Ren Dhark – Weg ins Weltall 54: Im Namen der Murip - Achim Mehnert - E-Book

Ren Dhark – Weg ins Weltall 54: Im Namen der Murip E-Book

Achim Mehnert

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Beschreibung

Ren Dhark und seine Begleiter nehmen das Experimentalraumschiff der Worgun in Betrieb. Die ersten Testflüge verlaufen vielversprechend, doch es besteht immer noch Grund zur Vorsicht, auch wenn keiner mehr an ein Scheitern glauben mag. Zur gleichen Zeit sitzen Danog ut Keltris, sein Pilot Brent Cavendish sowie Art und Jane Hooker immer noch auf Incalu in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen gegen sie dauern an, und es sieht nicht gut für die vier aus, denn am Ende werden sie vor ein Gericht treten müssen, welches ein Urteil spricht im Namen der Murip... Jan Gardemann, Uwe Helmut Grave und Achim Mehnert verfaßten einen packenden SF-Roman nach dem Exposé von Ben B. Black.

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EPUB

Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ren Dhark

Weg ins Weltall

 

Band 54

Im Namen der Murip

 

von

 

Jan Gardemann

(Kapitel 1 bis 5)

 

Uwe Helmut Grave

(Kapitel 6 und 7)

 

Achim Mehnert

(Kapitel 8 bis 17)

 

und

 

Ben B. Black

(Exposé)

Inhalt

Titelseite

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

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Ren Dhark Classic-Zyklus

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Impressum

Prolog

Im Herbst des Jahres 2067 scheint sich das Schicksal endlich einmal zugunsten der Menschheit entwickelt zu haben. Deren Hauptwelt heißt längst nicht mehr Terra, sondern Babylon. 36 Milliarden Menschen siedelten auf diese ehemalige Wohnwelt der Worgun um, als die irdische Sonne durch einen heimtückischen Angriff zu erlöschen und die Erde zu vereisen drohte. Mittlerweile konnte die Gefahr beseitigt werden, und das befreundete Weltallvolk der Synties hat den Masseverlust der Sonne durch die Zuführung interstellaren Wasserstoffgases fast wieder ausgeglichen.

Die Erde ist erneut ein lebenswerter Ort, auf dem allerdings nur noch rund 120 Millionen Unbeugsame ausgeharrt haben. Die neue Regierung Terras unter der Führung des »Kurators« Bruder Lambert hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erde nach dem Vorbild Edens in eine Welt mit geringer Bevölkerungsdichte, aber hoher wirtschaftlicher Leistungskraft zu verwandeln, und ist deshalb nicht bereit, die nach Babylon Ausgewanderten wieder auf die Erde zurückkehren zu lassen.

Allerdings haben auch die wenigsten der Umsiedler konkrete Pläne für einen neuerlichen Umzug innerhalb so kurzer Zeit. Es kommt die katastrophale Entwicklung hinzu, die Babylon seit dem Umzug der Menschheit nahm: Durch eine geschickt eingefädelte Aktion war es dem höchst menschenähnlichen Fremdvolk der Kalamiten gelungen, den Regierungschef Henner Trawisheim, einen Cyborg auf geistiger Basis, derart zu manipulieren, daß er zu ihrem willenlosen Helfer und Vollstrecker bei der geplanten Übernahme der Macht über die Menschheit wurde. Erst in allerletzter Sekunde gelang die Revolution gegen die zur Diktatur verkommene Regierung von Babylon und damit gegen die heimlichen Herren der Menschheit, die Kalamiten. Während den meisten der Fremden die Flucht gelang, wurde Trawisheim aus dem Amt entfernt und in ein spezielles Sanatorium für Cyborgs gebracht.

Daniel Appeldoorn, der schon zu den Zeiten, als Babylon noch eine Kolonie Terras war, als Präsident dieser Welt fungiert hatte, bildete mit seinen Getreuen eine Übergangsregierung, deren wichtigste Aufgabe es ist, das Unrecht der Diktatur wiedergutzumachen und neue, freie Wahlen vorzubereiten. Gleichzeitig ist es Ren Dhark und seinen Mitstreitern gelungen, die geheimnisvolle Schranke um Orn abzuschalten – und mit ihr auch die verhängnisvolle Strahlung, die die Worgun, das bedeutendste Volk dieser Sterneninsel, in Depressionen, Dummheit und Dekadenz trieb.

Nach seiner Rückkehr in die Milchstraße kann Ren Dhark dem Angebot des Industriellen Terence Wallis nicht länger ausweichen und läßt seinen Körper mit Nanorobotern behandeln, die ihn und sieben von ihm Auserwählte unsterblich machen sollen. Doch anstatt sich mit seiner nun vollständig veränderten Lebensperspektive beschäftigen zu können, muß sich Ren Dhark einer neuen Herausforderung stellen: Eine unbekannte Macht namens Kraval sorgt dafür, daß der Hyperraum nicht länger zugänglich ist.

Als man diese Herausforderung endlich überwunden glaubt, tauchen die Wächter mit einer neuen Hiobsbotschaft auf: Im Zentrum der Milchstraße hat sich etwas etabliert, das die gesamte Schöpfung in Gefahr bringen könnte. Dort hat sich scheinbar aus dem Nichts ein Miniaturuniversum gebildet, das allerdings exponentiell wächst und schon in wenigen Jahren den Untergang unseres Universums herbeiführen könnte.

Ren Dhark und seine Begleiter, die immer noch der Spur aus einem alten Worgun-Artefakt folgen, haben das Experimentalraumschiff der Gestaltwandler gefunden und wollen es in Betrieb nehmen. Etwa zur gleichen Zeit kommt Roy Vegas der Bitte des Commanders nach und informiert die Verantwortlichen auf Babylon über die Umtriebe des Utaren Lek und seiner Mitarbeiter…

1.

Roy Vegas landete den Gleiter auf dem Vorplatz der Baustelle. Der Kies knirschte unter dem plötzlichen Gewicht des aufsetzenden Fahrzeugs, und der vom Antigravkissen zu den Seiten weggeschleuderte Staub sank langsam nieder. Der Wagenschlag glitt auf, und der Astronaut, der vor achtundfünfzig Jahren als erster Mensch seinen Fuß in den Marsstaub gesetzt hatte, grub nun beim Aussteigen seine Stiefel in den weichen Boden Mesopotamias.

Die Soldaten, die sich in der Nähe des angekommenen Gleiters aufhielten, nahmen Haltung an und grüßten den Oberst militärisch, eine Geste, die Vegas scheinbar lässig, aber dennoch korrekt erwiderte.

Der einen Meter sechsundachtzig große Mann reckte sich und sog die würzige, nach Wald und Humus riechende Luft tief in seine Lunge. Trotz seiner vierundachtzig Jahre war Vegas körperlich erstaunlich fit und wirkte außerordentlich kräftig. Einzig das volle graue Haar ließ sein wahres Alter vermuten. In seinen dunkelblauen Augen blitzte es kurz auf, als er zu der im Bau befindlichen Mehrzweckhalle hinübersah und das Licht der Morgensonne auf sein Gesicht fiel. Vegas’ Augen konnten bei bestimmter Beleuchtung, oder wenn er in Zorn geriet, fast schwarz wirken. Doch jetzt schienen sie von innen heraus zu leuchten. Offenbar war er gutgelaunt, oder zumindest doch milde gestimmt.

