Religionsgeschichte Anatoliens - Manfred Hutter - E-Book

Religionsgeschichte Anatoliens E-Book

Manfred Hutter

0,0

Beschreibung

This volume describes the interactions between religions and political and social institutions in Anatolia on the basis of religious ideas and practices, starting with archaeological evidence from the end of the third millennium BCE. The first written information about religious matters appears in ancient Assyrian letters, before a rich written tradition started with the emergence of the ancient Hittite Empire in the 17th century BCE. Following the downfall of the Hittite Empire at the beginning of the 12th century, a few neo-Hittite states used the older religious traditions to support their claim to legitimacy, but combined them with innovations, which are presented in conclusion in the book=s final chapter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 800

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Religionen der Menschheit

Begründet von Christel Matthias Schröder

Fortgeführt und herausgegeben vonPeter Antes, Manfred Hutter, Jörg Rüpke und Bettina Schmidt

Band 10,1

Umschlagbild: Westliche Sphinx, Ḫattuša (Quelle: Wikimedia Commons)

Manfred Hutter

Religionsgeschichte Anatoliens

Vom Ende des dritten bis zum Beginn des ersten Jahrtausends

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026974-3

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-026975-0

epub: ISBN 978-3-17-026976-7

mobi: ISBN 978-3-17-026977-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Der Band beschreibt anhand religiöser Vorstellungen und Praktiken die Wechselwirkungen von Religionen mit den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen in Anatolien, beginnend mit archäologischen Befunden vom Ende des 3. Jahrtausends. Erste schriftliche Informationen über religiöse Aspekte liefern altassyrische Briefe, ehe mit der Entstehung des althethitischen Reiches im 17. Jh. eine reichhaltige schriftliche Überlieferung einsetzt. Nach dem Untergang des hethitischen Reiches zu Beginn des 12. Jh. nutzen einige neo-hethitische Staaten für ihren Legitimationsanspruch die älteren religiösen Traditionen, verbinden diese jedoch mit Neuerungen, die im letzten Kapitel abschließend präsentiert werden.

Prof. Dr. phil. Dr. theol. Manfred Hutter lehrt Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Bonn.

Inhalt

A  Einleitung und Forschungsstand

1  Quellenvielfalt und Varietät

2  Bemerkungen zum Forschungsstand

3  Was ist »Religion« in Anatolien?

4  Methodische Folgen für die Beschreibung von Religionen in Anatolien

B  Frühe religiöse Vorstellungen Anatoliens am Beispiel der Gräber von Alaca Höyük und der Briefe aus den altassyrischen Handelskolonien in Zentralanatolien

1  Bestattung und Gesellschaft in Alaca Höyük

2  Die politische und geographische Situation im zentralanatolischen Raum zur Zeit der altassyrischen Handelskolonien vom 20. bis zum 18. Jahrhundert

3  Religiöse Vorstellungen vor der Entstehung des hethitischen Staates

3.1  Die Götterwelt

3.2  Das Verhältnis der Gottheiten der kārum-zeitlichen Texte zur Götterwelt der hethitischen Zeit und des luwischen Gebietes

3.3  Beobachtungen zur religiösen Praxis als Strukturfaktor der Gesellschaft

3.3.1  Tempel und öffentlicher Kult

3.3.2  Religion im häuslich-familiären Kontext

C  Religion in der althethitischen Zeit

1  Eckpunkte der geschichtlichen Situation der althethitischen Zeit

2  Das dominierende hattische Milieu der Religion in der althethitischen Zeit

2.1  Die Götterwelt als Widerspiegelung gesellschaftlicher Prozesse

2.1.1  Zum althethitischen »Staatspantheon«

2.1.2  Einige hattische Gottheiten

2.2  Die alten hattischen Kultstädte und die Hauptstadt Ḫattuša

2.2.1  Nerik

2.2.2  Arinna

2.2.3  Ziplanta

2.2.4  Ḫattuša

2.3  Plätze der Kultausübung

2.3.1  Aussehen und Ausstattung der Tempel

2.3.2  Lokale Tempel bzw. kleinere Schreine

2.3.3  Stelen und »naturbezogene« Kultplätze

2.4  Akteure und Akteurinnen im Kult

2.5  Opfer als Praxis der Verehrung und Versorgung der Gottheiten

2.5.1  Zweck und Notwendigkeit der Opfer

2.5.2  Visuelle Repräsentation von Kulthandlungen

2.6  Feste auf staatlicher und lokaler Ebene

2.6.1  Feste des althethitischen »Staatskults«

2.6.2  Lokale Feste

2.7  Exkurs: Religiöse Traditionen im palaischen Milieu

3  Religion als Faktor im Zusammenleben im Alltag

3.1  Ethisches Verhalten und Werte

3.2  Krisenbewältigung und soziales Gleichgewicht

3.3  Kommunikation mit den Gottheiten

D  Religiöser Wandel und Neuerungen zwischen der althethitischen Zeit und dem hethitischen Großreich

1  Wichtige geschichtliche Veränderungen bis zum Beginn der Großreichszeit

2  Die Pluralisierung der religiösen Traditionen

2.1  Der Aufstieg des Sonnengottes

2.2  Neue Residenzstädte mit kultischer Relevanz

2.2.1  Šamuḫa

2.2.2  Šapinuwa

2.2.3  Šarišša

2.2.4  Zusammenfassung

2.3  Ein Überblick zu luwischen religiösen Vorstellungen

2.3.1  Die Eigenständigkeit der luwischen Götterwelt

2.3.2  Lokale Kulte im luwischen Raum und ihr Verhältnis zum hethitischen Staatskult

2.3.3  Zu einigen Kultakteuren und Kultakteurinnen

2.3.4  Reinheit und Rituale zur (individuellen) Krisenbewältigung

2.4  Ein Überblick zu hurritischen religiösen Vorstellungen

2.4.1  Die hurritische Götterwelt

2.4.2  Lokale Kulte im hurritischen Raum und ihr Verhältnis zum hethitischen Staatskult

2.4.3  Zu einigen Kultakteuren und Kultakteurinnen

2.4.4  Reinheit und Rituale zur (individuellen) Krisenbewältigung

3  Ein kurzes Zwischenresümee

E  Religion in der Großreichszeit

1  Eckpunkte der geschichtlichen Entwicklung

2  Vielfalt, Synkretismus und Abgrenzungsprozesse der Religion in der Großreichszeit

2.1  Die Götterwelt als Widerspiegelung gesellschaftlicher Prozesse

2.1.1  Staatspantheon

2.1.2  Die Gottheiten des Königtums und das »dynastische Pantheon«

2.1.3  Lokale Panthea

2.1.4  Familien- und Vatersgottheiten, Ahnen und der »vergöttlichte« König

2.2  Die ideologische Bedeutung und Gestaltung des Raumes

2.2.1  Kosmologische Konzepte

2.2.2  Ḫattuša

2.2.3  Tarḫuntašša

2.2.4  Nerik

2.2.5  Karkamiš

2.3  Plätze der Kultausübung

2.3.1  Tempelsymbolik und sakraler Raum

2.3.2  Einzelne Bauten in Verbindung mit dem Totenkult und chthonischen Gottheiten

2.3.3  Berg- und Quellheiligtümer

2.4  Akteure und Akteurinnen im Kult

2.5  Opfer als Praxis der Verehrung und Versorgung der Gottheiten

2.6  Feste auf staatlicher und lokaler Ebene

2.6.1  Die zeitliche Einordnung der Feste

2.6.2  Religiöse Feste und die allgemeine Bevölkerung

2.6.3  Feste und (Religions-)Politik

2.7  Exkurs: Hethitische Religion im »Ausland« – Die so genannten anatolischen Rituale in Emar

3  Religion als Faktor im Zusammenleben im Alltag

3.1  Ethische Werte und Verhaltensweisen

3.2  Krisenbewältigung und soziales Gleichgewicht

3.2.1  Die Sicherheit des Königs in Krisensituationen

3.2.2  Rituelle Konfliktbewältigung im Alltag

3.3  Kommunikation mit den Gottheiten

3.3.1  Gelübde

3.3.2  Persönliche Gebete des Königs und der Königin

3.4  Religion im Lebenslauf – eine idealtypische Rekonstruktion

F  Zum Weiterwirken religiöser Traditionen in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends

1  Tabal und das ehemalige »Untere Land«: Luwisches Kerngebiet im Kontakt mit zentralanatolischen und südwestanatolischen Nachbarn

1.1  Die Eigenständigkeit der Götterwelt

1.2  Plätze der Kultausübung

1.3  Kultaktivitäten

1.4  Religion als Faktor in der Gesellschaft

2  Karkamiš und seine politischen Nachbarn: Kontinuität, Wandel und Wechselwirkung mit dem nordsyrischen Raum

2.1  Die Eigenständigkeit der Götterwelt

2.2  Plätze der Kultausübung

2.3  Kultaktivitäten

2.4  Religion als Faktor in der Gesellschaft

3  Zentral- und (Süd-)Westanatolien

4  Fazit

G  Anhang

1  Liste hethitischer Könige

2  Karten

2.1  Altassyrische Handelskolonien und das althethitische Reich

2.2  Das hethitische Großreich

2.3  Das 1. Jahrtausend

3  Literaturverzeichnis

4  Register

4.1  Keilschrifttexte

4.2  Hieroglyphen-luwische Texte

4.3  Wörterverzeichnis (hattisch, hethitisch, hurritisch, luwisch)

4.4  Orte

4.5  Gottheiten

4.6  Personen

4.7  Stichworte

A  Einleitung und Forschungsstand

Die Religionsgeschichte Anatoliens ist ein Kapitel »toter« Religionsgeschichte, wobei der zeitliche Rahmen, der hier behandelt werden soll, vom späten 3. Jahrtausend bis in die ersten Jahrhunderte des 1. Jahrtausends v.u.Z. reicht. Dieser Zeitraum ist von Beginn an von vielfältigen Religionskontakten, gegenseitigen Beeinflussungen und Berührungen geprägt. Denn die Religionsvorstellungen Anatoliens standen in Wechselwirkung mit denen in Syrien und Mesopotamien, die ihrerseits heute auch nur noch historische Religionen sind. Allerdings ist diese »gebrochene Tradition« indirekt lebendig geblieben, da manches über zwei Wege in die europäische Geistes- und Kulturgeschichte weitervermittelt wurde, einerseits über die – geringere – Vermittlung kleinasiatisch(-nordsyrisch)en Gedankengutes in der Rezeption der Hebräischen Bibel, andererseits in der stärkeren Übernahme von Vorstellungen aus Kleinasien in mythologische Traditionen der griechischen Antike. Zugleich steht die Religionsgeschichte Anatoliens selbstverständlich auch im Kontext der antiken Religionen des Vorderen Orients, nicht nur mit den schon erwähnten Räumen Syriens und Mesopotamiens, sondern genauso wirkt auf dem Gebiet der heutigen Türkei manches in Erinnerung bzw. wiedererfundenen Erinnerung an die Kulturen Anatoliens weiter, auch wenn zwischen den anatolischen Sprachen und Bevölkerungsgruppen des 2. Jahrtausends v.u.Z. und den wesentlich später fassbaren turksprachigen Bevölkerungsteilen, die durch eine Westwanderung aus Zentralasien nach Anatolien gekommen sind und bis heute große Teile der Türkei prägen, eine chronologische Lücke besteht.

