Requiem für die Schuldlosen - Louis Calaferte - E-Book

Requiem für die Schuldlosen E-Book

Louis Calaferte

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Beschreibung

In der »Zone« aufwachsen, heißt abgebrüht sein von Geburt an. Die Zone, das ist ein Armenghetto im Lyon der dreißiger und vierziger Jahre, in dem die Vogelfreien leben. Im Mittelpunkt dieses Schmelztiegels polnischer, rumänischer, deutscher, italienischer, arabischer, jüdischer Einwanderer stehen die beiden Kneipen (die eine von Feld, die andere von Feltin) und Ledernachts Lumpenladen, in dem sich die ganze Siedlung mit Kleidern voller Wanzen eindeckt. Raufereien sind der beliebteste Zeitvertreib, unter Erwachsenen wie Kindern herrscht fröhliche Promiskuität, Kleinkriminalität ist Ehrensache, Mord und Totschlag geschehen eben, und allenthalben lauert der Wahnsinn. Doch alle träumen auf ihre Weise vom Ausbruch…

In seinem ersten, inzwischen klassischen Roman hat Louis Calaferte seinen Freunden und Gefährten ein trotziges Denkmal gesetzt: ein bei aller Drastik der geschilderten Umstände wehmütiger, ja zarter Abgesang auf die eigene Kindheit. Ein notwendiges Buch, in dem man sich verlieren und an dem man Anstoß nehmen kann; große Literatur von eigenwilliger Schönheit, packend von der ersten bis zur letzten Seite, ein fiebriger Text auf Augenhöhe mit Célines »Reise ans Ende der Nacht« oder Pasolinis »Ragazzi di vita«.

Empfohlen von Georges-Arthur Goldschmidt für die Finnegan's List 2012.

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Seitenzahl: 236

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Louis CalaferteRequiem für die SchuldlosenAus dem Französischen von Dieter Hornigdiaphanes

Inhalt

Requiem für die Schuldlosen

Für den seltenen Menschen: Joseph Kessel

Für Guité … die Einzige

I

Es begann am Arsch der Welt.

Ich meine immer noch Ledernacht zu hören, den alten deutschen Juden, wie er behauptet, Christus sei nicht gekreuzigt, sondern mit Schuhabsätzen zermatscht worden, wodurch jegliche Wiederauferstehung ziemlich unwahrscheinlich werde.

Sobald er betrunken war, rief er von einem Ende der Straße zum anderen, von einem Ende des Viertels zum anderen seine Überzeugung heraus: Seine Stimme brauchte nur eine Oktave oder zwei höher zu steigen, und schon konnte man ihn in allen vier Himmelsrichtungen hören. Genauso aufrichtig wie Christus selber. Aber immer nur, wenn er sich hatte volllaufen lassen, was man seinem blassen, von einem Bart zerfressenen Gesicht sofort ansah.

Im Übrigen war er der dreckigste kleine Jude der ganzen Schöpfung. Ein knausriger Halsabschneider und ein Schlitzohr, ein Heuchler und ein Verleumder und dazu neurotisch und intelligent. Am Ende der Straße hatte er einen Laden mit alten Klamotten, die er im wirren Lauf der Zeit angehäuft, irgendwelchen Elenden abgenommen oder in Auktionshallen zäh und verbissen ersteigert hatte.

Seither hat sich die Gegend völlig verändert, aber sicher ist, dass der alte Ledernacht der erste Kleiderhändler im Umkreis war. Seine Geschäfte gingen glänzend. Er gewährte Rabatt. Es gab keine Konkurrenz. Es war der einzige wirkliche Laden in dieser Weltuntergangssiedlung; Feld und Feltin, die zwei Wirte, hatten einfach nur ihre Baracken umgebaut. Der Jude hatte seinen Laden »Zum guten Geschäft« genannt. Das stand in grünen, tümpelgrünen Lettern auf der Fassade aus morschen Brettern.

Drinnen ging es drunter und drüber.

Niemand konnte sich darin zurechtfinden, nicht einmal Ledernacht.

Was auf den ersten Blick auffiel, das war ein großer, schwarzer unvergoldeter und von Fliegenschiss fleckiger Rahmen, in dem Ledernachts nun verstorbene Frau für alle Ewigkeit erschreckende, ganz weiße, schwabbelige Brüste zur Schau stellte und einen bestialischen, breiten, von Falten durchfurchten Schädel. Dieses Porträt, an das ich mich gut erinnere, verwirrte und ängstigte einen zugleich, ohne dass man sich das erklären konnte. Die schwellenden Brüste von Frau Judith Ledernacht waren so unverschämt lebendig, dass die Jungs bei uns an sich herumfummelten und dabei an sie dachten. Man kam nicht dagegen an. Die Frau selbst haben wir nicht gekannt: Der kleine Jude hatte seinen Laden erst als Witwer aufgemacht, aber er sprach oft über sie. Er konnte gar nicht aufhören. Alle Tage hatte er neue Vertraulichkeiten zu bieten. Der schlaue Fuchs nutzte die Ergriffenheit aus und drehte uns eine Unterhose aus dem Jahr neunzehnhundert zu einem monströsen Preis an. Er besaß die Kunst, alles zu vermischen. Seine Zuneigung zur Verstorbenen und das Geschäft. Es war verblüffend mitanzusehen, wie Ledernacht die Qualität seiner Ware lobte, während über ihm, genau oberhalb der Spitzenwäsche, seine verstorbene Frau in ihrem schwarzen Holzrahmen hing.

