Requiem für ein Kind - Joseph Groben - E-Book

Requiem für ein Kind E-Book

Joseph Groben

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Beschreibung

"Erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist", schrieb Karl Marx 1853 nach dem Tod seines einzigen Sohnes Edgar, einem Verlust, den er nie verwinden konnte. Dieser Sammelband dokumentiert, wie über vierzig berühmte Persönlichkeiten, Fürsten, Staatsmänner, Philosophen, Komponisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, einen ähnlich traumatisierenden Schicksalsschlag wie Marx erlitten, der den Rest ihres Lebens überschattete. Wie sie mit ihrem Trauerschmerz umgingen, das gehört zu den verborgenen, aber ergreifendsten Kapiteln der europäischen Kulturgeschichte. Mit Texten zu: Marcus Tullius Cicero, Plutarch, Jan Kochanowski, René Descartes, Ludwig XIV., Peter der Große, Michael Haydn, André-Modeste Grétry, Johann Wolfgang Goethe, Klemens von Metternich, Alessandro Manzoni, Joseph Eichendorff, Friedrich Rückert, Alphonse de Lamartine, Victor Hugo, Hector Berlioz, Robert Schumann, Franz Liszt, Charles Dickens, Giuseppe Verdi, Theodor Storm, Karl Marx, Fjodor Dostojewski, Louis Pasteur, Bedřich Smetana, Franz Joseph I., Antonin Dvořak, Stéphane Mallarmé, Leos Janáček, Sigmund Freud, Gustav Mahler, Arthur Schnitzler, Rabindranath Tagore, Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Walter Gropius, Ernst Jünger, Stefan Andres, Mascha Kaléko, Joe Biden.

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Joseph Groben

Requiem für ein Kind

Trauer und Trost berühmter Eltern

© Dittrich Verlag ist ein Imprintder Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-68-0eISBN 978-3-947373-74-1

Satz: Gaja Busch, Berlin

Cover: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Buch ist dem Andenken der Unzähligen gewidmet, die allzu früh dahingegangen sind und ihre Eltern in tiefer Trauer zurückgelassen haben. Einige davon haben dem Autor nahegestanden, ihr Tod hat ihn betroffen.

Conny A. 1999–2020

Carole B. 1961–1982

Johny B. 1944–1967

Marc E. 1952–1995

Anne G. 1961–1992

Françoise G. 1965–2011

André H. 1943–1961

Viviane H. 1949–1986

Romain K. 1959–1982

Charlotte K.-E. 1956–2009

Pierre L. 1972–2017

Andrée L. 1963–1995

Franck L. 1969–2019

Dany M. 1963–1991

Dominique M. 1955–1992

Fernand M. 1935–1957

Florent M.1976–1997

Roudo M. 1934–1957

Michel S. 1967–1994

Marie-Jeanne S. 1957–1994

Daniel de S. 1946–1969

Frank S. 1948–1997

Laurent V. 1991–1993

Pascal V. 1977–1993

Peggy de W. 1969–2006

Tommy W. 1966

Mariette W.-B. 1948–1995

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Marcus Tullius CiceroEin Tempel für Tullia

Plutarch und TimoxenaTrostschreiben an seine Gattin

Jan und Dorota Kochanowski»Treny für Orszola«

René Descartes und Hijlena Jans»Der größte Schmerz seines Lebens«

Ludwig XIV.»Gott straft mich, ich habe es wohlverdient«

Peter der Große und EudoxiaAlexej – Zarewitsch und Absalom

Michael und Maria Magdalena HaydnDas Requiem in c-Moll

André-Ernest-Modeste und Jeanne-Marie GrétryJenny, Lucile, Antoinette

Johann Wolfgang Goethe»Das Außenbleiben meines Sohnes drückte mich sehr heftig und widerwärtig …«

Klemens und Eleonore von MetternichClementine, Maria Leopoldina, Viktor

Alessandro und Enrichetta Manzoni»Epigrafi« für Giulietta, Cristina, Sofia, Matilde, Filippo und Pietro

Joseph und Luise von Eichendorff»Auf meines Kindes Tod«

Friedrich und Anna Luise Rückert»Eine unsägliche Masse von Todtenliedern …«

Alphonse und Mary-Ann de Lamartine»Gethsemani oder der Tod Julias«

Victor und Adèle HugoDas Drama von Villequier

Hector Berlioz»Es war an mir, an mir zu sterben«

Franz Liszt und Marie d’AgoultBlandine und Daniel, die »geopferten Kinder«

Robert und Clara SchumannKinderszenen ohne Träumerei

Charles und Catherine Dickens»Dora, unser armer kleiner Liebling«

Giuseppe und Margherita VerdiDie ausgelöschte Familie

Theodor Storm»Du, der du ihn liebtest, hast nichts weiter du zu sagen?«

Karl und Jenny Marx»Erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist«

Fjodor und Anna DostojewskiSonja und Aljoscha

Louis und Marie PasteurDie Kindergräber in Arbois

Bedřich und Katharina SmetanaTrio g-Moll oder Trauermusik für Bedriska

Kaiser Franz Joseph und Kaiserin ElisabethDie Tragödie von Mayerling

Antonin und Anna DvořakEin Stabat Mater für Josefa, Ruzena und Otakar

Stéphane und Maria Christina MallarméEin Grabmal für Anatole

Leoš und Zdenka JanáčekEine Oper und eine Elegie für Olga

Sigmund und Martha Freud»Die Ungeheuerlichkeit, daß Kinder vor den Eltern sterben …«

Gustav und Alma MahlerKindertotenlieder – »Du malst den Teufel an die Wand!«

Arthur und Olga Schnitzler»Das Wort Schmerz ist lächerlich geworden«

Rabindranath TagoreMadhurilata, Renuka, Samindranath

Käthe und KollwitzEin Denkmal für Peter

Else Lasker-Schüler»An mein Kind«

Hugo und Gertrud von HofmannsthalEin großes Unglück im Rodauner Haus

Thomas und Katja Mann»Klaus – Dem Todessehnsucht früh im Herzen keimte …«

Alma Mahler und Walter Gropius»Dem Andenken eines Engels«

Ernst und Gretha JüngerErnstel – ein Opfer für den Frieden

Stefan und Dorothee AndresRequiem für Mechthild

Mascha Kaléko und Chemjo VinaverElegie für Steven

Joe BidenNaomi und Beau

Abbildungsverzeichnis mit Quellennachweis

Danksagung

EINLEITUNG

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,die von nichts wissen, wachsen auf und sterben.Hugo von Hofmannsthal

Dass wir alle sterben werden, dass unsere Existenz also nur ein »Da-Sein zum Tode« (Heidegger) ist, das ist die einzige Gewissheit, die das Leben uns beschert. Diese banale Wahrheit wird tagtäglich so tausendfach bestätigt, dass wir ihr kaum noch Beachtung schenken oder sie aber mit allen Mitteln aus unserem Bewusstsein zu verdrängen suchen. Dabei sterben bei weitem nicht alle wie in Deutschland im statistischen Durchschnittsalter von 78,9 Jahren für den Mann und 83,6 Jahren für die Frau (Statistisches Bundesamt, 2020). In Afrika und Asien wird wesentlich jünger gestorben.

Ein alter Spruch besagt, dass jeder Mensch, sobald er geboren ist, schon alt genug zum Sterben ist. Aber der frühzeitige Tod – »mors immatura«, »der unreife Tod«, wie die Römer sagten – wurde immer als besonders schmerzlich empfunden. Indem er die natürliche Ordnung umkehrt, zwingt er die Eltern, ihre eigenen Kinder zu begraben. Nichts ist tragischer als die Unterbrechung der Generationenkette, das Auslöschen der Zukunftsperspektiven.

Dank besserer Gesundheitssysteme, Impfungen, besserer Ernährung und Trinkwasserversorgung geht die weltweite Kindersterblichkeit glücklicherweise konsequent zurück. Laut einer aktuellen Schätzung der Vereinten Nationen (UNICEF, WHO) hat sie sich in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert, d.h. von 12,5 Millionen Kindern unter fünf Jahren (1990) auf 5,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren (2019). Immerhin sterben weltweit täglich noch rund 14.000 Kinder in dieser Altersstufe. Hinter dieser Zahl von Verlusten verbirgt sich ein unvorstellbarer Abgrund menschlicher Tragödien, den der UNICEF-Bericht von 2001 treffend zum Ausdruck gebracht hat: »The true scale of the children injury tragedy should be gauged by its depth and its breadth – by asking not only how many families are affected but also how severely. And in this case the multiplier – the depth of grief and anguish involved in the death of a child – is beyond all measuring.« Der Schmerz über den Verlust eines Kindes übersteigt jegliches Maß.

»Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben« – der unfassbar heimliche Übergang vom ahnungslosen Wachstum zum jähen Sterben kann nicht prägnanter zum Ausdruck kommen als in den bekannten Versen Hugo von Hofmannsthals. Unwissenheit und Unschuld sind die Eigenschaften, die man den Kindern in den meisten Kulturkreisen seit jeher zuschreibt. Sie haben sich nicht gegen göttliche oder menschliche Gesetze verfehlt oder »versündigt« und kehren makellos zum Ursprung zurück. Für die Kindergräber hat die Antike den schönen Spruch gefunden: »Die Erde sei dir leicht!«, da auch die Frühverstorbenen die Erde nicht belastet haben, weder durch ihr Gewicht noch durch ihre Taten.

Niobe beweint ihre Kinder.

