Reproduktive Freiheit - Antje Schrupp - E-Book

Reproduktive Freiheit E-Book

Antje Schrupp

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Beschreibung

Reproduktionstechnologien machen rasante Fortschritte, dabei sind die politischen Implikationen noch gar nicht diskutiert. Dass nur etwa die Hälfte der Menschheit schwanger werden kann, wirft in politischer Hinsicht Gerechtigkeitsfragen auf: Unter welchen Umständen werden Menschen schwanger und gebären? Welche Rechte (auf Unterstützung) und welche Pflichten (gegenüber der Gesellschaft oder anderen Erwachsenen) haben sie? Traditionellerweise wurde Reproduktion über eine heteronormative Geschlechterordnung geregelt, die Kindern direkt nach der Geburt ein Geschlecht zuwies. Je nachdem, ob sie aufgrund ihrer Genitalen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit selbst einmal schwanger werden könnten oder nicht, bereitete ihre Erziehung und Sozialisation sie auf später klar unterschiedene Aufgaben in Bezug auf Reproduktion vor – auf ›Mütterlichkeit‹ beziehungsweise ›Vaterschaft‹. Vor allem dank der Frauenbewegung ist diese Geschlechterordnung heute infrage gestellt. Frauen pochen auf ihre Freiheit und Menschen mit Uterus klagen ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung ein, gleichzeitig werden binäre Geschlechterkonstrukte ganz prinzipiell hinterfragt und neue symbolische Geschlechterordnungen in den Blick genommen. Antje Schrupp umreißt die ethischen Herausforderungen des Themas, macht Vorschläge, wie reproduktive Gerechtigkeit in einer herrschaftsfreien Gesellschaft gedacht werden kann und plädiert für die Bereitschaft, über die bisherigen Horizonte hinauszudenken.

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Seitenzahl: 106

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Antje Schrupp

Reproduktive Freiheit

Eine feministische Ethik der Fortpflanzung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Antje Schrupp:

Reproduktive Freiheit

Eine feministische Ethik der Fortpflanzung

unrast transparent

geschlechterdschungel

Band 11

1. Auflage, März 2022

eBook UNRAST Verlag, September 2023

ISBN 978-3-95405-162-5

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag

Satz: UNRAST Verlag

Inhalt

Einleitung

Narrative und symbolische Ordnung: Natur muss erzählt werden

Varianten der Menschheit: Zur Biologie der Reproduktion

Die Erfindung der Geschlechterdifferenz und die Entstehung des Patriarchats

Eine gewisse Opferbereitschaft: Der § 218 und seine Geschichte

Reproduktive Gerechtigkeit: Was in der Debatte fehlt

In-Vitro-Fertilisation: Was sich dadurch geändert hat und was nicht

Geburt als Übergang: Vervielfältigte Formen von Elternschaft

Ausblick: Stichpunkte für eine neue Ethik der Reproduktion

Anmerkungen

Einleitung

Wir beginnen unser Leben als Teil des Körpers einer anderen Person. Der Zellhaufen, aus dem ein Mensch entstehen kann, muss sich neun Monate lang von der Materie eines lebendigen Körpers nähren, bevor er zur Welt kommen kann. Doch obwohl alle Menschen geboren werden müssen, ist nur etwa die Hälfte von ihnen selbst in der Lage, Menschen zur Welt zu bringen. Der anderen Hälfte fehlt das dazu notwendige Organ, der Uterus. Diese Ungleichheit ist keine Marginalie, sondern zieht erheblichen politischen Regelungsbedarf nach sich. Welche Rechte und Pflichten haben Schwangere und Geborene, wie konstituieren sich Beziehungen zwischen den Generationen, welche Familienformen gibt es, wer darf wo mitreden, wer bekommt materielle Unterstützung und soziale Hilfen und zu welchen Bedingungen? Solche Fragen lassen sich nicht ›aus der Natur der Sache‹ heraus beantworten, wie Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler lange behauptet haben. Als politische Wesen können und müssen wir Menschen die Rahmenbedingungen unserer Fortpflanzung selbst gestalten und tragen dafür auch die Verantwortung. Weder Naturgesetze noch göttliche Ordnungen geben bestimmte Verhältnisse vor.