Selbstverständlich hat mir meine Mutter bei ihm meine erste lange Hose gekauft. Ich war vierzehn. Ich sah aus wie siebzehn und hatte gerade, entgegen allen Voraussagen, den Volksschulabschluss geschafft.

Aber das ist eine Geschichte unter vielen anderen …

Als unser Lehrer, wir nannten ihn Schieler, weil er schielte, die offiziellen Ergebnisse der Prüfung verkündete und nur mein Name von seiner Stimme – es war die eines mageren Hundes – in die Leere der Stille geworfen wurde, befiel die Kumpels eine weite, eine tiefe und umfassende Verblüffung: Sie versteinerten. Man sah mich mit spöttischen Augen an, mit verächtlichen Augen, mit hasserfüllten Augen. Die Kumpels, die allesamt durchgefallen waren, konnten es nicht fassen. Ich auch nicht. Schieler auch nicht. Ich war der erste Bastard in meinem Viertel, der die Schule mit etwas anderem verlassen würde als mit Läusen und dem Laster der kollektivem Masturbation: seit Menschengedenken.

Schieler trug auf seinem Gesicht die Stigmata des geborenen Schwachkopfs und des schlecht bezahlten Volksschullehrers. Seine Finger zitterten, und das Papier tanzte eine Polka: das Papier, auf dem einzig und allein mein Name stand, hervorgehoben und getrennt von den anderen durch diese schulische Auszeichnung.

Mit Schrecken kam ihm der Gedanke, dass die Kumpels sich rächen würden. Mein Erfolg wirkte unwahrscheinlich, und zwar ganz einfach deshalb, weil ich mich bisher durch keinerlei Anzeichen früher Intelligenz oder erblichen Wahnsinns von den anderen unterschieden hatte. Ich war genauso verdreckt wie die anderen. Genauso verdorben und genauso schlecht gekleidet wie die anderen. Wie sie gehörte ich zu einer verwahrlosten Familie aus dem heruntergekommensten Viertel der Stadt Lyon: der Zone. Diese Schlupfwinkel für Vorbestrafte, Zigeuner und potentielle Mörder gibt es in allen Weltgegenden. Ich war nur ein kleiner Dreckskerl aus dem Barackenviertel, ein angehender Bandit, ein angehender Zuhälter, ein angehender Verschwörer, der auf Schlägereien aus war. Genauso wenig wie die anderen scheute ich vor Blut oder Schmerz zurück. Die brutalen Schauspiele, die sich tagtäglich in unserer Welt abspielten, gingen uns nicht nahe, und als Wieckevitz, der polnische Päderast, mitten auf der Straße von Tardant, einem jungen Koloss von achtzehn Jahren, abgestochen wurde, gingen wir alle mit Vergnügen hin, um seine Leiche zu berühren.

An diesem Tag Anfang Juli, an dem die Prüfung stattgefunden hatte, hatte ich trotzdem besser abgeschnitten als alle anderen. Entsprechend groß war die Überraschung. Ich war selber so überrascht, dass ich glaubte, Schieler habe meinen Namen nur zum Spaß genannt. Aber man musste sich schließlich damit abfinden: Ich hatte bestanden. In einigen Minuten würde mir Lobe, der Schulleiter, das große, gedruckte und illustrierte Dokument überreichen, das mir im Leben dazu dienen würde, meinen Weg zu gehen, erhobenen Hauptes und mit leeren Eingeweiden. Ich war der kleine Kerl aus dem Schandviertel, der in seinem Hirn genug Grips hatte, um der Menschheit alle ihre Zeugnisse abzunehmen.