Bereits ein oberflächlicher Blick auf den Raum Anatoliens zeigt innerhalb der chronologischen Abgrenzung sowohl einen sprachlichen als auch geographischen »Pluralismus«, der in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden ist. Damit stellt sich als Ausgangssituation und Aufgabe für die Religionswelt Kleinasiens, diese Vielfalt – mit Kontinuitäten, Neuerungen und Brechungen von Traditionen – zu berücksichtigen, auch wenn wir klarerweise noch weit davon entfernt sind, eine lückenlose »Geschichte« der Religionen Anatoliens zu rekonstruieren oder alle theologischen Differenzierungen sowie unterschiedlichen lokalen Ausprägungen religiöser Erscheinungen erfassen zu können. Diese Einschränkung liegt besonders in der Quellensituation begründet, die nach wie vor unausgeglichen ist – sowohl bezüglich der chronologischen als auch der geographischen Streuung. Daher ist es notwendig, diese Religionswelt in ihrer Vielfalt zu betrachten, und methodisch ist zu beachten, dass die Religion der »Hethiter« (durch die Quellenlage aufgrund längerfristiger politischer Beherrschung eines Flächenstaates für fast ein halbes Jahrtausend dokumentiert) nicht als »Norm« oder als »typisch« für die Religionsvielfalt Anatoliens gelten kann, sondern sie ist nur eine Ausformung dieser Vielfalt.

Die eingedeutschte Volksbezeichnung »Hethiter« stammt von Martin Luther, der damit den Ausdruck ha-ḥittī(m) der Hebräischen Bibel wiedergibt. Dieser entspricht etymologisch der Benennung in akkadischen Texten, in denen vom »Land Ḫatti« oder von den »Ḫatti-Leuten« die Rede ist. Dabei gehen alle diese Bezeichnungen auf einen geographischen Begriff für das Gebiet innerhalb des Halysbogens1 in Zentralanatolien zurück. Wie die »Hethiter« sich selbst als Volk bezeichnet haben, wissen wir nicht; da sie ihre Sprache als nišili- bezeichneten, eine Ableitung vom Ortsnamen Neša (Kaneš), einem wichtigen politischen Zentrum des frühen 2. Jahrtausends v.u.Z., darf man vermuten, dass sie sich vielleicht Nesier nannten. Wahrscheinlich sind diese »Nesier« bzw. »Hethiter« in der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v.u.Z. entweder über die Dardanellen im Westen oder über den Kaukasus nach Kleinasien eingewandert, wo ihr Kerngebiet zunächst südlich des Halysbogens lag. Gemeinsam mit den Hethitern sind die Palaer und Luwier nach Kleinasien gekommen. Diese Einwanderer trafen auf die dort ansässigen Hattier, die im späten 3. und im frühen 2. Jahrtausend ihr zentrales Siedlungsgebiet innerhalb des Halysbogens hatten. Der gesamte geographische Raum ist durch Regenfeldbau charakterisiert, was die Wirtschaft, aber auch ideelle Konzepte beeinflusst hat. Dadurch haben offensichtlich die »Einwanderer« schnell zu einer Symbiose mit der schon vorhandenen Bevölkerung gefunden, zumal auch der archäologische Befund keinen Bruch in der materiellen Kultur zeigt, den man den einwandernden »Hethitern« zuschreiben könnte.

Als weiteres Bevölkerungselement werden etwa ab 1500 die Hurriter wichtig, deren ursprüngliche Siedlungsgebiete in Nordsyrien und Südostanatolien bzw. Obermesopotamien zwischen dem Tigris und dem Vansee lagen. Für die Geschichte der altkleinasiatischen Religionen beinhaltet dieser geraffte Abriss bereits eine erste – immer wieder so gut es geht zu berücksichtigende – Konsequenz, die vorhin schon angedeutet wurde: Die genannten Ethnien leben in einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Symbiose, die zwar politisch (meist) zentral gelenkt war, aber in religiöser Hinsicht keine hierarchische Normierung kannte, die – analog zur politischen Einheit – eine religiöse Einheit bewirkt hätte.

Durch den politischen Zusammenbruch des Hethiterreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts verschwinden auch flächendeckende überregionale politische Machtgefüge. Im Südosten (bis in den Norden des modernen Syrien ausgreifend) entfaltet sich mit Karkamiš ein größeres Machtzentrum, westlich davon schließen sich Kleinstaaten in Kilikien südlich des Taurusgebirges an, die zum lykischen Raum überleiten. An der Südwest- und Westküste mit dem Hinterland etablieren Lyder und Karer ihre politische Macht, während große Teile des ehemaligen Hethiterreiches in Zentralanatolien bis ins 1. Jahrtausend durch Phryger besiedelt sind, eine Bevölkerungsgruppe, die wohl bereits im späten 2. Jahrtausend vom Balkan kommend nach Anatolien eingewandert ist. Am Rande der heutigen Osttürkei und in großen Teilen des modernen Armenien und des Nordwestens vom Iran bilden vom 9. bis 7. Jahrhundert die Urartäer ein eigenes Machtzentrum. Diese oberflächliche Skizzierung der strukturellen Vielfalt des »politischen« Kleinasien des frühen 1. Jahrtausends macht deutlich, dass die kulturelle, politische und auch religiöse Situation jeweils eine eigenständige regionale Betrachtung erfordert.

Dabei sind immer wieder die Wechselwirkungen und der Kontakt zwischen diesen genannten Gebieten Kleinasiens zu berücksichtigen, aber auch der »gebende und nehmende« Kulturkontakt nach außen – d. h. einerseits in den nordsyrisch-aramäischen sowie in den obermesopotamisch-assyrischen Raum, andererseits entlang der Süd- und Südwestküste auch der maritime Kontakt zur Ägäis sowie zu jenen griechischen Siedlern, die ab der mykenischen Zeit Handelsniederlassungen oder Kolonien in Küstennähe errichtet hatten. Somit steht die Religionsgeschichte Anatoliens immer im Austausch mit politischen und kulturellen Strömungen in solchen Kontaktzonen.

1  Quellenvielfalt und Varietät

Die umfangreichste schriftliche Überlieferung stammt aus dem Hethiterreich. Diese Texte sind in einer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts v.u.Z. aus Nordsyrien übernommenen Keilschrift geschrieben, wobei bislang rund 30.000 Bruchstücke seit 1906 gefunden wurden; wegen der Möglichkeit, einzelne Fragmente zu einem größeren Textstück zusammenzufügen, bzw. wegen laufender Neufunde liefert diese Zahl lediglich eine allgemeine Orientierung über den Umfang des Textcorpus. Der wichtigste Fundort, von dem die überwältigende Mehrheit der Textfunde aus Ausgrabungen stammt, ist Boğazkale (die hethitische Hauptstadt Ḫattuša). Auch von anderen Fundorten wie Alaca Höyük (Identifizierung mit einem hethitischen Ort ist umstritten, eventuell Arinna?), Maşat Höyük (Tapikka), Kuşaklı (Šarišša), Kayalıpınar (Šamuḫa), Oymaağaç Höyük (Nerik), Ortaköy (Šapinuwa) oder Büklükale gibt es Texte in unterschiedlich großer Zahl.2 Eine geringe Anzahl von hethitischen Texten stammt von Orten in Nordsyrien, so etwa aus Ugarit oder Emar. Diese schriftliche Überlieferung umfasst einen Zeitraum von rund vier Jahrhunderten, nämlich von der Zeit Ḫattušilis I. in der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Untergang des hethitischen Großreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts. In neuerer Zeit hat Theo van den Hout sich für eine spätere Datierung ausgesprochen, derzufolge die Verschriftlichung hethitischer Texte erst im 15. Jahrhundert im großen Umfang eingesetzt habe.3

Die Texte des 2. Jahrtausends – in hethitischer, altassyrischer, hattischer, hurritischer, palaischer und luwischer Sprache – sind in Varianten der Keilschrift geschrieben.4 Die am besten bezeugte Sprache ist das so genannte Hethitische,5 eine frühe indogermanische Sprache, die bereits ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Ausgrabungen in Boğazkale entziffert werden konnte. Quantitativ am besten vertreten sind Texte mit religiösen Inhalten, so etwa ausführliche Beschreibungen von Festabläufen und Opfergaben sowie Texte zur Organisation von Festen und Kultorten, ferner Ritualtexte und Orakelprotokolle. Ebenfalls dem religiösen Bereich kann man Texte mythologischen Inhalts, Gebete und Gelübde zuordnen. Dazu kommen – unter inhaltlichem Aspekt – Verwaltungstexte bzw. Verträge, diplomatische Korrespondenz, Erlässe und Gesetze sowie umfangreiche historiographische Texte.6 Insgesamt kann man die meisten hethitischen Texte als »Überlieferungsliteratur«7 verstehen, d. h. es ist das, was über einen längeren Zeitraum tradiert worden ist. Somit können wir nicht von »Autoren«8 im engeren Sinn sprechen, da die Texte in der Überlieferung durch viele Hände im »Schreiberkollektiv« des »Schreiberhauses« (sumerographisch: É.DUB.BA.A) gegangen sein können. Bezüglich der Aufbewahrung und des Interesses an der Überlieferung hethitischer Texte ist erwähnenswert, dass man das hethitische Schrifttum in zwei Gruppen einteilen kann: Texte, die in Inventartexten verzeichnet sind und von denen – fast immer – mehrere Exemplare erhalten geblieben sind, sowie jene Texte, die nur jeweils in einem Exemplar bekannt sind. Theo van den Hout liefert etwa folgende große Verteilung der Texte entsprechend den beiden Gruppen:9

A) Texts with duplicates: historiography, treaties, edicts, instructions, laws; celestial oracle theory; hymns and prayers; festivals; rituals; mythology (Anatolian and non-Anatolian); Hattic, Palaic, Luwian, Hurrian texts; lexical lists; Sumerian and Akkadian compositions.

B) ›unica‹: letters; title deeds; hippological texts; court depositions; non-celestial oracle theory and oracle practice; vows; administrative texts.

