhalten.

Als ich dann aus dem Bahnhofsgebäude auf den Vorplatz kam, blendete mich die Sonne. Zu meiner Laune hätten jedoch dunkle Wolken am Himmel oder Dauerregen besser gepasst. Dass ich mich nun allein auf den Weg zur Insel machte, wunderte mich jedoch etwas. Selbst wenn ich noch zum Frühstück in die Mitropa eingekehrt war, hätte ich doch wenigstens etwas weiter vor mir ein paar von den anderen Männern sehen müssen.

So aber trottete ich allein ohne Gesellschaft potenzieller Leidensgenossen über den alten Rügendamm, der das Festland mit der Insel Rügen verbindet. Kurz bevor ich auf der rechten Seite die Einfahrt zur Insel Dänholm erreichte, bog von dort ein leerer Ikarus-Bus nach links auf die Hauptstraße ein. An der Frontscheibe war von innen ein großes Schild mit der Aufschrift „Sonderfahrt“ zu erkennen. Da war mir klar, warum ich unterwegs nicht auf die anderen Jungs getroffen war.

Es gab also extra einen Zubringer für die Neuankömmlinge. Welch ein Service!

Doch so schlimm war der kleine Fußmarsch für mich nun auch wieder nicht. Dass in den kommenden Wochen und Monaten noch ganz andere Strapazen folgen würden, wusste ich aus den Erzählungen derer, die den Wehrdienst schon hinter sich hatten.

Am Eingang zur Dienststelle bildete sich dann schon eine längere Schlange von Einberufenen. Das lag vor allem daran, dass die uniformierte Wache jeden einzelnen durch den schmalen Personeneingang passieren ließ, anstatt gleich für alle das große eiserne Tor zu öffnen. Die Einzelabfertigung verfolgte aber einen besonderen Zweck, was ich spätestens merkte, als ich an der Reihe war.

Ein Mann in Felddienstuniform, kaum älter als ich, herrschte mich gleich an: „Genosse, wo ist Ihr Wehrdienstausweis und Ihr Einberufungsbefehl?“ – „Wo sind ...?“, hätte ich ihn gern verbessert. Aber dazu war ich gar nicht in der Stimmung.

Ich kramte in meiner Jackentasche und gab ihm die Dokumente: „Hier, bitteschön!“

Von seiner Seite folgte die sofortige Belehrung in barschem Ton: „Das heißt nicht einfach ‚hier, bitteschön‘, sondern ‚Bitte, Genosse Obermaat!‘ Aber das bringen wir Euch noch bei. Dafür seid Ihr hier.“

Er suchte meinen Namen in einer Liste und zeigte dann mit dem Arm in Richtung Dienststelle. „Sie gehen nach der Taschenkontrolle den ganzen Weg runter zu den querstehenden roten Gebäuden am Ende und melden sich hinten im zweiten Haus links. Haben Sie das verstanden?“

„Ja habe ich, alles klar und danke“, antwortete ich, bevor ich mich bückte, um meine Tasche aufzunehmen, auf die ein paar Meter weiter schon ein weiterer Uniformierter wartete. Doch der Unteroffizier kam dicht an mich heran und zischte leise zwischen seinen Zähnen „Jawohl, Genosse Obermaat!“. Welch eine alberne und zeitraubende Vorstellung! Aber hatte ich eine Wahl? Obwohl ich noch in Zivil gekleidet war und schulterlange Haare trug, ließ ich meine Tasche fallen, stellte mich hin, führte die rechte Hand flach an die Schläfe.

Ich erwiderte übertrieben schneidig: „Jawohl, Genosse Obermaat, ich habe es verstanden!“ Doch auch das war nicht richtig, wie ich sofort erfuhr.

„Lassen Sie gefälligst die Hand unten, wenn sie keine Kopfbedeckung tragen. Sie sind hier nicht beim Zirkus, sondern bei der Volksmarine, verstanden?!“- „Jawohl, Genosse Obermaat!“, antwortete ich nun kleinlaut. Er hatte für den Moment genug von mir und deutete mit einer Handbewegung an, dass ich gehen könnte. Die Taschenkontrolle dauerte nur ein paar Minuten. Ich hatte auch nichts zu verbergen. Alkohol hatte ich gar nicht erst eingepackt, weil ich mit einer solchen Kontrolle gerechnet hatte. Allerdings staunte der Maat, der mich kontrollierte, nicht schlecht über die Stange Zigaretten, die in meiner Tasche lag. Es war meine Lieblingssorte, Prince Denmark. Die hatte mir ein Freund aus Sassnitz geschenkt, dessen Vater Kapitän bei der Fischfangflotte war und so an Devisen rankam. Die Westzigaretten waren meine „Nervennahrung“ für die ersten Tage bei der Truppe. Der Maat ließ mich passieren.

