Rente, Corona und ich - Marianne Willems - E-Book

Rente, Corona und ich E-Book

Marianne Willems

0,0

Beschreibung

Genau das will Marianne nicht: als frischgebackene Rentnerin nicht mehr arbeiten. Ihr Beruf als Bankerin war alles, womit sie sich identifizierte. Während des ersten Lockdowns muss sie erkennen, dass alle Versuche, die dritte Lebensphase zu bewältigen, im besten Fall Lückenfüller sind und sie mit ihrem rudimentären Börsen- und Finanzwissen der Eigendynamik der Finanzmärkte nicht gewachsen ist. Sie macht als Anlegerin alles falsch, was man nur falsch machen kann. Diese Erkenntnis verschärft eine existentielle Krise, die sich bereits gegen Ende ihrer Berufstätigkeit abzuzeichnen beginnt und von Insuffizienzgefühlen und Selbstwertverlust geprägt ist. Außerdem erweist sich ihr Seniorenstudium, selbst nur noch auf Literatur und Kunst konzentriert, als nicht sinnstiftend. Ein langer, sehr persönlicher Prozess beginnt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marianne Willems

Rente, Corona

und ich

Mein Leben im Krisenjahr –

ein Erfahrungsbericht

Lindemanns

Für Mama und Papa

Marianne Willems, geboren 1954 in Trier, studierte nach dem Abitur Germanistik und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien. Nachdem sie ihre LehrerInnenausbildung 1984 abgeschlossen hatte, fand sie aufgrund des in den 80er-Jahren aufgetretenen Überschusses an LehrerInnen und des damit verhängten Einstellungsstopps keine Anstellung. Sie ließ sich umschulen und arbeitete bis zum Eintritt in den Ruhestand in einer großen deutschen Bank. Gern hätte sie über das gesetzliche Rentenalter hinaus gearbeitet, was aber nicht möglich war. Ihre Forderung an Politik und Unternehmen lautet daher, den Menschen doch freizustellen, wie lange sie arbeiten wollen. 

Die erwähnten Personen und Gegebenheiten entsprechen nicht der Wirklichkeit. Zufällige Ähnlichkeiten sind eben das: zufällig.

Wie alles begann – Verfluchte Optionsscheine

Wie hat alles nur begonnen?

Es ist der 26. Oktober 2020. Ich starre auf meinen Laptop, auf dem ich wie das Kaninchen vor der Schlange den Verfall des Dax, des wichtigsten deutschen Aktienindex, verfolge. Der Dax kennt nur noch eine Richtung, die nach Süden, und zwar rasant.

Ich bin heue wieder zu früh aufgewacht, schweißgebadet. Ich habe zwar noch versucht, mich durch Atmen zu regulieren und in einer Endlosschleife das Vaterunser zu beten oder „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ wie ein Mantra herunterzuleiern, aber wie vorherzusehen, an Einschlafen war nicht mehr zu denken.

Die zweite Coronawelle hat die Märkte fest im Griff. Das Vorzeigeunternehmen SAP und Schwergewicht im Dax hatte gestern, am Sonntagabend, mit einer Gewinnwarnung und Prognosesenkung den Markt überrascht und zum heutigen Absturz des Dax geführt. Das reißt nun auch andere Unternehmen in den Abwärtstrend. Unberechenbar und fragil ist die wirtschaftliche Lage seit Beginn der Pandemie geworden, die uns alle zu Beginn des Jahres überraschte. Niemand weiß, wie schlimm die Auswirkungen der Coronakrise die Gesellschaft noch treffen werden. Ich sehe die Auswirkungen jetzt schon: Innerhalb von wenigen Tagen hat sich mein Wertpapierdepot um mehr als 75.000 Euro reduziert. Ein Verlust, den ich mir nicht mehr schönreden kann. Nur noch rote Zahlen leuchten mir in meinem Depot entgegen. Dazu die Nachricht, dass Thomas Oppermann, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, plötzlich und unerwartet gestorben ist: Thomas Oppermann, der im gleichen Jahr wie ich geboren ist.

Nicht, dass mir Thomas Oppermann vorher bekannt gewesen wäre. Und dennoch: Was erschüttert mich in diesem Moment mehr – der Absturz des Dax und infolgedessen meine hohen finanziellen Verluste oder der plötzliche Tod von Thomas Oppermann, der mir das Memento mori vor Augen führt?

Die Gleichzeitigkeit beider Ereignisse lösen ein diffuses Gefühlschaos mit Paniktendenz in mir aus. Was hätte man sich mit 75.000 Euro alles leisten können, anstatt sie zu bunkern?, denke ich. Nur um das beruhigende Gefühl zu haben, im Alter nicht zu verarmen und um schließlich zu erleben, dass so ein unvorhergesehenes Ereignis wie die Coronapandemie meine private Altersvorsorge in Form von Wertpapieren auffrisst.

Und dann der Tod von Thomas Oppermann, mit dem niemand gerechnet hat, der gestern Abend nicht mehr zu seiner Frau nach Hause zurückkehrte, sondern überraschend in der Uniklinik Göttingen starb. Kaum auszudenken, wenn so etwas Peter, meinem Mann, passieren würde.

Vielleicht hätte ich mir früher einmal ein paar Gedanken darüber machen sollen, was mir in meinem Leben wichtig ist. Wie oft habe ich in den letzten sieben Monaten, insbesondere in der Zeit während des Lockdowns, diese Überlegungen angestellt, wenn ich an den einsamen Tagen, eingesperrt im Haus, vor meinem Laptop saß und nicht wusste: Soll ich handeln oder lieber abwarten? Und darüber, wie innerlich leer ich nach solchen nutzlos verbrachten Stunden war!

Wer das liest, wird wahrscheinlich denken: selbst schuld. Otto Normalverbraucher weiß doch, dass man nur so viel Geld in Aktien investieren darf, wie man tatsächlich entbehren kann. Geld, das in Aktien angelegt wird, darf nur Spielgeld sein, mit dem man ein bisschen zocken kann. Aber, denke ich dann, in den letzten Jahren kam doch seit den Negativzinsen an Aktien und Wertpapieren als Geldanlage nicht vorbei, wer einen gewissen Wertzuwachs des Ersparten erreichen wollte. Warum, bitte, haben die Deutschen denn keine Aktienkultur?

Weil sie gebrannte Kinder sind. Das bin ich doch letztlich auch, wenn ich an meine Erfahrung mit dem Neuen Markt und der sogenannten Volksaktie Telekom denke. Offensichtlich habe ich aber nichts aus diesen Erkenntnissen gelernt. Wie oft habe ich mir in den letzten Monaten diesen Vorwurf gemacht. Oder war ich nur zu naiv, habe geglaubt, der Aufwärtstrend bis kurz vor der Pandemie halte an?

