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Beschreibung

Demografischer Wandel, wachsender Fachkräftemangel und steigender Finanzbedarf der Sozialsysteme sind mehr als ein Stresstest für die Gesellschaft. Zugleich ahnen wir die Grenzen der öffentlichen und privaten Finanzmittel und sorgen uns um Klima, Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eins steht fest: Die Zukunft wird geprägt sein von Herausforderungen, Chancen und Krisen. Für uns als Individuen, für unsere Gesellschaft und unausweichlich auch für unser Gesundheitswesen, das in der Zukunft noch wichtiger sein wird. In diesem Buch kommen Autorinnen und Autoren zu Wort, die sich der Aufgabe verschrieben haben, unser Gesellschafts- und Gesundheitssystem resilienter zu machen gegenüber den Herausforderungen, die vor uns liegen. Statt in Angststarre zu verfallen, gilt es, eine Ära der Resilienz einzuleiten. Die Impulse in diesem Buch schildern, wie wir es schaffen können, soziale Sicherheit und den medizinischen Fortschritt auch unter schwierigen Umständen allen in Deutschland lebenden Menschen zugänglich zu machen. Das Buch richtet sich an alle, die dafür brennen, das deutsche Gesundheitssystem resilienter und damit zukunftsfähiger zu machen. Es macht Mut in einer Zeit der Krisen.

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Seitenzahl: 528

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Jens Baas (Hrsg.)

Resilienz

Für ein krisenfestes Gesundheitssystem

mit Beiträgen von

C. Angern | W. Arps | J. Baas | B. Bertele | K. Blum | H. Brunsmann | D. Chytrek | T. Conrads | D. Dammann | D. Dettling | D. Ehnts | T. Esch | T. Fengler | H. Fock | D. Gilan | C. Greef | I. Hauth | T. Hecke | D. Heger | I. Helmreich | E. von Hirschhausen | C. Hötger D. Hofmann | H.-U. Holtherm | S. Hoyer | L. Junghans | R. Kalisch | T. Karge | K.-R. Korte | A. Krüger | R. Linder | F. Loch | F. Marx | A. Matzinger | J.O. Meissner | S. Mertke | A. Meusch | M. Mielke | R. Müller | Y. Nonnenmacher | D. Paulicke | U. Petschow | J. Prütting | L.M. Roither | F. Roth | L. Schaade | M. Schlobohm | C.M. Schmidt | V. Schmoranzer | M. Schütte | C. Schuldt | S. Schupfner | T. Steimle | D. Surges | U. Teichert | T. Thierhoff | C. Traidl-Hoffmann | A. Treszl | H. Tuckermann | M. Voss | J. Wager | M. Wallert | J.A. Werner | S.E. Windolph-Lübben | B. Zernikow

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Der Herausgeber

Dr. med. Jens Baas

Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK)

Bramfelder Str. 140

22305 Hamburg

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstr. 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-841-0 (eBook: PDF) ISBN 978-3-95466-842-7 (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2023

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Im vorliegenden Werk wird zur allgemeinen Bezeichnung von Personen nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer alle Geschlechter, sofern nicht gesondert angegeben. Sofern Beitragende in ihren Texten gendergerechte Formulierungen wünschen, übernehmen wir diese in den entsprechenden Beiträgen oder Werken.

Die Verfassenden haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website

Projektmanagement: Anja Faulenbach, Berlin

Copy-Editing: Monika Laut-Zimmermann, Berlin

Layout, Satz und Herstellung: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin

E-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Cover: © Adobe Stock: Goinyk

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort

„Wir sind noch einmal davongekommen“ – Das ist nicht nur ein Theaterstück von Thornton Wilder, das die Stimmung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt, es bringt auch die Stimmung im Nach-Corona-Deutschland auf den Punkt. Am liebsten würden wir alle die Zeit der Einschränkungen, der Angst um die eigene Gesundheit sowie die von Angehörigen und Freunden vergessen und so weiter machen wie vor der Pandemie. Achselzuckend haben wir zur Kenntnis genommen, dass der Deutsche Bundestag bereits im Januar 2013 eine Risikoanalyse für den Fall einer Pandemie durch einen Virus Modus-SARS erhalten hat, die zu keinerlei Konsequenzen geführt hat. Aber auch die Klimakrise, die demografischen Probleme und ein Krieg in Europa haben das deutsche Gesundheitssystem bislang nicht ernsthaft dazu bewogen, die eingetretenen Pfade zu verlassen.