Ich aber hatte die Nase jetzt schon voll. Zum Glück war ich mit diesen Gedanken nicht allein. Auf dem Weg zum Kompaniegebäude gesellte sich jemand zu mir, der ebenfalls zu uns Neuankömmlingen gehörte. „Ich bin Alfred. Ich nehme mal an, wir zählen zusammen die Tage bis zum bitteren Ende? Drei Jahre oder eineinhalb?“, hakte er aber nochmal nach. „Nein um Gotteswillen, den Scheiß wie eben kann ich mir keine drei Jahre anhören. 18 Monate sind schon zu viel“, antwortete ich. Alfred nickte freundlich: „Geht mir genauso. Keinen Tag länger als nötig!“ Der Slogan gefiel mir, der hätte von mir sein können. Ich hatte wenigstens schon mal einen Leidensgefährten.

Die jungen Uniformierten, die dann am Eingang des Kompaniegebäudes mit Namenslisten zum Abhaken warteten, waren wesentlich freundlicher als der „Genosse Obermaat“ am Eingang. „Willkommen in der Zweiten Kompanie!“, begrüßte uns ein Maat in blauer Marineuniform, höchstens 20 Jahre jung. Auf dem Arm trug er ein gesticktes rotes Abzeichen, das ich nicht zu deuten wusste. Wir sagten ihm unsere Namen. „Ach, Ihr seid sogar in meiner Gruppe. Es geht hier eine Treppe hoch, den Gang links runter und die letzte Stube auf der rechten Seite ist die richtige. Wir sehen uns nachher noch.“ Ganz moderat, nichts von „Genosse“, „Jawohl“ und „Strammstehen“. Es geht also auch anders, dachte ich.

Darüber, dass Alfred und ich zusammen zu einer Gruppe gehörten, freute ich mich, auch wenn ich ihn erst ein paar Minuten kannte. Aber wenn man Leid teilen kann, ist jeder Gefährte willkommen.

Wir waren die letzten beiden Neuen von sechs Mann in der dafür viel zu engen Stube. Wir begrüßten die anderen vier, die am Tisch saßen und Skat spielten, der Reihe nach per Handschlag. Alle waren ähnlich alt wie wir - im Durchschnitt 24 Jahre. Ich sah mich im Zimmer um. Dort standen als Mobiliar drei Doppelstockbetten, drei sogenannte Spinde - primitive Holzschränke mit Doppeltüren – sowie ein Tisch und sechs Hocker. In Fensternähe war noch ein Doppelbett frei. Ich sah argwöhnisch nach oben. Da legte Alfred schon seine Tasche auf das obere Bett. „Ich mag den Überblick“, sagte er grinsend. Sympathischer Typ! Ich mag Doppelstockbetten nur, wenn ich unten schlafen kann. Ein großer kräftiger Mann, der sich zuvor freundlich als Dietmar vorgestellt hatte, ließ auf einmal die Skatkarten fallen, stand kerzengerade zwischen dem Tisch und dem Hocker, auf dem er zuvor noch gesessen hatte und brüllte laut: „Achtung!“ Erst da bemerkte ich, dass jemand in der Tür stand.

Es war der freundliche Maat, der uns den Weg zur Stube erklärt hatte. Als Dietmar dann ansetzen wollte, dem Unteroffizier regelkonform Meldung zu erstatten, winkte der Maat ab.

Er schloss die Tür hinter sich und meinte: „Na dann ist die dritte Gruppe des ersten Zuges der zweiten Kompanie ja jetzt komplett.“ Dann gab er jedem einzeln die Hand und stellte sich vor. „Ich bin für die Dauer der Grundausbildung Euer Gruppenführer. Offiziell bin ich für Euch der ‚Genosse Maat‘. Wenn wir aber unter uns sind, könnt Ihr auch Jan zu mir sagen. Die meisten von Euch sind sicher ein paar Jahre älter als ich. Denn Eure Gruppe ist die mit den ältesten Wehrpflichtigen, alle anderen sind jünger. Ihr habt also schon etwas mehr Lebenserfahrung und ich mag das Rumgebrülle auch nicht. Aber es wird sich draußen nicht immer vermeiden lassen. Trotzdem hoffe ich, dass wir gut miteinander auskommen“, schlug Maat Jan einen kumpelhaften Ton an.