Anstatt die Gewinne, die mein Depot durchaus aufwies, auch einmal zu realisieren, war ich zu gierig und sah dann irgendwann wie gelähmt zu, wie sich Gewinne in Windeseile in Verluste verwandelten. Und dann machte ich wiederum aus Angst den Fehler, nicht abwarten zu können, bis der Markt sich wieder drehen würde, beziehungsweise ich hatte überhaupt nicht mehr das Vertrauen, dass es so weit kommen könnte.

Da sitze ich nun und weiß nicht, wohin mit mir und meinem Gefühlchaos. Das Schlimme ist, ich kann oder will mit niemandem darüber reden. Immer getreu dem Motto: Über Geld redet man nicht, man hat es –, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Mein Frauenclub besteht aus mir und meinen vier Freundinnen, die ich aus Studienzeiten kenne und mit denen ich mich seit vierzig Jahren regelmäßig treffe. Abwechselnd übernachten wir dabei mal bei der einen, mal bei der anderen. Die Übernachtungen sind notwendig geworden, da ich die Einzige bin, die noch in Köln wohnt, wo wir alle studiert haben.

Wenn ich mit meinen Freundinnen über mein coronabedingtes Aktien-Depot-Problem sprechen wollte, würden sie mich belächeln.

„Ihr habt doch genug!“

Mit diesen oder ähnlichen Worten, so vermute ich, würden sie wahrscheinlich mein Problem als ein Luxusproblem abtun. Für mich dagegen ist es ein existentielles Problem. Daher ist Geld auch kein Thema, über das ich mit ihnen spreche.

Als der Dax nach einem bis Mitte Februar 2020 angeblich noch „intakten“ Aufwärtstrend am 16. März erstmals bis auf 8.256 Punkte herunterrauschte und mein Depot ebenfalls bereits nur noch rote Zahlen kannte, schrieb meine Freundin Irene aus meinem Frauenclub über WhatsApp in unsere Gruppe: „Bis auf unsere Freundin Kathrin haben wir alle doch nur Buchverluste, die wir aussitzen können. Kathrin ist die Einzige, die jetzt schlimm dran ist“, da sie über keine nennenswerten finanziellen Reserven verfüge und jetzt auch noch in Kurzarbeit mit siebenundsechzig Prozent ihres eh schon geringen Gehalts zuhause säße. Falls sie finanzielle Hilfe benötige, solle sie sich bei Irene melden.

Irene, du Großzügige, habe ich damals gedacht. Und dann: Sollen wir jetzt einen Hilfsfonds für Kathrin einrichten, während meine Knie wegen meiner riesigen Verluste fast schlottern? Irene, du Großzügige, hast gut schreiben. Beziehst eine relativ gute Rente, wohnst mietfrei, hast ein Mehrfamilienhaus geerbt und verfügst somit über regelmäßige Mieteinnahmen. Außerdem hat dein Papa für dich und deine Familie gut vorgesorgt, so dass du auf ein großzügiges Erbe zurückgreifen kannst.

Ich war außerdem zutiefst empört über ihre fehlende Empathie für Menschen wie mich und Peter, die sich im Gegensatz zu ihr ihren Besitz aus eigener Kraft und Anstrengung mit Verzicht auf Freizeit und Urlaubsreisen erarbeitet haben. Uns wurde nix geschenkt, im Gegenteil, wir mussten uns unseren Wohlstand mit doppelt und dreifach so viel Einsatz verdienen.

Mein Gott, habe ich damals gedacht, wie wenig feinfühlig ist eine solche in einem Chat hinausposaunte Nachricht! Und wie erst musste sich unsere Freundin Kathrin fühlen!

Dabei hätte doch auch Irene wissen müssen, dass Kathrin niemals irgendein finanzielles Hilfsangebot von uns angenommen hätte. Eher hätte sie klaglos gehungert. Außerdem ist sie diejenige von uns, die es schafft, aus fünf Euro auch noch sechs Euro zu machen, einfach durch Sparen und Verzicht.

Auch wenn es in den letzten Jahren immer wieder Einbrüche an den Finanzmärkten gegeben hat, war die globale wirtschaftliche Situation nicht von dieser allgemeinen Unsicherheit und Volatilität geprägt wie jetzt während Corona.

Die Coronakrise ist eine Pandemiekrise, nicht eine von den Finanzmärkten ausgehende. Daher natürlicherweise auch eine Angstkrise, deren Dynamik von der Angst der Anleger dirigiert wird, heißt es sehr klug. Und sie ist umso gefährlicher, weil sie nur mit der Bekämpfung des Virus behoben werden kann.

Gestern habe ich mit meiner langjährigen Freundin Renate, ebenfalls aus meinem Frauenclub, telefoniert, die als Selbstständige Führungskräfte trainiert. Auf den letzten Drücker wurde ihr am Abend zuvor ein Seminar abgesagt, das sie zwei Tage später in der Nähe von Frankfurt hätte halten sollen. Gerade hatte sie nach dem Lockdown des Frühjahrs wieder die ersten Anmeldungen und Buchungen für ihre Seminare erhalten, da muss sie schon wieder erleben, dass die steigende Zahl der Coronainfizierten ihre Planung für den Herbst wiederum zunichtemacht.

Die Tränen hätten ihr bis zwanzig Zentimeter unter den Wimpern gestanden, meinte sie am Telefon. In dieser Situation, und dafür bewundere ich Renate, hatte sie sich überlegt: „Wozu mag diese Absage gut sein?“ Und dann, ganz pragmatisch: „Wat fott is, is fott.“ Das war auch schon ihr Motto im Frühjahr beim ersten Lockdown gewesen.

Zum Glück hatte es ja die Staatshilfen gegeben.

Aber dennoch, lieber hätte sie ihr Seminar gehalten und Geld verdient. Ohne knauserig zu sein, lebt Renate mit ihrem Mann sehr bescheiden und nachhaltigkeitsbewusst in ihrem Fachwerkhaus in der Eifel. Sie führt gemeinsam mit ihm das von ihr gegründete „Institut für Kommunikations- und Führungskräftetraining“. Sie konzipiert die Seminare, die entweder sie oder ihr Mann als DozentIn halten. Letztendlich ist ihr Mann ihr Angestellter. Ihr Mann würde wahrscheinlich einer solchen Einstufung seiner Rolle in ihrem gemeinsamen Unternehmen nie zustimmen. Dank seiner Frau hat er aber wieder einen Job und ein sinnvolles Betätigungsfeld gefunden.