Wo bleibt der Impuls, der durch das deutsche Gesundheitssystem gehen sollte, um auf die nächsten Krisen besser vorbereitet zu sein? Braucht es jemanden, der eine Ruckrede hält wie der damalige Bundespräsident Herzog 1997, der gefordert hatte, dass durch Deutschland ein Ruck gehen müsse, um die Zukunft zu gewinnen? 1 – Und wer müsste so eine Rede halten?

Es gibt diese Rede, und sie wurde von Prof. Dr. Ferdinand Gerlach gehalten bei der Vorstellung des Gutachtens des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege, dessen Vorsitzender er im Januar 2023 noch war. Er hat uns bescheinigt, unser Gesundheitswesen sei ein „behäbiges Schönwettersystem“ und gefordert, wir müssten „dringend die Krisenfestigkeit, oder wie man heute gerne sagt: die Resilienz, stärken“.

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes stimmen dieser Einschätzung zu. Sie wollen ihren Beitrag leisten, unser Gesundheitssystem zukunftsfähig und krisenfest, eben resilient zu machen. Ob es um die Resilienz des Einzelnen, von Organisationen Deutschlands oder der Erde insgesamt geht: Es ist mit Händen zu greifen, dass enormer Handlungsbedarf besteht.

Die Konzeption des vorliegenden Buches war schon weit vorangeschritten, als ich davon erfuhr, dass der SVR-Gesundheit ein Gutachten zum Thema Resilienz erarbeitet. Natürlich habe ich überlegt, ob es sinnvoll ist, mit einem eigenen Buchprojekt die Diskussion voranzutreiben, für das ein so hochklassiges Gutachten die Maßstäbe gesetzt haben würde. Wir haben uns dafür entschieden, das Buchprojekt mit leichten Modifikationen weiterzuführen. Und im Sommer 2023 stellt sich die Entscheidung als richtig dar. Denn leider ist der starke Impuls des Gutachtens in der Hektik des Alltags weitestgehend verpufft. Der Ruck in Richtung mehr Resilienz geht nicht durch die Gesundheits-Community. Die Beharrungskultur des Gesundheitssystems droht die Resilienz-Strategie zum Frühstück zu verspeisen – Culture eats Strategy for Breakfast.

Dieses Buch will also drängen und einen Beitrag leisten, die strategische Neuausrichtung in Richtung mehr Resilienz zu befördern. Wie gewohnt im inzwischen fünften von mir herausgegebenen Band wollen wir auch diesmal viele Autorinnen und Autoren zu Wort kommen lassen, die einen neuen Blick auf das Thema bieten, und nicht die „üblichen Verdächtigen“. Das führt erfreulicherweise auch dazu, dass wir hier divergierende Meinungen versammeln, dass nicht einmal Konsens herrscht, was Resilienz eigentlich ist. Als Herausgeber hoffe ich, damit die notwendige Diskussion um ein krisenfesteres Gesundheitssystem voranzutreiben und Ihnen als Leserinnen und Leser neue Impulse zu geben. Es würde mich sehr freuen, wenn von der Lektüre des Buches Initiativen ausgingen, die dazu beitragen, dass die Menschen, die Organisationen und unser Gesundheitssystem als Ganzes die nächsten Krisen gut überstehen. Denn eines ist sicher: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, Schönwettersysteme müssen sich anpassen, wenn sie zukunftsfähig sein wollen. Packen wir es an!

Dr. med. Jens Baas

Im August 2023

1 Bundespräsident Roman Herzog am 26. April 1997 im Berliner Hotel Adlon: Aufbruch ins 21. Jahrhundert.

Inhalt

IResilienz in Zeiten von Umbruch, Krisen und Neuordnung

1Resilienz: Ein Konzept für eine gute Zukunft in einer Zeit der KrisenJens Baas und Dennis Chytrek

2Zukunftskraft ResilienzChristian Schuldt

Interviewmit Florian Roth

3„Schönwettersystem“ in der Klimakrise: Was Resilienz im Gesundheitswesen in Zeiten des Klimawandels bedeutetKerstin Blum und Eckart von Hirschhausen