Von so viel Freundlichkeit ermutigt, fragte ich ihn, was das rote Abzeichen auf seiner Uniform bedeutet. „Ich bin Taucher, ich habe mich drei Jahre freiwillig zur Marine verpflichtet, weil ich für mein Leben gern tauche. Hier wurde ich sogar richtig gut darin ausgebildet und kriege das auch noch bezahlt. Zu Eurer Ausbildungskompanie in der Schiffsstammabteilung*1 wurde ich kurzfristig abkommandiert, weil sie nicht genug Ausbilder hatten“, erklärte Maat Jan, bevor er uns über den weiteren Tagesablauf informierte: „Nachher geht es erst zum Backen und Banken. Danach werdet Ihr eingekleidet.“

Bodo, ein etwas übergewichtiger Zimmergenosse aus Sachsen, fragte: „Backen und was?“ Daraufhin erklärte Jan, dass bei der Marine mit „Backen und Banken“ das Einnehmen der Mahlzeiten bezeichnet wird. „Wann und wo sollen wir uns zum Essen einfinden?“ wollte Bodo noch wissen. Jan lachte und meinte nur. „Das wird vom UvD*2 ausgerufen. Das werdet Ihr bestimmt mitbekommen.“, erklärte unser Gruppenführer und teilte uns noch mit, dass er erst am Abend wieder nach uns sehen würde, weil er den Nachmittag über frei hätte. „Das gibt es auch?“ wollte Dietmar, der kurzerhand von ihm zum Stubenältesten ernannt worden war, wissen.

„Ja klar, ich bin ja kein Gefangener, sondern Unteroffizier. Der Zug wird abwechselnd von uns Gruppenführern zur Kombüse geführt. Einen Zugführer aber gibt es auch, er heißt Leutnant Martin. Den lernt Ihr heute bestimmt auch noch kennen.“

Der Maat hatte seinen Satz gerade beendet, als im Flur ein schriller Pfiff ertönte und danach jemand laut brüllte: „Raustreten zum Backen und Banken!“ Jan hatte Recht gehabt. Das konnte man nicht überhören. Wir kramten unsere Bestecktaschen aus dem Gepäck und machten uns im normalen Gang auf den Weg nach draußen, den andere aus unserem Gebäude in schnellem Tempo rannten. Ich warf Alfred, der nach Verlassen der Stube neben mir ging, gerade zu: „Ich bin gespannt, was es zum Essen gibt“, als mir einer direkt ins Ohr brüllte: „Geht das ein bisschen schneller? Ihr seid hier bei der Marine und nicht auf der ‚Völkerfreundschaft‘!*3

Ab, im Laufschritt nach draußen und da wird sauber angetreten.“

Es hörte sich an wie die krakeelende Stimme eines wütenden Cholerikers. Ich kannte sie schon. Es war der „Genosse Obermaat“ vom Eingangstor und Gruppenführer der zweiten Gruppe unseres Zuges.

Vor der immer noch zivil gekleideten Truppe, die sich draußen vor dem Haus versammelte, stellte er sich mit verschränkten Armen auf. „Los angetreten, beeilt Euch mal und benehmt Euch nicht wie die Bauern, auch wenn Ihr so ausseht. Und wenn ich sage ‚Still gestanden‘ dann heißt das Klappe halten, die Hacken zusammen und den Blick geradeaus. Haben Sie das verstanden, Genosse?“, fragte er ausgerechnet mich. „Jawohl, Genosse Obermaat!“ trällerte ich laut zurück. So schnell lernt man sich anzupassen.

Aber offenbar war es auch für den Unteroffizier genug Drill für den Anfang. Er versuchte gar nicht erst, uns im Gleichschritt marschieren zu lassen. Im flotten Wanderschritt machte sich der ganze erste Zug auf den Weg zum etwa fünfhundert Meter entfernten Verpflegungskomplex.

Das Essen, das wir an der Ausgabe in einem großen Speisesaal in Empfang nahmen, schmeckte besser, als ich es erwartet hatte. Es gab den Klassiker: Nudeln mit Gulasch. Dass wir unser Mittagsmahl nicht im normalen Tempo verzehrten, sondern im Eiltempo in uns hineinschlingen mussten, hatten wir dem Obermaat zu verdanken. Der ließ unseren Zug gut fünf Minuten vor dem Gebäude warten, weil wir ihm angeblich zu zappelig waren beim Stillstehen. So gelangten zwei andere Trupps noch vor uns in den Saal, wodurch die Schlange immer länger wurde. Die sinnlos vertane Zeit fehlte uns dann an der insgesamt nur 20-minütigen Mittagspause. Da waren nämlich An- und Abmarsch schon mitgerechnet. Kaum hatten wir unser Essen bekommen und Platz genommen, hieß es schon wieder „Alles auf und draußen in drei Reihen angetreten!“