Für die überlebenden Eltern indes bricht eine Welt zusammen. Der Mythos der Niobe illustriert es greifbar: Nach dem jähen Tod ihrer Kinder ist die Mutter so untröstlich, dass der Schmerz sie zu Stein erstarren lässt. Der geduldige Hiob akzeptiert den Tod seiner 50 Söhne und Töchter mit dem berühmten Satz: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat es genommen.« Aber Hiob ist nur die paradigmatische Figur eines Lehrgedichts, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Rachel beweint ihre Kinder, König Davids Klagerufe über den Tod des aufrührerischen Sohnes Absalom – »Absalom, Absalom, mein Sohn, o wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!« – hallen durch den Palast und zeigen uns den biblischen Menschen in seinem ganz unheroischen Trauerschmerz. Maria gilt als die »Mater dolorosa«, als die schmerzensreiche Mutter schlechthin. Wie sie unter dem Kreuz steht oder den Leichnam ihres Sohnes auf ihren Knien trägt, das hat die abendländische Kunst zu zahllosen »Stabat mater«- und »Pietà«-Darstellungen inspiriert. Und nicht selten wird auf diese fast archetypischen Situationen unaussprechlichen Leides die Klage des Propheten Jeremias angewandt: »O vos omnes qui tansitis, animadvertite et videte, si quis dolor similis est dolori meo« (»O ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz meinem Schmerze ähnlich ist«). Gerade die Erfahrung des Leides erklärt, warum man Maria seit jeher als Trösterin in allen leidvollen Lagen anruft, warum der Marienkult so tiefe Wurzeln im Volk schlagen konnte.

Die zahlreichen Zeugnisse der Vergangenheit lassen vermuten, dass seit jeher der Verlust eines Kindes als das schlimmste Unglück empfunden wurde, das Eltern widerfahren kann. Das scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Noch einen Schritt weiter geht die französische Psychologin Ginette Raimbault, indem sie behauptet: »Der Schmerz über den Verlust eines Kindes ist in einer Epoche so intensiv wie in der andern.« Vielleicht drängt sich dennoch eine differenziertere Beurteilung auf, die den historischen Umständen Rechnung trägt.

Altertum

In fast allen Gesellschaften des Altertums hat das Kindersterben stumme, aber deutliche Zeugnisse hinterlassen.

Ramses II. (1303–1213 v. Chr.), der bedeutendste der ägyptischen Pharaonen, hat über die Hälfte seiner 110 Kinder begraben müssen. Um das Andenken seiner verstorbenen Söhne zu ehren, genauer »um ihr ewiges Leben zu sichern«, ließ der trauernde Pharao das umfangreichste Mausoleum des »Königstals« erbauen. Die Entdeckung dieses wahrhaften Labyrinths von über 100 Kammern durch Kent Weeks im Jahre 1995 gilt als eine der archäologischen Sensationen des 20. Jahrhunderts. Ramses überlebte zwölf »Kronprinzen«, erst der 13. Dauphin lebte lange genug, um die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Ramses II. hat 67 Jahre lang regiert.

Die archäologischen Untersuchungen der altgriechischen Gräber belegen eine hohe Kindersterblichkeit; die meisten Kinder starben, bevor sie das dritte Lebensjahr vollendet hatten. Die Häufigkeit der Verluste und der Schwangerschaften hat vermutlich eine allzu starke Bindung der Eltern an die Kleinkinder verhindert. Aber die Gräber, die Grabstelen, die Beigaben (Statuetten, Keramiksaugfläschchen, Spielzeug, Puppen) sowie die attischen Inschriften zwischen dem 8. und 6. vorchristlichen Jahrhundert offenbaren teilweise eine tiefere Trauer bei Kindern als bei manchen Erwachsenen. Grundsätzlich war Trauer bei einem Kindertod eine pietätvolle Verpflichtung. Der athenische Redner Aischines (390–314) warf seinem Gegner Demosthenes (384–322) vor, diese Pflicht verletzt zu haben, weil er bereits sieben Tage nach dem Tod seiner Tochter die Trauerkleidung abgelegt hatte. Das galt als ein schlimmer Verstoß gegen eine religiöse Verpflichtung.

Der römische König Numa Pompilius (715–672), dem man die Vorschriften der religiösen Einrichtungen zuschreibt, begrenzte streng die Trauerdauer der Eltern. Gemäß Plutarch (Numa 12,3) soll er sogar die Trauer für ein Kind unter drei Jahren verboten haben. Jenseits dieses Alters durften die Eltern so viele Monate Trauer tragen, wie das Kind dieses Alter überschritten hatte, bei einem Maximum von zehn Monaten. Bis zum Alter von 40 Tagen, also bis zu den ersten Zähnen des Milchgebisses, wurden die Kinder nicht eingeäschert, aber sie wurden in einer Nische in der Hauswand begraben (Plinius nat., 7,72, Juvenal 139–140 »terra clauditur infans«).

Im 1. Jahrhundert vor Christus beruft sich Cicero noch auf Numa Pompilius, wenn er sich in seinen »Tusculanae disputationes« gegen jegliche Trauerkundgebung für ein Kind unter drei Jahren ausspricht. Aber diese stoische Haltung war weder repräsentativ für alle römischen Jahrhunderte noch für alle Eltern, nicht einmal für ihn selbst. Beim Tod seiner einzigen Tochter Tullia fiel er auf durch übermäßige öffentliche Schmerzensäußerungen, die von vielen Zeitgenossen als übertrieben kritisiert wurden.

Kaiser Augustus (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) wurde zutiefst getroffen durch den Tod von vier jungen Männern, die alle als Thronnachfolger galten: zuerst Marcellus (23. v. Chr.), der Sohn seiner Schwester Octavia, dann seine beiden Neffen Lucius Caesar und Caius Caesar, die Söhne seiner einzigen Tochter Julia, die in einem Abstand von zwei Jahren 2 und 4 nach Chr. dahinstarben. Zahlreiche Trauerdenkmäler, die an vielen Orten des Kaiserreichs errichtet wurden, zeugen von einem wahren Gedächtniskult und dass die römischen Städte an der tiefen Trauer des Kaisers Anteil nahmen, u.a. ein Traueraltar in Reims, ein Traueraltar in Trier, die berühmte »Maison carrée« in Nîmes, ein Tempel zu Ehren der beiden Brüder. Anlässlich des Todes von Drusus Nero, dem Schwiegersohn des Kaisers, schrieb Ovid eine lange »Consolatio«, eine Gattung, die auch von Seneca gepflegt wurde. In seiner »Consolatio ad Marciam« erwähnt er auch die Trauerfälle des Augustus, seiner Schwester und seiner Gattin. Die erste fand nur Trost in der Einsamkeit, während Livia ihren Schmerz schließlich überwand und ins gesellschaftliche Leben zurückkehrte.

Kaiser Mark Aurel (161–180) musste den Verlust von acht seiner dreizehn Kinder verschmerzen, die ihm seine Gattin Faustina, die Tochter des Kaisers Antoninus Pius, geboren hatte. Er gab sich die größte Mühe, diese Familientragödien mit stoischer Gelassenheit zu tragen, aber seine Biografen bezeugen, dass er bei jedem Verlust empfindlich getroffen wurde. In seinen philosophischen »Gedanken« versuchte er, sich unerschütterlich zu zeigen, indem er besonders Epiktet zitierte: »Es ist unsinnig, im Winter Feigen auf den Bäumen zu suchen, desgleichen ein Kind zurückzufordern, das geraubt wurde« (XI, 33), oder: »Wenn man ein Kind umarmt, soll man, wie Epiktet sagt, innerlich denken, ›morgen wirst du vielleicht tot sein‹« (XI, 34). Die meisten Kinder starben vor dem Alter von 10 Jahren: Annia Faustina, Gemellus Lucillae, Titus Antoninus, Titus Aurelius, Hadrianus, Domitia Faustina, Titus Fulvus, Marcus Annius. Das Kaiserpaar beweinte alle seine Kinder und setzte ihre Asche im imposanten Mausoleum des Hadrian bei, das später von den Päpsten zur Engelsburg ausgebaut wurde. Ob sie wohl Trost gefunden haben bei der Inschrift, die Kaiser Hadrian selbst verfasst und in der Grabkammer angebracht hatte, einer überraschend zärtlichen Apostrophe an die »Seele«?

ANIMVLA VAGVLA BLANDVLA / HOSPES COMESQVE CORPORIS / QVAE NVNC ABIBIS IN LOCA / PALLIDVLA RIGIDA NVDVLA / NEC VT SOLES DABIS IOCOS

Kleine Seele, schweifende, zärtliche, / Gast und Gefährtin des Leibes / Die du nun entschwinden wirst dahin / Wo es bleich ist, starr und bloß, / Und du nicht wie gewohnt mehr scherzen wirst …

In den Katakomben von Rom und in vielen römischen Städten, u.a. in Trier, dem »zweiten Rom« hat man unzählige Grabinschriften gefunden, die vom tiefen Schmerz der trauernden Eltern Zeugnis ablegen. Die heidnischen Eltern widmeten ihre Denkmäler für die verstorbenen Kinder ihren »Manen«, d.h. ihren Seelen oder guten Geistern, und verwendeten dabei eine stereotypische Formel: DIS MANIBVS POSVERVNT. Mehr als einmal drückten sie ihre Verzweiflung und ihr Unverständnis dadurch aus, dass sie hinzufügten: CONTRA VOTVM oder – INVITI – also »gegen ihren Wunsch«, »ungern, widerwillig«. Natürlich ließ der enge Raum der Marmorplatten nur wenig emotionale Ausdrücke zu. Die Epigraphie ist knapp, »lapidar«. Die Skulpturen, welche manchmal die Epitaphen begleiten, erinnern an liebenswürdige Züge der verstorbenen Kinder; so die Darstellung des Knaben Primulus, der dabei ist, seinen Hund zu streicheln und zu füttern.

Die christlichen Eltern verwendeten eine ganz andere Formel: HIC IACET, HIC QVIESCIT IN PACE (»Hier liegt«, »hier ruht in Frieden«). Außer dem Namen und den sehr genauen Angaben über die Lebensdauer –VIXIT ANNOS/MENSES/ DIES – enthalten die Inschriften oft ganz affektive Adjektive wie DVLCISSIMVS, CARISSIMVS (Süßester, Liebster). Generell wird das Alter des Kindes umso präziser angegeben, je kürzer die Lebensdauer war, als ob man den unschätzbaren Wert eines jeden Tages in dieser kurzen Existenz betonen wollte.

INFANTI DVLCISSIMO DEFVNCTO QVI VIXIT MENSES V DIES XX PATER ET MATER PIISS FECERUNT

Dem süßesten verstorbenen Kind, das 5 Monate und 20 Tage gelebt hat, haben Vater und Mutter aus tiefer Ehrfurcht (dieses Grabmal) errichtet.