Exkurs:Trotz Klimakrise: In 10 Schritten zu mehr Gesundheit

Claudia Traidl-Hoffmann

4Resilienz und das transformative PolitikmanagementKarl-Rudolf Korte

5Resilient und innovativ: Organisationen zukunftsfähig machenJens O. Meissner und Harald Tuckermann

6Resilienz in der VUCA-WeltMarkus Schlobohm

Exkurs:Ohne Resilienz kein generationengerechtes Gesundheitswesen

Luise M. Roither und Denny Paulicke

7Ökonomische Resilienz von Sozialsystemen: Neue Antworten auf neue ZeitenUlrich Petschow, Dirk Ehnts und David Hofmann

8Krankenkassen im Spannungsfeld zwischen finanzieller Resilienz und staatlichen EingriffenThomas Thierhoff und Barbara Bertele

9Zukunftssicherheit durch Resilienz: Das Neostabilitäts-ModellVanessa Schmoranzer

IIKrisenfest in die Zukunft der Gesundheit

1Zukunftswende: Warum in der Ära der Omnikrisen Resilienz zum Schlüsselfaktor wirdDaniel Dettling

2Resilienz – ein Leitbegriff für den Umgang mit Katastrophenrisiken?Marc Schütte

Exkurs:Grüne Lungen für eine gesunde Zukunft: Wie blaugrüne Infrastruktur die Gesundheitsvorsorge verbessert

Lisa Junghans und Andreas Matzinger

3Den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland zukunftsfähig und krisenfest gestaltenUte Teichert

Interviewmit Generalstabsarzt Hans-Ulrich Holtherm

4Burned-out? Der lange Weg zu einem resilienten GesundheitssystemDörte Heger und Christoph M. Schmidt

Exkurs:Liefervertragsmanagement bei Arzneimitteln

Tim Steimle und Dan Dammann

5Resilienz des Gesundheitswesens in Anbetracht von Herausforderungen durch InfektionsrisikenMartin Mielke und Lars Schaade

Exkurs:Antibiotikaforschung und Resilienz des Gesundheitssystems

Rolf Müller und Yannic Nonnenmacher

6Digitalisierung von Organisationen als Beitrag zur Verbesserung der ResilienzThomas Fengler

Exkurs:Stärkung der systemischen Resilienz im Gesundheitswesen durch die elektronischen Patientenakte

Sandra Hoyer und Alexander Krüger

7Stärkung der systemischen Resilienz durch Datenarbeit in der Techniker KrankenkasseHenrik Fock, Torsten Hecke, Roland Linder, Sebastian Schupfner und András Treszl

Exkurs:Das Krankenhaus der Zukunft: Smart, Green, Resilient

Jochen A. Werner

8Ein Prozessmanagement, das Resilienz fördert: Paradoxon oder Synergieeffekt?Felicitas Marx, Sara Mertke und Toralf Karge

9Nachhaltig ist auch resilient: Nachhaltigkeitsmanagement für zukunftsfähige OrganisationenSarah Elena Windolph-Lübben und Claudia Greef

Exkurs:Planetare Gesundheit und das deutsche Gesundheitswesen

Maike Voss und Jens Prütting

IIIMental Resilience – persönliche Widerstandskraft in Zeiten der Krise

1Individuelle Resilienz und resiliente KrisenbewältigungDonya Gilan, Raffael Kalisch und Isabella Helmreich

2Individuelle und organisationale Resilienz durch Integratives Betriebliches GesundheitsmanagementTom Conrads und Fabian Loch

3Resilienz von Mitarbeitenden in unsicheren Zeiten fördern: Ursachen und AnsätzeDavid Surges und Wiebke Arps

4Resilienz als Komponente der Mind-Body-MedizinTobias Esch und Cosima Hötger

Interviewmit Marc Wallert

5Resiliente Kinder, gesunde GesellschaftJulia Wager, Henrike Brunsmann und Boris Zernikow

6Innovative Psychotherapie: Weniger Angst, mehr ResilienzChristian Angern und Iris Hauth

Sachwortverzeichnis

I

Resilienz in Zeiten von Umbruch, Krisen und Neuordnung

1

Resilienz: Ein Konzept für eine gute Zukunft in einer Zeit der Krisen

Jens Baas und Dennis Chytrek

1.1Corona als Weckruf und Chance

Das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Aber auch dieses System hat seine Schwächen. Bereits vor der Corona-Pandemie waren viele Mängel bekannt und sind in Wissenschaft und Politik diskutiert worden. Die Pandemie hat die Probleme und Versäumnisse der letzten Jahre nicht nur wie unter einem Brennglas aufgezeigt, sie hat die Verantwortlichen zum Handeln gezwungen. Die Corona-Pandemie wurde so zu einem Stresstest für das gesamte Land – mit dem Gesundheitssystem im Zentrum.