Seit mindestens zwanzig Jahren steht er in keinem festen Arbeitsverhältnis mehr, nachdem er mit sechsundvierzig Jahren als Vertriebsmanager abgefunden worden war und danach keine adäquate Stelle als Führungskraft mehr gefunden hatte.

Aber er hat clever fürs Alter vorgesorgt, da er wie sie auf keine nennenswerte gesetzliche Rente zurückgreifen kann, mit Photovoltaikanlagen, kleinen Eigentumswohnungen und Geldanlagen in Aktien und Anleihen.

Mit diesem finanziellen Hintergrund können Renate und ihr Mann auch ein Jahr ohne gewerbliche Einnahmen überstehen, das betont Renate immer wieder. Unbedingt finanzielle Sorgen müssen sich beide auch in dieser Coronazeit also nicht machen.

Aber wie mir fehlt Renate die Arbeit. So wie sie mir am Telefon erzählt hat, hinterlässt diese Absage auch eine Leere in ihr. Sie hatte sich darauf gefreut, ihre Seminare wieder aktiv abhalten zu können, ihre Fähigkeiten als Dozentin unter Beweis zu stellen und sich gemeinsam mit ihren SeminarteilnehmerInnen über Themen auszutauschen, die sie sehr interessieren, etwa das Problem Mobbing. Die Themen ihrer Seminare beschäftigen sich immer mit Kommunikation zwischen MitarbeiterInnen und Führungskräften. In Summe ist das sehr erstrebenswerte Ziel, die Führungskräfte zu befähigen, durch Kommunikation das Arbeitsumfeld für alle Beschäftigten zu verbessern.

Im Unterschied zu mir wird sie auch aus diesem Grund sofort wieder arbeiten können, wenn die Pandemie überstanden ist. Sie hat sich als Trainerin einen Namen gemacht und kann als Selbstständige so lange arbeiten, wie sie Aufträge erhält und weiterhin Kraft und Energie für ihren anstrengenden Beruf hat.

Als Seminarleiterin immer präsent zu sein, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und manchmal auch der Kritik zu stehen, ist nicht jedermanns Sache und doch so bewundernswert.

Ich habe ihr am Telefon von meiner tiefen, mich psychosomatisch doch ziemlich beeinträchtigenden Verunsicherung wegen der wirtschaftlichen Verschlechterung der Lage erzählt. Ich war ihr gegenüber sehr offen – wurde aber gleich von ihr unterbrochen.

Ich solle doch zurzeit an den Aktienmärkten gar nichts mehr machen, weder kaufen noch verkaufen. Man hätte doch gesehen, wie schnell sich im Sommer die Märkte wieder erholt hätten, erklärt sie mir altklug. Außerdem befolge ihr Mann, der für die Finanzen zuständig ist, die Anlageregel: Mit zunehmendem Alter den Aktienanteil reduzieren und in sichere Anleihen oder ETFs investieren.

Als wenn ich das nicht wüsste. Ich kann sie aber in ihrem gute Ratschläge verteilenden Redefluss nicht unterbrechen. Dafür fehlt mir die Kraft.

Wenn ich nur nicht letzte Woche noch diese Shop-Apotheke-Aktie gekauft hätte, nachdem sie vom Höchststand von 168 Euro anfing zu fallen, und ich noch – wider besseres Wissen – meinte, ich müsste von dieser Coronagewinneraktie auch noch meinen Teil an Gewinn einstecken. In den letzten Wochen hatte ich doch beobachtet, dass nach einem Tagestief die Aktie ganz schnell wieder nach oben gedreht war. Damit hatte ich auch vergangenen Montag gerechnet. Länger als einen Tag hatte ich sie nicht halten, sondern kurzfristig Gewinne einstreichen wollen.

Und dann verhielt sich die Aktie nicht wie erwartet.

Ich verstand die Welt nicht mehr.

Gute Zahlen des Konkurrenten „Zur Rose Gruppe“ hatten die Aktie kurz wieder steigen lassen. Zwischendurch konnte ich einen geringen Kursgewinn der Aktie registrieren, aber schon am Tag danach kannte die Aktie nur noch die Richtung gegen Süden, das heißt, ihr Kurs fiel wie ein Stein.

Nachzukaufen traute ich mich auch nicht mehr, selbst wenn ich meine Verluste mit einem Nachkauf bei einem Verkauf entweder hätte reduzieren oder gar ausgleichen können.

Grund für den Verfall war der vom Unternehmen eingeräumte vorzeitige Eintausch der Wandelanleihe, von dem Investoren an diesem Tag Gebrauch gemacht hatten. Das führt generell zu einer Verwässerung des Aktienwerts, da die Rückzahlung der Wandelanleihe in Aktien erfolgt, und damit mehr Aktien im Markt sind als zuvor, ohne das jeweilige Gesellschaftsvermögen zu erhöhen. Eine solche Umwandlung war schon einige Tage zuvor geschehen. Danach hatte sich die Aktie schnell erholt und war ins Plus gedreht.

Jetzt, seit einer Woche, tut mir die Aktie diesen Gefallen nicht mehr. Mittlerweile, am frühen Nachmittag, notiert sie bei 145 Euro, gekauft habe ich sie bei 161,20 Euro. Ich kann jetzt wieder nur abwarten und hoffen, dass der Bericht für das dritte Quartal so ausfällt, dass auch die Analysten dieser Aktie weiteres Potenzial zutrauen und ich sie ganz schnell mit Gewinn verkaufen kann. Verluste kann ich mir in diesem Jahr nicht mehr leisten.

Wenn ich letzte Woche nicht aus lauter Gier wieder neu in den Aktienmarkt eingestiegen wäre, ginge es mir jetzt besser. Aber – ich korrigiere mich – das stimmt doch nicht, ich habe nicht vor lauter Gier die Aktie gekauft, sondern weil ich mein auf dem Girokonto „herumliegendes“ Bargeld gewinnbringend anlegen wollte. Wenn ich schon nicht mehr „gewinnbringend“ arbeitete, sollte dies wenigstens mein Geld für mich tun.

Die Aktie hatte auf meiner Watchliste gestanden. In den vergangenen Wochen hatte ich mich aber nicht getraut, sie anzupacken, da sie mir in ihrer Kursentwicklung völlig unberechenbar und zu volatil erschien. Hatte mich dann aber jedes Mal geärgert, wenn ich nicht wie bei ihrem letzten Dip bis auf 137 Euro zugegriffen hatte. Danach war die Aktie dann auch fast über Nacht auf über 160 Euro gestiegen.

Locker hätte ich mit dem Gewinn aus ihrem Verkauf unseren Norderney-Urlaub im September finanzieren können. Nach einem solchen „Trading-Versagen“ war ich abends wieder von mächtigen Insuffizienzgefühlen durchgeschüttelt worden, die sich in Form von Bauchkrämpfen widerspiegelten.