Am Ende der Inschrift findet man die Angabe desjenigen, derjenigen, meist der Eltern – PARENTES –, welche die Grabstätte errichtet haben: QVI TITVLVM POSUERUNT. Die christlichen Texte werden oft durch Symbole und Zeichen illustriert, welche einerseits die Unschuld der Kinder und andrerseits ihre Zugehörigkeit zum Christentum betonen: Tauben, das Christus-Monogramm, die apokalyptischen Buchstaben Alpha und Omega. In seinem ersten Brief an die Thessalonicher mahnt der heilige Paulus die Christen, »sich nicht zu betrüben wie die anderen, die keine Hoffnung haben … sich gegenseitig zu trösten« (4,13). Dieser Text wird noch heute oft bei Begräbnissen und Leichendiensten gelesen. Ein Grabstein aus dem 5. Jahrhundert, der in Sion, der »Colline inspirée« von Maurice Barrès gefunden wurde, legt Zeugnis ab von diesem christlichen Glauben an die Auferstehung. Auf das Grab seines Sohnes Nicetius ließ der Vater folgende Inschrift gravieren: CVM CHRISTO IN COELO DEVOTA MENTE RESVRGET (Mit Christus im Himmel wird er nach seinem tiefen Glauben auferstehen).

Das Mittelalter

Das christliche Mittelalter, das von einem unerschütterlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele geprägt war, bot den unglücklichen Eltern sicher mehr Trost und Hilfe an als die heidnischen Zeitalter mit ihrem weitverbreiteten Skeptizismus. In der Praefatio der Seelenmessen wird dies deutlich umschrieben: »ut quos contristat certa moriendi conditio, eosdem et consoletur futurae immortalitatis promissio …« (»Wenn auch das unabänderliche Todeslos uns niederdrückt, so soll die Verheißung künftiger Unsterblichkeit uns Trost spenden«.). Die Gewissheit der Auferstehung und des ewigen Lebens dämpfte den Schmerz des Verlustes. Wenn Kinder starben, wurden ihre Seelen von Engeln ins Paradies getragen, wo sie in der »Hand Gottes« geborgen waren. Die lateinischen Hymnen »In paradisum te deducant angeli« (»Die Engel sollen dich ins Paradies bringen«) und »Justorum animae in manu Dei sunt« (»Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand«) haben sich in den liturgischen Gesängen der Seelenmessen erhalten. In manchen Gegenden werden die Gottesdienste für früh verstorbene Kinder noch als »Engelsmessen« bezeichnet.

Chlotilde, die Gattin des Frankenkönigs Chlodwig, bietet ein erbauliches Beispiel christlicher Ergebenheit. Als ihr erster Sohn Ingomir im Jahre 496 starb, erklärte sie: »Ich danke Gott, dem Allmächtigen und Schöpfer aller Dinge, dass er mich nicht für unwürdig gefunden hat, Mutter eines Sohnes zu sein, der in sein himmlisches Reich aufgenommen wurde. Der Schmerz, den ich über seinen Verlust empfinde, trübt meine Seele nicht. Da er diese Welt im weißen Gewand seiner Unschuld verlassen hat, wird er sich ewig am Anblick Gottes weiden.« Ihre christliche Zuversicht trug nicht wenig dazu bei, dass Chlodwig sich 496 in Reims taufen ließ. Durch dieses Sakrament schwor er dem heidnischen Götzenglauben ab und »eröffnete den Weg für das Heil seiner Seele«.

Die ungetauften Kinder

Andererseits jedoch erwuchs gerade aus der christlichen Glaubenssituation ein besonders schmerzliches Problem bei Totgeburten oder beim Tod ungetaufter Kinder. Da diese Kinder nicht vom Makel der Erbsünde reingewaschen waren, konnten sie, gemäß der offiziellen Lehre der Kirche, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts vom Bischof und Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) formuliert und von der Synode von Karthago 418 verfestigt wurde, der ewigen Seligkeit nicht teilhaftig werden. Sie gelangten in eine Art »Vorhölle« (»Limbus infantium«), in welcher sie von der ewigen Anschauung Gottes ausgeschlossen waren. Deshalb durften sie nicht einmal in »geweihter Erde« begraben werden. Die Kinder wurden meist heimlich nachts außerhalb des Friedhofs beigesetzt. So weinte man weniger über den physischen Verlust der Kinder selbst als über die Gefährdung ihres Seelenheils. Die Eltern fühlten sich schuldig, wenn Kinder ungetauft dahinstarben.

Die Familie van Miniau mit ihren 31 Kindern, die alle im August 1526 starben

Die brisante theologische Diskussion über das Los der ungetauften Kinder zog sich jahrhundertelang bis 2005 hin, als Papst Benedikt XVI. eine Kommission von Theologen einsetzte, die zur Auffassung gelangten, dass »die Seelen nicht getaufter, gestorbener kleiner Kinder direkt ins Paradies kämen« (2007).

Im Mittelalter führte die seelische Not der Eltern zu mehreren Auswegen oder »Ersatzlösungen«, die eher der populären Religiosität als der amtlichen Lehre der Kirche entsprachen. So fand man bei vielen archäologischen Grabungen in unmittelbarer Nähe der mittelalterlichen Kirchen Gräber von Tot- und Frühgeborenen, die man in der einschlägigen Literatur als »Traufkinder / Traufenkinder« bezeichnet. Diese ungetauften Kinder wurden von ihren unglücklichen Eltern oder Angehörigen möglichst nahe an den Kirchenmauern und beim Chor bestattet, in der Hoffnung oder im festen Glauben, dass das Regenwasser, das von der Traufe am Dach der Kirche herunterrann, bei ihnen im Laufe der Jahre die Taufe ersetzen könne. Das immer wieder herabtropfende oder fließende Wasser sollte eine Art »Nottaufe« darstellen.

Noch seltsamer und befremdlicher wirkt heute das hochmittelalterliche und frühneuzeitliche Phänomen der »Auferweckungsheiligtümer« (»sanctuaires à répit«), die sich besonders in Süddeutschland, Frankreich, der Schweiz und Belgien hundertfach entwickelten; eine »markante Erscheinung des christlichen Europas«, »un fait religieux et culturel majeur de l’Europe chrétienne«, wie Jacques Gélis 2006 urteilt. Diese Praxis erscheint zuerst im 12. Jahrhundert. Ab dem 14. Jahrhundert machten sich unzählige Eltern mit ihrem totgeborenen Kind auf den Weg zu einem Marienheiligtum in ihrer Nähe, wo sie den kleinen Leichnam vor einem Marienbild ausstellten in Erwartung eines »Wunders«, das heißt, eines Lebenszeichens. Um den Leichnam herum stellte man Kerzen auf und versuchte auch bisweilen mittels glühender Kohlen das Kind aufzuwärmen. Auf den Mund des Kindes legte man eine leichte Feder. Wenn diese sich bewegte, glaubte man, dass der Atem wieder einsetze, oder wenn die Wangen sich leicht röteten, wurde auch das als Lebenszeichen gedeutet, und das Kind wurde sofort getauft. Nachher verfiel es dann endgültig in den Todesschlaf, und die Eltern begruben es auch oft um das Heiligtum herum.

Bei archäologischen Ausgrabungen in den letzten Jahrzehnten fand man überall Hunderte von Kinderskeletten. Das meistbesuchte Heiligtum der frühen Neuzeit war das Kloster Ursberg in Süddeutschland. Die Zahl der dort getauften totgeborenen Kinder wird auf 24 000 geschätzt. Das Marienheiligtum von Oberbüren in der Westschweiz wurde 1992–1997 von Spezialisten exemplarisch untersucht, und die akribischen Ergebnisse der Ausgrabungen, die 247 Kinderskelette zutage förderten, in einer umfassenden Publikation 2018 zugänglich gemacht.

Ein gut erhaltenes Architektur-Zeugnis der populären Wiedererweckungspraxis stellt das Marienheiligtum im idyllisch gelegenen Wallfahrtsort Avioth in der altluxemburgischen Grafschaft Chiny dar. Auch hier wurde die Muttergottes als »Notre-Dame de Consolation« jahrhundertelang von den unglücklichen Eltern angefleht, ihren Kindern für eine kurze Zeit das Leben wiederzuschenken. Der Glaube an diese wundertätige Vermittlung Marias ließ im 13. und 14. Jahrhundert eine prachtvolle gotische Kirche erstehen, ein wahres Juwel der mittelalterlichen Architektur, mit einer einmaligen »Recevresse«. Hier konnten die dankbaren Eltern ihre Gaben niederlegen, indem sie gewöhnlich das Gewicht des Kindes in Korn oder Wachs aufwogen. Von weit und breit strömte man mehrere Jahrhunderte lang zur »Notre-Dame de la Consolation«. In einem Register wurden alle Wunder schriftlich festgehalten, u.a. vom Chronisten Jean Delhôtel, der zwischen 1625 und 1673 genau 135 »Wunder« gewissenhaft registrierte.

Die letzten »wunderbaren« Nottaufen in Avioth fanden kurz vor der Französischen Revolution statt, bis der aufgeklärte Weihbischof von Trier Johann Nikolaus Hontheim, der als »Febronius« in die Kirchengeschichte eingegangen ist, 1786 die Wallfahrten und die Taufen unter Strafe verbot. Die Haltung der katholischen Kirche zu den Wundertaufen, die für die Heiligtümer immer lukrativ waren, blieb lange Zeit ambivalent. Einige religiöse Orden und der lokale Klerus bedienten sich nur allzu gerne des reichlichen Segens der »Aufschubwunder«. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts, unter Papst Benedikt XVI., änderte sich die offizielle Haltung der katholischen Kirche gegenüber den ungetauften Kindern – und auch gegenüber der seelischen Not der trauernden Eltern. »Ungetaufte Kinder dürfen ins Paradies«, titulierte etwas reißerisch am 22. April 2007 die angesehene deutsche Tageszeitung »Die Welt«.

Die Kindersterblichkeit in früheren Jahrhunderten

In der Sankt-Nikolaus-Kirche in Gent hängt ein seltsames Gemälde: es stellt das Ehepaar Olivier van Miniau und Amelberga Stangen mit ihren 31 Kindern dar. Bei seinem Einzug in die Stadt war Kaiser Karl V. auf den wackeren Handwerker mit seiner ungewöhnlichen Kinderschar aufmerksam geworden und hatte ihm Hilfe bei der Erziehung zugesichert. Bereits einige Monate später, im August 1526, wurden alle 31 Kinder von einer Seuche dahingerafft. Die Eltern folgten ihnen unmittelbar in den Tod. Sicher ein Extremfall von Kinderfreundlichkeit und gehäufter Verlusttragik, aber nicht untypisch für diese Zeit.