Während der Marsmission war Vegas im Rahmen eines Forschungsauftrags am Südpol spurlos verschwunden. Er geriet in die Gewalt des sogenannten Einsamen, bei dem es sich um einen Großrechner handelte, der zu einem Volk von intelligenten Suprasensoren mit zweifelhaften Ambitionen gehörte. Der Einsame, der tatsächlich einsam war, weil er von seinesgleichen verstoßen worden war, machte Vegas zu seinem Gesellschafter und verwahrte ihn in einer Nährlösungskammer, damit er nicht so schnell alterte.

Im Laufe der jahrzehntelangen Gefangenschaft entwickelte Vegas ein erstaunliches Einfühlungsvermögen für die Arbeitsweise komplexer Rechner und die Denkvorgänge künstlicher Intelligenzen. Ironischerweise war es ausgerechnet eine KI, die ihn im Oktober 2058 dann aus seiner mißlichen Lage befreite. Für diese Tat würde Vegas dem Roboter Artus für immer dankbar sein.

Bei Artus handelte es sich um einen von Wallis Industries hergestellten humanoiden Großserienroboter aus Stahl. Die im Vergleich zum Torso dünnen, röhrenförmigen Arme und Beine verliehen diesen Maschinen ihr charakteristisches Aussehen. Durch die Vernetzung von vierundzwanzig Cyborg-Programmgehirnen mit der eigenen Suprasensorik hatte sich Artus zu einer echten Künstlichen Intelligenz gemausert und zählte seit langem zur Stammbesatzung der legendären POINT OF, deren Commander kein geringerer als Ren Dhark war.

Nach einem wechselvollen, doch nicht weniger erfolgreichen Lebensverlauf hatte es Vegas inzwischen nach Mesopotamia verschlagen, wo er eine exponierte Ausbildungsstätte für Kadetten der Flotte der Unabhängigen Siedlerwelten sowie Rekruten von Babylon und Eden leitete. Vor kurzem hatte er sogar das Vergnügen gehabt, Artus wiederzutreffen, denn die POINT OF war, zusammen mit einem Schiff der Wächter, wegen dringender Reparaturarbeiten nach Mesopotamia gekommen.

Gestern waren die Besatzungen mit den beiden intakten Schiffen wieder aufgebrochen, um ihre Mission fortzuführen, die darin bestand, das Geheimnis des Miniuniversums zu lüften, das sich völlig unerwartet im Zentrum der Milchstraße manifestiert hatte und eine große Bedrohung darstellte.

Zufrieden betrachtete Vegas das eingerüstete Gebäude, hinter dem sich die grüne, gefiederte Wand des Waldes erhob.

Obwohl Mesopotamia kein unberührter Planet mehr war, hatte er seine Ursprünglichkeit und Wildheit nicht verloren. Wahla, wie die Worgun diese Welt nannten, war einst der zweite Heimatplanet der Sumerer gewesen. Die Worgun hatten hier ein Kontingent aus sechsundsechzig Ringraumern und eine unterirdische Raumschiffwerft zurückgelassen.

Doch sowohl die Worgun und ihre Ringraumer als auch die Sumerer waren längst fort. Nur die noch funktionstüchtige Werft unter dem flachen Berg in der Nähe der Ansiedlung war zurückgeblieben. Statt dessen machten sich nun die Menschen auf dieser Welt breit. Der militärische Stützpunkt, der auf dem vergleichsweise kleinen Flecken inmitten des bewaldeten Kontinents errichtet worden war, breitete sich langsam aus, fraß sich gemächlich in den Wald hinein und ebnete ihn streckenweise ein. Trotzdem war die Siedlung vom Weltraum aus kaum auszumachen, so winzig und verloren wirkte sie in dem grünen Meer des Waldes.

Mesopotamia bestand fast nur aus Landmasse. Die Kontinente waren nahezu vollständig bewaldet. Es gab keine großen Meere und auch keine Gebirge, die diesen Namen verdient hätten.

»Wie kommen die Arbeiten voran, Sergeant?« erkundigte sich Vegas bei einem der Männer, die um einen Tisch herum standen und auf einem Flachbildschirm die Baupläne studierten. Er war zu ihnen herübergeschlendert, während er seinen Gedanken nachhing.

»Hervorragend, Sir«, antwortete der Angesprochene. »Die Verbesserungen, die Wächter Simon an den Konstruktionsplänen vorgenommen hat, erleichtern uns die Arbeit erheblich. Wenn nichts Unerwartetes dazwischenkommt, könnte die Mehrzweckhalle in drei Wochen fertiggestellt sein.«

»Das hört sich doch gut an«, erwiderte Vegas und lächelte aufmunternd. Die geringe Beunruhigung, die in den Worten des Sergeanten mitschwang, war ihm nicht entgangen.

Es hatte tatsächlich eine unerwartete Störung gegeben, während die POINT OF und die ARKANDIA auf Mesopotamia weilten. Eine Utaren-Drohne, die die Schiffe bis hierher verfolgt hatte, griff die auf dem Planeten anwesenden Künstlichen Intelligenzen mit einem gefährlichen Störimpuls an. Sowohl Artus und der Checkmaster, das erstaunliche Bordgehirn der POINT OF, als auch Bulam, der Hyperkalkulator der unterirdischen Werftanlage, gerieten wegen dieses Angriffs in Bedrängnis. Jimmy, ein von dem Ingenieur Chris Shanton konstruierter Roboterhund in Form eines Scotchterriers wurde ebenfalls leicht in Mitleidenschaft gezogen, wie Vegas später erfuhr. Aufgrund eines unbekannten Bauteilfehlers, der es mit sich brachte, daß Jimmy immer wieder neue Subprogramme bildete, so daß er nahezu selbständig agieren konnte, hatte sich in ihm offenbar eine Künstliche Intelligenz herangebildet, was ihn für den Angriff ebenfalls empfänglich machte.

Bulam gelang es schließlich, die Drohne zu lokalisieren, und das Flash-Geschwader der ODENWALD schoß sie ab.

Dennoch schwebte seitdem die Ahnung einer Bedrohung über der Siedlung. Die Drohne stammte von verbrecherischen Utaren, die offenbar über ein effektives Netzwerk verfügten. In das Visier dieser blauhäutigen Gesetzesbrecher geraten zu sein konnte unabsehbare Folgen für die Ausbildungsstätte auf Mesopotamia haben. Daß die POINT OF und die ARKANDIA, denen dieser Angriff eigentlich gegolten hatte, inzwischen fort waren, bildete keine Garantie dafür, daß keine weiteren Angriffe seitens der Utaren-Bande zu erwarten waren.

»Wir alle müssen die Augen offenhalten«, erklärte Vegas. »Dieser Drohnen-Vorfall ist für uns eine gute Übung und zeigt den jungen Leuten, daß man sich als Soldat nirgendwo sicher fühlen darf.«

Der Sergeant nickte beipflichtend. Er wußte sofort, worauf Vegas’ Worte abzielten. »Die Rekruten sind stark motiviert, Sir. Ich habe sogar den Eindruck, einige von ihnen wünschen sich, daß es bald wieder zu einem Angriff kommt. Sie wollen sich ihre Fähigkeiten im Ernstfall beweisen.«

»Das sollten wir uns zunutze machen, indem wir eine Übung initiieren, die wie ein Ernstfall aussieht. Ich werde darüber nachdenken.« Vegas verabschiedete sich und kehrte zu seinem Gleiter zurück, um den morgendlichen »Rundgang« fortzusetzen.