Um überhaupt noch schlafen zu können, hatte ich mich damit beruhigen müssen, ich hätte doch gar nichts getan, ich hätte doch nur Trading unterlassen und damit zwar einen Gewinn versäumt, aber auch keinen Verlust gemacht.

Heute denke ich, während die Aktie fällt und fällt: Hätte ich doch die Füße stillgehalten. In diesen Zeiten, wenn man nicht über die entsprechende Software verfügt, anhand derer man Kauf- oder Verkaufssignale erkennen kann und sich auch nicht mit Charttechnik auskennt – also letztlich kein Profi ist –, für denjenigen liegt in diesen wirtschaftlich turbulenten Zeiten einfach der Gewinn im Nichtstun. Mittlerweile beläuft sich mein Verlust aus dem Kauf der Shop-Apotheke-Aktie auf 1.900 Euro, der zwar in meinem Gesamtverlust von 75.000 Euro schon enthalten ist, aber das nützt auch nichts mehr.

In meiner Verzweiflung ist mir so, als würde ich außerhalb meines Körpers stehen. Ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Es zerreißt mich körperlich, trockener Mund, Durchfall. Mein Herz hämmert, nur noch ein Gedanke in meinem Kopf: Hätte ich doch einfach nichts getan. Hätte, hätte, Fahrradkette.

An meine alten Verluste in meinem Depot hatte ich mich ja schon gewöhnt, solange sie nicht durch erneutes Trading noch verschlimmert wurden. Aber dieser neue Verlust, verursacht durch meine Gier – wobei meine Gier doch gar nicht so groß ist, ich würde nur gern meine Rente mit monatlichen Gewinnen aus Aktien aufbessern, versuche ich mich zu beruhigen – bringt mich jetzt an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Ich habe das Gefühl, ich kann nicht mehr und weiß nicht, woher Hilfe kommen kann.

Es gibt niemanden, mit dem ich über meine momentanen Verluste reden kann. Meinem Mann gegenüber traue ich mich nicht, diese Verluste zuzugeben.

Erneut habe ich den Gedanken, unser Geld einer Vermögensverwaltung zu übergeben. Nie wieder mich darum kümmern müssen. Aber ... Vermögensverwaltung frisst, wenn du überhaupt einen Gewinn hast, diesen entweder ganz auf oder schmälert ihn entscheidend.

Der Mann einer guten Freundin, der bei einer großen Vermögensverwaltungsgesellschaft arbeitet, hatte bei einem kürzlichen Gespräch ebenfalls gemeint, ich solle doch meine Lebenszeit nicht mit solchen Börsenaktivitäten vergeuden. Ich solle doch lieber Kaffee trinken und die Finanzverwaltung Profis überlassen. Für meinen Mann Peter ist es keine Option, unser Geld einer Vermögensverwaltung anzuvertrauen. In Fonds und ETFs investieren, bloß nicht in Einzelaktien, wie ich es tue, das ist seine Strategie.

In der schlimmsten Krisenzeit im März diesen Jahres konnte ich mich davon überzeugen, dass sich seine Strategie bewährt hatte, ohne diesen hohen und letztlich doch sinnlosen Zeitaufwand, den ich für die Beobachtung und Nachverfolgung von Aktien aufbrachte.

Der zweite Gedanke, den ich heute habe: Es wäre besser gewesen, unser Geld durch Konsum reduziert zu haben oder – so plötzlich ein ganz anderer Gedanke – es etwa schon meinen beiden Nichten zur Finanzierung ihrer Häuser zu geben. Aber ...

Abgebrühte Trader kaufen zu den Ausverkaufskursen jetzt nach. Ich kann das jetzt genauso wenig wie zum Tiefststand des Dax zu Beginn des Lockdowns. Ich bin keine abgebrühte Traderin.

Ich habe das Gefühl, ich stehe kurz vor dem Durchdrehen. Ich kann so nicht mehr weitermachen.

Am 10. März 2020 hatte die letzte Sitzung des Börsenvereins, in dem ich Mitglied bin, stattgefunden. Dass es auf unabsehbare Zeit die letzte sein würde, wussten wir Teilnehmer damals noch nicht. Zwar hatte der Dax noch nicht seinen Tiefststand erreicht, war aber von seinem Höchststand im Februar bei rund 13.700 bereits auf unter 9.000 Punkte gerutscht.

Die Sitzung war an diesem Abend so gut besucht gewesen wie schon lange nicht mehr. Hauptsächlich Männer waren anwesend. Auf die Frage des Geschäftsführers zu Beginn, wer denn heute nachgekauft habe, hatte eine große Anzahl von ihnen voller Stolz ihre Hand gehoben, während ich an diesem Märztag nur noch ein Nervenbündel war.

Ich hatte nur meine mühsam über Jahre angesparte Altersversorgung vor die Hunde gehen sehen, ohne dass Rettung in Sicht gewesen wäre. Ein „schwarzer Schwan“ war aufgetreten.

Definiert wird der Schwarze Schwan nach „Hermoney.de“ als ein „plötzliches, unerwartetes und unvorhersehbares Ereignis, das sehr selten auftritt und potenziell große Folgen für die Weltwirtschaft und den Finanzmarkt hat“. Ein solches, wie vom Himmel fallendes, fast irrational anmutendes Vorkommnis war in meinem „Händlerinnen-Horizont“ völlig ausgeschlossen gewesen.

Daher quälen mich heute auch die Fragen: Wie tief fällt meine Shop-Apotheke-Aktie noch? Und wenn sie unter die hundertvierziger Marke fällt, soll ich dann nachkaufen?

Was sind das nur für Fragen, mit denen ich mein Hirn be- und überfülle und mich völlig blockiere?

Ich beschließe, erst einmal in die Zentralbibliothek zu gehen.

Ich bin todmüde. Ich gehe zu Fuß in die Innenstadt. Seit ich in Rente bin, erspare ich mir soweit wie möglich das Geld für die Fahrkarten des öffentlichen Verkehrs. Ich käme nicht auf die Idee, mit der Straßenbahn zur Zentralbibliothek zu fahren und für Hin- und Rückfahrt sechs Euro auszugeben. Den Weg lege ich in fünfundzwanzig Minuten zurück. Angenehmer Spaziergang, Bewegung. Ich sitze sowieso viel zu viel. Die Straßen kommen mir heute menschenleerer und ruhiger als sonst vor. Ich bin an der frischen Luft. Ich gehe raschen Schrittes, das stramme Gehen tut mir gut. Außenstehende, die mich sehen, könnten aber durchaus denken, ich sei eine Getriebene.