Unsere Bande war vollzählig da. Schborn, ein blonder, teuflisch muskulöser Junge, stark wie ein Hafenarbeiter, intelligent und grausam. Er führte ein strenges Kommando über die Bande. Er war mein einziger Freund. In der Hochachtung der anderen waren wir beide ebenbürtig. Ich war der einzige, der es eines Tages gewagt hatte, ihn herauszufordern und sich mit ihm über den Asphalt zu wälzen. Dieser denkwürdigen Schlacht, aus der ich beinahe blind hervorgegangen wäre – er hatte fürchterliche Fingernägel –, verdankte ich mein Ansehen als Nummer zwei hinter Schborn. Damals duldeten wir nur eine Macht: die der Muskeln. Wenn wir beispielsweise eine gewisse Achtung für Debrer hatten, dann deshalb, weil er sich den ganzen Tag lang so wüste und so ulkige Beschimpfungen ausdachte, dass Schborn selber darüber lachen musste. Das ist das einzige Zugeständnis, das wir je einem Schwachen gegenüber gemacht haben. Genau wie in der Natur mussten bei uns die Schwachen krepieren und während ihres kurzen Lebens lächerlich gemacht werden.

Ich erinnere mich an Victor Albadi, den epileptischen Sohn einer italienischen Witwe. Der verstorbene Vater, ein vollendeter Säufer, hatte dem Kind einmal das Bein gebrochen und es damit für immer zum Krüppel gemacht. Bei dem armen Unschuldigen war der Verstand genauso verdreht wie das Bein. Beides gebrauchte er nur mühsam. Der Spitzname Totor ergab sich wie von selbst für ihn. Er war einer der Prügelknaben des Viertels. Die Erwachsenen hielten sich genauso wenig zurück wie wir und beschimpften und schlugen ihn bei jeder – übrigens oft hergeholten – Gelegenheit. Man prügelt sich oft bei den Armen. An irgendwem muss man eben seine Wut, seinen Zorn darüber auslassen, dass man auf der Welt ist und auf ihr bleibt. Schläge auszuteilen verpflichtete zu nichts. Welche einzustecken verpflichtete, sie wieder zurückzuzahlen und so weiter. Geschwächt durch seinen körperlichen Defekt und seine erbliche Belastung, konnte Totor Albadi die eingesteckten Schläge nur an eine magere, eigens zu diesem Zweck adoptierte Katze zurückzahlen. Victor Albadi weinte, brüllte, zappelte und blutete unter unseren Hieben. An den Regentagen, an denen wir nichts besseres zu tun hatten, trieben wir ihn in einen verlassenen Winkel, mit Vorliebe auf ein weitläufiges, unbebautes Gelände, die Brache, und ließen an dem armen Kerl unsere erfinderische Grausamkeit aus, der es nicht an Raffinesse mangelte. Wenn ich heute daran zurückdenke, wie sehr wir Albadi und andere leiden ließen, befällt mich das Entsetzen. Ich denke, nichts ist blutgieriger, verdorbener und krimineller auf der Welt als ein Kind.

Von Totor und allen anderen werde ich erzählen. Sie sind mein Leben. Ihnen wendet sich meine Erinnerung zu. Aber im Zusammenhang mit ihm erinnere ich mich an ein recht merkwürdiges Detail: Wir nannten ihn auch Romeo. Ich habe mich später gefragt, woher wohl diese Erinnerung an eine Figur von Shakespeare kam, den keiner von uns kannte, nicht einmal vom Hörensagen. Für uns schwang bei Romeo weder ein Gefühl der Schönheit noch der Verführung mit: Albadi war hässlich. Vorher hatte nie jemand diesen Namen ausgesprochen, doch irgendwann war Romeo plötzlich in aller Munde, als Spitzname für den Bastard einer italienischen Witwe. Offenbar verbreiten sich Meisterwerke über geheimnisvolle Ausdünstungen, bis sie auch noch die Unwissendsten unter allen Unwissenden erreichen.

II

Auf dem Schulhof, der Teer zerging unter der großen Sommerhitze, standen also Schborn, Chapuizat, Meunier, Grogeat, Debrer der Bucklige, der Sohn von Ledernacht, genauso jüdisch wie sein Vater, aber mutiger, Lubresco, ein Rumäne, der sich unter uns verirrt hatte: und dazu ich. Das war die Bande, Schborn als Anführer, ich gleich dahinter als sein Leutnant.

Schieler steckte die Papiere mit den Resultaten in die Tasche seiner Jacke. Er tat alles mit kleinen präzisen Handbewegungen. Der geringsten Handlung verlieh er eine feierliche Bedeutung. So war er. Man hatte Lust, ihn zu ohrfeigen.

Kaum war das Papier verstaut, wurde ich zum Abszess der Bande. Zum Dreckskerl, der im Lauf eines Jahres alle seine Kräfte aufgewendet hatte, um die Schule zu ehren. Ich war verloren. Ich ahnte es. Es wurde spürbar. Die Kumpel standen reglos und sahen mich an, wobei sie sich fragten, wie wohl die unweigerliche Rache ausfallen würde. Ich sah mich schon auf Befehl meines Kumpels Schborn zusammengetreten auf dem Boden liegen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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