Sein nächstes Ziel waren die Freilandparcours, die sich bis tief in den Wald hinein erstreckten. Vegas folgte ein Stückweit der Hauptstraße, flog an mehreren Baracken und Kasernengebäuden vorbei, vor denen rege Betriebsamkeit herrschte. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ab. Diese führte zwischen großen Lagerhallen hindurch und endete nach einigen hundert Metern vor einer ausgedehnten Sandfläche.

Ein Dutzend Rekruten übte sich gerade darin, sich in voller Kampfmontur und mit schußbereiten Multikarabinern in den Händen auf den Boden zu werfen. Auf Befehl der Ausbilderin hin rollten die Soldaten durch den Sand, brachten die Gewehre in Anschlag, sprangen auf, rannten ein Stück und warfen sich erneut hin.

Vegas lächelte verhalten. Es war bestimmt kein Vergnügen, sich in der beginnenden Hitze des Tages so sehr zu verausgaben, wie diese jungen Rekruten es gerade taten. Die Gesichter hinter den Helmvisieren waren vor Anstrengung verzerrt und mit Schweißperlen bedeckt. Offenbar quälte ihre Ausbilderin die frischgebackenen Soldaten schon etwas länger.

Vegas stoppte den Gleiter am Rand des Sandfeldes und stieg aus.

Die Ausbilderin hatte das Erscheinen des Obersts inzwischen bemerkt und stapfte durch den Sand herbei. Für eine Frau war sie sehr muskulös und sehnig. Ihr hübsches und ausgesprochen weiblich erscheinendes Gesicht ließ jedoch keine Zweifel über ihr Geschlecht aufkommen. Ihr Kiefer mahlte, weil sie mal wieder einen Kaugummi mit ihren Zähnen malträtierte, und unter dem Helm, dessen Visier hochgeklappt war, trug sie ein rotes Tuch, das quasi zu ihrem Markenzeichen geworden war.

»Ich habe heute morgen eine leichte Angespanntheit unter meinen Rekruten festgestellt«, erklärte Maria Morales, nachdem sie ihren Vorgesetzten gegrüßt und dieser sich nach dem Befinden ihrer Gruppe erkundigt hatte. »Daraufhin habe ich beschlossen, sie mehrere Stunden lang Invasionsübungen durchführen zu lassen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Zwei Stunden werden sie diesen Drill noch durchhalten müssen, dann haben sie sich ihr Frühstück redlich verdient, das wir diesmal ausnahmsweise im Wald zusammensammeln werden. Es gibt hier Beeren und Pilze, die den gesamten Tagesbedarf an Vitaminen und Ballaststoffen abdecken, wenn man genug davon in sich hineinstopft.« Sie grinste breit. »Das nächste Mal werden sie sich überlegen, ob sie sich von einer lächerlichen Spionagedrohne so viel Respekt einflößen lassen, wie es offenkundig geschehen ist.«

Vegas nickte ernst. »Es macht die jungen Leute nervös, daß diese verbrecherischen Utaren den Standort unserer Welt kennen.«

»Das ist ja auch verständlich«, entgegnete Morales. »Nach allem, was über diese blauen Zwerge durchgesickert ist, scheint es sich um eine Gruppe äußerst skrupelloser und vor nichts zurückschreckender Gesellen zu handeln.« Sie straffte ihre Körperhaltung. »Dennoch: Es ist nicht hinnehmbar, daß das daraus resultierende Gefühl der Beklemmung die Rekruten während des Morgenappells beeinträchtigt.«

»Das sehe ich genauso. Aber sagen Sie Ihren Leuten trotzdem, daß wir diesen Angriff nicht auf sich beruhen lassen werden.«

»Sie gedenken, gegen diese Utaren vorzugehen, Sir?«

»Vielleicht nicht auf die Art und Weise, die Ihnen gerade vorschwebt, Morales. Aber ja, der Übergriff wird für diese Verbrecherorganisation nicht folgenlos bleiben. Dafür werde ich sorgen.«

Vegas befahl dem Stabsunteroffizier wegzutreten und kehrte zu seinem Gleiter zurück. Heute morgen hatte er nur eine vage Vorstellung davon gehabt, wie er auf die aggressive Spionagedrohne reagieren sollte, doch inzwischen hatte sich ein Plan für sein Vorgehen herauskristallisiert. Vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn Stippvisiten durchzuführen konnte mitunter recht inspirierend sein, wie er einmal mehr feststellen durfte.

Bevor er sich auf den Weg in den Bürokomplex machte, schaute Vegas noch im Schulungszentrum vorbei. In den Klassen wurde intensiv gebüffelt, wie er nicht anders erwartet hatte. Physikalische Unterrichtseinheiten über die Funktionsweise der überlichtschnellen pinkfarbenen Nadelstrahlen gehörten ebenso zum Stoff wie die Lehre vom menschlichen Körper und Angloterunterricht.

*

Die Sonne stand bereits zwei Handbreit über den Baumwipfeln, als Vegas den Verwaltungstrakt in der Nähe des Raumhafens betrat. Auf dem Flur lief ihm Chester McGraves über den Weg.

Der Major schottischer Abstammung trug seine gewohnt leicht traurig erscheinende Miene zur Schau, die den hageren Mann ein wenig wie Don Quichote aussehen ließ, was ihm den Spitzname »Ritter der traurigen Gestalt« eingehandelt hatte.

»Gut, daß ich Sie hier treffe, Sir«, eröffnete McGraves, nachdem er kurz gegrüßt hatte. »Ich habe mit einer Gruppe Techniker und Ortungsspezialisten die ganze Nacht über an der Neukoordinierung unserer Überwachungssysteme gearbeitet.« Er deutete auf die Tür, die er angesteuert hatte, als Vegas den Flur betrat. »Möchten Sie einen Blick auf die Anlage werfen, Sir?«

Vegas winkte ab. »Es genügt völlig, wenn Sie mir davon berichten.«

»Die Ortungsereignisse der ANZIO und der ODENWALD werden nun in unserer neuen Überwachungsabteilung zusammengefaßt«, erläuterte McGraves. »Bulam hat sich bereiterklärt, uns seine Ortungsergebnisse ebenfalls zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurden zusätzliche Satelliten in die Umlaufbahn ausgebracht, so daß die unmittelbare Umgebung von Mesopotamia jetzt flächendeckend von Spürern überwacht wird. Noch einmal wird es nicht vorkommen, daß wir uns von einer feindlichen Drohne übertölpeln lassen.«

»Veranlassen Sie, daß davon im Mesopotamia-Anzeiger berichtet wird, McGraves«, wies Vegas den Major an. »Die Soldaten sollen nicht den Eindruck bekommen, daß wir nichts zur Verbesserung der Sicherheitslage beitragen.«

McGraves wirkte plötzlich noch eine Spur zerknirschter. »Dieser Cyber-Angriff der Utaren hat einige Rekruten und Kadetten ziemlich verunsichert.«

»Sie werden daraus ihre Lehre ziehen. Dafür werden unsere Ausbilder schon sorgen. Ich für meinen Teil werde jetzt versuchen, diesen blauhäutigen Zwergenverbrechern die Hölle heiß zu machen.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich und gingen ihrer Wege.

*

In seinem Büro angekommen, trat Vegas vor das Fenster hin, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah nach draußen.

Das Fenster gewährte einen Ausblick auf den Raumhafen. Auf dem Landefeld aus Betonplast standen zwei Raumschiffe. Bei der ANZIO handelte es sich um einen Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse, während die ODENWALD zur Thomas-Klasse gehörte.