Einige dieser Versäumnisse konnten schnell behoben werden, wie zum Beispiel die telefonische Krankschreibung bei leichten Erkältungssymptomen. Andere haben uns hart getroffen und wahrscheinlich zur Erkrankung vieler Menschen im Gesundheitssystem geführt, wie die unzureichende, beziehungsweise nicht vorhandene, Bevorratung mit Schutzmasken, Handschuhen und Desinfektionsmitteln. Als die Lieferketten durch das globale Ausmaß der Pandemie zusammenbrachen, war eine schnelle Beschaffung „on time“ nicht mehr möglich. An anderen Stellen wurde seitens der Politik übersteuert, zum Beispiel durch die Reisebeschränkungen, die es den Bürgerinnen und Bürger untersagten, in Bundesländer zu reisen, in denen sie nicht ihren Wohnsitz hatten.

Gefahr und Risiko einer Pandemie waren keineswegs unbekannte Größen.

Dabei waren potenzielle Gefahr und Risiko einer Pandemie keine unbekannten Größen, sondern im Gegenteil sogar Teil einer vorangegangenen Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz (Bundestag 2013). Nachdem nun die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beendet wurden und die pandemische Lage in Deutschland beendet ist, stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, das Momentum der Stärkung der Resilienz des Gesundheitswesens beizubehalten. An welchen Stellen kann über die Pandemie hinaus für Fortschritt und Weiterentwicklung gesorgt werden und wo sind etwaige Beharrungskräfte so groß, dass das Rad zurückgedreht zu werden droht? Wo müssen bestehende Schwachstellen angegangen werden, damit das System auf ein erneutes Ereignis besser reagieren kann und resilienter gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen wird? Das gilt für erwartbare Szenarien wie auch für jene, die aus heutiger Sicht eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Der Sachverständigenrat fordert dazu in seinem aktuellen Gutachten, dass das System darauf vorbereitet werden muss, auch in Krisen die hohe Qualität der Versorgung sowie den Schutz von Leben und Gesundheit aufrecht zu erhalten. Dabei soll es in die Lage versetzt werden, verschiedene, ggf. auch mehrere gleichzeitig einwirkende negative Schocks zu bewältigen (SVR 2023, S. 20).

Um gut auf die nächste Krise vorbereitet zu sein und unser System auf mehr Resilienz ausrichten zu können, muss zunächst analysiert werden, was in der Pandemie gut oder schlecht funktioniert hat und an welchen Stellen wir heute sehen, dass es Verbesserungsbedarf gibt. Das gilt vor allem für die Digitalisierung im Gesundheitswesen, die Finanzierung des Systems, die Krankenhauslandschaft sowie die Abhängigkeit von globalen Lieferketten. Zum Schluss ist es ebenso sinnvoll, einen Blick auf die nächste Krise zu werfen, die sich bereits am Horizont abzeichnet und auf die das System ebenfalls nicht besonders gut vorbereitet ist: den globalen Klimawandel.

1.2Digitalisierung konsequent vorantreiben

Ein digitalisiertes Gesundheitssystem ist resilienter als ein analoges.

Dass bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystem Reformbedarf besteht, kann mittlerweile auch der stärkste Kritiker nicht mehr verneinen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viele Möglichkeiten ungenutzt bleiben, Informationen (Daten) zu gewinnen und zu verarbeiten. Daraus entstehen Nachteile. Eines der größten Probleme: Entweder liegen Informationen gar nicht vor, obwohl sie einfach zu erheben wären, oder sie können nicht geteilt werden, weil mit veralteter Technik gearbeitet wird. Oft steht auch ein Bruch des Mediums im Wege, wenn zum Beispiel Meldungen zunächst digital erfasst werden, diese dann aber ausgedruckt, gefaxt und beim Empfänger händisch wieder digitalisiert werden müssen. In der Pandemie ist deutlich geworden, dass ein digitalisiertes Gesundheitssystem resilienter ist als ein analoges. Liegen Informationen über die Zahl, die Schwere der Erkrankungen, sowie räumliche und zeitliche Daten vor, können Entscheidungen schneller und besser getroffen werden. Sie müssen dafür aber allen Verantwortlichen zur Verfügung stehen und interoperabel sein, damit die zuständigen Stellen, wie Leistungserbringer oder die öffentlichen Gesundheitsämter, sie verwerten können.