Auf dem Rückweg versuchten wir automatisch als Formation von 24 Mann im Gleichschritt zu marschieren. Es ging auch gar nicht erst ins Quartier. Wir marschierten gleich durch bis zur Sporthalle, in der wir uns nach dem Essen zum Einkleiden einzufinden hatten. Dort angekommen, meinte Bodo aus unserer Gruppe:

„Eh Leute, haben wir nicht etwas vergessen? Wir brauchen doch unsere Reisetaschen für die Klamotten. Oder wie sollen wir die denn sonst transportieren?“

Der Obermaat stellte sich wieder breitbeinig vor den Zug, verschränkte die Arme und fragte: „Hat noch jemand von Euch so eine dämliche Frage?“ Als keiner antwortete, erklärte er kurz: „Eure Taschen könnt ihr von mir aus im Sund*4 versenken. Ihr bekommt hier eine viel schönere Reisetasche, eine, die der Marine auch würdig ist. Drinnen an den Stationen nehmt Ihr Eure Sachen in Empfang. In 15 Minuten wird hier wieder angetreten. Verstanden?“ Er erntete ein kollektives, aber wenig schneidiges „Jawohl Genosse Obermaat!“, bevor er die Formation durch Befehle wie „Rührt Euch!“ und „Weggetreten!“ auflöste und uns reihenweise in die Sporthalle einrücken ließ.

An der ersten Station ging es zügig vonstatten. Da bekam jeder einen Seesack, gefertigt aus grauem Segeltuch. Damit hatten wir schon mal unsere Reisetasche für Seeleute. Bei den Stiefeln, wovon jeder zwei Paar erhielt, dauerte es etwas. Da durfte man sich auf die Größenangabe nicht unbedingt verlassen, da waren Anproben nötig.

Ein Paar Stiefel zu erwischen, die viel zu weit oder zu eng ausfielen, könnte sich bei Tagesmärschen als Riesenproblem erweisen, hatte mich zu Hause unser Nachbar vorgewarnt. Also ließ ich mir etwas mehr Zeit bei der Anprobe. Auch die schwarzen Turnschuhe, gefertigt aus weichem Kunstleder und versehen mit grauen geriffelten Gummisohlen, probierte ich erst an, bevor ich sie im Seesack verstaute.

Bei anderen Sachen staunte ich dann manchmal nicht schlecht, wie schnell die Ausgabe über die Bühne ging.

Ob man nun seine Konfektionsgröße korrekt angeben konnte oder nicht, war sowieso egal. Die Leute von der Kleiderkammer – darunter war auch eine hübsche blonde Zivilangestellte – musterten uns mit einem kurzen Blick, kramten im Stapel und warfen dann jedem sein Kleidungsstück zu. „Passt! Der Nächste!“

Nur die etwas Korpulenteren unter uns, wie Bodo oder Dietmar, hatten es etwas schwerer. Da musste dann doch mal nachgemessen und in die Kiste mit den Übergrößen gegriffen werden. Ich hatte kaum etwas zu beanstanden, was die Größe anging.

Fast alle Sachen erhielten wir doppelt, ein Teil davon meistens neu, das andere gebraucht. Lange weiße Unterwäsche bekam jeder gleich in mehrfacher Ausführung, außerdem zwei dünnere quer gestreifte Pullover, zweimal die aus Hose und Oberteil bestehende Dienstkleidung Bordweiß, die mich an Malerkleidung erinnerte. Ähnliche Sachen in dunklem Blau waren ebenso dabei wie die Felddienstuniform im gestrichelten Tarndesign, in der Truppe bekannt als „Einstrich/Keinstrich“ sowie ein brauner Trainingsanzug mit gelb-roten Streifen an den Armen und dem gelben Abzeichen des „Armeesportvereins Vorwärts“ (ASV) auf der Brust.

Natürlich fehlte auch nicht die typische Dienstkleidung der Matrosen mit den weiten blauen Hosen, weißen und blauen Blusen, dem berühmten Kieler Kragen und einem schwarzen Tuch, das zum Kieler Knoten zu binden war.

Weil das Winterhalbjahr bevorstand, gab es auch den berühmten Colani dazu. Das war ein dicker dunkelblauer Mantel mit goldfarbenen Knöpfen. Auch der „Isländer“, ein dicker Strickpullover mit Rollkragen, fehlte nicht. Kopfbedeckungen erhielten wir gleich mehrere: blaue und weiße Käppis, eine Matrosenmütze mit der gelben Aufschrift „Volksmarine“ und flatternden Bändern an der Rückseite, mit blauem Bezug sowie weitere Bezüge, weiße und blaue zum Wechseln. Dazu kam die im Winterhalbjahr zu tragende Pelzmütze, in der Truppe allgemein nur „Bärenfotze“ genannt.