Die ODENWALD war von Bulam für die FUS gebaut worden, wobei ihm Konstruktionspläne von Wallis zur Verfügung gestellt worden waren.

Obwohl es sich nur um zwei Raumer handelte, reichte deren Bewaffnung allerdings vollkommen aus, um einen eventuellen Angriff der Utaren abzuwehren und die Siedlung sowie die unterirdische Werft zu verteidigen. Zur Not konnten der Planet komplett evakuiert und die Mannschaften mit den Ringraumern in Sicherheit gebracht werden.

Daß es soweit kommen würde, damit rechnete der Oberst nicht. Ganz ausschließen konnte er es allerdings nicht, daß Mesopotamia angegriffen wurde.

Was Ren Dhark und seine Kameraden über die Utaren-Bande um Lek berichtet hatten, war besorgniserregend. Diese Verbrecher durften nicht unterschätzt werden!

Entschlossen, Ren Dharks Bitte nachzukommen, sich um die kriminellen Blauen zu kümmern, begab sich Vegas an seinen Schreibtisch und aktivierte die Kommunikationsanlage. Sein erster Anruf würde Marschall Bulton, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, gelten.

*

Alltag, dachte Marschall Bulton ernüchtert, während er die Empfangsebene der Regierungspyramide betrat. Wie es seine Angewohnheit war, wenn er einen Arbeitstag in seiner Wirkungsstätte begann, verdrängte der Flottenchef die Gedanken an seine Familie und sein Privatleben. Dies fiel ihm in zunehmendem Alter jedoch immer schwerer, wie er feststellen mußte. Fünfundsechzig Jahre war er jetzt alt, und hinter ihm lag auf beruflicher Ebene eine wechselvolle, turbulente Zeit. Dagegen nahm sich sein Familienleben wie eine Insel der Ruhe und Beständigkeit aus.

Mittlerweile hatte sich die Lage auf Babylon allerdings wieder beruhigt, und Bulton hoffte inständig, daß dies auch so bleiben würde. Die Menschen hatten in den vergangenen Jahren genug durchgemacht. Sie hatten sich eine Periode der Ruhe und Ereignislosigkeit seiner Meinung nach mehr als verdient.

Ein letztes Mal gönnte sich der untersetzte, massige Mann einen Gedanken an seine Frau Gladys und seine drei wunderschönen, intelligenten Töchter, von denen eine ihn zum Großvater gemacht hatte. Dann, begleitet von einem inneren Seufzer, verbannte er die Bilder seiner Lieben in einen dem Unterbewußtsein nahegelegenen Gehirnbereich und ließ es zu, daß ihn die äußeren Reize, die auf seine Sinne einströmten, erreichten.

Sein erster Eindruck war, daß die Empfangsebene viel zu pompös und überladen wirkte. Bulton war ein Mann, der eine nüchterne, funktional ausgerichtete Ausstattung bevorzugte. Die weite, domartige Halle mit ihrem polierten Marmorboden und den mit Reliefs und Statuen geschmückten Wänden war nicht seine Sache. Am geschmacklosesten fand er die Darstellungen unbekannter Geschöpfe, die auf den Friesen zu sehen waren. Die mit Säulen abgeteilten Bereiche, in denen der Besucher Ruhe und Besinnlichkeit fand, waren nach Bultons Meinung das Angenehmste, mit dem diese an einen Tempel erinnernde Halle aufzuwarten hatte. Der einzige Trost bestand darin, daß es nicht die Menschen gewesen waren, die diese Halle ausgeschmückt hatten, sondern die Worgun. Die Gestaltwandler waren es auch, die die riesigen Ringpyramidenstädte auf Babylon einst errichtet hatten. Später verschwanden sie und ließen den Planeten verwaist zurück – zum Glück für die Menschen, die diese Welt inzwischen in Besitz genommen hatten.

Doch obwohl ein Großteil der Menschheit auf Babylon lebte, waren längst nicht alle Pyramiden bevölkert. Etliche von ihnen standen komplett leer, andere wiederum waren nur zum Teil bewohnt. Aber es gab auch Gebäude, wie die Regierungspyramide, die von den Menschen bis ins letzte Zimmer hinein mit Beschlag belegt wurden.

Suchend sah sich Bulton in der Halle um, doch er konnte den Verbindungsoffizier nirgends erblicken, den er an diesem Morgen hier treffen sollte. Der Marschall sah auf seine Uhr. Eine überflüssige Geste, denn selbstverständlich hatte er sich nicht verspätet. Leicht ungehalten trat er auf die zweiflügelige Tür zu, hinter der der Bereich begann, der nur Regierungsmitgliedern vorbehalten war. Neben dem zugehörigen Empfangspult wachte Major Metin peinlich genau darüber, wer diese Tür passierte.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Sir«, grüßte Metin mit aufrichtiger Pflichtschuldigkeit, als er den Flottenchef bemerkte.

Bulton erwiderte den Gruß knapp. »Wo steckt Leutnant Hegelmann?« fragte er unwirsch. »Er sollte sich mir hier zur Verfügung halten. Er ist angeblich Deutscher, und die sind doch für ihre Pünktlichkeit bekannt.«

Metin zog seinen Suprasensor zurate. »Leutnant Hegelmann hat sich abgemeldet«, erklärte er. »Die Delegation vom Planeten Brock ist früher eingetroffen als erwartet. Hegelmann ist zur Dachplattform hinaufgefahren, um die Kraval zu empfangen.«

Unwillig furchte Bulton die Stirn. »Warum wurde ich über diese Änderung nicht informiert?«

Metin zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, Sir.«

Bulton sah auf sein Armbandvipho. Es war noch immer stummgeschaltet, wie er erst jetzt bemerkte. Weil er sich erlaubt hatte, seinen privaten Gedanken noch etwas länger nachzuhängen als gewöhnlich, hatte er es versäumt, den Signalton wieder zu aktivieren, was er jetzt ein wenig zerknirscht nachholte.

Prompt erhielt er eine Meldung, daß ein Anruf in seiner Abwesenheit eingegangen war. Sie stammte von Hegelmann, wie Bulton schnell feststellte.

In der abgespeicherten Sprachnachricht informierte der Verbindungsoffizier seinen obersten Vorgesetzten von der verfrühten Ankunft der Delegation der Kraval.

»Oberst Reptick bestand darauf, das Treffen auf dem Dach abzuhalten, Sir«, erläuterte Hegelmann abschließend. »Der vier Meter große Hüne fühlt sich in den Räumlichkeiten der Pyramide offenbar eingeengt«, erlaubte er sich eine persönliche Einschätzung. »Ich denke, es geschieht mit Ihrem Einverständnis, wenn ich mich jetzt hinaufbegebe, um die Delegation zu begrüßen.«

Verärgert löschte Bulton die Nachricht. Sein Unmut galt jedoch mehr seiner eigenen Person als dem Verbindungsoffizier, der offenkundig angemessen reagiert hatte. Der Marschall hoffte, daß Oberst Reptick nicht ungehalten war, weil er nicht vom Flottenchef persönlich in Empfang genommen wurde und statt dessen mit dem Verbindungsoffizier Vorlieb nehmen mußte.

Bulton passierte die doppelflügelige Tür und hielt auf die Expreßfahrstühle zu. Er enterte eine freie Kabine und drückte mit dem Daumen auf den Sensor für die Dachplattform. Der Lift beschleunigte und jagte den Schacht hinauf, wovon der Marschall jedoch nichts spürte.