Wie können wir die Reproduktion so organisieren, dass grundlegende Werte – individuelle Freiheit, Menschenrechte, der Schutz der Schwächeren, Solidarität, gleiche Chancen und Möglichkeiten – dabei gewahrt sind, und zwar für alle Beteiligten, auch für diejenigen, die (potenziell) schwanger werden? Dass das heteronormative Paar das einzig legitime Lebensmodell der Reproduktion sein soll, wird heute von immer mehr Menschen abgelehnt. Das traditionelle Patriarchat befindet sich in einer Legitimationskrise, die prinzipielle Unterordnung von Frauen unter Männer gilt nicht länger als legitim. Auch die Zuordnung von Neugeborenen zu einer eindeutigen Gender-Position wird zunehmend problematisiert und hinterfragt. Eigentlich sind das gute Voraussetzungen dafür, nun auch eine neue Ethik der Reproduktion zu entwickeln. Doch selbst feministische Bewegungen haben das Thema lange nur zögerlich aufgegriffen. Sowohl gleichstellungspolitische als auch queerfeministische Positionen blenden das Ärgernis der reproduktiven Differenz in ihren Analysen häufig aus.[1] Schwierigkeiten bereitet vor allem das Ideal der Gleichheit, denn in Bezug auf die biologischen Prozesse der Fortpflanzung können Menschen nicht als Gleiche betrachtet werden.

Das Thema erschien aber auch deshalb zuletzt weniger wichtig, weil Schwangerschaften in der Tat an relativer Bedeutung verloren haben, auch im Lebensverlauf von Menschen mit Uterus. Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren viele Frauen in Europa zehn Mal oder noch öfter schwanger; bei einer Lebenserwartung von gerade mal 52 Jahren (um 1900 in Deutschland) befanden sie sich also den Großteil ihres erwachsenen Lebens ›in anderen Umständen‹. Heute sind sie in den meisten Industrieländern, wenn überhaupt, nur noch 9 oder 18 Monate schwanger, und das bei gleichzeitig deutlich gestiegener Lebenserwartung: In Deutschland liegt sie bei neugeborenen Mädchen inzwischen bei 83,4 Jahren (Stand 2020)[2]. Das heißt, auch für Menschen, die schwanger werden können, ist das Kinderkriegen meist nicht mehr der vordringliche Aspekt ihres Lebens, sondern nur noch einer unter vielen. Gleichzeitig hat die Veralterung der Bevölkerung den Anteil von Frauen nach der Menopause stark erhöht und damit auch die Zahl derer, die persönlich nicht mehr akut von dem Thema betroffen sind. Wichtiger als die Beschäftigung mit den Bedingungen der Reproduktion wurde im Feminismus deshalb die Auseinandersetzung mit überkommenen Genderkonzepten, Rollenstereotypen, Transphobie, ungerechter Chancenverteilung, gläsernen Decken, Pay Gaps und ähnlichem. Das alles sind unbestritten wichtige Themen, doch um die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit in einer postpatriarchalen Welt auf neue Beine zu stellen, braucht es auch Ideen für einen neuen Umgang mit der reproduktiven Differenz.

Zumal sich seit einiger Zeit das Thema mit großer Wucht wieder in die öffentliche Wahrnehmung geschoben hat. Grund dafür ist der aggressive Anti-Abtreibungs-Aktivismus von rechtsextremer und populistischer Seite. 2012 gründete sich das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung aus Dutzenden Gruppen, Verbänden und Netzwerken als Protest gegen den sogenannten »Marsch für das Leben«, den Anti-Abtreibungs-Gruppen einmal im Jahr veranstalten. In aller Welt führen rechtspopulistische Bewegungen einen regelrechten Feldzug mit dem Ziel, Abtreibungsverbote zu verschärfen. In Deutschland starteten sie seit 2005 gezielte, massenhafte Anzeigen nach § 219a StGB gegen Ärzt*innen, die auf ihrer Homepage über Abtreibungen informieren. Dass die Gießener Ärztin Kristina Hänel ihre Verurteilung nicht akzeptierte, sondern die Auseinandersetzung weiterführte und im Februar 2021 schließlich Verfassungsbeschwerde einreichte[3], hat besonders jüngere Frauen aufgerüttelt. Vielen von ihnen war gar nicht bewusst gewesen, wie restriktiv die Gesetzgebung in Deutschland ist.