An der Uni gehe ich auch am Unipark mit den weiten Wiesen, umsäumt von Bäumen mit bunten Herbstblättern vorbei.

Wie schön das am Boden liegende Laub aussieht, gelb, hellbraun, ockerfarben, rostrot. Es weht ein schwacher Wind, der Himmel ist dunkelgrau, und die Straße ist in ein graubläuliches Licht getaucht, das ich als anheimelnd empfinde und das die Hässlichkeit der alten und renovierungsbedürftigen Mietshäuser im Quartier Latin, dem berühmten Kneipenviertel von Köln, verbirgt. Die Straße dehnt sich vor mir aus und weitet sich. Meine Angst und der Schmerz in mir schweigen, hier und jetzt, direkt gefolgt von der Erinnerung: Wie anders sah mein Leben noch vor einem Jahr aus.

Vor einem Jahr habe ich mein neues Leben als Seniorenstudentin begonnen.

Wie zerbrechlich habe ich seitdem das Leben erlebt. Bilder und Vorstellungen von mir selbst, dass ich die größte Veränderung meines Lebens, den Renteneintritt, mit dem von mir vorher ausgedachten Geschäftsmodell als Traderin problemlos meistern würde, wurden auf das Radikalste zerstört. Mein Selbstbewusstsein, das sich aus dieser Zuversicht speiste, und mein Vertrauen in mich selbst, haben sich in Nichts aufgelöst.

Während ich mich in diesem Dämmerlicht wie in einen schützenden Kokon eingehüllt fühle, denke ich für einen Moment: Alles wird gut. Lass los. Du hast nur dieses eine Leben. Schau dir deine kleine, schwer krebskranke Schwester an, die so gern leben würde und nur noch eine begrenzte Lebenszeit hat. Im Januar waren zusätzlich als Folge ihres metastasierenden Brustkrebses auch Metastasen im Kopf festgestellt worden. Innerhalb von acht Stunden war sie zweimal im Kopf operiert worden. Seitdem hat sich ihre Lebensqualität erheblich verschlechtert. Ein Lebenswunsch, den sie noch hat, nämlich angesichts der Begrenztheit ihres Lebens noch einmal die Weite des Meeres zu sehen, konnte ihr wegen der Coronapandemie bisher nicht erfüllt werden.

Mittlerweile habe ich die Zentralbibliothek erreicht. Die Atmosphäre im Inneren ist ruhig, konzentriert. Junge Studierende/Lernende sitzen an kleinen Arbeitstischen.

Ein Gedanke wirbelt durch meinen Kopf: Könnte ich doch noch einmal auf ein Ziel hinarbeiten, wofür es sich zu lernen lohnt. Sehnsucht nach Zukunft, die ich gestalten kann. Ich spüre Wehmut bei diesen Gedanken, die mich in der Umgebung des selbstverständlichen Lernens heimsuchen.

Ich beneide die Angestellten des Ordnungsamtes am Eingang der Bibliothek, die die Registrierzettel zwecks Corona­nachverfolgung an die Benutzer verteilen. Der Job mag ein Hilfsjob sein und sie langweilen, aber sie sind „systemrelevant“ und können am Abend zufrieden nach Hause gehen.

Ebenso beneide ich den Bibliothekar, der mir bei der Suche eines Buches behilflich ist. Auch er hat einen Job und weiß, was er am Abend getan oder auch nicht getan hat. Ob er was getan hat oder nicht, ob er sich den ganzen Tag gelangweilt hat oder nicht, spielt für mich keine Rolle: Er weiß jeden Morgen, wenn er aufsteht, wo er hingehen muss und was ihn erwartet.

Nachdem ich die gewünschten Bücher entliehen habe, mache ich mich auf den Heimweg, begegne Menschen, die Feierabend haben und nach Hause gehen. Nach Hause kommen, erwartet werden. Langsam wird es dunkel.

Wieder komme ich an der Uni vorbei und werde erinnert an die Zeit vor sechsundvierzig Jahren. Mein erstes Wintersemester in Köln, die Verlorenheit und Einsamkeit in meinem möblierten Studierendenzimmer, das Heimweh nach meinem Zuhause in Trier, das ich, als ich noch zur Schule ging und dort lebte, nicht zu schätzen gewusst hatte.

Ich biege in den Uniparkweg ein. Im Unigebäude gehen langsam die Lichter an. Die Dämmerung nimmt zu. Ich setze mich auf eine Bank, die Uni im Blick.

Wie bin ich nur in diesen desolaten Zustand geraten? Tief innen weiß ich, ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich würde gern meiner todkranken Schwester meine Lebenszeit schenken. Was für ein Gedanke. Dabei nehme ich keine Rücksicht auf Peter, meinen Mann. Für ihn wäre es die Katastrophe schlechthin, mich zu verlieren.

Ich denke daran, wie emotional angepiekst Peter in unserem einzigen gemeinsamen Urlaub im September auf Norderney eine Äußerung von mir kommentiert hatte, die er falsch verstanden hatte.

Er hatte mich sagen hören: Ich kann nicht leben!

Während ich gesagt hatte: Ich kann nicht lesen.

Ein vertauschter Buchstabe, und wir hatten vor Leben oder Tod gestanden.

Er war völlig entsetzt gewesen: „Kommt denn nicht einmal hier auf Norderney bei schönem Wetter Freude bei dir auf?“

Die Stimmung zwischen uns beiden war völlig gereizt.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen gewesen. Warum reagierte er auf eine einfache Äußerung schon wieder so aufgebracht? Es war ja nicht das erste Mal, dass Peter sich bei ankündigendem Missmut und schlechter Laune von meiner Seite aus angegriffen gefühlt hatte.

Bis ich verstand, dass er statt „lesen“ „leben“ gehört hatte, dauerte es eine Weile. Ich war zutiefst erschrocken gewesen, wie nahe er der Wahrheit gekommen war.

Nach Klarstellung des Missverständnisses war ich in unserem Hotel in die Sauna gegangen. Dort hatte ich gesessen und schwitzend gedacht: Wie komme ich nur aus dieser Situation heraus?

Unser Miteinander war in letzter Zeit sowieso höchst angespannt gewesen, wir saßen wie auf einem Pulverfass. Ein falsches Wort oder Ungeduld und Ärger auf den anderen genügten, um unsere Stimmung ganz schnell umschlagen zu lassen.

Bisher war es uns immer noch gelungen, nach Glättung der Wogen aufeinander zuzugehen und die Überreaktion in unserem Verhalten zu erkennen.

Peter arbeitet hart derzeit, nachdem wegen des Lockdowns im Frühjahr alle Gerichtsverhandlungen ausgefallen waren und jetzt nachgeholt werden mussten, so dass er fast jeden Tag beim Gericht saß.