Wenig später hatte er sein Ziel erreicht.

Die Tür glitt auf und gab den Blick auf eine weitläufige Plattform frei. Die Fläche war in mehrere Segmente unterteilt, Windbrecher hielten die kräftigen Böen ab, die in dieser enormen Höhe allgegenwärtig waren.

Die Regierungspyramide war das höchste Gebäude der Stadt, der Ausblick entsprechend großartig. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich die zum Teil kilometerhohen Ringpyramiden mit ihren Plattformen, den Terrassen und den ins Innere führenden Lichtschächten. Gleiterschwärme umschwirrten die Bauten, deren Unitallwände und Fensterfronten kaltblau in der Morgensonne gleißten.

Die Stadtlandschaft erstreckte sich über mehrere tausend Quadratkilometer. Da der Regierungssitz sich allerdings am nördlichen Rand der Stadt befand, konnte man bei guten Wetterbedingungen von hier aus sogar den fernen Wald erkennen.

Bulton hatte für die Pracht Neu-Alamos heute jedoch keinen Blick übrig.

Zielstrebig hielt er auf ein nahes Segment zu, über dessen meterhohe Windbrecher die Kuppe eines zylinderförmigen Mehrpersonengleiters der Kraval hinausragte. Der Marschall passierte den Durchgang und blieb angenehm überrascht stehen.

Wie es schien, hatte Hegelmann das Beste aus der Situation gemacht.

Vor der Rampe des Gleiters war ein runder Tisch aufgebaut, um den sich einige Stühle gruppierten. Eines der Sitzmöbel war eine Spezialanfertigung und für die Maße der Kraval ausgelegt.

Ein stattliches, in eine Prachtuniform gekleidetes Exemplar dieses fremdartigen Sternenvolkes hatte auf dem Stuhl Platz genommen. Vier weitere Kraval standen im Hintergrund und ließen den Blick über die Stadt schweifen. Das vier Meter große Geschöpf auf dem Spezialstuhl hatte seine vier massigen Beine leicht vom Körper abgespreizt, und die beiden kräftigen Tentakelarme ruhten auf der Tischplatte.

Die Gliedmaßen der Kraval bestanden aus reinen Muskelschläuchen und besaßen keine Knochen. Dies war den schlangengleichen Bewegungen auch deutlich anzusehen, mit denen sich Oberst Reptick nun von seinem Stuhl erhob. Es wirkte leicht bedrohlich, als sich dieser Hüne, dessen Außenhaut aus stabilen Hornschuppen bestand, dem vergleichsweise kleinwüchsigen Terraner näherte.

Bulton kannte die Kraval gut genug und wußte, daß sie trotz ihres massigen Körpers weite Sprünge ausführen konnten, denn auf Brock, ihrer Heimatwelt, betrug die Anziehungskraft 4 g, so daß ihre Muskeln entsprechend ausgelegt waren. Wäre er sich nicht sicher gewesen, daß die Kraval ihre feindliche Gesinnung gegenüber den Menschen nach ihrer militärischen Niederlage abgelegt hatten, wäre er versucht gewesen, eine Abwehrhaltung einzunehmen und seinen Handnadelstrahler zu ziehen.

»Es freut mich, daß du dir endlich Zeit für mich nehmen konntest, Marschall« sprach der Kraval ihn mit donnernder Stimme an.

Das komplexe Idiom, das über seine wulstigen Lippen kam, wurde von dem Translator, den Hegelmann auf dem Tisch aufgestellt hatte, fast simultan ins Angloter übertragen.

»Ich wurde leider aufgehalten«, entgegnete Bulton frostig. »Ein Flottenchef ist ein vielbeschäftigter Mann.«

»Mir würden auch etliche andere Beschäftigungen einfallen, die ich einem Treffen mit dem Oberhaupt der Terranischen Streitkräfte vorziehen würde«, erwiderte Reptick.

Bulton horchte auf.

Bei dem Oberst schien es sich um einen Militär zu handeln, der die Niederlage, die die Kraval gegen die Alliierten hatten einstecken müssen, noch nicht gänzlich verarbeitet hatte. Die Verhandlungen versprachen somit nicht eben unkompliziert zu werden.

Hegelmann war von seinem Stuhl aufgestanden und zu ihnen herübergekommen. »Ich habe mir erlaubt, die Überpünktlichkeit von Oberst Reptick für einen kleinen Umtrunk zu nutzen«, erklärte er zuvorkommend.

Erst jetzt bemerkte Bulton die Whiskyflasche sowie die Gläser, die auf dem Tisch standen. Die mächtigen Tentakelarme des Kraval hatten bislang den Blick darauf verstellt.

»Wenigstens vernünftige Getränke könnt ihr Menschen brauen«, meinte Reptick versöhnlich.

»Warum setzen wir uns nicht wieder?« schlug Hegelmann diplomatisch vor. »Bei einem guten Schluck läßt es sich wesentlich besser verhandeln. Schließlich geht es darum, eine Strategie für unsere gemeinsamen militärischen Truppenübungen zu entwerfen.«

»Von mir aus«, stimmte der Kraval zu und schielte zum Tisch hinüber.

Bulton warf Hegelmann einen strafenden Blick zu. »Alkohol während der Dienstzeit?« fragte er streng und mit gedämpfter Stimme.

Der Leutnant zuckte hilflos mit den Schultern. »Irgendwie mußte ich den Oberst doch davon abhalten, sich unverrichteter Dinge wieder davonzumachen. Er war sehr ungehalten, weil nur ein Verbindungsoffizier zur Stelle war, als er auf der Plattform landete.«

»Ich werde Ihnen diese kleine Insubordination ausnahmsweise nachsehen, Hegelmann, denn Sie haben gute Arbeit geleistet.«

Der Leutnant war sichtlich erleichtert. Gemeinsam traten sie auf den Tisch zu und setzten sich. Kaum hatte Bulton Platz genommen, da schrillte auch schon sein Vipho. Der Marschall zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen, weil er vergessen hatte, den Apparat wieder stummzuschalten. Er wollte das Vipho ausknipsen, zögerte jedoch, als er sah, wer ihn zu erreichen versuchte. Es war Tessa Tremaine, seine Vorzimmerdame. Es mußte etwas Dringendes vorliegen, wenn sie ihn anrief, denn sie wußte, daß er sich in einer wichtigen Besprechung befand.

Bulton drehte sich halb vom Tisch weg. »Was gibt es denn, Tessa?« zischte er.

»Es ist ein Anruf über To-Richtfunk auf Ihrer Büroleitung eingegangen, Sir«, erklärte die junge Frau, die auf der einhundertzwanzigsten Ringebene der Pyramide im Vorzimmer zu Bultons Büro saß. »Oberst Roy Vegas auf Mesopotamia wünscht Sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.«

Bulton zögerte. »Stellen Sie ihn durch«, entschied er dann und stand auf. »Nimm noch einen Schluck, Reptick«, sagte er zu dem Kraval, dessen geschürzte Lippen verrieten, wie ungehalten er wegen der Störung war.

Der Marschall entfernte sich ein paar Schritte und hörte, wie Hegelmann verzweifelt versuchte, Reptick milde zu stimmen. Die Whiskyflasche gluckste, während der Leutnant eilig die Gläser wieder vollschenkte.