Aber es geht bei reproduktiver Freiheit um mehr als den Zugang zu sicheren und legalen Abtreibungsmöglichkeiten. Spätestens mit der Corona-Pandemie ist offensichtlich geworden, dass wir eine massive Care-Krise haben, und die Frage der Sorge-Arbeit ist eng mit der des Kinderhabens verknüpft. Seit 2014 gibt es in Deutschland das Netzwerk Care-Revolution, wobei Feminist*innen das Thema aber schon viel länger auf der Agenda haben. Bereits seit den 1980er-Jahren ist eine Fülle an Literatur dazu erschienen. Auch in queeren Zusammenhängen ist das Thema Elternschaft in den Fokus gerückt, da Familien, die nicht dem traditionellen heteronormativen Muster entsprechen, kaum geschützt und rechtlich abgesichert sind. 2019 gründete sich ein Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit[4], das den Fokus auf weitere intersektionale Perspektiven erweitern möchte. Diese neue feministische Aufmerksamkeit für das Kinderkriegen ist auch deshalb überfällig, weil sogenannte ›Väterrechtler‹ seit vielen Jahren daran arbeiten, die Freiheit von Menschen, die Kinder gebären, zu untergraben. Vielerorts sind sie ideologisch, organisatorisch und personell mit rechtspopulistischen, antiliberalen Bewegungen verwoben. Zwar ist im Zuge der Frauenemanzipation die Ehe unter männlicher Vorherrschaft dem Ideal einer gleichberechtigten Lebensgemeinschaft gewichen. Aber die Verfügungsgewalt von Männern über Mütter und Kinder ist unter dem Argument der ›biologischen Vaterschaft‹ fast ungebrochen zurückgekehrt. Unter Hinweis auf die vermeintlich emanzipatorische Behauptung, Väter müssten doch ›gleichberechtigt‹ in die Familienbildung einbezogen werden, hat der männliche Beiträger von Keimzellen heute gegenüber der Schwangeren eine enorme soziale und juristische Machtstellung. Auf die Spitze getrieben geht das sogar so weit, dass – wie im US-Bundesstaat Alabama – selbst Vergewaltigern das Recht zugestanden wird, gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht zu beantragen.[5]

Reproduktive Ethik ist also ein Thema mit vielen Aspekten. Es betrifft Genderdiskurse, Reproduktionstechnologie, Familienrecht, Beziehungsformen und materielle Verhältnisse. Bevölkerungspolitische Maßnahmen haben in aller Regel auch eine rassistische Schlagseite, und sie wirken sich auf arme und reiche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich aus. Dieses Büchlein ist der Versuch, diese unterschiedlichen Aspekte unter einer feministischen und freiheitlichen Perspektive zusammenzuführen. Es schlägt vor, das Schwangerwerdenkönnen als eine unhintergehbare Bedingung des Menschseins anzuerkennen und den Beitrag Schwangerer als gesellschaftliche Kulturarbeit zu betrachten, die alle etwas angeht. Denn es mögen zwar nicht alle Menschen schwanger werden können. Aber ohne die Schwangerschaft einer anderen Person wäre niemand von uns auf dieser Welt.

Bisher gibt es kaum Freiheits- und Gerechtigkeitstheorien, die die reproduktive Ungleichheit der Menschen berücksichtigen, wohl deshalb, weil die abendländische Kulturgeschichte seit der Antike von Menschen ohne Uterus dominiert wird. Sie konstruierten den idealen Menschen als autonomes Individuum, das seinesgleichen in Freiheit und Unabhängigkeit gegenübertritt, eine Illusion, die nur plausibel erscheinen konnte, weil die reproduktive Differenz aus dem Politischen ausgeschlossen und in den Bereich der Natur verwiesen wurde. Dazu dient letztlich auch die Kategorie der ›Frauen‹, die diejenigen Menschen, die schwanger werden können (oder von denen man das aufgrund ihrer Genitalien vermuten kann), in einer eigenen Gruppe zusammenfasst und sie von ›normalen‹ Menschen unterscheidet. In vielen Sprachen ist ›Mann‹ und ›Mensch‹ ja sogar dasselbe Wort. Dass in unserer Ideenwelt die reproduktive Differenz fast unentwirrbar mit Geschlechterdiskursen verwoben ist, macht das Sprechen und Schreiben über diese Themen schwierig. Auf die Unzulänglichkeit der vorhandenen Begriffe werde ich im Lauf des Buches immer wieder zurückkommen. Vorab aber schon dies zur Klärung: Es geht im vorliegenden Bändchen nicht um eine Analyse und Kritik von Genderkategorien, sondern um die Auseinandersetzung mit den politischen und ethischen Implikationen der reproduktiven Differenz. Das ist der Grund, warum ich in diesem Zusammenhang nur von Frauen und Männern spreche, wenn tatsächlich auch historisch entstandene Geschlechterkonzepte gemeint sind und nicht biologische Realitäten. Das mag einige Leser*innen irritieren, ist aber, glaube ich, notwendig. Denn es war gerade ein Merkmal der traditionellen Ordnung, die Angelegenheiten, die mit Fortpflanzung und Schwangerwerdenkönnen zu tun haben, in spezielle ›Frauenräume‹ auszugliedern, so als hätte die Menschheit insgesamt nichts damit zu tun.