Texte, die man der Gruppe A zuweisen kann, sind dabei präskriptiv, d. h. ihre Überlieferung soll dazu dienen, »Überlieferungswissen« zu bewahren, Anweisungen für kultische Vorgehen zu liefern oder Grundlagen für die hethitische Gesellschaft festzuschreiben. Texte aus Gruppe B hingegen sind deskriptiv und meist nur in einem einzigen Exemplar vorhanden, da sie sich auf einen jeweiligen Einzelanlass beziehen.10 Für die Bewertung des hethitischen Umgangs mit Tradition kann man daraus auch ableiten, dass die präskriptiven Texte der Gruppe A für eine längere Überlieferung (und für eine Förderung des »kulturellen Gedächtnisses«) vorgesehen sind, weshalb der Bestand dieser Texte auch in Inventar- bzw. Katalogtexten verzeichnet wurde. Dieses aufbewahrenswerte Überlieferungsgut wurde in Bibliotheken gesammelt, während die deskriptiven Texte der Gruppe B lediglich vorübergehend in Archivräumen aufbewahrt blieben.11

Einige Anthologien zu Texten des Alten Orients machen inzwischen eine Vielzahl von hethitischen Texten auch für Nicht-Hethitologen in zuverlässigen Übersetzungen zugänglich. Wichtige Texte wurden in der durch Otto Kaiser begründeten Reihe »Texte aus der Umwelt des Alten Testaments« (TUAT), die zwischen 1982 und 2001 mit insgesamt drei Bänden und einer Ergänzungslieferung erschienen ist, sowie in der von Bernd Janowski und Gernot Wilhelm bzw. Daniel Schwemer herausgegebenen »Neuen Folge« dieser Reihe (TUAT.NF) mit neun Bänden zwischen 2004 und 2020 in deutscher Übersetzung vorgelegt. Das Spektrum der darin aufgenommenen hethitischen Texte erstreckt sich über alle Genres des hethitischen Textcorpus, so dass der Leser anhand dieser Übersetzungsbände einen leichten Zugang zu repräsentativen Texten für alle Bereiche der hethitischen Kultur erhält. Ein englischsprachiges, aber weniger umfangreiches Pendant zu diesen Bänden stellt die von William W. Hallo und K. Lawson Younger herausgegebene vierbändige Sammlung »The Context of Scripture« (CoS; 1997–2017) dar. Auch hier findet man ausgewählte hethitische Texte aller Textgenres (Mythen, Gebete, Beschwörungen, Historiographie, juridische und administrative Texte, Briefe). In monographischer Form – mit Einleitung und reichhaltigen Anmerkungen – erschließt die Reihe »Writings from the Ancient World« hethitische Texte für einen größeren Leserkreis. Bislang sind folgende Bände erschienen:12 Hethitische Staatsverträge und Texte der Diplomatie, Mythologie, Hymnen und Gebete, Briefe, die so genannten Aḫḫiyawa-Texte, Instruktionen und Dienstanweisungen sowie eine Zusammenstellung von Kultinventartexten. Anhand solcher Übersetzungsserien13 erschließt sich die hethitische Überlieferung nunmehr auch leicht den Vertretern von Nachbardisziplinen.

Auch wenn das Hethitische die am besten bezeugte Sprache Kleinasiens ist, so weisen zwei Textcorpora in unterschiedlicher Weise in die Zeit vor der Etablierung der politischen Macht der Hethiter. Rund 23.000 Tontafeln, hauptsächlich Briefe und Wirtschaftsurkunden, sind in altassyrischer Sprache überliefert.14 Sie stammen aus den assyrischen Handelsniederlassungen (kārum) in Anatolien, v. a. in Kaneš und Ḫattuša, und geben eine eigene Schreibertradition wieder. Aufgrund der Quellengattung ermöglichen die Briefe zwar nur einen geringen Einblick in religiöse Verhältnisse, zeigen aber dennoch, dass manche Vorstellungen der Hethiter schon vor der Zeit der hethitischen Texte und vor der ersten hethitischen »Staatsgründung« fassbar sind. Von größerer Bedeutung für die frühe Religionsgeschichte Zentralanatoliens sind die Texte in Hattisch, d. h. in der Sprache jener Bevölkerung, die bereits in der Zeit vor der hethitischen Staatsgründung innerhalb des Halysbogens wohnte. Allerdings stammen alle diese Texte aus der Überlieferung der Hethiter. Da Elemente des hattischen Kultes von den Hethitern rezipiert wurden, tradierte man diese Texte – manche auch als hattisch-hethitische Bilinguen – in Bereichen der Religion bis in die Großreichszeit.15 Dadurch beschränkt sich das inhaltliche Spektrum der Texte jedoch auf Rituale und Beschwörungen, Zeremonien und Festbeschreibungen im Tempel bzw. auf Anrufungen von Gottheiten sowie auf mythologische Texte.

Einen größeren Umfang haben die hurritischen Texte, die ab der Mitte des 2. Jahrtausends aufgrund der Zunahme des hurritischen Bevölkerungsanteils im Südosten des Hethiterreiches den Quellenbestand für die Rekonstruktion der religiösen Verhältnisse in Kleinasien bereichern. Ursprünglich waren die Hurriter in Nordsyrien und Obermesopotamien verbreitet, wobei hurritische Texte die Beziehungen zu diesem Raum mit seinen religiösen Vorstellungen noch erkennen lassen.16 In Kleinasien selbst war der hurritische Anteil der Bevölkerung im Südosten des Landes größer als in Zentralanatolien. Gegenüber dem Hattischen sind die in Ḫattuša und Šapinuwa gefundenen hurritischen Texte vielfältiger: Den Großteil machen Beschwörungs- und Reinigungsrituale aus, dazu kommen Festliturgien (v. a. für den Wettergott Teššub und seine Gattin Ḫebat), mythologische Texte verschiedener Art und wenige Fragmente historischen Inhalts. Auch Omentexte sind in hurritischer Sprache erhalten geblieben; allerdings handelt es sich dabei um Übersetzungen bzw. Bearbeitungen von akkadischen Vorlagen. Für die Erschließung der hurritischen Sprache bedeutsam ist ein umfangreicher epischer Text über den Wettergott sowie eine Sammlung von Parabeln, da diese Texte als Bilinguen mit einer hethitischen Übersetzung überliefert wurden.17 Mit dem Hurritischen verwandt – allerdings nicht als direkte Weiterentwicklung – ist das v. a. vom 9. bis 7. Jahrhundert überlieferte Urartäische im Bereich der heutigen Osttürkei und angrenzender Gebiete im Süden Armeniens und Nordwesten Irans.18 Die verschiedenen Texte behandeln inhaltlich vor allem zwei Themenbereiche, nämlich militärische Aktivitäten bzw. Bautätigkeiten der urartäischen Könige, daneben in einigen Texten enthaltene Opferlisten. Die Inschriften wurden meist auf Felswänden, Stelen und Mauern angebracht, im Unterschied zu den Textfunden der anderen bisher genannten Sprachen jedoch kaum auf Tontafeln.

Eine weitere mit dem Hethitischen verwandte Sprache ist das Palaische, das im Nord(west)en Anatoliens bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts in Verwendung war, danach aber weitgehend geschwunden ist. Davon sind jedoch nur ganz wenige Texte erhalten geblieben, deren Verständnis noch sehr unvollständig ist.19

Im so genannten Keilschrift-Luwischen gibt es vor allem Ritualtexte und Beschreibungen von Festliturgien.20 Die älteste Überlieferung dieser Texte setzt bereits im 16. Jahrhundert ein, wobei der luwische Sprachraum sich zunächst über den Süden und Südwesten Anatoliens erstreckte. Das Nebeneinander des Luwischen und des Hurritischen in Kizzuwatna im Süden Anatoliens führte dazu, dass der luwische Wortschatz Wörter aus dem Hurritischen aufgenommen hat. Die erhalten gebliebenen Texte (der Großteil davon ist ins 13. Jahrhundert zu datieren) stammen aus der hethitischen Hauptstadt, wobei von der luwischen Sprache auch sprachliche Einflüsse auf das Hethitische gewirkt haben. Neben dem Keilschrift-Luwischen gibt es – aus dem 2. Jahrtausend – ein kleineres Corpus luwischer Texte, die mit einem hieroglyphischen Schriftsystem geschrieben sind, das – im Unterschied zur aus Nordsyrien importierten Keilschrift – eine genuin anatolische Erfindung ist.21 Dieses so genannte Hieroglyphen-Luwische hat dabei als Schrifttradition Kleinasiens den politischen Untergang des Hethiterreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts überdauert. Die hieroglyphen-luwischen Texte des 1. Jahrtausends zeigen eine – wenngleich gewandelte – kulturelle Kontinuität altkleinasiatischer Vorstellungen v. a. südlich des Halys, in Kappadokien, im Süden und Südosten der heutigen Türkei sowie in Nordsyrien bis ins 8. Jahrhundert v.u.Z. Die Texte aus der Zeit nach dem Untergang liegen in zwei Editionen leicht zugänglich vor: Halet Çambel hat 1999 die Bilingue in hieroglyphen-luwischer und phönizischer Sprache von Karatepe vorgelegt und J. David Hawkins im darauffolgenden Jahr alle weiteren damals bekannten eisenzeitlichen Inschriften – jeweils mit Einleitung, Übersetzung, sprachlichem Kommentar, Fotos und Umzeichnung der Texte.22 Inhaltlich handelt es sich – im Unterschied zum keilschrift-luwischen Corpus – um keine Texte explizit religiösen Inhalts, sondern es sind v. a. Bau-, Grab- und Memorativinschriften. Es lassen sich aus den Texten dennoch Aussagen über die Kontinuität mancher luwischer Götter vom 2. zum 1. Jahrtausend und ein Einblick in Opferpraktiken und Jenseitsvorstellungen gewinnen.23

Neben dem Hieroglyphen-Luwischen erweitern noch andere Sprachen mit ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft die Quellensituation für eine Religionsgeschichte Anatoliens bis zur Mitte des 1. Jahrtausends, v. a. lykische, lydische, phrygische und urartäische Dokumente. Das Lykische ist mit den beiden vorhin genannten luwischen Sprachen eng verwandt. Es ist in einem vom Griechischen abhängigen Alphabet geschrieben und liegt in zwei Sprachformen vor – die Mehrheit der Texte im so genannten Lykisch A und wenige Texte in Lykisch B.24 Die rund 200 lykischen Inschriften (v. a. auf Grabfassaden und Stelen) stammen aus dem Südwesten der heutigen Türkei und wurden zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v.u.Z. verfasst.25 Hauptsächlich handelt es sich dabei um Grab- sowie um einige Bauinschriften. Für die Erschließung der religiösen Vorstellungen der Lyker geben diese Inschriften v. a. im Hinblick auf den Totenkult Aufschluss, während mythologische Überlieferungen und weitere Hinweise auf religiöse Praktiken aus griechischen »Fremdberichten« stammen.