Der junge Albrecht Dürer (1471–1528) musste erleben, wie fünfzehn seiner achtzehn Geschwister in niedrigem Alter dahinstarben. Der Stich, den er von seiner ausgemergelten Mutter im Alter von 63 Jahren mit starkem Realismus anfertigte, dokumentiert drastisch die Spuren, welche solch eine Geburtenhäufigkeit in den Gesichtszügen einer Frau hinterließ. Fast zur selben Zeit und am gleichen Ort musste Hans Sachs (1494–1576), der Held der »Meistersinger von Nürnberg« von Richard Wagner, den Verlust aller seiner sieben Kinder beklagen.

Es waren Zeiten, in denen man den Kindertod als eine »normale« Erscheinung hinnahm und sich damit abfand, dass etwa 40% der Kinder in jungen Jahren starben. Noch 1762 stellte Jean-Jacques Rousseau in seinem »Emile« fest: »Von allen Kindern, die geboren werden, erreichen nur die Hälfte das Jugendalter.« Die hohe Kindersterblichkeit wurde meist durch eine entsprechende Geburtenfreudigkeit aufgewogen. Der Verlust wurde in kurzen Abständen ersetzt, alle Kinder, so tröstete man sich, hätte man sowieso nicht ernähren oder erziehen können. Die Nachgeborenen erhielten oft die Namen der Frühverstorbenen, für die Kontinuität des Geschlechts oder des Familienbetriebes war meistens mehrfach gesorgt, »überzählige« Nachkommen fanden ihr Auskommen als Dienstpersonal, als Soldaten oder als Mönche und Nonnen.

Das Unglück wurde durchwegs als eine Prüfung angesehen oder als göttlicher Wille. Zwar gibt es auch Zeugnisse der Auflehnung gegen die unerbittliche Macht des Todes, u.a. das berühmte »Streitgespräch« des Johannes von Tepl, »Der Ackermann aus Böhmen« (1400), aber es endet mit der Unterwerfung unter den Willen Gottes. Dass ein früher Kindertod für die Eltern »unannehmbar«, »empörend« oder »ungeheuerlich« (Sigmund Freud) sei, das kommt in Dokumenten vor dem 19. Jahrhundert selten zum Ausdruck. Zu sehr überwog überall das Gefühl, dass man Gott nur »zurückgebe«, was er »geschenkt« habe. Und entsprechend dämpfte man auch Schmerz und Trauer. Konnten sie nicht als ein vermessenes Richten mit Gott gedeutet werden?

Bach hatte zwanzig Kinder, von denen er elf begraben musste; es ist nicht bekannt, dass er viel Aufhebens von einem solchen Verlust machte. Im Korpus seiner über tausend Werke gibt es keine Kantate, keine Motette, die er dem Andenken eines verstorbenen Kindes gewidmet hätte. Als tiefgläubiger Christ war es für ihn eine fraglose Selbstverständlichkeit, dass »Gottes Zeit die allerbeste Zeit« sei; zudem verblieben ihm noch neun Kinder, von denen vier musikalisch genial begabt waren.

Auch Mozart, von dessen sechs Kindern vier sehr früh wieder starben, nahm diese Verluste anscheinend – oder scheinbar? – gelassen hin. Seine »Prager Sinfonie« schrieb er im Juni 1788 in den Tagen, als seine Tochter Theresia Maria Anna im Sterben lag, man könnte jedoch bestenfalls die lange Moll-Einleitung als eine Spur seiner Trauer deuten. Aber die berühmte 40. Sinfonie in g-Moll KV 550, die genau einen Monat später entstand, wird als »das persönlichste Drama Mozarts« (Massin) angesehen. Der bekannte französische Musikologe weist hin auf den »unbarmherzig strengen« Rhythmus des Allegro-Satzes, auf die »unerbittliche« Verdüsterung im Andante, auf die »Verzweiflungsflut« des Menuetts und das »Angstklima« des Finalsatzes; starke emotionale Kennzeichen, die er als Symptome einer tiefen Depression deutet und die er in Zusammenhang mit dem kürzlichen Tod der Lieblingstochter Theresia Maria Anna bringen möchte.

Goethe begrub vier seiner fünf Kinder, wovon er nie sprach und was in den meisten Biographien nicht einmal beiläufig erwähnt wird, obwohl er sich beim vierten Verlust auf dem Boden wälzte und sich mehrere Wochen einschloss. Nur der Tod seines erwachsenen Sohnes August 1830 in Rom löste eine starke öffentliche Erschütterung aus, die ihn an den Rand des Todes brachte. Der spanische Hofmaler Francisco de Goya (1746–1828) verlor dreiundzwanzig seiner vierundzwanzig Kinder, lediglich sein Sohn Xavier überlebte. Aber das Thema des Kindersterbens taucht nicht auf inmitten der schrecklichen Visionen der 80 »Caprichos« und seine Verluste werden auch von den Biographen kaum erwähnt.

Wichtige politische Folgen hatte die Tragik, dass die englische Königin Anna Stuart ihre sechzehn Kinder vor dem Alter von zehn Jahren verlor. Bei ihrem Tod im Jahr 1714 ging die englische Krone an die Hannover-Dynastie über. Ihr Gegenspieler, Ludwig XIV., hätte 1712/13, nach dem plötzlichen Tod dreier Dauphins, beinahe das Auslöschen der Capetinger-Dynastie erlebt. Wer die Kapuziner-Gruft in Wien besucht, ist betroffen von den vielen Kindersärgen, welche das Grabmal der Kaiserin Maria-Theresia umgeben.

Das Kindersterben war damals ein so allgemein übliches Phänomen, dass es nur selten Anlass zu einer starken Erschütterung bot. Jedenfalls gibt es wenige Künstler, die sich das Recht herausnahmen, ihren persönlichen Schmerz in einem Werk zu verewigen. Aber sie setzten ihr ganzes Talent ein, um Traueroden und -kantaten für ihre verstorbenen Fürsten zu schreiben. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Michael Haydn 1771 sein ergreifendes Requiem in c-Moll für den Verlust seiner einzigen Tochter komponierte; als aber sein Brotherr, der Fürstbischof von Schrattenberg, kurze Zeit später starb, wurde es dem hohen Herrn offiziell gewidmet und gelangte auf diese Weise zur Aufführung.

Der Kindertod als persönliche Tragik

Seitdem die Fortschritte von Hygiene und Medizin dem Kindersterben weitgehend Einhalt geboten haben, ist auch die Geburtenrate entsprechend zurückgegangen. Das Einzelleben hat dadurch eine nie dagewesene Aufwertung erfahren. Seit der Entwicklung der romantischen Gefühlskultur misst man jedem einzelnen Kind eine unverwechselbare und unersetzliche Bedeutung zu. Mit der Abnahme der Sterbefälle wächst zugleich ihre Tragik. Was einst »sors communis« war, ein Schicksal, das man mit fast allen Familien teilte, wird jetzt zum tragischen, schicksalhaften Ausnahmefall, der von den Betroffenen doppelt schmerzlich empfunden wird. »Das Unglück geschah auch mir allein«, klagt Rückert in einem seiner 446 »Kindertotenlieder«. Stefan Andres schreibt: »In den ersten Tagen und Wochen, da kam es mir so vor, als ob noch nie Eltern ein Kind hätten begraben müssen.« Der Verlust kann zum Trauma werden, der den Rest der Existenz überschattet und verdüstert. Jetzt gilt zusehends der berühmte Vers Lamartines: »Ein einziges Wesen fehlt, und alles ist wie ausgestorben.«

Kindergräber von 1581

In der modernen Kleinfamilie spitzt sich die Krise tragisch zu. Der Tod des einzigen Kindes führt zur Identitätskrise und zum Verlust des Lebenssinns. Plötzlich ist alles vorbei. Mit dem Kinde stirbt nicht nur die Zukunft des Kindes, sondern auch gewissermaßen die »Unsterblichkeit« der Eltern, deren Angst vor dem Tod jetzt panisch aufbricht. Häufige Begleiterscheinungen sind Dauerstress, Depressionen, Misstrauen, Hypochondrie, Wirklichkeitsverlust oder Wirklichkeitsflucht (Drogen Alkohol, Spiritismus), höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Unfälle, Selbstmorde.

Sehr oft kommen Schuldgefühle hinzu, Selbstvorwürfe, falsch gehandelt, etwas Wichtiges unterlassen zu haben. Cicero bekennt sein »summa mea culpa«, Grétry verdammt seinen Künstlerehrgeiz, den er für den Verlust seiner drei Töchter verantwortlich macht, Dostojewski macht sich schreckliche Vorwürfe. Mallarme verflucht sein »Blut«, das seinem Sohn den Tod gebracht hat, Tagore klagt sich an wegen der Kinderheiraten. Nicht selten bedauern Eltern lebhaft, dass sie nicht anstelle ihrer Kinder gestorben sind. Schuldzuweisungen an den Ehepartner sind nicht selten, sodass es oft zur Entfremdung oder Trennung der Eltern kommt. Nach dem plötzlichen Tod seiner beiden Söhne – der eine war aus dem Fenster gestürzt – trennte sich Saint-Saëns von seiner Frau. Die Änderung der Wohnung gehört zu den häufigen Abwehrreaktionen der trauernden Eltern. Die Last der Erinnerung an quälende Einzelheiten, die sich in diesen Wänden abgespielt haben, wird auf die Dauer unerträglich und verhindert jeden Abstand zum Verlust. So empfanden es Dickens, Dvorak, Mahler, Metternich, Marx, Verdi und viele andere mehr.

Paradox erscheint, dass auch einzelne Betroffene, wie Victor Hugo und Alma Mahler, die traumatische Leere des Verlustes durch verstärkte sexuelle Kontakte und »erotisch-lüsterne Impulshandlungen mit Zwangscharakter« (G. Raimbault), bewusst oder unbewusst, zu überwinden trachteten.