»Ich hoffe, es ist etwas Wichtiges, Oberst«, sprach Bulton in sein Vipho. »Ihr Anruf bringt mich ein wenig in Verlegenheit.«

»Ich denke schon, daß diese Sache keinen Aufschub zuläßt«, erwiderte Vegas, dessen dreidimensionale Büste auf dem Miniaturbildschirm dargestellt wurde.

Bulton sah mit Hilfe des integrierten Netzanschlusses nach, wie spät es jetzt in der militärischen Siedlung auf Mesopotamia war. Dort war der Tag, ähnlich wie hier, gerade erst angebrochen.

In knappen Worten berichtete Vegas von der Gruppe verbrecherischer Utaren, auf die Ren Dhark und die Wächter während ihrer Mission im Weltall gestoßen waren. »Die Blauen haben unter anderem versucht, den Hyperraum anzuzapfen, um Energie quasi aus dem Nichts zu gewinnen. Ein gefährliches Unterfangen, wie Sie sich sicherlich vorstellen können, Sir. Das Experiment lief einigermaßen erfolgreich ab, hatte aber fatale Nebenerscheinungen, die die POINT OF und die ARKANDIA beinahe vernichtet hätten.«

»Gab es Verluste?« erkundigte sich Bulton besorgt.

»Es ist alles glimpflich abgelaufen. Dhark und seine Freunde konnten die Utaren ausräuchern. Sie sind mit unbekanntem Ziel geflohen, haben aber noch versucht, mittels einer präparierten Drohne unsere Künstlichen Intelligenzen anzugreifen.«

»Das ist ein schwerwiegender Vorfall«, kommentierte Bulton ernst.

»Sie sagen es. Gott sei Dank konnten wir den Angriff im letzten Moment abwehren. Dhark hält es für zwingend erforderlich, daß wir diese Utaren-Bande aufspüren und zur Rechenschaft ziehen. Wie es scheint, haben sie auf Esmaladan mächtige Verbündete und können auf ein ganzes Netzwerk von Helfern zurückgreifen.«

»Ich sehe da ein eindeutiges Gefahrenpotential für die Menschheit.« Der Marschall nickte gewichtig. »Es war richtig, daß Sie mich sofort kontaktiert haben, Oberst.«

»Leider liegen uns nur einige wenige Informationen über diese Utarengruppe vor, Sir. Ich wüßte nicht, wo wir ansetzen könnten, um ihrer habhaft zu werden.«

»Eine großangelegte Militäraktion kann vorerst also nicht in Betracht gezogen werden«, überlegte Bulton laut. »Mein erster Gedanke war, Dan Riker und seinen Verband auf die Utaren anzusetzen. Doch ohne genaue Zielvorgabe wäre es sinnlos, diesen umfangreichen Raumschiffsverband in Marsch zu setzen. Zuerst müßte in Erfahrung gebracht werden, wo in etwa sich diese Blauen aufhalten.«

»Die Angelegenheit sollte den Regierenden auf Esmaladan unbedingt gemeldet werden«, schlug Vegas vor. »Da unseren Informationen zufolge nicht auszuschließen ist, daß Utaren aus dem Kreis der Weisheit in diese Sache involviert sind, ist allerdings nicht gesagt, daß diese Informationsweitergabe überhaupt sinnvoll ist. Schlimmstenfalls werden die Verbrecher davor gewarnt, daß die Menschen in Erwägung ziehen, etwas gegen sie zu unternehmen.«

Bulton sah zu Hegelmann hinüber, der angeregt mit dem Kraval debattierte und ihn offenbar besänftigt hatte. »Die Diplomatie gebietet trotzdem, daß wir die Weisheit über diese Sache unterrichten. Ich weiß auch schon, wen ich mit dieser Aufgabe betrauen werde. Es wird unserem Anliegen mehr Nachdruck verleihen, wenn die regierenden Utaren aus Militärkreisen der Menschen von dieser Chose erfahren. Diejenigen unter ihnen, die mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen, werden dann wissen, wie ernst es uns damit ist, sie aufzuspüren.«

Vegas atmete tief durch. »Diese Maßnahme wäre auf jeden Fall schon einmal ein kleiner Schritt, um gegen diese Kriminellen vorzugehen.«

»Ich fürchte, mehr kann ich in dieser Angelegenheit momentan nicht unternehmen. Die Informationslage ist einfach zu dürftig, um harschere Methoden zu rechtfertigen.«

»Ich verstehe.« Vegas seufzte. »Trotzdem vielen Dank. Ich werde mich weiterhin in dieser Angelegenheit bemühen, wenn Sie nichts dagegen haben, Sir.«

»Das erwarte ich sogar von Ihnen, Mister Vegas.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich, und Bulton drehte sich zum Tisch um. Tief atmete er durch und straffte seine Körperhaltung, dann schritt er entschlossen auf den Kraval zu, um mit ihm endlich eine Strategie für gemeinsame Truppenübungskonzepte zu entwickeln.

*

Im Arbeitszimmer des Präsidenten von Babylon herrschte angespannte Stille. Grübelnd starrte Daniel Appeldoorn auf den in die Arbeitsplatte seines Schreibtisches eingelassenen Bildschirm. Er hatte ihn hochgeklappt, damit der Mann, der ihm auf der anderen Seite des Tisches in einem Besuchersessel gegenüber saß, nicht sehen konnte, was er gerade trieb.

Plötzlich beugte sich Appeldoorn vor, tippte auf der Tastatur herum und bestätigte mit der Eingabetaste. Ein zufriedener Ausdruck huschte über das derbe, rotwangige Gesicht des breitschultrigen Mannes, und in seinen blauen, von dichten silberweißen Brauen überwölbten Augen blitzte es listig auf. Das Wort, das er eingegeben hatte, würde ihm fünfundfünfzig Punkte einbringen.

Der Ledersessel knarzte vernehmlich, während Appeldoorn, der fast hundert Kilo wog, sich selbstgefällig zurücklehnte und sich dabei mit der Hand über den kahlen Schädel fuhr. Die breite Stirn und die etwas zu großen, anliegenden Ohren ließen ihn grobschlächtig erscheinen, dennoch war der Präsident ein Mann, der den Eindruck starker Willenskraft vermittelte.

Abwartend sah er zu seinem Sekretär hinüber. Er war gespannt, was Arjen van Persie einfallen würde, um den Vorsprung einzuholen, den er, Appeldoorn, soeben durch das gelegte Wort gewonnen hatte.

»Gibt es Neuigkeiten von Ren Dhark und den Wächtern?« erkundigte er sich, um seinem Sekretär das Denken zu erschweren.

»Soweit ich informiert bin, nein«, erwiderte van Persie, ohne den Blick vom Bildschirm seines tragbaren Suprasensors abzuwenden, der auf seinen Oberschenkeln ruhte. »Wir erhalten regelmäßig einen Rapport von der POINT OF. Der neue ist jedoch noch nicht eingetroffen und eigentlich überfällig. Nach dem letzten Stand der Dinge sind Dhark und seine Getreuen dem Rätsel um das Miniuniversum im Zentrum der Milchstraße noch nicht nennenswert nähergekommen.«

Arjen van Persie war für den Präsidenten in vielerlei Hinsicht unersetzbar. Daß er überaus intelligent und pfiffig war, davon konnte sich Appeldoorn wieder einmal überzeugen, als er auf seinem Bildschirm nun nachlesen konnte, welches Wort sein Sekretär gelegt hatte. Es besaß nur drei Buchstaben, belegte jedoch ein Feld mit dreifachem Wortwert und brachte ihm stolze sechzig Punkte ein. Damit hatte er Appeldoorn wieder eingeholt und führte sogar.