Das Lydische gehört ebenfalls zu den anatolischen Sprachen, wobei das exakte Verwandtschaftsverhältnis zum Hethitischen, Luwischen oder Lykischen noch nicht ganz geklärt ist. Dies liegt vor allem daran, dass von den etwas über 100 lydischen Inschriften nur rund 30 einen größeren Umfang aufweisen und dass die Erschließung des Lydischen – im Vergleich mit den anderen anatolischen Sprachen – noch große Schwierigkeiten bereitet. Die Inschriften sind in einem vom Griechischen abhängigen eigenen Alphabet geschrieben, die Mehrheit der Texte sind wiederum Grabinschriften, daneben gibt es einige Erlasstexte. Die meisten Inschriften stammen aus der lydischen Hauptstadt Sardes im Westen der Türkei. Die Überlieferung dieser Inschriften dauert vom späten 7. bis zum 4. Jahrhundert. Auch für die lydische Kultur im Allgemeinen sind neben diesen Inschriften die Informationen, die v. a. aus der griechischen Überlieferung stammen, höchst relevant.26

Eine ebenfalls indogermanische, aber nicht dem Zweig der indogermanisch-altanatolischen Sprachen zugehörige Sprache des 1. Jahrtausends in Zentralanatolien ist das Phrygische. Die Phryger sind etwas vor 1200 vom Balkan kommend in den Nordwesten Anatoliens eingewandert und nach dem Zusammenbruch des Hethiterreiches bis in den Halysbogen vorgedrungen. Zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert sind rund 340 so genannte altphrygische Inschriften aus den phrygischen Zentren erhalten, wobei fast drei Viertel der Texte aus Gordion stammen.27 Manche der Inschriften beziehen sich auf den Kult, andere auf politische Inhalte. Da die meisten Inschriften recht kurz sind, bleibt das Textverständnis manchmal noch unklar. Neben den phrygischen Inschriften liefern auch – wie im Fall der Lyker und Lyder – griechische literarische Texte weitere Kenntnisse zur phrygischen Religion und Mythologie.

In all diesen Sprachen sind – in unterschiedlichem Ausmaß und in sehr verschiedenen Gattungen – Texte erhalten geblieben, die gemeinsam mit Erkenntnissen aufgrund archäologischer Feldforschungen Einblick in die pluralistische Kultur Anatolien vom Ende des 3. bis zur Mitte des 1. Jahrtausends geben. Durch die Auswertung dieser Dokumente kann die Darstellung der kleinasiatischen Religionsgeschichte sowohl Kontinuitäten als auch lokale oder chronologische Veränderungen berücksichtigen.

2  Bemerkungen zum Forschungsstand

Bereits im Jahr 1922 hat der Leipziger Altorientalist Heinrich Zimmern Übersetzungen hethitischer Texte für die zweite Auflage des »Textbuches zur Religionsgeschichte« (Leipzig) beigetragen, wozu Edvard Lehmann und Hans Haas, die beiden Herausgeber des Textbuches, im Vorwort Folgendes vermerkten:28

Nicht mehr voll befriedigen könnte ein Buch wie dieses, wenn in ihm auch heute noch gar nichts zu lesen stünde von der erst neuerdings zutage gekommenen, eben zur Stunde wissenschaftlich lebhaftest diskutierten Kultur, die, ihre Wurzeln in Kleinasien habend, neben den beiden von länger her bekannten Macht- und Kulturzentren der altorientalischen Welt, dem ägyptischen und dem babylonisch-assyrischen, als dritte steht, von der Kultur der Hittiter. Die Erschließung der Boghazköi-Funde, denen verwandte Ausgrabungen in Syrien zur Seite treten, steht noch in ihren ersten Anfängen.

Diese Einbeziehung hethitischer Texte, die im Handbuch zehn Seiten füllen, ist insofern forschungsgeschichtlich hervorzuheben, als Texte in nennenswerter Zahl erst seit 1906 durch Ausgrabungen in Boğazkale gefunden wurden und Bedřich Hrozný eine von der damaligen Fachwelt schnell akzeptierte Erschließung der Sprache als »hethitisch« 1915 vorgelegt hatte. Neben seinen ersten Übersetzungen hat Zimmern drei Jahre später für den ebenfalls von Hans Haas herausgegebenen mehrteiligen »Bilderatlas zur Religionsgeschichte« einen Faszikel »Religion der Hethiter« geliefert. Dem zeitgenössischen Kenntnisstand folgend, problematisiert bzw. differenziert Zimmern zutreffend, dass die Texte des 2. Jahrtausends und die Bildwerke, die – abgesehen von den Reliefs aus Yazılıkaya der hethitischen Großreichszeit – aus verschiedenen »neo-hethitischen« Staaten der ersten Jahrhunderte nach dem Untergang des hethitischen Großreiches stammen, nicht unkritisch aufeinander bezogen werden dürfen; daher formuliert er einschränkend für seine Arbeit Folgendes:29

Wie weit hierbei also dieses religiöse hethitische Bildermaterial als Illustration jenes religiösen hethitischen Textmaterials gelten darf, bleibt … einstweilen noch unentschieden.

Dieser frühe Forschungsstand zeigt dabei einige Aspekte der Beschäftigung mit der Religionsgeschichte Kleinasiens, die bis zur Gegenwart oft prägend geblieben sind und wovon sich auch die vorliegende Darstellung nicht vollkommen lösen kann, jedoch in der Gewichtung einen neuen Akzent liefern möchte. H. Zimmern stellte ausschließlich die Hethiter in den Mittelpunkt seiner Darstellung, erkannte jedoch die Notwendigkeit, auch die heute aufgrund der damit verbundenen Inschriften als hieroglyphen-luwisch bezeichneten Denkmäler einzubeziehen. Dadurch hat Zimmern zu Recht angedeutet, dass die Religionsgeschichte Kleinasiens in ihrer Kontinuität (und in Veränderungen) berücksichtigt werden muss, auch wenn die Quellensituation zu den religiösen Vorstellungen der Zeit der Hethiter alle anderen Perioden quantitativ bei Weitem übertrifft. Allerdings sollte man die »hethitische Religion« in die größere Geschichte einbetten – beginnend mit jenen Vorstellungen der Bronzezeit, die in Zentralanatolien vor der hethitischen Staatsgründung durch archäologische Befunde sowie durch die Texte der altassyrischen Handelsniederlassungen rekonstruierbar sind. Genauso sollte aber auch die Religionsgeschichte Kleinasiens nach dem Untergang des hethitischen Reiches weiter beachtet werden – vor allem anhand der hieroglyphen-luwischen Quellen für den Süden und Südosten Kleinasiens bis nach Nordsyrien; diese zeigen den Anspruch lokaler Herrscher, nicht nur kulturell, sondern vor allem politisch die Nachfolge des Hethiterreiches anzutreten. Wenigstens hinzuweisen ist auch auf jene Traditionen, die im Süden und Westen des Landes durch Lyker, Lyder und Karer sowie in Zentralanatolien durch die Phryger fassbar werden. Das genaue Verhältnis dieser im 1. Jahrtausend fassbaren Traditionen zu den verschiedenen Überlieferungen in den Keilschrifttexten des 2. Jahrtausends ist jedoch schwierig zu bestimmen, da teilweise eine Überlieferungslücke von mehr als einem halben Jahrtausend existiert.

Dieses Szenario religionsgeschichtlicher Kontinuität und Veränderung bzw. Neuerung durch Importe bis in die ersten Jahrhunderte des 1. Jahrtausends entsprechend dem gegenwärtigen Forschungsstand darzustellen, ist das Themenfeld einer Religionsgeschichte Anatoliens. Denn Religionsgeschichte ist kein monolithischer Block, sondern die Kontakte Kleinasiens mit den angrenzenden Gebieten sowie politische Veränderungen innerhalb Kleinasiens bedingten immer eine religiöse Pluralität. Ein (exemplarischer) Blick auf einige einschlägige Monographien, die »Standardwerke« für die gegenwärtige Forschung30 sind, soll im Folgenden zeigen, dass bislang solche Fragestellungen von Kontinuität und Wandel in unterschiedlichem Umfang behandelt wurden.

Die erste monographische Darstellung, die in vielen Abschnitten noch für den aktuellen Kenntnisstand brauchbar ist, stammt von Oliver R. Gurney. Die auf drei Vorträgen beruhenden »Some Aspects of Hittite Religion« aus dem Jahr 1977 behandeln in drei Kapiteln das Pantheon, den Kult und magische Praktiken. Diese Einschränkung oder Schwerpunktsetzung des Materials begründet Gurney zutreffend damit, dass gerade bei diesen Themen – gegenüber der älteren Forschung – neue oder bisher wenig bekannt und rezipierte Erkenntnisse gewonnen werden konnten.31 Zu Recht hebt Gurney hervor, dass bei der Darstellung hethitischer Religion zwischen den lokalen Kulten mit je eigenen Traditionen und der »Staatsreligion« mit dem König als oberstem Priester für den Staat zu unterscheiden ist. Relativ klar betont er bereits die Unterschiede zwischen der Götterwelt der althethitischen Zeit und den Veränderungen, die mit dem hurritischen Einfluss im 15. Jahrhundert einsetzten. Innerhalb der Darstellungen zum »Kult« beschreibt Gurney u. a. Aktivitäten und Opfer an lokalen Schreinen und Stelen(heiligtümern), wobei er letztere mit den Masseben der Religionsgeschichte Israels vergleicht.32 Ferner behandelt er lokale Feste im Frühjahr und Herbst und unterscheidet diese von den großen Staatsfesten, dem AN.TAḪ.ŠUM-, dem KI.LAM-, dem nuntarriyašḫa- und dem purulli-Fest. Das Verhältnis dieser Feste zueinander und ihre jeweils höchst komplexe Entwicklungsgeschichte lässt sich inzwischen besser rekonstruieren, als es zur Zeit Gurneys möglich war. Hinsichtlich der »magischen Rituale« hebt er deren individuelle Verortung für konkrete Anlässe hervor, wobei er auch auf die regionale Differenzierung der Ritualspezialist(inn)en hinweist. In drei hervorgehobenen Unterabschnitten kommt er auf die Sündenbockrituale – auch im Vergleich zu Praktiken der Religionsgeschichte Israels33 – zu sprechen, zu Ersatz(königs)ritualen und zum Totenritual für verstorbene Herrscher. Letzteres wäre m. E. günstiger im Zusammenhang mit dem »Staatskult« zu behandeln gewesen. Rekapituliert man diese Darstellung, so ist diese Arbeit – auch mehr als vier Jahrzehnte nach ihrer Entstehung – als erste Annäherung an Aspekte der hethitischen Religion ertragbringend zu lesen.