Die Flucht in die Arbeit gehört zu den typischsten Versuchen, den Alptraum zu bannen. Cicero schuf fast sein ganzes philosophisches Werk nach dem Verlust der Tochter Tullia. Nach dem plötzlichen Tod seines einzigen Sohnes stürzte sich Goethe in sehr anstrengende Studien und vermeinte so, den Schmerz gewaltsam zu unterdrücken. Ein lebensgefährdender Blutsturz war die Folge. Ähnlich reagierte Pasteur nach dem Tod seiner Tochter Cécile. In aufreibender Forschungsarbeit glaubte er, »die einzige Ablenkung von so großen Schmerzen« zu finden.

Nicht selten bewirkt der Tod eines Kindes eine schockartige Reaktion. Hugo von Hofmannsthal starb am Begräbnistag seines Sohnes. Nach dem wechselvollen Überlebenskampf und dem Tod seiner Lieblingstochter verlor Charles Darwin endgültig den religiösen Glauben und entwickelte seine Lehre vom »Struggle for life«. Die Erschütterung über den frühen Tod seiner beiden Kinder Blandine und Daniel trug entscheidend dazu bei, dass Liszt zum »sündigen Büßer« wurde, sich 1865 in Rom zum Abbé weihen ließ und fortan vorwiegend verinnerlichte geistliche Musik schuf. Der Tod des Thronnachfolgers wurde zum »Desaster« für den belgischen König Leopold II., der in einer rastlosen und megalomanen Tätigkeit eine »Kompensation« für seinen Kummer suchte. Die private Kolonisierung des Congo wurde »zum einzig würdigen Memorial für seinen im Alter von neun Jahren verschiedenen Sohn.« (Patrick Roegier)

Für die Frauen bieten sich die Abwehr- und Fluchtstrategien selten im gleichen Ausmaß dar. Da ihre Bindung an das Kind biologisch-emotionaler, fast viszeraler Natur ist, empfinden sie die gewaltsame Trennung auch entsprechend schmerzlicher. »Was dem Vater bis an die Knie geht, geht der Mutter bis ans Herz«, lautet ein altes Sprichwort. Margarete Mitscherlich drückt denselben Sachverhalt in der Sprache unserer Zeit aus: »Mit dem Verlust eines Kindes tragen Mütter … einen Teil ihres Selbst zu Grabe, erleiden einen empfindlichen Wertverlust, der einer seelischen Amputation gleichkommt. Im schlimmsten Fall wird Trauer zur Trauerfalle, zum monotonen Kreisen um die Trauer, zum Gefangensein im totalen Selbstverlust.«

Immerhin, manche Mütter haben versucht, den Schlag aktiv zu bewältigen, nicht nur Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Mascha Kaléko und Else Lasker-Schüler, sondern auch »ungeniale« Ehefrauen wie Dorothee Andres, Anna Dostojewski, Alma Mahler und Luise Rückert haben in ergreifenden Darstellungen ihre Trauerarbeit dokumentiert. Bettina von Brentano wurde nach dem Tod ihres Sohnes Kühnemund, der 1835 bei einem Bad in der Spree umkam, zum »Anwalt der Armen und Unglücklichen, der Unterdrückten und Verfolgten«. Die »Schlüsselerfahrung« des eigenen Leides ließ sie »herzzerreißend … auch das schwere Leid der anderen« mitfühlen (Brief an den König von Preußen, 1846).

Kindergräber

Das »Schengener Kindchen«

Wer die Gräberzeilen eines Friedhofs durchwandert und die Lebensdaten der Epitaphen auch nur flüchtig liest, kann etwas von der Häufigkeit und der Tiefe dieser Familientragödien ahnen. Die Denkmäler sind meist anders, ausdrucksreicher, pathetischer als das schlichte Kreuz oder die glatte Marmorplatte. Sie tragen oft Abbildungen der Begrabenen oder allegorische Szenen, in denen die Engelsflügel ein übliches Attribut sind. Vielfach scheinen sie dem »Andenken eines Engels« gewidmet. Kindergräber werden mit größerer Sorgfalt und Innigkeit gepflegt, niemand besucht häufiger ein Grab als »verwaiste« Eltern. Solange sie leben oder ihre Füße sie tragen, sind sie ängstlich bemüht, um zu verhindern, dass »schon ernstes Moos« die »frühen Gräber« bewächst, wie Klopstock so empfindsam klagt.

In früheren Zeiten wurden die Kinder auch mancherorts an privilegierter Stelle beigesetzt, in geschlossenen oder geweihten Räumen. Unerträglich war für die Eltern die Vorstellung, dass der wehrlose Leichnam ihres Kindes »bösen Geistern« ausgeliefert oder einfach den Unbilden der Jahreszeiten ausgesetzt sei. Die Nähe des Altars und der Heiligenreliquien schenkte Schutz und Geborgenheit. Ein aufschlussreiches Beispiel unter zahlreichen anderen liefert das kleine luxemburgische Moseldorf Schengen, das durch den Vertrag über die Abschaffung der europäischen Grenzkontrollen 1985 zu unverhoffter Berühmtheit gelangte. Während der napoleonischen Zeit rügte der Geistliche in einer Klageschrift den »ordnungswidrigen« Brauch der Schengener, alle Kinder in der Kirche zu begraben, obwohl der Friedhof sich unmittelbar neben der Kirche befand – »… contre le bon ordre tous les enfants furent enterrés dans l’interieur de l’église.« – Der Präfekt des Departements Lacoste verhängte daraufhin ein strenges Verbot, und die Schengener mussten sich fügen, zähneknirschend. Kurze Zeit darauf erwirkten sie die Versetzung des missliebigen Geistlichen. Erhalten geblieben ist ein bedeutsamer Kindergrabstein aus dem Jahr 1616. Die sehr früh verstorbene Anna-Appolonia von Hous wird als kraushaariges Wickelkind dargestellt, umgeben von Familienwappen und geflügelten Engelsköpfen. Seit vielen Generationen umspinnt eine fromme Sage das »Schengener Kindchen«: Sofort nach seiner Geburt habe das Kind sprechen können, es habe seine Eltern angefleht, unverzüglich getauft zu werden und sei bald darauf »in Gott verschieden«.

Heute belegen auf manchen Friedhöfen die Frühverstorbenen eigene Grabfelder. Buntes Spielzeug erinnert an das harmlose Dasein der Kinder, die um das reife Leben betrogen worden sind. Dennoch, in den meisten Fällen künden nur die nackten Zahlen und Lettern der Epitaphen von den außergewöhnlichen Schicksalsschlägen. Sie überlassen es der Vorstellungskraft des Besuchers, sich das unsichtbare und unbekannte Schicksal der Betroffenen, der Toten wie der Trauernden, auszumalen.

Wie ein schöpferischer Mensch von einem Kinderfriedhof berührt und inspiriert werden kann, das bezeugt der französische Komponist Jérémie Rhorer (*1973), der 2005/2008 das Klavier- und Orchester-Werk »Le Cimetière des enfants« (»Der Kinderfriedhof«) geschrieben hat: »Die Idee zum ›Kinderfriedhof‹ ist mir in Venedig am Allerheiligenfest gekommen. Ich begab mich auf die Isola San Michele, auf den Insel-Friedhof, wo Igor Strawinsky ruht. Bei der Rückkehr verirrte ich mich in jenen Teil, der den Kindern gewidmet ist. Ihre Fotos, die auf den Gräbern erstarrt sind, haben mich erschüttert, und ich habe mir die Geschichte dieser geopferten Kinder ausgemalt, ihre Träume, ihre Augen, und ihren vergeblichen wie tragischen Kampf gegen das Schicksal.« (September 2005)

Kunst und Kindertod

Tieferen Einblick in das fremde Leid gewinnen die meisten Menschen heutzutage durch die Kunst, wenn ein Dichter, ein Maler, ein Bildhauer oder ein Musiker seinem persönlichen Schmerz einen öffentlichen Ausdruck verleiht oder das Kindersterben zum Thema wählt. Kein Leser der Buddenbrooks (1900) vergisst das unheimlich jähe Sterben des kleinen Hanno, mit dem Thomas Manns »Verfall einer Familie« abrupt endet; kein Leser des Romans »La peste« (1947) von Albert Camus kann die schreckliche Szene vergessen, als der Arzt Rieux ohnmächtig und empört der Agonie eines Kindes zusehen muss. Das Wiedersehen der Eltern in Athen, am Sterbe- und Todesbett ihrer Tochter Sabeth in Frischs Roman »Homo faber« (1959) ist von aufwühlender Tragik, trotz der unterkühlten Ausdrucksweise des Technikers Walter Faber. Anspruchsvolle Romane erreichen allerdings nur eine Elite von Lesern.

Dass aber auch eine breite Schicht der Bevölkerung für das tragische Thema empfänglich ist und davon unmittelbar ergriffen werden kann, davon zeugt exemplarisch der große Publikumserfolg des Filmes von Nanni Moretti »La stanza del figlio« (2001). »Das Zimmer des Sohnes« ist die Geschichte einer glücklichen Familie, die durch den jähen Verlust des 16-jährigen Sohnes Andrea zutiefst erschüttert wird und verzweifelt nach Trost und neuem Gleichgewicht sucht. Einzelne Szenen, wie die drastische Einsargung des Sohnes, der elementare Schmerzensausbruch des Vaters in der vergitterten Gondel des Lunaparks prägen sich unbarmherzig jedem Gedächtnis ein. Nach dem Urteil der Fachpresse hat der Film »ganz Italien zu Tränen gerührt«; er wurde dreifach mit dem »David de Donatello«, einer italienischen »Oscar« oder »Cäsar«-Variante, ausgezeichnet. Bei ihrer Vorführung auf dem Filmfestival von Cannes, am 17. Mai 2001, hinterließ die Familientragödie bei den Jury-Mitgliedern »Verunsicherung, Verwirrung, Verstörung«. Drei Tage später wurde »La stanza del figlio« mit der »Goldenen Palme« einstimmig – was äußerst selten ist – als bester Film des Festivals preisgekrönt.