Ich dagegen sitze, saß, werde zuhause sitzen (mehr oder weniger) und lasse mich von dem Auf und Ab der Börse bestimmen, in dem ich mich im Unterschied zum Vorjahr nicht mehr zurechtfinde.

Auf der einen Seite tut dieses Ungleichgewicht der arbeitsmäßigen Belastungen unserer Beziehung nicht gut, andererseits hat Peter auch kein Ohr und kein Verständnis dafür, dass das Börsenspiel mich mitnimmt und fertigmacht. Ich fühle mich für den Erhalt unseres Geldes verantwortlich.

Wie soll ich ihm klar machen, dass ich gerade meinen „Beruf“, „meinen Job“, das Traden, verloren habe, dass ich sozusagen zweifach „arbeitslos“ geworden bin, dennoch bereitstehe, wenn sich auch nur die kleinste Aussicht auf Tradingerfolg ankündigt – ich zwar „arbeitslos“, aber dennoch immer in Alarmbereitschaft bin.

Mein Geschäftsmodell für die Rente, das Traden, wenn möglich taggleich, war zu einem Pleitemodell pervertiert, das mich – die sich zuvor gern als die Expertin für Finanzprodukte und Finanzmärkte ausgegeben hat – als Verliererin entlarvte.

Das kurzfristige Traden, das zwischen Oktober und Dezember 2019 zu Beginn meiner Rente mit einem Minimum an tatsächlich fundiertem Finanzwissen erfolgreich funktioniert hatte, war seit Ausbruch der Coronapandemie nicht mehr möglich gewesen. Wenn ich versuchte zu handeln, setzte ich fast instinktsicher auf den falschen Trend. Ich war hilflos der Volatilität der Börse ausgesetzt.

Am Ende meines „Geschäftsjahres 2020“ an der Börse werde ich nur Verluste erwirtschaftet haben. Das steht fest. Hätte ich mein Geld über all die Jahre mehr oder weniger zinslos auf ­Tagesgeldkonten bei Onlinebanken liegen lassen, sähe mein finanzielles Ergebnis heute mit Sicherheit besser aus. Eine traurige Bilanz, die ich vor dem Hintergrund extrem nervenauf­reibender und zeitaufwendiger Geschäftigkeit an der Börse ­leider ziehen muss.

Jetzt sitze ich hier im Dämmerlicht auf dieser Bank und fühle mich fast wie im „Café am Rande der Welt“ von John Strelecky, nur ohne Kaffee und ohne einen Gesprächspartner für mein spezielles Lebensproblem. Kann mir überhaupt ein Mensch helfen?, frage ich mich.

Im vergangenen Monat, nein, eigentlich alle Monate seit Oktober 2019, bin ich der Lösung meines Lebensproblems keinen Schritt nähergekommen. Im Gegenteil, der zweite Lockdown, wenn auch nur „light“, steht bevor, und die Börse fällt wie ein Stein.

Angst vor wirtschaftlichen Verlusten hat sich in meiner Seele und in meinem Körper eingenistet ... wie eine Mistel. Angst, dass meine Rente nicht ausreicht. Angst vor Bedeutungsverlust, Angst vor sich einschleichendem Interessensverlust an Kultur und Bildung, an Politik und Menschen – an allen Erlebnissen, Ereignissen und Begegnungen, die das Leben bereichern. Angst, dass ich das Leben in seiner Vielfältigkeit nicht mehr genießen kann. Angst, dass mir alles gleichgültig wird und ich meine Begeisterung und Leidenschaft verliere. Angst vor Tagen, die sich unendlich vor mir ausdehnen, ohne dass ich sie sinnvoll und freudebringend füllen kann. Angst vor dem daraus für mich entstehenden, unerträglichen Stress.

Um mich herum gehen langsam die Lichter im Park und in der Uni an. In der Ferne höre ich das Geräusch einer heranfahrenden Straßenbahn. Ich will noch nicht nach Hause gehen, wo mich das Grübeln erwartet. Ich sitze hier in der Dämmerung, fühle eine Verlorenheit und frage mich, wie ich wieder in das Leben zurückfinde.

Dabei weiß ich doch, was zu tun ist. Ich allein nur kann mich retten.

Langsam mache ich mich auf den Heimweg. Ich werde besonders schön den Tisch für unser Abendbrot decken, werde vielleicht noch einen kleinen Salat zubereiten, den Peter so gern abends isst.

Im Park auf der Bank im Dämmerlicht hoffte ich noch, ein Engel würde mir erscheinen und mir Erleuchtung schenken, die mir den Weg zurück ins Leben zeigen würde. Aber der Engel erbarmte sich meiner nicht. Er erlegte mir weitere Prüfungen auf: Das heißt, es wurde alles noch schlimmer. Gott sei Dank ahnte ich das damals im Park auf der Bank noch nicht.

Wonach sehne ich mich? Wenn ich ehrlich bin: Ich sehne mich danach, am Ende eines zwölfstündigen Arbeitstages todmüde im Zug von Düsseldorf nach Köln zu sitzen, während mir die Augen zufallen. Ich sehne mich danach, am Ende eines Arbeitstages nach Hause zu kommen, mit Peter zu Abend zu essen, noch eine Zeitlang gemeinsam mit ihm über den Verlauf des Tages zu sprechen und die üblichen Fragen – „Wie war dein Tag? Wie geht es Dir?“ – zu stellen.

Die Nachrichten im Fernsehen anschauen, danach vielleicht noch den Anfang eines Filmes, die Küche aufräumen. Danach würde ich ins Bett gehen und schnell einschlafen.

Ich sehne mich nach einer durch meine Tätigkeit in der Bank vorgegebenen Berufsidentität – die ich auch im Alltag nicht ablegte. Beruf und Privates waren zum Ende meiner Berufstätigkeit nicht mehr voneinander zu trennen gewesen.

Ich sehne mich nach meiner Bankeridentität, die mir Sicherheit gab. Ich sehne mich danach, aufgrund meines Wissens gefragt zu werden und gefragt zu sein – so wie meine Freundin Renate, die selbstständige Trainerin für Führungskräfte.

Ich sehne mich nach der festen Struktur eines Arbeitstages, der mir das Recht gibt, abends und am Wochenende „abzuhängen“, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich sinnvoll meine Zeit zu gestalten habe.

Mich intensivst mit Literatur, Kultur und Kunst zu beschäftigen, hatte ich auf „später“, die Zeit nach der Berufstätigkeit, verschoben und war davon ausgegangen, dass ich die Freude an sinnstiftender Beschäftigung mit Schöngeistigem nie verlieren würde.