Ein Nachschlagewerk ist die 1994 erschienene »Geschichte der hethitischen Religion« von Volkert Haas. In dem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Buch geht es dem Verfasser um eine möglichst systematische Anordnung des Quellenmaterials, ohne dieses in bestehende religionswissenschaftliche Theorien einzuordnen oder dementsprechend zu bewerten.34 Zu Recht hebt er die reichhaltig überlieferten hethitischen Ritualtexte hervor, in denen eine Fülle von Details über Feste, Mythen, Gebete, Beschwörungen, Orakelanfragen oder kultische Handlungen bewahrt geblieben sind.35 In dieser Materialdarbietung liegt die Stärke des Buches, weil dadurch auch dem hethitologisch-philologisch nicht vorgebildeten Leser ein Zugang zu den Quellen erschlossen wird. Charakteristisch für das Buch ist ferner, dass Haas immer wieder ausführlich auf die mesopotamischen und syrischen Vorstellungen eingeht, um dadurch schlechter bezeugte kleinasiatische Vorstellungen zu erhellen oder durch den Vergleich für die Deutung dieser Vorstellungen etwas zu gewinnen. Dabei erliegt er jedoch methodisch manchmal der Versuchung, etwas, was für Kleinasien nicht direkt bezeugt ist, dennoch für die religiöse Vorstellungswelt dort zu postulieren, weil es in Mesopotamien oder Syrien bezeugt ist. Die Vorzüge des Buches bergen aber zugleich in gewisser Weise auch Schwächen: Die fehlende Auseinandersetzung mit religionswissenschaftlicher Theorie lässt den Leser manchmal allein mit der Frage, warum die Hethiter diesen oder jenen Kult ausgeübt haben, auch wenn der Leser detailliert erfährt, wie der Ritualablauf war. Genauso bekommt ein – nicht speziell fachlich ausgebildeter – Leser manchmal den Eindruck, dass das beschriebene Material »flächendeckender« (sowohl in zeitlicher als auch in regionaler Hinsicht) wäre, als es de facto der Fall war. Trotz solcher Einschränkungen ist das Buch eine Fundgrube für relevantes Material zur Religionswelt Anatoliens, wobei – der Gesamtanlage des Buches entsprechend – mit dem politischen Ende des Hethiterreiches auch die Beschreibung der religiösen Vorstellungen endet.

Im folgenden Jahr ist das Buch »Religions of Asia Minor« von Maciej Popko erschienen. Auf etwa 150 Seiten behandelt Popko denselben Stoff – allerdings verständlicherweise ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit – wie Haas. Ein grundlegender Unterschied gegenüber dem Buch von Haas ist jedoch, dass Popko auch die religiösen Traditionen des 1. Jahrtausends (Luwier, Lyker, Karer, Lyder, Phryger) kurz beschreibt. Der Aufbau der Arbeit von Popko ist dabei stärker chronologisch orientiert und kann insofern mit größerem Recht als »Geschichte« dieser Religionen bezeichnet werden, als dies manchmal bei Haas der Fall ist. In vier chronologischen Abschnitten werden die religiösen Vorstellungen der Zeit der assyrischen Handelskolonien in Kleinasien, die althethitische und mittelhethitische Epoche sowie die Großreichszeit behandelt; dass dabei letztere am umfangreichsten behandelt wird, liegt an der reichhaltigeren Quellensituation. Besonders hervorzuheben sind folgende Unterabschnitte, die den religiösen Pluralismus in Kleinasien deutlich zu machen vermögen. Wichtig sind innerhalb der mittelhethitischen Periode die Abschnitte »Changes in Hittite Religion« sowie »Beliefs of the Luwians« und »Beliefs of the Hurrians in Anatolia«36 oder auch die Überlegungen zu »Syncretism« in der Großreichszeit.37 Damit ist Popkos Zugang deutlich systematischer ausgerichtet und trägt der Vielfalt religiöser Konzepte in Kleinasien besser Rechnung als das umfangreiche Werk von Haas.

Wenig rezipiert ist die georgische Monographie zur hethitischen Religion von Irene Tatišvili, obwohl das Buch auch eine umfangreiche deutsche Zusammenfassung enthält.38 Die Verfasserin legt in ihrer Rekonstruktion der hethitischen Religion ein besonderes Augenmerk auf die »Reform des Anitta, da Anitta die hattischen Götter als religiöse und politische Konzepte übernommen und die ›hethitisch‹ genannte Religion formiert« hat.39 Daher werden in der Arbeit im Folgenden auch die hattischen Götter ausführlich behandelt. Genauso wird gezeigt, dass das Pantheon der Großreichszeit durch die Übernahme fremder Traditionen gestaltet wurde, so dass das Fremde zum Eigenen der Hethiter geworden ist. Als Ergebnis der Pantheonsbildung betont Tatišvili, dass die Uneinheitlichkeit des Pantheons nicht einer religiösen Toleranz oder einem geringen Ausmaß von Zentralisierung des Hethiterreiches zuzuschreiben sei, sondern dass eine bewusst offene Struktur des Pantheons ohne einen strengen Rahmen von den Priestern geschaffen worden sei, um für neue Götter immer Platz zu haben.40 Damit liefert das Buch bedenkenswerte Überlegungen, die das – priesterliche – Denken über die Götterwelt erschließen; allerdings bleiben Aspekte religiöser Praxis in der Studie ausgespart.

Piotr Taracha hat im Jahr 2009 ebenfalls eine Gesamtdarstellung der Religionen Anatoliens im 2. Jahrtausend vorgelegt. Darin stellt er zunächst die religiös deutbaren Überlieferungen des vorgeschichtlichen Anatoliens und der altassyrischen Handelsniederlassungen dar, da diese Vorstellungen teilweise als Basis der Religionswelt der hethitischen Zeit dienen. Da der politische Einschnitt zwischen der althethitischen Zeit und der Epoche des Großreiches auch einen religionsgeschichtlichen Wandel bewirkt, behandelt Taracha die religiösen Vorstellungen beider Zeitabschnitte getrennt voneinander.41 In der althethitischen Zeit (16. bis 15. Jahrhundert) spielte dabei das hattische Kultmilieu noch eine wichtige Rolle. Für die Religion der Großreichszeit (14. bis 13. Jahrhundert) lässt sich feststellen, dass neben dem Staatskult am Königshof auch jene religiösen Vorstellungen favorisiert wurden, die sich mit den Beziehungen der königlichen Dynastie der Großreichszeit zum hurritisch-kizzuwatnäischen Bereich verbinden lassen. Auch wenn klarerweise zwischen der herrschenden Dynastie und dem Staat untrennbare Beziehungen bestanden, sind die religiösen Konzepte des Königshauses und des Staatskultes nicht vollkommen deckungsgleich.42 Solche »Binnendifferenzierungen«, die nicht nur die Götterwelt, sondern auch kultische Handlungen, Gebete, Vorzeichendeutung sowie Bestattungspraktiken und Ahnenkult in der kleinasiatischen Religionsgeschichte betreffen, sind beachtenswert.

In deutlich kompakterer Form als im Jahr 1994 hat Volkert Haas die Grundzüge der hethitischen Religion im Jahr 2011 nochmals in einer deskriptiv und phänomenologisch ausgerichteten Überblicksdarstellung behandelt, wodurch der Aufbau der Arbeit thematisch ausgerichtet ist – im Unterschied zur Orientierung an historischen Entwicklungen durch Popko und Taracha. Weltvorstellungen und Überlegungen zum Wesen der Götter und zu den umfangreichen Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen sowie zu Schicksal, Menschenbild und Jenseits geben einen Einblick in das religiöse Denken der »Hethiter«, das sich auch in den unterschiedlichen menschlichen Kommunikationsformen mit den Göttern in Gebeten, Gelübden, Orakelpraktiken sowie Verfluchungen oder Segnungen feststellen lässt. Am Ende seiner Studie geht Haas kurz auf das Nachleben der hethitischen Religion in Kleinasien sowie auf einige Themen ein, die in der griechischen Mythologie auftauchen und aus Anatolien stammen.43 Damit berücksichtigt er zu Recht, dass der politische Untergang des hethitischen Großreiches nicht das Verschwinden religiöser Überlieferungen bedeutet. Charakteristisch für die Darstellung der Religion durch Haas ist die Hypothese, dass unser Quellenmaterial sich nur auf den Staatskult bezieht, was hinterfragt werden kann. Denn die – wenngleich zum überwiegenden Teil aus der hethitischen Hauptstadt stammenden – Texte erlauben doch eine größere soziale und ethnische Binnendifferenzierung, als dies in der manchmal zu harmonisierenden Darstellung von Haas der Fall ist. Beide zuletzt genannten Überblickswerke zu »hethitischen« oder – zutreffender im Sinn von P. Taracha – »anatolischen« Religionen können daher kritisch-komplementär verwendet werden.

Die eben genannten Gesamtdarstellungen beschränken sich – mit Ausnahme von M. Popko – auf die »hethitische« Religion« im 2. Jahrtausend. Eine Sonderstellung nimmt die Monographie von Ian Rutherford ein, der fast alle in hethitischen Texten angesprochenen Themen aufgreift, um danach zu fragen, wo diese Traditionen Spuren auch in der griechischen Religion hinterlassen haben. Dabei liegt das Ziel44 seiner Darstellung primär darin, Gräzisten mit der umfangreichen hethitischen religiösen Überlieferung vertraut zu machen, da es ab dem 14. Jahrhundert Kontakte zwischen dem griechisch-ägäischen Raum und Anatolien gegeben hat, so dass mit der Möglichkeit von wechselseitigem Austausch auf religiösem Gebiet zu rechnen ist. Am ertragreichsten hinsichtlich der Frage der Rezeption anatolischer Traditionen in griechischer Überlieferung sind Rutherfords Ausführungen über Rituale aus Arzawa, die Überlieferungen über die Abfolge der Göttergenerationen sowie die Rolle Phrygiens für die Entwicklung der Göttin Kybele.45 Hervorzuheben ist jedoch, dass zwischen hethitischen und griechischen Götternamen kaum Gemeinsamkeiten vorhanden, die auf einen »Import« von Anatolien nach Griechenland schließen ließen.46 Insgesamt zeigt diese anregende religionsvergleichende Studie aber auch, dass anscheinend nur sehr wenige überzeugende Spuren hethitischer Vorstellungen47 in der griechischen Religionsgeschichte nachweisbar sind.