»Vermaledeit!« entfuhr es dem Präsidenten. Er überlegte, ob er diese morgendliche Denksportaufgabe zukünftig nicht lieber mit einem anderen seiner Angestellten durchführen sollte. Es war schon einige Tage her, seit er das letzte Mal gegen van Persie gewonnen hatte.

Dann entschied er sich doch dafür, diese Gepflogenheit weiterhin mit seinem Sekretär fortzuführen. Einen geeigneteren Partner, um seinen Denkapparat auf Trab zu halten, konnte er sich kaum vorstellen.

Bevor Appeldoorn überlegen konnte, welches Wort er mit seinen noch vorhandenen Buchstaben als nächstes legen sollte, schlug das Vipho auf seinem Schreibtisch an.

Da sich van Persie beim Präsidenten aufhielt, hatte er die Kommunikationsanlage so geschaltet, daß eingehende Anrufe direkt in dessen Büro durchgestellt wurden.

Froh, einen Anlaß gefunden zu haben, die drohende Niederlage hinauszuzögern, nahm Appeldoorn das Gespräch entgegen.

Vegas war am anderen Ende der Verbindung, die in diesem Fall von Mesopotamia bis nach Babylon reichte und über To-Richtfunk hergestellt wurde.

Nachdem die beiden Männer die üblichen Grußformeln ausgetauscht hatten, kam der Oberst gleich zur Sache. Als der Name Ren Dhark fiel, stellte Appeldoorn die Mithöranlage ein, damit van Persie das Gespräch ebenfalls verfolgen konnte.

Da der Präsident darauf bestand, hielt Vegas seinen Bericht etwas ausführlicher, als es während der Unterhaltung mit Marschall Bulton geschehen war. Der Oberst schloß mit der Bitte, die Babylon-Regierung möge etwas gegen die kriminellen Utaren unternehmen.

»Ich wüßte nicht, was ich auf politischer Ebene gegen diese Individuen ausrichten sollte«, erwiderte Appeldoorn. »Selbstverständlich werde ich wegen des Cyber-Angriffs auf Mesopotamia eine Protestnote an meine Amtskollegen auf Esmaladan richten. Und sicher wird die Weisheit versuchen, den Verbleib von Lek und seinen Spießgesellen aufzuklären. Mehr kann ich jedoch zur Zeit nicht tun. Bulton wird mit seiner Initiative, die ich ausdrücklich befürworte, sicherlich mehr ausrichten.«

»Es könnte mehr unternommen werden, wenn wir auf eigene Faust versuchten, den Aufenthalt von Lek und seinen Komplizen herauszufinden«, wandte Vegas ein.

Arjen van Persie sandte eine Wortbotschaft an den Suprasensor des Präsidenten. »Derek Drebin« lautete sie.

Appeldoorn las und nickte verstehend. »Mir fällt gerade ein, daß es sinnvoll wäre, in dieser Sache den Polizeichef von Babylon hinzuzuziehen. Vielleicht kann Drebin etwas in die Wege leiten, um diesen Lek aufzuspüren.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee, Sir!« Der Oberst war hörbar erleichtert. Offenbar hatte er bereits damit gerechnet, daß der Präsident über seine diplomatischen Bemühungen hinaus nichts unternehmen würde. Er bedankte sich dafür, daß Appeldoorn ihm etwas von seiner kostbaren Zeit geschenkt hatte und verabschiedete sich.

Der Präsident wiederum bedankte sich für die Informationen, Ren Dhark und die Wächter betreffend, war sich aber nicht sicher, ob der Oberst seine Worte überhaupt noch hörte oder die Verbindung bereits unterbrochen hatte.

Arjen van Persie wirkte nachdenklich. »Es sieht so aus, als würden die Besatzungen der POINT OF und der ARKANDIA mit ihren Nachforschungen hinsichtlich des Miniuniversums auf der Stelle treten.«

Appeldoorn winkte ab und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm. »Das Miniuniversum stellt keine akute Gefahr dar, so wie ich das verstanden habe. Ren Dhark und seine Kameraden steht folglich genügend Zeit zur Verfügung, dieser unfaßbaren Bedrohung Herr zu werden. Ich mache mir keine Sorgen darüber, daß er es nicht schaffen wird. Immerhin hat er bisher immer einen Ausweg gefunden, wenn es erforderlich war.«

Appeldoorn stieß einen triumphierenden Laut aus. Soeben hatte er eine Buchstabenkombination entdeckt, die ihm van Persie gegenüber wieder einen Vorsprung verschaffen würde.

*

Bernd Eylers montierte die Prothese ab, die er an seinem linken Unterarm trug, und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Anschließend öffnete er eine Klappe in dem Kunstglied, hinter der sich die Aufnahme für die Kartuschen mit dem Betäubungsgas befand, und prüfte sie auf ihre Funktionstüchtigkeit.

Es war alles in Ordnung. Die Mechanik und Automatik der Prothese arbeiteten einwandfrei.

Während der Leiter der GSO den künstlichen Unterarm wieder an seinem Platz befestigte, gab die Gegensprechanlage einen Ton von sich.

»Sir, Oberst Roy Vegas wünscht Sie zu sprechen.« Vanessa Ferlito klang gutgelaunt. Die Innendienstagentin saß in Eylers’ Vorzimmer und fungierte seit einiger Zeit als seine Sekretärin – eine Tätigkeit, die ihr offensichtlich zusagte.

Eylers wurde sofort hellhörig. Vegas mußte ein dringendes Anliegen haben, wenn er den direkten Kommunikationsweg zum GSO-Chef wählte.

»Was kann ich für Sie tun, Oberst?« erkundigte er sich, nachdem der Anruf durchgestellt worden war. Er drehte den Sessel herum, damit er aus dem Panoramafenster schauen konnte.

Wie das Büro des Präsidenten und das von Marschall Bulton, so befand sich auch Eylers’ Arbeitszimmer im oberen Bereich der Regierungspyramide. Für den GSO-Chef war der Ausblick auf die Pyramidenlandschaft Neu-Alamos immer wieder ein erhebendes Erlebnis.

Aufmerksam hörte er zu, während ihm Vegas von seinem Zusammentreffen mit Ren Dhark berichtete. Als die Sprache auf Lek und seine Bande kam, unterbrach Eylers den Oberst hin und wieder mit Zwischenfragen.

»Das ist eine ernstzunehmende Angelegenheit«, kommentierte Eylers, nachdem Vegas geendet hatte. Überlegend ließ er den Blick seiner hellgrünen Augen über die abgeflachten Kuppen der Ringpyramiden schweifen.

»Dieser Meinung waren Marschall Bulton und der Präsident ebenfalls«, bekräftigte Vegas. »Nur fehlt ihnen leider der Ansatzpunkt, um wirklich aktiv zu werden.«

»Ich werde mich dieser Angelegenheit im Rahmen meiner Möglichkeiten annehmen«, stellte Eylers in Aussicht, während er bedächtig nickte.

»Es freut mich, das zu hören.« Der Oberst wußte, wenn die GSO in dieser Sache aktiv wurde, standen die Chancen nicht schlecht, daß es Lek und seinen Komplizen bald an den Kragen ging.

Die beiden Männer verabschiedeten sich. Eylers saß noch eine Weile da und starrte sinnierend aus dem Fenster. Hinter seiner Hirnschale arbeitete es intensiv, während er die Möglichkeiten auslotete, die ihm zur Verfügung standen.