Einige der hier dargelegten Fälle haben in jüngster Zeit durch Bühnenwerke das Interesse eines breiten Publikums wieder erregt. So wurden François Husters Schauspiele »Putzi« (1991) und »Mahler« (2000), die den Verlust der Tochter ergreifend thematisieren, mit großem Erfolg in Paris und verschiedenen Provinzstädten aufgeführt. In Wien geriet der Selbstmord von Lili Schnitzler und Franz von Hofmannsthal wieder in die öffentliche Diskussion dank des Salonstücks »Späte Worte« (2000) der österreichischen Autorin Michaela Ronzoni. Andre Link beschwört in seinem Monologdrama »Mein Flügel und ich, wir waren eins« (2001) die tragische Existenz Clara Schumanns, die hin- und hergerissen zwischen ihrer Künstlerkarriere und ihrer Mutterrolle, den Verlust von fünf Kindern beklagen musste. Der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf hat nie aufgehört, die Gemüter zu beschäftigen, wie zahlreiche Darstellungen beweisen, von den populären Sissy-Filmfolgen bis zum Musical »Elisabeth«, in denen die Tragödie von Mayerling den tränenreichen Schwerpunkt bildet.

Viele erschütternde Kunstwerke spiegeln die Tragödien wider, die das Lebensgefühl der betroffenen Künstler beim Schaffensprozess geprägt haben. Die zahlreichen Trauermusiken, Totenmessen, Elegien, Nänien und Lamentos der Musikliteratur sind nicht selten das Ergebnis persönlicher Verluste, Zeugnisse echter Trauer. Michael Haydn, Bedrich Smetana, Franz Liszt, Antonin Dvorak, Leos Janacek, Jan Sibelius und zahlreiche andere Musiker haben ihren verstorbenen Kindern ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Zu den jüngsten Zeugnissen gehören auch das berühmte Lied »Tears in Heaven«, das der britische Songwriter Eric Clapton komponierte, nachdem sein Sohn Conor 1991 in New York aus dem Fenster eines 53. Stockwerks gefallen war, und das »therapeutische« Album »Skeleton Tree«, in dem der australische Musiker Nick Cave den tödlichen Sturz seines 15-Jährigen Sohnes Arthur von einer Klippe bei Brighton beschwört.

Jan Kochanowski, Joseph von Eichendorff, Friedrich Rückert, Stefan Andres, Victor Hugo, Léopold Senghor u.a.m. haben ganze Gedichtzyklen dem Andenken ihrer verstorbenen Kinder gewidmet. Die künstlerische Arbeit, das Ringen um den angemessenen Ausdruck, zwang zu einem gewissen Abstand und half den Schmerz zu dämpfen.

Für manche Künstler wird die »Monumentalisierung« des Gedenkens zu einer Art Lebensaufgabe. Cicero beabsichtigte, dem Andenken seiner Tochter Tullia einen öffentlichen Tempel zu errichten. Klemens von Metternich errichtete in Böhmen ein imposantes Mausoleum für seine früh verstorbenen Töchter Clementine und Marie. Käthe Kollwitz arbeitete fast zwanzig Jahre am Denkmal für ihren Sohn Peter, der 1914 als Freiwilliger in den Krieg gezogen war und zu den ersten Gefallenen zählte.

Wie besonders aus den letzten Beispielen ersichtlich, wird der Begriff »Kind« hier in seinem weiten Sinne aufgefasst. Auch erwachsene Söhne und Töchter bleiben die »Kinder« der Eltern, besonders wenn diese sie überleben. Und der Verlust eines Jugendlichen oder Erwachsenen ist für die Eltern gewiss schmerzlicher als der Tod eines Kleinkindes. Jahrelang haben sie einen festen Platz im Leben und im Herzen der Eltern eingenommen; wenn sie herausgerissen werden, zerbricht ein ganzer Lebensabschnitt voll gemeinsamer Erlebnisse, Erinnerungen und liebgewonnener Gewohnheiten. Der emotionale Verlust einer vertrauten entfalteten Person ist größer als jener einer nur knospenhaften Existenz ohne Individualität. Bei älteren Kindern ist der Tod auch deswegen oft tragischer, weil die Hinterbliebenen damit jegliche Hoffnung auf Nachkommenschaft begraben müssen. In mehr als einem Fall stirbt damit der »Stamm« aus: Hector Berlioz, Modest Grétry, Michael Haydn, Alphonse Lamartine, Giuseppe Verdi, Leopold II., Walter Gropius, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler André Malraux, Romy Schneider u.a.m. starben einsam und »verwaist«.

Trauer ohne Tränen

Nicht allen ist es gegeben, ihre Trauer so elementar zu äußern wie Dostojewski oder Hugo. Manche tragen stumm an ihrem Leid, erstarren seelisch und verlieren den Kontakt zur Umwelt. Bei anderen weiß man nicht, ob das Schweigen echte Gefühlsscheu, Stoizismus oder Gefühlskälte ist. Der sonst so mitteilsame Michel de Montaigne verlor wenig Worte über den Tod seiner fünf Töchter, vermutlich weil es »nur« Mädchen waren, und schickte seiner Frau den Trostbrief des Plutarch.

Theodor Fontane schrieb nach dem Tode seines Sohnes: »Der Dritte, seines Todes froh / Liegt auf dem weiten Teltow-Plateau.« Dass der befremdliche Ausdruck nicht nur »des Reimes willen« zustande kam, belegt eine Tagebuchnotiz, die von geradezu bestürzender Unberührtheit des Gefühls zu zeugen scheint: »… Am Freitag schien es etwas besser, dann kam eine furchtbare Nacht (Mete pflegte ihn von Dienstag an) und am Sonnabend früh um 9 Uhr starb er. Als ich eintrat, war er eben tot. Das Begräbnis war herrlich, 4 Uhr Nachmittag, schönster Herbsttag, Exzellenzen und Generäle in Fülle. Kränze über Kränze, und die Gardeschützen gaben die drei Salven, die ihm als ›alten Krieger‹ zukamen. Er liegt nun auf dem Lichterfelder Kirchhof, einem umzäunten Stück Ackerland, und ich wünschte mir die gleiche Stelle …« Bei Effi Briests Tod offenbarte er eine ganz andere Wärme des Gefühls. Ob seine Romanfiguren ihm näher gestanden haben als der eigene Sohn oder ob der altersweise Schriftsteller seine Resignation hinter äußeren Fakten verbirgt oder neutralisiert, wer wagte es, darüber ein Urteil zu fällen?

Nach dem Tod seines einzigen Kindes und seiner Frau schrieb Lessing recht philosophisch und geistreich: »Die Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand! Soviel Verstand! – Soviel Verstand! … Glauben Sie nicht, dass die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. War es nicht Verstand, dass man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen musste? Dass er so bald Unrat merkte? War es nicht Verstand, dass er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? Freilich zerrt mir der Ruschelkopf auch die Mutter mit fort.« Wenn er dann noch hinzufügt: »Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen«, so verstehen wir, dass hier jemand in seinem Tiefsten getroffen ist, dass er aber seinen Schmerz heroisch-männlich niederkämpft. Nicht bei jedermann haben Tränen eine heilsame Wirkung.

Rabindranath Tagore zeigte äußerlich keine Trauer beim Verlust seiner drei Kinder, weil er sich schämte, vor aller Augen seinen Schmerz »zu erniedrigen«.

Igor Strawinsky verlor 1938 seine fast 30-jährige Tochter Ludmilla, deren Tragödie er hautnah am Krankenbett miterlebt hatte. Aber in seinem Konzert »Dumbarton Oaks«, das er gerade damals komponierte, findet sich keine Spur einer Trauerarbeit. Beim Tode bedeutender Persönlichkeiten schrieb er jedoch eine beachtliche Reihe von Elegien, von Rimsky-Korsakov bis Kennedy.

Thomas Mann ging 1948 sofort nach dem Freitod seines Sohnes Klaus zur »Tagesordnung« über und sagte keinen einzigen öffentlichen Auftritt ab. Offensichtlich wollte er sich nicht die Blöße geben, einem Fremden Einblick in sein innerstes Gefühlsleben zu gewähren. Die Trauer blieb seine Privatsphäre. Ihm war deutlich bewusst, was Platen so scharf und pessimistisch formuliert hat:

»Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,

Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts!«

André Malraux verlor am 23. Mai 1961 bei einem Verkehrsunfall seine beiden einzigen Söhne Gauthier und Vincent. Wenige Tage darauf nahm er an einem offiziellen Empfang bei de Gaulle teil und führte als Kulturminister den amerikanischen Präsidenten Kennedy durch die Prunkräume von Versailles, ohne ein einziges Wort über seinen Verlust zu verlieren.

Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auch ein prominentes Gegenbeispiel anführen: Joe Biden, der 46. Präsident der Vereinigten Staaten, kam immer wieder auf seine persönlichen Verluste zu sprechen, auf den frühen Tod seiner Frau und seiner Tochter, besonders auf den Tod seines erfolgreichen Sohnes Joseph Robinette Beau, der am 30. Mai 2015 an einem Hirntumor gestorben ist. Am Vorabend seiner Vereidigung, am 19. Januar 2021, würdigte er dessen Verdienste und fügte hinzu: »I only have one regret. Beau is not here. Because we should be introducing him as president.« Nur allzu gerne hätte er seinem Sohn die Präsidentschaft überlassen.

Die Gräfin von Nassau-Saarbrücken mit ihren drei Kindern.

Allerdings, in einer Gesellschaft, deren Wertmesser nur Glück, Schönheit und Erfolg gelten lassen, ist Trauer eine höchst unwillkommene Erscheinung. Ihre äußeren Zeichen werden als Störfaktor und Zumutung empfunden und müssen tunlichst in die Unsichtbarkeit verbannt werden. Wer dennoch Trauer bekundet, begibt sich ins Abseits der Isolation. Bei einem Großteil der Bevölkerung scheint die Fähigkeit zu trauern oder mitzuleiden völlig abhandengekommen zu sein. Für sie ist bereits der obligate alljährliche Friedhofsbesuch zu Allerseelen oder zum Totentag eine Belastung und ein leeres Ritual. Wie sollten sie echten Anteil am Schmerz anderer, fremder Menschen nehmen? Die Trauer gehört zu jenen einsamen Grenzerfahrungen, die man nur versteht, wenn man sie selbst durchleben muss.