Neben diesen monographischen Untersuchungen zu hethitischer Religion sind noch folgende (kürzere) Gesamtdarstellungen zu anderen religiösen Traditionen in Anatolien im 2. und 1. Jahrtausend zu nennen sind.48 Jörg Klinger hat eine Analyse der hattischen Kultschicht, die in althethitischer Zeit Zentralanatolien wesentlich geprägt hat, vorgenommen. Marie-Claude Trémouilles Darstellung der Religion der Hurriter zeigt, wie seit der Mitte des 2. Jahrtausends der Staatskult und die religiösen Vorstellungen der großreichszeitlichen Herrscher durch die hurritischen Konzepte angereichert wurden. Manfred Hutter hat eine systematische Darstellung der »luwischen« Religion vorgelegt, in der er sowohl die keilschrift-luwischen als auch die hieroglyphen-luwischen Quellen berücksichtigt hat, wodurch der chronologische Rahmen das 2. und 1. Jahrtausend umfasst. Einen allgemeinen Überblick zur Religion bei den Lykern bietet Trevor Bryce, und über die Götter, den Kult und die Begräbnispraktiken der Lyder informieren Annick Payne und Jorit Wintjes. Den Versuch, die phrygische Religion für die Zeit der altphrygischen Inschriften vor allem unter dem Aspekt des Weiterwirkens autochthoner anatolischer Vorstellungen zu beschreiben, hat Manfred Hutter unternommen, während Susanne Berndt-Ersöz ausgehend vom archäologischen Befund phrygische Kultpraktiken und die damit möglicherweise verbundenen Götter untersucht hat. Dabei ist für die Religionen des 1. Jahrtausends leider einschränkend festzustellen, dass die teilweise stereotype Formulierung der Inschriften bzw. die keineswegs alle Bereiche von Religion abdeckende inhaltliche Thematik dieser Quellen die Rekonstruktion religiöser Vorstellungen des 1. Jahrtausends ungleich stärker erschwert, als dies im 2. Jahrtausend der Fall ist.

Der geraffte Forschungsüberblick hat somit nicht nur einige relevante Literatur kurz vorgestellt, sondern auch unterschiedliche Betrachtungsebenen angedeutet. Da es sich dabei um historische Religionen handelt, die nie eine normative Dogmatik besessen haben, stellt sich die Frage, in welcher Weise das relevante Material in bester Weise vermittelt werden kann, um wenigstens ansatzhaft zu vermitteln zu versuchen, was »Religion« in Anatolien war.

3  Was ist »Religion« in Anatolien?

Mehrfach finden sich zu Beginn von Briefen Grußformeln, mit denen der Schreiber dem Briefempfänger göttlichen Schutz wünscht und dadurch diese Kommunikation in eine religiöse Sphäre einbettet. So lesen wir beispielsweise in einem mittelhethitischen Brief aus Maşat Höyük:49

Sprich zu Ḫimmuili, meinem lieben Bruder: Alles möge bei dir in Ordnung sein. Die Götter mögen dich am Leben erhalten und dich liebevoll beschützen!

Rund sieben Jahrhunderte jünger ist eine hieroglyphen-luwische Inschrift, die der Lokalherrscher von Tabal, Wasusarme (reg. 730–728), auf einem Felsen anbringen ließ, um seine Taten zu verherrlichen; die Inschrift endet mit folgender Drohung:50

Wer(immer) [diese Inschrift] zerstört – wenn er ein König ist, so sollen der Wettergott, Šarruma und … ihn und sein Land vernichten. Wenn er ein gewöhnlicher Mann ist, so sollen der Wettergott, Šarruma und … ihn und sein Haus vernichten.

Man kann diese potenzielle Bestrafung als negative Kommunikation werten, die aber – wie die Grußformel – die göttliche Sphäre in das alltägliche Leben einbezieht.

Beide Textzitate zeigen, dass »Religion« offensichtlich im 2. und im 1. Jahrtausend ein Faktor war, der – wohl in unterschiedlicher Akzentsetzung – im Leben der verschiedenen sozialen Schichten fassbar ist. Allerdings muss einschränkend gleich gesagt werden, dass dies zunächst nicht mehr als eine allgemeine Aussage ist, die man für jede – historische wie gegenwärtige – Kultur machen könnte. Was uns aus der schriftlichen Überlieferung Anatoliens fehlt, sind Traktate de religione, d. h. es gibt keine theologisch-systematischen Darstellungen, wie die Menschen im 2. und 1. Jahrtausend über Religion gedacht haben, sondern es kann nur aus Texten, die wir als Teil von »Religion« interpretieren, eine Rekonstruktion dessen versucht werden, was »Religion« im alten Kleinasien war oder welche Rolle sie für die Gesellschaft spielte bzw. wie sie als »welt- und sinndeutendes« Symbolsystem gesehen wurde.

Damit deute ich grundsätzliche Möglichkeiten religionswissenschaftlicher Theoriebildung über »Religion« an.51 Wenn für den vorliegenden Zweck eine Verallgemeinerung erlaubt ist, so kann man so genannte substanzialistische, funktionalistische und Symbol-Theorien als Definition von Religion unterscheiden. Substanzialistische Theorien dienen dabei zur Bestimmung, was das »Wesen« der Religion sei, um diese von nicht-religiösen Bereichen zu unterscheiden. Dabei spielt(e) häufig der Glaube an eine übernatürliche Macht oder das »Heilige« eine zentrale Rolle, um aus diesem Glauben an das Heilige bzw. aus dem Erleben des Heiligen als »gläubiger« Mensch sein Leben in Reaktion auf dieses Heilige auszurichten, wozu auch die Kommunikation mit dem Heiligen durch kultische Aktionen gehört. Als Gegenmodell – und Kritik an substanzialistischen Theorien – kann man funktionalistische Definitionen nennen, die Religion dahingehend bestimmten, welche Aufgaben sie für die Gesellschaft – als Kollektiv, aber auch für die einzelnen Individuen in einer Gesellschaft – zu leisten vermag. D. h. ein solches Definitionsmodell orientiert sich nicht an Inhalten von Religion (»Glaube«, »Heiliges«), sondern an der Funktion, die die Religion für die Menschen – in jeweils konkreten historischen Kontexten – erfüllt. Stellt man diese beiden Definitionsmodelle einander gegenüber, so tendieren Vertreter solcher Modelle dazu, Religion entweder in substanzialistischer Weise als eigenständige Größe neben bzw. tendenziell über der Kultur anzusiedeln und dadurch Teilbereiche der Kultur in Abhängigkeit von der Religion zu interpretieren, während demgegenüber Religion in funktionalistischer Interpretation als ein Subsystem von Kultur – gleichwertig anderen Subsystemen (z. B. Wirtschaft, Wissen, Gesundheit) – innerhalb der Gesellschaft betrachtet wird.

Die Gegenüberstellung von substanzialistischer und funktionalistischer Betrachtung von Religion zeigt zugleich, dass weder die eine noch die andere Definition in exklusiver Weise zielführend ist, so dass – funktionalistische Ansätze weiterführend – Religion als mehrdimensionales System gesehen werden sollte, indem nicht nur nach dem »Wesen« oder der (gesellschaftlichen) Funktion der Religion gefragt werden darf. Wenn man Religion als ein Symbolsystem definiert, so muss man unterschiedliche Aspekte oder Dimensionen beachten. Dazu gehören die rituelle Seite, die individuellen Erfahrungen, die im Wissenstransfer vermittelten ideologischen oder mythologischen Inhalte, ethische und (ver)rechtlich(t)e Aspekte sowie die gemeinschaftliche bzw. organisierte oder institutionalisierte Form von Religion. Streng genommen kann man sagen, dass die Beachtung solcher Aspekte von Religion eher eine Beschreibung und nicht eine strenge Definition von Religion darstellt.

Bei einer Beschreibung von historischen Religionen können dabei – aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen – nicht alle diese Aspekte in gleicher Weise beachtet bzw. erschlossen werden, allerdings erlauben sie m. E. einigermaßen, Vorstellungen über »Religion« in Anatolien zu sammeln, zu rekonstruieren und teilweise zu systematisieren. Diese Annäherung an die »Erfassbarkeit« von Religion könnte man daher in etwas abstrakterer Form in folgender dreiteiliger Form umschreiben:52

Religion ist demnach ein System, das ausgehend von einer identitätsbegründenden Komponente (beispielsweise ein [fiktiver] Stifter, ein Ur-Ahne, eine »Ur-Schrift«) durch gemeinsame Anschauungen und Weltdeutungen (d. h. »Lehre und Praxis«) eine Gemeinschaft (in durchaus unterschiedlich dichter Organisationsstruktur) konstituiert.

Verträgt sich eine solche Beschreibung von Religion mit der Religionsgeschichte Anatoliens? Blicken wir nochmals auf die beiden oben zitierten Aussagen: Die Erwartung des Segens bzw. der Strafe der Götter zeigt Anschauungen und Aspekte der Weltdeutung, zugleich lässt sie die »Konkretisierung« und Auswirkung von »Religion« sehen, wenn die Götter den Briefempfänger »am Leben erhalten und beschützen« sollen. Aber auch Fehlverhalten – entsprechend der aus der Religion entsprungenen oder durch die Religion begründeten Lebenspraxis – wird angesprochen und durch eine Fluchformel sanktioniert. Diese gemeinsamen Anschauungen und Werthaltungen, die die Lebenspraxis bestimmen, verbinden dabei »Religion« mit dem »außermenschlichen« Bereich und der Götterwelt, wobei das Verhalten der Götter auch menschliche Verhaltensweisen legitimiert. Daher greifen die Götter – mit Segen und langem Leben oder mit der in der Fluchformel angedrohten Bestrafung – in diese Lebenspraxis ein. Insofern ist der zweite Teil der eben zitierten Definition gut feststellbar. Auf den gemeinschaftlichen Aspekt als dritten Teil der Definition weist in der Inschrift des Wasusarme die Nennung eines »Königs« oder eines »gewöhnlichen Mannes« hin. Dass die identitätsbegründende Komponente aus der Definition in diesen kurzen Zitaten nicht ausgedrückt wird, ist kein völliger Zufall. Denn die Religionen Anatoliens sind keine »gestifteten« oder »geoffenbarten« Religionen, wodurch ideale Identitätsmarker für Religionen gegeben wären. Identitätsstiftung – als Begründung unterschiedlicher religiöser Vorstellungen, ohne dadurch unüberwindbare Abgrenzungen zwischen der einen und der anderen Religion zu schaffen – geschieht tendenziell durch die Herkunft,53 durch gemeinsame Interessen (z. B. dynastische Legitimation), eventuell durch gemeinsame Gottheiten (z. B. einen Wettergott als Bezugspunkt im klimatischen Kontext des Regenfeldbaus). Somit lässt sich auch der erste Aspekt der obigen Definition von »Religion(en)« finden, er ist aber gegenüber den Quellen, die Aufschluss über Anschauungen in »Lehre und Praxis« geben, weniger gut rekonstruierbar.