Darüber hinaus, ein festes Arbeitsverhältnis mit regelmäßigem, sicherem Einkommen würde in diesen unsicheren Zeiten auf meine Psyche stabilisierend wirken, selbst wenn mein Depot Tag für Tag an Wert verlieren würde.

Solange ich Arbeit hätte, würde ja reichlich Geld jeden Monat fließen, mehr als jetzt an Renteneinkünften. Ein Job im Rücken mit genügend Geld hätte Ablenkung in dieser Krisenzeit geboten ... selbst wenn die Märkte jetzt tatsächlich crashen würden. Die Erholung würde kommen, auch wenn sie vielleicht ein bisschen länger dauern würde, als man erwartet hatte.

Vor einem Jahr, als ich in Rente ging, hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ich einmal so vor die Hunde gehen würde, innerlich und manchmal auch äußerlich, in Zeiten, in denen ich keinen Wert mehr auf mein Äußeres legte. Es kam ja nicht mehr „drauf an“.

Ich erschrecke über mich, dass ich die Redewendung „vor die Hunde gehen“ spontan benutze, um meinen Zustand zu beschreiben. Ihre Bedeutung: elendiglich sterben, zugrunde gehen ...

Und nochmals stelle ich mir die Frage: Wie konnte ich nur in einen solch desolaten Zustand geraten, der mich jeden neuen Tag fürchten lässt? Dennoch verbunden mit der Hoffnung, dass, falls ich eine Antwort auf diese Frage finde, ich auch meine Situation ändern kann.

Wenn ich tief in mich hineinhorche, so begann diese Entwicklung, deren Tiefpunkt ich gerade durchmache, vor zwei Jahren, 2018, ein Jahr, bevor ich mich aus dem aktiven Berufsleben verabschieden musste.

Mit meinen langjährigen Freundinnen, meinem Frauenclub, heute im Alter von zweiundsechzig bis sechsundsechzig, war ich im Sommer 2017 in ein gemeinsames verlängertes Wochenende gefahren.

Wir gingen spazieren, und meine wortgewandte und fragetüchtige Freundin Irene, die ein halbes Jahr nach mir in Rente gehen würde, fragte mich bei unserem schweißtreibenden Waldspaziergang: „Wie stellst du dir das vor, in Rente zu gehen? Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht?“

Von diesen Fragen fühlte ich mich völlig überrumpelt. Ich fand sie damals nahezu indiskret, fast unverschämt. Natürlich hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht, wollte ich auch nicht. Wenn ich darüber nachdachte, dachte ich nur, es findet sich schon.

„Ach, Irene“, antwortete ich, „frag mich doch so etwas nicht.“

Und dann kam doch eine Antwort, ziemlich spontan, mit der mich Irene heute noch gern zitiert: „Wenn ich in Rente gehe, werde ich sterben. Ich möchte überhaupt nicht aufhören zu arbeiten. Ich möchte auf immer und ewig so weitermachen wie bisher.“

Ich klammerte mich an die zwei Jahre, die noch bis zur Rente vor mir lagen, und hoffte, dass in dieser Zeit ein Wunder passieren würde. Dieses Wunder stellte ich mir als eine zunehmende Nachfrage nach unseren Serviceprodukten vor, die meine Firma Banken anbot, um sie von bankaufsichtsrechtlichen Aufgaben zu entlasten. Und dieser „Zustrom“ neuer Bankkunden und deren Betreuung würden mich dank meiner Expertise unentbehrlich machen.

Fazit: Zu dem Zeitpunkt wollte ich nicht über mein zukünftiges Rentendasein nachdenken. Ich wollte Businessfrau im Businesslook bleiben, auf immer und ewig. Mein Lebenskonzept war ganz auf berufliche Arbeit ausgerichtet, das muss ich mir schmerzhaft eingestehen.

Heute denke ich, wie hatte ich nur so blauäugig in Rente gehen können? Ein Jahr vor meinem Rentenbeginn sah es eher so aus, als würde der Finanzdienstleister, bei dem ich arbeitete, über kurz oder lang keine Überlebenschance auf dem Markt haben. Eine Weiterbeschäftigung über das reguläre Rentenalter hinaus war daher illusorisch. Dennoch – ohne mich darum zu kümmern – hatte ich mir den Rentenbeginn ganz einfach vorgestellt.

Im Oktober 2018 war die Welt in wirtschaftlicher Hinsicht, und nur unter der Bedingung des ewigen globalen Wachstums, noch in Ordnung gewesen. Die Bäume wuchsen in den Himmel. Man musste meiner Meinung nach nur geschickt an den Finanzmärkten agieren, und Reichtum und Wohlstand stellten sich von selbst ein. Vor diesem Hintergrund und, orientiert an meinem leidenschaftlich verfolgten Interesse für Wirtschaft und Finanzmärkte, das sich fast zwangsläufig während meiner Berufstätigkeit als Bankfachfrau entwickelt hatte, zeichnete sich als einziges Betätigungsfeld in meiner Rentenzeit das Handeln an der Börse ab.

Unhinterfragt erhoffte ich mir vom aktiven Trading, vielleicht sogar Daytrading, dass es mir auch noch ein gutes Einkommen neben meiner Rente sicherte.

In jenem Herbst hatte ich daher begonnen, mich mit Optionsscheinen zu beschäftigen und mich für den Handel mit diesem Finanzprodukt bei meinem Broker freischalten lassen. Sich freischalten zu lassen bedeutet, dass der Broker auf Basis meiner Erklärung, Erfahrung mit diesem Produkt zu haben und dessen besonderes Risiko bis hin zum Totalverlust zu kennen, mir als Privatperson die Erlaubnis erteilt, mit diesen besonders risikoreichen Produkten zu handeln. Falls der Handel mit diesen Produkten zu einem Totalverlust führt, kann ich den Broker nicht verklagen, er hätte mich etwa nicht ausreichend auf die Risiken des Produktes hingewiesen beziehungsweise mich für den Handel mit diesen Produkten nicht zulassen dürfen.

Einfach erklärt: Mit Optionsscheinen wette ich als Anlegerin mit einem vergleichsweise geringen Kapitaleinsatz auf die Kursentwicklung einer Aktie, entweder auf steigende oder auf fallende Kurse, ohne wie beim direkten Kauf einen Anteil am Unternehmen zu erhalten. Das heißt, ich werde nicht zum Miteigentümer am Unternehmen.

Im Vergleich zum direkten Investment, beispielsweise in die BASF-Aktie, ermöglicht mir der Kauf eines Optionsscheins zu einem deutlich niedrigeren Preis mit der erwarteten Kursentwicklung der Aktie Geschäfte zu machen.