Das Verhältnis des modernen Menschen zum Tod, auch wenn das Todesthema durch die grausigen Berichte des Bildschirms »enttabuisiert« scheint, bleibt höchst ambivalent, und meistens geradezu unaufrichtig. Jeder ist bereit einzusehen, dass der Tod der natürliche und unabwendbare Ausgang des Lebens ist. Dennoch versuchen alle, wie Freud scharfsinnig entlarvend formuliert, den Tod »totzuschweigen, denn im Unbewussten ist jeder von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915).

Kleine Anthologie der trauernden Eltern

Die vorliegende Sammlung versucht, eine Reihe von authentischen Einzelschicksalen anhand von Dokumenten, seien es Tagebücher, Briefe, Gedichte, Romankapitel, Bildwerke oder musikalische Kompositionen, vorzustellen, die aus Anlass solch eines Verlustes entstanden sind. Es sind Berichte ohne Ausschmückung oder Wehleidigkeit, ohne psychologisierende Zergliederung oder Besserwisserei, rein faktographische Darstellungen, die für sich sprechen sollen. Jeder der chronologisch geordneten Artikel möchte gleichzeitig, obwohl er hauptsächlich auf den Verlust des Kindes und den Trauerprozess zentriert ist, auch ein knappes Lebensbild des Betroffenen vermitteln. Die Darstellung greift etwas weiter aus bei Persönlichkeiten, die zwar berühmt sind, deren Biographie aber beim Leser nicht ohne weiteres als bekannt vorausgesetzt werden kann.

Kinderfriedhof auf dem Berg Takao (Japan).

Die Auswahl der Beispiele, die auf einer breiten Recherche beruht, wurde aus verschiedenen Epochen und Ländern des abendländischen Kulturkreises – Tagore ist eine Ausnahme – mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert getroffen. Alle diese Fälle erschütterten das Leben der Eltern – Hofmannsthal starb zwei Tage nach dem Freitod seines Ältesten, Kaiserin Elisabeth trug Trauerkleidung bis ans Ende ihres Lebens – und wurden Anlass zu einer langen »Trauerarbeit«, ob die Trauernden nun tiefgläubige Christen waren wie Andres, Eichendorff und Rückert, oder überzeugte Atheisten wie Marx und Freud. In solch tragischen Situationen ist auch der Unterschied zwischen einem Sonnenkönig und einem Revolutionär nicht gewaltig; wenn die Axt an die Wurzeln gelegt wird, erweist sich fast jedes Vaterherz als weich und verwundbar.

Die sprachliche Vielfalt der Texte hat zur Folge, dass alle nichtdeutschen Texte in Übersetzungen aufgenommen wurden. Um dennoch einen Hauch des Originals zu vermitteln, schien es angebracht, auch eine Reihe von Kern-Zitaten in der Originalsprache einzustreuen (mit Übersetzung oder Umschreibung). Zudem bedient sich der Trauernde meist nur des schlichten Grundwortschatzes, weithergeholte Ausdrücke und Metaphern sind dem Gegenstand wenig angemessen.

Eine besondere Aussagekraft kommt dem Bildmaterial zu. Wer z.B. das große Familienportrait A. Manzonis mit seinen Kindern sieht, von denen sieben ihm im Tode vorausgingen, ermisst mit einem Blick das tragische Familienleben des gefeierten Dichters; die Aufzeichnung der »letzten Worte« Olga Janaceks, deren »Sprechmelodien« teilweise in die Oper »Jenufa« eingeflossen sind, vergegenwärtigt fast unerträglich grell die Agonie des Mädchens und die Verzweiflung des Vaters.

Vielleicht hilft es Eltern, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben, zu erkennen, wie sich andere Menschen, sogenannte »berühmte« Menschen, ihre Schicksalsgenossen in der »Brüderschaft der vom Schmerze Gezeichneten« (Schweitzer), zu einem Ausdruck durchrangen, oft wieder neuen Halt gewannen oder sich wenigstens mit ihrem Leid abfanden. Für den verschonten oder »ungeprüften« Leser können diese Artikel ein Anlass sein, ein besseres Verständnis für die Lage und das vielleicht andersartige Benehmen der trauernden Eltern zu finden, ein Benehmen, das man ihnen leicht übel nimmt: ihre Scheu, ihr Schweigen, ihre latente Schwermut, ihr unfrohes Lachen, ihr geringes Interesse am Treiben der Welt, am Jahrmarkt der Eitelkeiten. Der neuerdings gebrauchte Ausdruck von »verwaisten Eltern« umschreibt wohl am nächsten, in Ermangelung einer adäquaten sprachlichen Bezeichnung, ihre seelische Verfassung. Das Buch möchte auch Brücken schlagen zwischen den zwei Welten, über den Abgrund hinweg, der die glücklichen Eltern von den einst auch glücklichen, aber jetzt trauernden Eltern trennt.

Paul Badde: Ungetaufte Kinder dürfen ins Paradies. 22.4.2007. https://www.welt.de/politik/ausland/article827376/Ungetaufte-Kinder-duerfen-ins-Paradies.html (Zugriff: 8.7.2021).

Ninja Charbonneau: Kindersterblichkeit: Warum sterben eigentlich Kinder?. 18.9.2020. https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/kindersterblichkeit-weltweit-warumsterben-kinder/199492 (Zugriff: 8.7.2021).

Jean Delhôtel: Avioth. Bref recueil de l’état de l’églisede Notre-Dame d’Avioth (1668). Colmar 1981.

Peter Eggenberger, Susi Ulrich Bochsler, Kathrin Utz Tremp et al.: Das mittelalterliche Marienheiligtum Oberbüren. Chilchmatt. Hefte zur Archäologie im Kanton Bern 4. 2018.

Sigmund Freund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915). Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Hugo Heller. Wien 1915.

Martin Heidegger: Le Dasein Etre-pour-la-mort et angoisse. Gallimard. Paris 1986.

Jean et Brigitte Massin: Wolfgang Amadeus Mozart. Librairie Fayard. Paris 1970.

Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper. München 2007.

Ginette Raimbault: Lorsque l’enfant disparaît. O. Jacob. Paris 2011.

Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 1950 bis 2060. Juli 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/273406/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-bei-geburt--in-deutschland-nach-geschlecht/ (Zugriff: 8.7.2021).

UNICEF: Rapport Innocenti. Firenze 2011.

MARCUS TULLIUS CICERO

EIN TEMPEL FÜR TULLIA

Tullia war tot, vor einem Jahr gestorben,zum unbeschreiblichen Schmerz des Vaters,dem sie das Liebste auf Erden gewesen war.Max Brod. Armer Cicero, 1955

Marcus Tullius Cicero ist der berühmteste Redner, den das alte Rom hervorgebracht hat. Sein Aufstieg war das Produkt von Talent, Tüchtigkeit und Ehrgeiz. Als »homo novus«, als Aufsteiger oder Emporkömmling, der am 3. Januar 106 v. Chr. in einer bescheidenen Familie in Arpinum geboren wurde, gelang es ihm, die höchsten Ämter im Staat einzunehmen. Besonders stolz war er darauf, dass er alle Ämter zum frühestmöglichen Zeitpunkt (»suo anno«) bekleidete. Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte er als Konsul, im Jahre 63 v. Chr., indem er die Verschwörung des Catilina aufdeckte und die Staatsfeinde mit großer Festigkeit unschädlich machte. Mit naiver Eitelkeit feierte der »Vater des Vaterlandes« seine Rettungstat in dem Gedicht »De consulatu«, worin er Rom dafür glücklich pries, dass es dank seines Konsulats wiedergeboren wurde: »O fortunatam natam me consule Romam!«

Dank der fast 1000 überlieferten Briefe, die er an seine Freunde schrieb – Ciceros Korrespondenz ist die umfangreichste und kunstvollste der lateinischen Literatur –, ist das Privatleben Ciceros ziemlich gut bekannt, mit Ausnahme seiner frühen Jahre, als er sich einen Namen als Gerichtsredner machte, Terentia, eine Frau aus altem und reichem Adelsgeschlecht heiratete und mit ihrer Mitgift einige Landgüter und Villen erwarb.

Tulliola deliciae nostrae

Die Forschung nimmt heute an, dass er Terentia im Jahre 77 heiratete und seine einzige Tochter Tullia am 5. August 76 geboren wurde. Cicero berichtete voller Stolz an seinen Freund Atticus, dass Tullia sehr aufgeweckt sei und schon mit fünf Jahren juristische Fachausdrücke wie »Sponsor« verwende. Alle Zeugnisse belegen, dass er diese Tochter unendlich liebte (»Tulliola deliciae nostrae« – die kleine Tullia ist unsere Freude«, schreibt er an Atticus, sie ist das »Licht seines Daseins«, die »Vielgeliebte«, und »Allersüßeste« – »suavissima«), Marion Giebel nennt die »väterliche Liebe zu Tullia eine Beziehung, die an Innigkeit in der Antike ohne Beispiel ist.« Cicero war narzisstisch in sie vernarrt, da er in ihr sein Ebenbild zu erkennen glaubte. Mit Entzücken entdeckte er bei dem »Töchterchen« dieselbe Intelligenz, dieselben Gesichtszüge, dieselbe Stimme, dasselbe Wesen. (»Quid quod … desidero filiam? … effigiem oris, sermonis, animi mei …«, berichtet er an den Bruder Quintus.) Wenn sie erkrankte, litt er Qualen (»excruciat me valetudo Tulliae nostrae«). Als sie acht Jahre alt war, verlobte er sie mit Calpurnius Piso. (»Tulliolam Pisoni despondimus«, ad Att. 1,3). Die Heirat fand fünf Jahre später statt, in einem Alter, das in Rom nicht unüblich war. Als Piso nach wenigen Jahren starb, litt Tullia sehr unter diesem Verlust. Nach dem Willen ihres Vaters heiratete sie ein Jahr später Furius Crassipes, der dem hohen Adel angehörte und über großen Reichtum verfügte. Cicero schätzte vor allem die ausgedehnten Gärten seines Schwiegersohnes und empfing dort seine Gäste. Diese zweite Ehe, die sich als wenig glücklich erwies, wurde nach zwei oder drei Jahren durch eine Scheidung wieder gelöst.