Trotz des Risikos einer zu schnellen Verallgemeinerung möchte ich behaupten, dass in historischen Religionen (mit nur beschränktem Quellenmaterial) die Beschreibung und Rekonstruktion von Religionen am besten für den zweiten Teil der von mir zugrunde gelegten Definition von Religion gelingt. Dies fügt sich gut zu Ciceros Beschreibung von »Religion«, der das Wort religio vom Verbum relegere »sorgsam beachten« herleitet und durch die Gegenüberstellung zum negativ konnotierten Verbum neglegere »vernachlässigen« eine Deutung vorlegt, nach der »Religion die Pflege/Verehrung der Götter ist« (religio id est cultus deorum).54 Diese auf der Ebene der »religiösen Handlung« verankerte Charakterisierung – und letztlich Funktion – von Religion ist keineswegs auf den römischen Raum beschränkt, sondern trifft auch auf die altkleinasiatische Religionswelt zu.

Einen »Oberbegriff« für Religion (annäherungsweise zur Bedeutungsbreite des deutschen Wortes) gibt es in den anatolischen Sprachen des 2. und 1. Jahrtausends v.u.Z. nicht, allerdings meine ich,55 dass das Wort šaklai- ein – wenngleich mit Einschränkungen – relativ weiter Ausdruck für das semantische Feld ist, das »Religion« umfasst. Das umfangreiche »Chicago Hittite Dictionary« gibt für das Wort folgende Bedeutungen an:56

1. custom, customary behaviour, rule, law, requirement,

2. rite, ceremony, protocol, use,

3. privilege, right, prerogative,

4. insignia (?), symbol (?).

Am interessantesten ist die Bedeutung »2. rite, ceremony, protocol, use«. Dabei muss man nicht immer an konkrete Rituale für die Götter denken, sondern die Übergänge zwischen »Ritual« und »Brauchtum« oder »göttliche Anforderung/Anforderung der Götter« sind fließend, und nur der Übersetzer muss sich für den einen oder anderen Begriff im Deutschen entscheiden – mit der jeweilig notwendigen Akzentuierung einer bestimmten Seite der Semantik von saklai-.

Als allgemeinen Begriff kann man šaklai- als eine – von Göttern ausgehende – Ordnung (die die Gemeinschaft teilt) und die menschlich dafür angemessene Verhaltensweise verstehen. Wenn man die etymologische Verknüpfung von hethitisch šaklai- mit lateinisch sacer akzeptiert, wird die zentrale religiöse Komponente von šaklai- sogar noch deutlicher:57sacer drückt nach Emile Benveniste das »implizite Heilige« aus. Diese implizite »Heiligkeit« in šaklai- umfasst dabei jenen Aspekt von Religion, den man mit »Lehrinhalten« verbinden kann bzw. jenen Textstellen, die etwa das »Chicago Hittite Dictionary« unter »1. custom, rule« verbucht, wobei diese »Heiligkeit« klarerweise auch für »2. rite, ceremony« gilt. Das »passende« Verhalten den Göttern gegenüber und das »sorgsame Beachten« der Götter führt zu einer Beziehung zwischen Göttern und Menschen, in der jedoch die Menschen den Göttern untergeordnet sind. Die Durchführung der Rituale – begründet durch Anschauungen über die Götter – durch Vertreter der religiösen Gemeinschaft bzw. der institutionalisierten Religion gestaltet dabei auch maßgeblich die Gesellschaft. Dadurch erhält Religion – in Form von hochrangigen Personen der königlichen Familie in Priesterämtern, durch Tempel als Wirtschaftsunternehmen, als Horte der Wissensbewahrung, Tradierung und »Regulierung« im Überlieferungsprozess von Texten – eine zentrale Funktion zur Strukturierung (d. h. sowohl Stärkung als auch Kontrolle) der Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe.

4  Methodische Folgen für die Beschreibung von Religionen in Anatolien

Die oben genannten Quellen und die Forschungssituation zu den Religionen in Anatolien sind für den Zeitraum vom Ende des 3. Jahrtausends bis in die ersten Jahrhunderte des 1. Jahrtausends keineswegs ausgewogen verteilt. Obwohl das Buch chronologisch aufgebaut ist, kann keine Religionsgeschichte im strengen Wortsinn vorgelegt werden, da der Kenntnistand für einzelne Zeiten unterschiedlich ist. Methodisch bedeutet dies, dass ich eine Darstellung wähle, die ich als »fragmentierten« Zugang (anstelle eines »harmonisierten« Zugangs) bezeichne.58 Es geht nicht darum, das (religionsphilosophische) Wesen der Religionen Kleinasiens zu rekonstruieren, sondern es sollen die verschiedenen Formen religiöser Praktiken in ihrer jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Verortung dargestellt werden, wobei auch lokale und individuelle Formen der Religionsausübung soweit wie möglich berücksichtigt werden müssen.

Dieser »fragmentierte« Zugang bzw. die nur »fragmentiert« mögliche Rekonstruktion erlaubt – aufgrund der Quantität der Quellen – in der hethitischen Großreichszeit folgende drei Ebenen der Betrachtung von »hethitischer« Religion.59 Am besten ist im hethitischen Schrifttum die »politische Religion des hethitischen Staates« mit den großen Festen und Ritualen dokumentiert, die für die Götter des »Staatspantheons« ausgerichtet wurden.60 Auf dieser Ebene wird Religion als gesellschaftsstabilisierender Faktor deutlich, wobei – entsprechend der Expansion des Hethiterreiches – das Staatspantheon sowie Rituale durch die Übernahme »fremder« Traditionen erweitert oder auch verändert wurden. Dabei handelt es sich um additive Prozesse, durch die das »Fremde« dann auch zum »Eigenen« wurde; pointiert gesagt heißt dies aber zugleich, dass diese Religion(swelt) immer ein Konglomerat sehr unterschiedlicher Traditionen war. Als zweite Ebene kann man die »dynastische Religion des Königshauses« benennen, auf die zu Recht nachdrücklich P. Taracha als von der »politischen Religion des Staates« bzw. von einer »Staatsreligion« unterschieden hingewiesen hat.61 Diese Ebene der Religion ist unmittelbar mit hurritischen Göttern und Ritualen, die aus Kizzuwatna ins hethitische Kernland importiert wurden, verbunden. Dabei ist diese »dynastische Religion« zwar von der »politischen Religion des Staates« zu unterscheiden, da aber auch letztere eng mit dem König verbunden ist, sind Überlappungen zwischen beiden Ebenen vorhanden. Die dritte zu unterscheidende Ebene bezeichne ich als »Religion der allgemeinen Bevölkerung«, wobei diese fast nur indirekt aus den Quellen des »Staatskults« zu erschließen ist, da wir nur wenige Zeugnisse für solche Formen von Religion im allgemeinen Alltag besitzen. Diese Ebene von Religion kennt dabei kaum umfangreiche organisatorische Strukturen, wie sie im Fall der politischen Religion des Staates gut ausgeprägt sind. Zweierlei macht diese Ebene jedoch religionsgeschichtlich m. E. besonders interessant: Einerseits zeigt sie, dass Formen der politischen Staatsreligion – teilweise in vereinfachter Form – in alltäglichen religiösen Praktiken durchgeführt oder »nachgeahmt« wurden,62 und andererseits sind auf dieser Ebene auch die lokalen Religionsformen – luwischer, hurritischer und hattischer Provenienz – einzuordnen, soweit diese nicht aus politischer Räson in die politische Staatsreligion einbezogen wurden.

Die Beachtung dieser drei Ebenen macht die Pluralität der Religionswelt der hethitischen Großreichszeit deutlich, so dass dies der methodische »Leitgedanke« in der Beschreibung der religiösen Strukturen und Praktiken sein soll. Anhand der Darstellung von Göttern und Kultstädten lassen sich Strukturen politisch-offizieller (und dynastischer) Religion darstellen, um daran anschließend – auch meist auf der Ebene der »politischen« Religion bleibend – Praktiken des Umgangs mit den Gottheiten zu beschreiben, ehe Religion als Faktor des (auch alltäglichen) Zusammenlebens thematisiert werden soll. Diese Gliederung kann dabei der Überlappung der drei Ebenen Rechnung tragen, erlaubt aber auch, die »offizielle und öffentliche« Seite von Religionen wenigstens teilweise von der »privaten und alltäglichen« Seite von Religion zu unterscheiden. Es kann aber nicht verschwiegen werden, dass diese ideale Beschreibung und die methodische Annäherung auf ein Hindernis stoßen. Denn die zur Verfügung stehenden Quellen – als Ergebnis der bewussten Tradierung zur Stützung »offizieller« Religion, aber auch wegen der Zufälligkeit des Erhaltungszustandes – erlauben kein systematisches Ausarbeiten der Religionen nach diesen Parametern. Einigermaßen möglich ist es für die Zeit des hethitischen Großreiches (von der Mitte des 14. bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts), anhand dessen Material dieser methodische Zugang entwickelt wurde. In den anderen Kapiteln (bzw. zeitlichen Abschnitten) lässt sich dieser Aufbau nicht immer in gleicher Weise durchführen. Denn die Funde aus Alaca Höyük (Mitte 3. Jahrtausend) sowie die Quellen aus der Periode der altassyrischen Handelskolonien (20. bis 18. Jahrhundert) gewähren nur (zufällige) Einblicke in einzelne Bereiche von Religion, für die altassyrische Handelsperiode vor allem zu den Gottheiten. In der Behandlung der althethitischen Zeit (Mitte des 17. bis Ende des 15. Jahrhunderts) ist zu beachten, dass manche damaligen Vorstellungen nur aus der Perspektive der Veränderungen der hethitischen Großreichszeit erschlossen werden können, wobei die für solche Rekonstruktionen notwendige Analogie zu jüngeren Vorstellungen immer auch die Gefahr einer Fehldeutung birgt.