Beispiel: Aktuell notiert die BASF-Aktie bei 52 Euro. Ich erwarte, dass sie bis Ende des Jahres auf 65 Euro steigen wird. Ich kaufe eine Kaufoption, die mir das Recht einräumt, meinen Basiswert – die BASF-Aktie – zu einem vereinbarten Preis, dem sogenannten Strike-Preis von 45 Euro und zu einem festgelegten Termin zu verkaufen. Bei Ausübung der Option ist die Aktie auf 65 Euro gestiegen. Meine Option, die mich einmal, vereinfacht gerechnet, rund 7 Euro gekostet hat (aktueller Kurs der Aktie 52 Euro – Strike-Preis 45 Euro), kann ich jetzt zu einem Preis von 20 Euro ausüben. Dieses Beispiel zeigt die dem Optionsschein implizite Hebelwirkung unter Vernachlässigung vieler anderer Faktoren, die den Wert einer Option beeinflussen. Mit einem direkten Kauf der Aktie zu 52 Euro hätte ich bei einem jetzigen Verkauf zu einem Preis von 65 Euro lediglich 13 Euro gewonnen.

Aber Vorsicht, liegt zum Zeitpunkt des Laufzeitendes der Option der Wert der Aktie unter dem Strike-Preis von 45 Euro, verfällt die Option wertlos. Folglich hätte ich mein eingesetztes Kapital verloren. Hätte ich dagegen direkt die Aktie gekauft, wäre sie zwar in ihrem Wert gefallen, ich hätte aber immer noch die Aktie mit der Aussicht, dass sie in Zukunft wieder steigen könnte, und wäre als Anteilseignerin am Unternehmen weiterhin an zukünftigen Gewinnen, auch in Form von Ausschüttungen und Dividenden, beteiligt.

Eine Verkaufsoption funktioniert umgekehrt: Ich kaufe eine Verkaufsoption, wenn ich damit rechne, dass mein Basiswert im Preis fällt. Mit der Verkaufsoption erwerbe ich das Recht, meinen Basiswert, hier meine BASF-Aktie, beispielsweise zu einem Preis von 100 Euro zu verkaufen. Bei Ausübung meiner Verkaufsoption notiert die BASF-Aktie beispielhaft bei 40 Euro. Meine Option, die ich zu 48 Euro gekauft habe (Strike-Preis 100 Euro – aktueller Kurs der Aktie immer noch 52 Euro) ist beim Ausübungstermin, sehr vereinfacht gerechnet, 60 Euro wert.

Optionen sind Derivate, abgeleitete Finanzprodukte, die die Preisschwankungen eines Basiswertes abbilden. An diesen Schwankungen kann der Käufer von Optionen spekulativ viel Geld verdienen. Aber auch verlieren.

Mein erstes Optionsgeschäft machte ich im August 2018. Ich handelte mit Kaufoptionen, wettete also auf steigende Kurse. Als Basisprodukt bevorzugte ich Aktien, die mir zu teuer waren, um sie direkt zu kaufen, etwa Amazon. Meine Entscheidung für diese Aktie basierte damals auf der Überlegung: Das Weihnachtsgeschäft steht bevor, Amazon wird weiter Kunden gewinnen, und ein Kundenanstieg führt automatisch zu einer Wertsteigerung der Aktie. Folglich würde auch meine Kaufoption auf Amazon steigen.

Ein anderer Wachstumswert, in den ich unbedingtes Vertrauen hatte, war die Netflix-Aktie. Eine Kaufoption auf diese Aktie war also ebenfalls schnell gekauft.

Im Januar 2019 stand das Unternehmen Wirecard wieder einmal im Fokus der Financial Times, die Wirecard des Betrugs und der Bilanzfälschung beschuldigte. Die Aktie war daraufhin im Wert gefallen.

Ich – als seit acht Jahren in Wirecard Investierende – hatte schon an der Aufnahme der Aktie in die Dax-Familie im September 2018 gut verdient. Bei den erneuten Vorwürfen ging ich davon aus, dass diese bald ausgeräumt sein würden und die Aktie sich schnell wieder erholen würde. Also verband ich auch mit dem Kauf einer Kaufoption auf Wirecard Gewinne.

Zusätzlich entdeckte ich Hebelzertifikate auf Wirecard, die noch höhere Gewinne bei kleinstem finanziellen Kapitaleinsatz versprachen. Ein kleiner Leckerbissen nebenbei in meinen Augen.

Um noch mehr und schneller Geld zu verdienen, setzte ich auch auf Knock-out-Produkte, die wie der Name schon sagt, einen Totalverlust des eingesetzten Kapitals zur Folge hatten, wenn der Basiswert seinen Strike-Preis erreicht hatte. In Abhängigkeit vom Hebel können solche Papiere ganz schnell ausgeknockt werden. Die Preisentwicklung solcher Papiere muss natürlich ständig beobachtet werden und erfordert – je nach Entwicklung – ein blitzschnelles Reagieren, um einen Totalverlust zu vermeiden.

Hochmut kommt vor dem Fall.

Beim Kauf dieser hochspekulativen und hochriskanten Finanzprodukte ließ ich dieses Risiko völlig außer Acht.

Ich bildete mir ein, ich könnte das auch ohne die von den Profis benutzten Handelsprogramme, ohne Kenntnis der Charttechnik und anderer Indikatoren, mit denen gewiefte Händler Kursverläufe vorhersagen und einschätzen können. Ich verließ mich damals rein auf mein Bauchgefühl, das mir recht zu geben schien.

Ich befand mich wie in einem Rausch angesichts der Möglichkeit schneller Gewinne.

Wenn ich morgens in aller Herrgottsfrühe so gegen fünf Uhr im Zug nach Düsseldorf saß, verbrachte ich meine Fahrtzeit bereits mit „Arbeiten“, indem ich auf meinem Tablett das Internet nach günstigen Kauf- oder Verkaufsoptionsscheinen auf meine bevorzugten Aktien durchsuchte. Ich wusste ja, wie der Wert eines Optionsscheins zu berechnen war: Ich benötigte dazu „nur“ den aktuellen Marktwert des Basiswerts, der eine Aktie oder auch ein Index wie der Dax sein konnte, und den Strike-Preis, den vereinbarten Preis also, zu dem die Option ausgeübt werden sollte. Zu berücksichtigen ist jeweils auch noch die Restlaufzeit der Option. Grundsätzlich gilt, je höher die Restlaufzeit, umso höher ist auch der Wert der Option, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Preis des Basiswerts in die gewünschte Richtung entwickelt, größer ist.

Wovon ich absolut keine Ahnung hatte, war die Bedeutung der Volatilitätskomponente für den Wert der Option. Darunter versteht man, vereinfacht gesagt, die Breite der Kursschwankungen des zugrundeliegenden Basisinstruments einer Option.