Die Gewissensbisse eines Vaters – »Summa culpa mea«

Da Cicero zu dem Zeitpunkt die Provinz Cilicien verwaltete, war es ihm nicht möglich, sofort persönlich nach einem neuen Mann für seine Tochter Ausschau zu halten. Er beauftragte mehrere Vertraute mit dieser Angelegenheit, die ihm sehr am Herzen lag (»gratissimum … quo nihil carius«). Aus politischem Opportunismus schlug einer von ihnen einen zehn Jahre jüngeren Mann vor, P. Cornelius Dolabella, der einen ziemlich üblen Ruf als Draufgänger und Lebemann genoss, aber erklärter Parteigänger Cäsars war. Zweimal schon hatte Cicero den dreisten jungen Mann verteidigt und eine Verurteilung abwenden können. Diese dritte Verbindung war von Anfang an wenig glückverheißend für Tullia, aber im Augenblick politisch vorteilhaft. Nach einigem Widerstreben fügte sich Cicero und fand schließlich sogar Gefallen an seinem neuen Schwiegersohn (»gener suavis est mihi, Tulliae, Terentiae …«). Als der Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Cäsar ausbrach, versuchten beide Parteien den angesehenen Redner, der eine moralische Autorität darstellte, für sich zu gewinnen.

Das Kind, das Tullia am 17. Mai 49 zur Welt brachte, war eine Frühgeburt, die nicht überlebte. Bald darauf suchte Tullia Zuflucht bei ihrem Vater und beklagte sich über das Benehmen Dolabellas, der sich als Trinker und Schürzenjäger erwies und die Mitgift seiner Frau mit einer Geliebten verschwendete. Im Herbst 46 kam es zur endgültigen Trennung, obwohl Tullia ein zweites Kind erwartete. Cicero fühlte sich schuldig am Unglück seiner Tochter, die jetzt zum dritten Mal, ohne irgendwelches persönliches Verfehlen, eine schreckliche Enttäuschung erlebte (»id-que accidere nullo ipsius Tulliae delicto, summa culpa mea«, bekennt er Atticus XI, 17). Als Vater hatte er versagt, er hätte diese Ehe verhindern oder wenigstens das Leiden Tullias durch eine rasche Trennung verkürzen müssen. Er machte sich bittere Vorwürfe, dass er so blind war (»caeci fuimus«, ad Att., XI, 25). Dieses Kind, das ihm teurer als das eigene Leben war (»Tulliola, quae nobis nostra vita dulcior est«, Ad fam. XIV, 7), war trotz seiner höchsten Tugendhaftigkeit und seiner Güte durch den Fehler des Vaters (»nostra neglegentia«) in ein Unglück geraten, das es keineswegs verdient hatte.

Mittlerweile war auch in Ciceros eigener Ehe eine Krise ausgebrochen, die damit endete, dass er sich nach rund 30 Jahren von Terentia trennte. Diese heiratete daraufhin den Historiker Sallust, während Cicero sein junges Mündel Publilia ehelichte, zum nicht geringen Befremden seiner Umgebung. Ob ihre »Jugendschönheit«, wie Plutarch schreibt, oder ihre Wohlhabenheit den Ausschlag beim verschuldeten Cicero gaben, ist unklar geblieben. Max Brod hat dieser »Spätliebe« des berühmten Redners den Roman »Armer Cicero« (1955) gewidmet.

Der Tod in Tusculum

Ende Januar 45 schenkte Tullia einem Jungen, Lentulus, das Leben. Cicero brach mit seiner Tochter und seiner jungen Frau nach seinem Landsitz Tusculum auf, in der Hoffnung, dass die gesunde Luft der Albaner Berge die geschwächte Tochter schneller auf die Beine bringe. Wenige Wochen später, Mitte Februar 45, starb Tullia, ohne Anzeichen einer Erkrankung, vor Kummer und Entkräftung. Sie war 31 Jahre alt. Cicero war zutiefst erschüttert über diesen herben Verlust (»fortunae gravissimo perculsus vulnere« Acad, post 1,3). An Sulpicius Rufus schrieb er, dass dieser Schicksalsschlag ihn um sein ganzes Glück gebracht habe. »Es ist aus mit mir … nachdem ich das Einzige, was mich noch gehalten hat, verloren habe«, bekannte er Atticus. Seit vielen Jahren war Tullia seine enge Vertraute gewesen. Die üblen Verleumdungen seiner Widersacher gingen sogar so weit, diese sehr innige Vater-Tochter-Beziehung als inzestuös hinzustellen. Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen in der Politik hatte er stets bei Tullia einen Rückhalt gefunden, weit mehr als bei seiner Frau. Die Gespräche mit ihr hatten ihn immer wieder aufgerichtet und getröstet. Sofort nach Tullias Tod schickte er Publilia nach Rom zurück. Er wollte sie nicht mehr sehen, da sie auf Tullia eifersüchtig gewesen war und ihr jetzt nicht aufrichtig nachtrauerte.

Cicero selbst verließ fluchtartig Tusculum, das ihm unerträglich geworden war, und fand Zuflucht bei Atticus. Er suchte Trost in dessen Bibliothek, indem er sämtliche Werke über das Thema des Trauerschmerzes durchlas. »Auf diese Weise bleibt meine Trauer innerhalb der Grenzen, welche die Philosophen vorschreiben. Ich habe nicht nur alles gelesen, was sie zu diesem Thema geschrieben haben, was an sich schon Mut erfordert, sondern ich habe es in mein Werk übertragen …« Da er möglichst jeden Kontakt mit Besuchern meiden wollte, zog er sich schließlich auf ein Landgut zurück, das er in Astura, am Meer, gekauft hatte. Dort gab es einen dichten undurchdringlichen Wald, in dem er sich den ganzen Tag aufhielt, um zu lesen, zu meditieren und zu schreiben. In mehreren Briefen an Atticus teilte er seine Absicht mit, eine »consolatio«, eine Trostschrift, »an sich selbst« zu verfassen, um seinen Schmerz zu lindern (»librum de minuendo luctu«), »Ganze Tage schreibe ich, nicht damit ich dadurch etwas gewinne, doch es lenkt mich eine Weile ab. Freilich nicht genug – der Schmerz ist übermächtig – aber ich erhole mich doch dabei und bin nach Kräften bemüht, wenn nicht den Geist, so doch meine Miene so weit wie möglich in Fassung zu bringen. Wenn ich das tue, komme ich mir bisweilen vor, als beginge ich ein Unrecht; bisweilen glaube ich auch wieder, es sei unrecht, wenn ich es nicht tue.«

Die »consolatio«, die er »mitten in der Trauer und im Schmerz« verfasste, ist verschollen, nur einige Fragmente davon sind überliefert worden, u.a. vom hl. Hieronymus. Aber das große philosophische Werk der »Tusculanae disputationes«, das im August jenes Jahres entstand und verwandte Themen behandelt, ermöglicht es, den Inhalt dieser Trostschrift zu rekonstruieren, umso mehr als Cicero sich auf einige Autoren beruft, deren Ideen zum philosophischen Gemeingut des Altertums gehören. Als Einleitung entwickelt Cicero folgende »tröstliche« Hauptideen: Es ist kein Übel, jung zu sterben, das menschliche Dasein ist so traurig, dass es gut ist, daraus zu fliehen. Cicero kritisiert die Argumente gegen das Leid, die von den verschiedenen philosophischen Schulen des Altertums vertreten wurden, von den Peri-Patetikern, den Epikuräern, den Stoikern usw. Stichhaltig und wirksam erscheint ihm nur die Beweisführung Crantors, eines Akademikers, der sich an Platos Lehre anlehnt, vor allem an seine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Seelen wie die Tullias können nicht vergehen, so wenig wie die Seelen großer Menschen der Vergangenheit, wie z.B. die Scipios. Mit dem Tode seiner Tochter wird diese Hypothese nicht bloß eine Hoffnung für ihn, sie wird ihm zur Gewissheit – oder zu einer notwendigen emotionalen Kompensation.

Die Apotheose Tullias

Vielleicht traute Cicero seiner Trostschrift nicht zu, ein zeitüberdauerndes Zeugnis, ein »monumentum aere perennius« zu sein. Jedenfalls unterbreitete er am 11. März seinem Freund Atticus sein Projekt, ein Marmordenkmal für Tullia zu errichten. Dieses Heiligtum sollte kein Grabmal sein, eher eine Kapelle oder ein kleiner Tempel, der von Säulen umgeben wäre (»De fano illo dico, de quo tantum, quantum me amas, velim cogites …« Ad Att, XII, 18). Als Begründung fügte er hinzu: »Vielleicht reißt das meine Wunden wieder auf, aber ich fühle mich wie durch ein Gelübde oder ein Versprechen gebunden.«

Bei den Griechen errichtete man solch ein Gebäude, das sie »heroon« nannten, zu Ehren von Personen, denen man eine göttliche Natur zusprach, z.B. Städtegründern, mythischen Vorfahren usw. Insgesamt sahen manche Philosophen damals in den überlieferten Gottheiten nur Sterbliche, die der Menschheit große Dienste geleistet hatten und dadurch »unsterblich« geworden waren. Sie argumentierten, dass ein Wesen, das mit einer außergewöhnlichen Intelligenz ausgestattet sei, nicht auf ewig verschwinden könne; dieselbe Überlegung war gültig für alle Wesen, die besonders geliebt und verehrt wurden. Die Toten besaßen, in ihren Augen, ein eigenes Leben, eine immaterielle Existenz, die sie halbwegs zwischen ihrem früheren Aufenthalt und jenem der überlieferten Gottheiten führten. So wurde Tullia heroisiert. Dank der Liebe, die sie verdiente und die ihr entgegengebracht wurde, hatte sie eine unvergängliche Daseinsform gewonnen.

Cicero ging unverzüglich an die Verwirklichung seines Planes heran. Bereits im Sommer gedachte er, das Heiligtum zu vollenden (»Cogito … ita tamen, ut hac aestate fanum absolutum sit«, ad Att. 14.3.45). Er beauftragte den Architekten Cluatius mit dem Entwurf, er beabsichtigte, den Bau »mit allen Verzierungen der griechischen und römischen Kunst zu dekorieren.« Atticus wurde beauftragt, wegen der Beschaffung von Marmorsäulen mit Apelles von Chio zu verhandeln.