Nach dem Untergang des Hethiterreiches sind die religiösen Vorstellungen nicht verschwunden, aber durch neue Organisationstrukturen re-interpretiert worden. Durch Verschiebungen von Bevölkerungselementen, durch Austausch von Gedanken und Überlieferungsgut sind die überlieferungswürdigen Inhalte einer Veränderung gegenüber den früheren Epochen unterworfen. Dadurch stellen sich die religiösen Vorstellungen, die in den Texten und Bildern der so genannten neo-hethitischen (Klein-)Staaten in Zentral- und Süd(ost)anatolien bis zum Ende des 8. Jahrhunderts dokumentiert sind, in einem jeweils eigenen Gepräge dar – mit Kontinuität und Eigengut. Auch wenn die Quellen für die Erschließung der religiösen Verhältnisse in diesen Staaten nicht allzu umfangreich sind, bleibt es trotzdem möglich, in einem »fragmentierten« Zugang wenigstens Grundzüge zu Gottheiten, zu Aspekten des umfangreichen Bereichs des Kults sowie zur Verflechtung von Religion und Gesellschaft zu skizzieren. In den anderen politischen Größen der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends – im Flächenstaat der Phryger (10. bis 7. Jahrhundert), in den Herrschaftssitzen der Lyker, Karer und Lyder im Süden und Südwesten Kleinasiens (7./6. bis 4. Jahrhundert) – dominiert dabei der Anteil an »Neuem« gegenüber der Bewahrung oder Rezeption von Traditionen des 2. Jahrtausends. Daher wird am Ende des Bandes nur kurz auf diesen Raum hingewiesen, ohne die dort fassbaren Religionen weiter zu behandeln. Dies soll jedoch nicht heißen, dass diese Religionen nicht mehr zur Religionsgeschichte Anatoliens gehören würden. Denn Religionsgeschichte ist nie abgeschlossen, so dass man letztere Religionen – trotz der Veränderungen, die sie zeigen – als Beispiel der Dynamik, die allen Religionen und der Religionsgeschichte innewohnt, sehen muss, deren detaillierte Analyse in einem anderen Kontext Fortsetzung verdient.

B  Frühe religiöse Vorstellungen Anatoliens am Beispiel der Gräber von Alaca Höyük und der Briefe aus den altassyrischen Handelskolonien in Zentralanatolien

Blickt man vom reichhaltigen hethitischen Schrifttum der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends zurück in frühere Epochen der Religionsgeschichte, steht man unmittelbar vor folgenden Fragen: Welche Vorstellungen, die uns aus der so genannten »hethitischen Großreichszeit« besonders des 14. und 13. Jahrhunderts bekannt sind, können schon in früheren Jahrhunderten vorausgesetzt werden? Wie weit zurück lassen sich religiöse Vorstellungen methodisch zuverlässig rekonstruieren, indem archäologische Befunde der Spätphase der Frühen Bronzezeit als religiöse Zeugnisse gedeutet werden? Lässt sich eine teilweise Kontinuität der Religionswelt postulieren, die sich vom 3. ins 2. Jahrtausend erstreckt? Solche Fragen gilt es zu beachten, wenn Quellen für den Zeitraum vom 25. bis zum letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als Basis der Rekonstruktion herangezogen werden. Da diese Quellen keineswegs flächendeckend für Zentralanatolien vorhanden sind, ist diese Rekonstruktion vor allem auf zwei Bereiche beschränkt: Es sind die reichhaltigen Funde der Gräber aus dem Ausgrabungsort Alaca Höyük, welche die Bestattungspraktiken der Elite dieser Siedlung widerspiegeln. Ungleich umfangreicher sind die Ausgrabungsergebnisse von Kültepe (Kaneš), einem politischen Zentrum mit einer Oberstadt und einer altassyrischen Handelsniederlassung, in der unzählige Briefe und Privaturkunden bzw. Verträge bzgl. der wirtschaftlichen Aktivitäten gefunden wurden. Diese schriftlichen Quellen erlauben eine teilweise Rekonstruktion der politischen und sozialen Verhältnisse, auch wenn religiöse Vorstellungen dabei lediglich am Rande fassbar werden.

1  Bestattung und Gesellschaft in Alaca Höyük

Der Ort Alaca Höyük liegt etwa 160 Kilometer östlich von Ankara, wobei der Höyük einen Durchmesser von 250 Metern und eine Höhe von 15 Metern hat. Seit Beginn der Ausgrabungen im Jahr 1935, die bis zur Gegenwart andauern, konnten vier Kulturperioden mit insgesamt 14 archäologisch zu unterscheidenden Schichten1 identifiziert werden. Die dritte Periode gehört der Frühbronzezeit an und umfasst die archäologischen Schichten 5–8. Aus dieser Zeit stammen die vierzehn innerhalb der Stadtmauern liegenden, reich ausgestatteten Gräber, die meist ins 23. Jahrhundert datiert werden, aufgrund neuerer naturwissenschaftlicher Untersuchungen organischer Funde in den Gräbern wahrscheinlich aber bereits aus der Zeit knapp vor der Mitte des 3. Jahrtausends stammen.2 Die Größe der Gräber3 variiert, wobei Grab H mit 8,9 Metern mal 3,4 Metern die größten Ausmaße hat; die Tiefe der Gräber liegt zwischen 0,5 und 1 Meter. In den meisten Gräbern wurden die Toten in Hockerstellung als Einzelgrablege bestattet, wobei der Kopf nach Westen und das Gesicht nach Süden ausgerichtet war; in Grab D war eine Frau bestattet. Mit den Toten waren Prestige-, Kult- und Gebrauchsgegenstände aus Metall (Zinnbronze, Silber, Gold, Elektron) deponiert; bei letzteren handelt es sich unter anderem um Äxte, Bohrer, Dolche, Schwerter oder Nadeln sowie um Gefäße, wobei diese Beigaben Gebrauchsspuren zeigen und wohl dem oder der Bestatteten persönlich gehört haben. Die Gräber waren durch Holzbalken abgedeckt. Auf diesen Holzbalken lagen Rinderschädel und Rinderhufe, was auf die Durchführung von Totenopfern und -ritualen hinweist.4 Wahrscheinlich wurden die Rinder bei einem Mahl im Rahmen des Bestattungsrituals verspeist. Neben den Rinderköpfen wurden in den Gräbern auch Knochen von anderen Tieren gefunden – Ziegen, Schafe, Hunde, Schweine und Esel. Die Auffindungssituation in Grab R lässt darauf schließen, dass dort Ziegen und ein Schaf als Opfer(rückstand) deponiert wurden, während bei anderen Tieren teilweise die Möglichkeit besteht, dass auch sie im Zusammenhang mit den Begräbnissen (rituell) verzehrt wurden.

Die vielfältigen und hochwertigen Grabbeigaben haben Ünsal und Gönül Yalçın unlängst erneut einer Interpretation unterzogen, wobei die Qualität der Beigaben auf das Prestige und den sozialen Status der Toten verweist. Neben anscheinend hochqualifizierten Handwerkern sind aufgrund der Grabbeigaben andere Bestattete dem herrschaftlichen bzw. religiösen Feld zuzuordnen, wobei eine klare Trennung zwischen einzelnen sozialen Rollen eher unwahrscheinlich ist. Neben den schon erwähnten Gebrauchsgegenständen kann man einen Teil der Beigaben als Herrschaftssymbole5 bezeichnen. Dazu gehören Schmuckstücke, Diademe, Gefäße aus Edelmetall und Prunk- oder Zeremonialwaffen (Keulenköpfe, Eisendolche). Diese Waffen waren nicht für den Gebrauch bestimmt, sondern ihre aufwändige Gestaltung bzw. das teilweise weiche Metall lässt einen symbolischen Charakter vermuten.

Zu den Objekten, die mit religiösen Kontexten zu verbinden sind, gehören kunstvoll gestaltete Standarten,6 die entweder auf oder in einen anderen Gegenstand gesteckt werden konnten oder die auf Holzstangen montiert waren, um sie z. B. bei Prozessionen mitzutragen. Insgesamt 39 Sonnenstandarten aus Bronze oder Silber sind in den Gräbern gefunden worden, sowie tierförmige Aufsätze, die einen Stier oder einen Hirsch bzw. eine Tiergruppe zeigen; die Tierstandarten sind aus Bronze, mit Metalleinlagen aus Silber oder Elektron. Da diese Standarten Gebrauchsspuren aufweisen, ist anzunehmen, dass es sich bei diesen Beigaben um Kultgegenstände handelt, die als Besitz des Bestatteten auch Rückschlüsse auf seine kultischen Aktivitäten erlauben. Auch wenn die Grabfunde in Alaca Höyük am bedeutsamsten sind, ist erwähnenswert, dass vergleichbare Standarten an anderen Orten Zentralanatoliens jener Zeit, z. B. in Horoztepe7 oder Mahmatlar, gefunden wurden, was die Vermutung von gemeinsamen Vorstellungen in diesem Raum zulässt. Neben diesen Standarten stammen auch sechs anthropomorphe Figurinen aus Edelmetall (und stilistisch vergleichbare Tonfigurinen) aus den Gräbern, die ebenfalls kunstvoll gestaltet sind.8 Manche von ihnen zeigen eine detaillierte Gestaltung des Gesichts und des Kopfes, so dass eine Interpretation als Darstellung einer individuellen Göttin denkbar ist. Bei anderen Figurinen, bei denen die Brüste, die Hüften bzw. die Scham besonders hervorgehoben sind, lässt sich eher an Figurinen denken, die allgemein den Wunsch nach Fruchtbarkeit ausdrücken sollen. Dass auch solche Frauenstatuetten nicht auf Alaca Höyük beschränkt sind, zeigt z. B. die jüngere Figur einer stehenden Frau, die ein Kind stillt, aus einem Grab in Horoztepe, oder die Figur einer sehr schlanken Frau mit detailliert gestaltetem Schambereich aus Hasanoğlan.

Was kann man aus solchen (Be-)Funden eventuell hinsichtlich religiöser Vorstellungen ablesen?9 Dass es sich bei den Gräbern, die sich über einen Zeitraum von rund zwei Jahrhunderten erstrecken, um Zeugnisse für Bestattungen der Oberschicht handelt, ist unbestritten. Möglich, aber unbeweisbar ist die Annahme von Tahsin Özgüç, der damit rechnet, dass die hier bestatteten Prinzen bzw. Prinzessinnen gleichzeitig auch priesterliche Aufgaben ausübten. Weil manche Grabbeigaben Gegenstände mit religiöser Verwendung bzw. Symbolik sind, vertritt z. B. Volkert Haas die Meinung, dass man die hier Bestatteten als »Träger höchster priesterlicher Funktionen« oder vielleicht sogar als Priesterkönige bzw. -königinnen verstehen darf. Einen Schritt weiter geht Maciej Popko, der die gesicherte Kontinuität der Siedlung von Alaca Höyük bis in die hethitische Großreichszeit in die Überlegungen mit einfließen lässt. Da Popko die seit der althethitischen Zeit wichtige Kultstadt Zippalanda in Alaca Höyük lokalisiert,10