An der letzten Station händigten uns ein Unteroffizier und zwei Männer in blauer Arbeitskleidung noch je zwei Stofftornister, eine Wolldecke, eine Plane im Einstrich/Keinstrich-Look, Essgeschirr mit Blechbehälter und Aluminiumbesteck, einen Feldspaten, eine Umhängetasche mit Schutzmaske und Filter, einen zweiteiligen Gummianzug sowie einen Stahlhelm aus.

Fast alles sollten wir nach Anweisungen der Leute von der BA-Kammer*5 in unserem Seesack verstauen, mit Ausnahme der Gasmaskentasche, der beiden Tornister und des Stahlhelmes. Als wir uns voll bepackt mit unserer neuen Habe nach draußen begaben, begutachtete der unsympathische Obermaat gleich, wie wir die Sachen in den Säcken verstaut hatten. Bodo hatte sogar den Stahlhelm in den Sack gepresst und dafür Isländer und Colani angezogen. Für den Unteroffizier ein gefundenes Fressen. „Was ist das denn hier für eine Maskerade?“, brüllte er Bodo an und legte nach: „Maskenball ist erst, wenn ich es befehle, klar? Der Stahlhelm hat auch nicht am Sack zu baumeln, wie bei Ihnen Sportsfreund“, quakte er mich an und brüllte wieder einmal in mein Ohr: „Die Helme werden getragen. Jetzt! Sofort!“.

Noch während die meisten von uns damit beschäftigt waren, den Gurt des Helmes richtig einzustellen, richtete der Unteroffizier an Alfred die Frage: „Genosse Matrose, Sie wissen doch sicher, warum Sie Helm und Atemschutzmaske nicht im Seesack zu verstauen haben?“ – „Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung und übrigens bin ich kein Genosse, bin nie in der Partei*6 gewesen. Und ich habe auch nicht vor, da einzutreten, Kamerad Obermaat!“ antwortete Alfred.

Er sagte es in ruhigem Ton, ohne sich zu verhaspeln und klang dabei todernst. Nur einen klitzekleinen Augenblick lang, als der angesprochene Unteroffizier seinen Blick in die Runde schweifen ließ, sah Alfred kurz zu mir und grinste mich an. Der Obermaat sagte dann in ungewohnt ruhigem Ton: „Genosse Matrose, Sie werden auch noch mitbekommen, dass hier jeder mit ‚Genosse‘ anzureden ist, ob Matrose oder Admiral. In der Anrede und beim Kacken sind alle gleich. Und Helm und Maske tragen Sie bei sich, damit Sie noch schnell genug ihren Arsch retten können, falls plötzlich eine feindliche Gasgranate hier einschlägt.“

Dann hob er Ton und Lautstärke bis zum Unerträglichen an: „Haben Sie das verstanden, Genosse Matrose?“, schrie der Unteroffizier Alfred so laut an, dass er selbst dabei im ganzen Gesicht rot anlief und Alfred einen Schritt zurückwich, bevor er parierte: „Jawohl Genosse Obermaat!“

„Ohne Tritt marsch zur Kompanie!“, lautete der nächste Befehl des Obermaates. Die Einkleidung war damit abgeschlossen.

Im Flur ließ uns der UvD noch mal alle antreten. Dann erklärte uns ein großgewachsener schlanker Fähnrich, der sich uns als zuständiger Hauptfeldwebel der Kompanie vorstellte, dass wir nun eine Stunde Zeit dafür bekämen, unsere Namen mit rotem Garn in die Unterwäsche zu sticken. Eine weitere Stunde hätten wir, um unsere Spinde einzuräumen. Dabei hatten sich je zwei Mann einen der schmalen zweiteiligen Schränke zu teilen.

Zwischendurch würden wir dem Alphabet nach aufgerufen, so die Anweisung des Fähnrichs, um uns im Klubraum eine militärgerechte Frisur verpassen zu lassen.

Vorher hätten sich alle umzuziehen und erst einmal Bordweiß mit Kieler Kragen und blauem Käppi und dazu Turnschuhe zu tragen. Die Zivilsachen sollten wir umgehend in unsere schwarzen Ledertaschen packen und diese mit den beschrifteten Adresskarten versehen, die an uns ausgeteilt wurden.

---ENDE DER LESEPROBE---