In einer Kultur, in der Frauen gleichberechtigt und frei sein sollen, lässt sich das nicht mehr legitimieren. Um eine postpatriarchale symbolische Ordnung zu entwickeln, brauchen wir mehr als nur eine ›Gleichstellung‹ von Frauen und Männern oder die Auflösung binärer Geschlechterkategorien. Vielmehr ist es notwendig, die historisch männlichen Ideen von Freiheit und Gleichheit beziehungsweise das, was darunter verstanden wird, radikal zu hinterfragen. Reproduktive Freiheit lässt sich nicht analog zu den herkömmlichen Freiheits- und Gerechtigkeitskonzepten definieren, sondern sie muss Wege zu einem freiheitlichen Umgang mit der Ungleichheit finden. Der »Schleier des Nichtwissens«, den der Philosoph John Rawls als wichtigen Bestandteil einer Gerechtigkeitstheorie definiert[6] – also die Tatsache, dass beim Ausarbeiten von gesellschaftlichen Regeln im »Urzustand« die Beteiligten nicht wissen, in welcher Position sie sich später einmal befinden werden, und daher bestrebt sind, eine möglichst gerechte Ordnung zu schaffen –, ist in Bezug auf die Reproduktion schlicht nicht gegeben. Menschen mit Penis werden niemals in eine Situation kommen, in der sie ungewollt schwanger sind, und das wissen sie.

Auch das diskursive Ideal der politischen Aushandlung lässt sich in Bezug auf das Schwangerwerdenkönnen nur zum Teil anlegen. Menschen, die gemeinsam Eltern werden wollen, können nicht frei untereinander aushandeln, wer von ihnen schwanger wird, so wie sie es (hoffentlich) beim Einkaufen, Putzen oder Kochen tun. Man muss über einen Uterus verfügen, damit man versuchen kann, schwanger zu werden. Die Art und Weise, wie Menschen sich fortpflanzen, konstituiert menschliche Beziehungsgeflechte nicht auf der Grundlage von Individualität, Unabhängigkeit und Gleichheit, sondern auf der Grundlage von Angewiesenheit, Abhängigkeit und Ungleichheit.[7] Nicht nur, weil Menschen als kleine, vollkommen auf andere angewiesene Wesen das Licht der Welt erblicken. Sondern auch, weil die Biologie uns dabei zu Beziehungshandeln zwingt. Individuen pflanzen sich nicht fort. Wer ein Kind zur Welt bringt, ist auf Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen. Wer keinen Uterus hat, kann nur Elternteil werden über die Beziehung zu einer anderen Person, die ein Kind gebiert. Die Biologie der Reproduktion setzt den politischen Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, materielle Grenzen. Eine Ethik der Reproduktion muss das einkalkulieren und Regeln finden, die den unterschiedlichen und unter Umständen auch gegenläufigen Interessen von Menschen mit und ohne Uterus Rechnung tragen. Kurz: Nach dem Ende der heteronormativen, binären Geschlechterordnung brauchen wir endlich ein Konzept von Freiheit, das auch für Menschen mit Gebärmutter funktioniert.

Narrative und symbolische Ordnung: Natur muss erzählt werden

Die Art und Weise, wie Menschen sich fortpflanzen, ist eine biologische Tatsache. Aber um Fortpflanzung politisch und sozial zu gestalten, bedarf es einer symbolischen Ordnung, innerhalb derer wir uns als sprechende und politische Wesen darüber verständigen. Wie beschreiben, wie erzählen, wie interpretieren wir die Geschichte unserer biologischen Reproduktion? Einfach den Sachverhalt objektiv, sachlich und nüchtern darzustellen, ist schlichtweg unmöglich. Beschreibung und Interpretation der Realität sind untrennbar miteinander vermischt. Das beginnt schon bei den Begriffen. Als ich 2019 meinen Essay Schwangerwerdenkönnen[8] schrieb, war mir zum Beispiel noch nicht bewusst, dass der Begriff ›Sperma‹ für männliches Ejakulat biologisch gesehen falsch ist. ›Sperma‹ ist das griechische Wort für ›Abkömmling, Nachkomme, Spross, Keim, Saatgut‹ – und genau darum handelt es sich beim männlichen Ejakulat nicht. Es enthält keinen Samen, kein Sperma, sondern lediglich Keimzellen (wissenschaftlich: ›Gameten‹), die sich erst noch mit einer anderen, gegengeschlechtlichen Keimzelle vereinigen müssen, damit etwas wachsen kann. Erst dadurch entsteht der Keim für neues menschliches Leben, erst der Embryo ist also ›Sperma‹. Der biologisch zutreffende Begriff für Ejakulat hingegen wäre ›Pollen‹, die laut Wikipedia dazu »dienen, die männlichen Gameten geschützt zu den weiblichen Empfangsorganen zu bringen und so … die Befruchtung zu ermöglichen«.