Einige Minuten später war in ihm eine Strategie herangereift. Er drehte sich mit dem Sessel zu seinem Schreibtisch herum, doch bevor er von sich aus die Gegensprechanlage aktivieren konnte, meldete sich Ferlito erneut: »Polizeichef Derek Drebin wünscht Sie telefonisch zu sprechen, Sir.«

Die Andeutung eines Lächelns zeichnete sich auf Eylers’ Gesicht ab. »Genau den wollte ich gerade kontaktieren. Stellen Sie ihn durch, Vanessa!«

Auf dem Holobildschirm erschien das breite, von spärlichem Kraushaar gekrönte Gesicht eines Afroamerikaners. Der speckige Hals des Mannes quoll wulstig über den Kragen der Polizeiuniform hinweg. Einige markante, pechschwarze Leberflecken bedeckten seine Wangen.

»Drebin«, sagte Eylers erfreut. »Offenbar geht in Ihrem Kopf ähnliches vor wie in meinem. Ich wollte meine Sekretärin gerade dazu anhalten, Sie zu kontaktieren.«

»Dann wissen Sie also bereits, warum ich anrufe?«

»Lek«, sagte Eylers nur.

Der Polizeichef nickte gewichtig. »Der Präsident hat mich vor wenigen Minuten ins Bild gesetzt. Appeldoorn möchte, daß ich im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen gegen die Utaren-Bande vorgehe.«

Der GSO-Chef lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe gerade mit Oberst Vegas gesprochen. Das Gefahrenpotential, das für die Menschen von dieser Utaren-Organisation ausgeht, ist nicht zu leugnen. Allein aus prophylaktischen Gründen erscheint es mir geboten, aktiv zu werden.«

»Da das Betätigungsfeld außerhalb der babylonischen Hoheitsgebiete liegt, schlage ich vor, wir verzichten diesmal auf das ansonsten übliche Kompetenzgerangel.« Drebin war bekannt für seine unverblümte Art, und machte diesem Ruf einmal mehr alle Ehre.

»Es ist auch mein Anliegen, daß Polizei und GSO in dieser Sache eng zusammenarbeiten«, bekräftigte Eylers. »Ein Großaufgebot an Einsatzkräften erscheint mir allerdings als wenig sinnvoll. Ein Duo sollte vorerst ausreichen, um die Lage bei den Utaren zu sondieren und erste Ermittlungsansätze zu erarbeiten.«

»Einverstanden.«

Eylers gab sich keine Mühe, seine Verwunderung zu verbergen. Er hatte schon eine ganz andere Seite von Drebin kennengelernt.

Der Polizeichef war ein knallharter Verfechter von Gesetzen und Vorschriften. Unorthodoxe Vorgehensweisen waren mit ihm für gewöhnlich nicht durchzuführen. Während der Trawisheim-Diktatur war Drebin das Kunststück gelungen, mit dieser Methode einigermaßen neutral zu bleiben. Das Terrain der gesetzlichen Vorschriften hatte er nie verlassen.

Als Trawisheim unter der Anleitung der Kalamiten die Bestimmungen änderte, um auf Babylon polizeistaatliche Verhältnisse herzustellen, hatte Drebin ihn mit seiner strengen Auslegung der Vorschriften oft einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ebenso oft aber mußte er sich aus demselben Grund auch fügen und Polizeieinsätze in die Wege leiten, auf die er im nachhinein alles andere als stolz war. In diesem Punkt unterschied er sich von Eylers, der sich hartnäckiger und effizienter geweigert hatte, der Diktatur zuzuarbeiten.

Vielleicht ist dies der Grund für die zuvorkommende Art, die Drebin jetzt an den Tag legt, überlegte Eylers. »Ich werde Ömer Giray ins Rennen schicken«, verkündete er.

»Ich habe auch bereits einen Kandidaten für diese Aufgabe ins Auge gefaßt«, erwiderte der Polizeichef. »Es bedarf allerdings noch einer kurzen Absprache. Ich informiere Sie, sobald ich die Sache geklärt habe, was in Bälde der Fall sein dürfte.«

Eylers nickte einvernehmlich und unterbrach die Verbindung. Dann bat er seine Sekretärin, Ömer Giray für ihn ausfindig zu machen und zu ihm ins Büro zu schicken.

2.

Einige Tage zuvor

 

Sergeant Viktor Zailer kniete neben der Toten und betrachtete sie eingehend.

Etwas schien mit den Gelenken der jungen Frau nicht zu stimmen, denn die Gliedmaßen standen in anatomisch unmöglichen Winkeln von ihrem Körper ab. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht dem Boden zugekehrt. Das lange rötliche Haar stand strahlenförmig von ihrem Kopf ab und verdeckte teilweise die Blutlache, die sich um den Schädel herum gebildet hatte. Unter dem weißen Herrenhemd, das ihr eindeutig ein paar Nummern zu groß war, trug sie »phantasievoll gestaltete« Unterwäsche. Um das linke Handgelenk war ein Band aus geflochtenem Gold geschlungen.

Ein Blitzlicht flammte auf, und Sergeant Zailer blinzelte geblendet. Verärgert sah er zu dem Polizeifotografen auf, der mit einer Spezialkamera Bilder von dem Opfer aufnahm. »Kann das nicht warten, bis ich hier fertig bin, Franklin?«

Der Angesprochene zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich mache hier bloß meine Arbeit, Vik, so wie jeder andere auch. Außerdem werden dir diese Fotos nachher mehr über die Tote verraten als die oberflächliche Inaugenscheinnahme, die du da gerade durchführst.«

Zailer erhob sich. Er war ein schlanker, durchtrainierter Mann, dessen eckiger Schädel überall dort, wo eigentlich Haare sprießen sollten, nur einen dunklen Schatten aufwies. Ein gezacktes Muster, das an ein Bündel Blitze erinnerte, war in den Haarschatten rasiert worden. »Du brauchst mir nicht zu sagen, wie ich meinen Job machen soll, Franklin!«

»Was ist los mit dir, Vik? Gehen dir diese Morde zu sehr unter die Haut?«

»Es ist nicht gesagt, daß wir es hier tatsächlich mit einem Mord zu tun haben«, entgegnete Zailer. »Mir sieht das eher nach Freitod aus.«

Der Fotograf zuckte erneut mit den Schultern. »Wenn du das sagst…«

»Streitet ihr etwa wieder?« Liv Sanders, eine hochgewachsene junge Frau, näherte sich den beiden Männern. Die hoch über den Pyramidenbauten stehende Mittagssonne von Babylon-Stadt ließ ihr brünettes halblanges Haar und ihre braunen mandelförmigen Augen wie Bronze aufschimmern. Ihre Lippen waren voll und blaß geschminkt. Die dünne Lederjacke stand vorne offen und umschmeichelte ihre schlanke Figur. Das V-förmig ausgeschnittene blaue T-Shirt sorgte dafür, daß die Ansätze ihrer üppigen Brüste genug Luft und Sonne bekamen. Am Gürtel hing ein Holster, aus dem der Griff einer Handfeuerwaffe ragte. Daneben prangte eine Polizeimarke, die sie als Sonderermittlerin der Abteilung für Kapitalverbrechen auswies.

»Es ist nur das übliche Gefrotzel. Franklin nervt mal wieder.« Zailer stemmte die Hände in die Taille und sah seine Partnerin forschend an. »Hat der Zeuge irgend etwas Brauchbares von sich gegeben?«