Häufig wird der Datenschutz als Grund dafür angeführt, dass bestimmte Dinge nicht möglich sind. Ein Beispiel ist, dass eine präzisere Eingrenzung nach Zeit und Ort von Kontakten mit einer Corona-Infektion über die Corona-Warn-App des Bundes (CWA) technisch ohne Probleme möglich gewesen wäre. Das hätte individuell eine bedeutend bessere Risikoabschätzung möglich gemacht, wann ein Kontakt stattfand: im öffentlichen Nahverkehr, während man eine Maske trug, oder doch auf einer Veranstaltung am Abend, bei der keine Pflicht zum Tragen einer Maske mehr bestand. Dabei steht häufig nicht der eigentliche Datenschutz einer digitalen Innovation im Wege, sondern es sind die unterschiedlichen Interessen der Akteure, die den Datenschutz als Argument vorschieben.

Das große Potenzial der Digitalisierung wird oft durch Insellösungen am Entfalten gehindert. Ein Beispiel hierfür ist die derzeitige Ausgestaltung des elektronischen Rezeptes. Damit es voll digital nutzbar ist (und nicht nur als Ausdruck auf einem weißen statt auf einem rosa Blatt Papier), müssen die Patienten und Patientinnen eine App der gematik herunterladen und einen aufwändigen Registrierungsprozess mit NFC-fähiger elektronischer Gesundheitskarte und PIN erfolgreich abschließen. Die Möglichkeit, ein e-Rezept mit den weiter verbreiteten Apps der Kassen zu nutzen, besteht derzeit nicht. Dabei wäre es sinnvoll, dass ein eingelöstes Rezept sofort den Medikationsplan ergänzt und bestehende Medikationen auf Unverträglichkeiten überprüft werden. Auch Erinnerungen zur Medikamenteneinnahme oder eine Prüfung der Zuzahlungsbefreiung könnte integriert werden. Solange solche Prozesse in Silos gedacht werden, wird die Digitalisierung nicht die Breite der Versorgung verändern können.

Ein wettbewerblicher Ansatz würde an dieser Stelle das System insgesamt voranbringen und auch dafür sorgen, dass Leistungserbringer wie Versicherte schnell einen Mehrwert erhalten, so zum Beispiel bei der elektronischen Patientenakte (ePA). Die Vorteile, einen zentralen Datenspeicher mit allen wichtigen Gesundheitsdaten zu haben, liegen auf der Hand. Allerdings muss diese Akte dann auch mit Daten befüllt werden, eine Speicherung der Daten in der ePA muss die Regel werden und darf nicht die Ausnahme bleiben. Dazu gehört auch, dass die notwendigen technischen Komponenten sich nahtlos in die Praxis- oder Klinikabläufe integrieren lassen.

Eine flächendeckend eingeführte, mit Daten gefüllte und von allen einfach zu nutzende ePA ist der Schlüssel zur Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Sollen die Menschen in Deutschland zukünftig besser versorgt werden, muss die Digitalisierung weiter vorangetrieben werden. So werden Doppeluntersuchungen vermieden, Untersuchungsmethoden von den invasiven zu den weniger invasiven verlagert und Klinikaufenthalte chronisch Kranker durch Telemonitoring reduziert. Auch der Sachverständigenrat Gesundheit verweist in diesem Zusammenhang auf die Chancen durch einen sektorübergreifenden digitalen Datenfluss und eine gesundheitsorientierte Datennutzung (Sachverständigenrat 2021). Dafür müssen aber die politischen Rahmenbedingen stimmen. Sonst werden innovative Projekte weiterhin nur eine Nischenlösung für affine Digitalanwender bleiben und nicht in die breite Bevölkerung getragen werden.

Wir sind immer noch weit entfernt von einer breiten Durchdringung der bereits eingeführten digitalen Services und Technologien. Erst wenn diese erfolgt ist, kann auch die Debatte über eine weitere Nutzung der Gesundheitsdaten stattfinden. Dazu gehört ebenfalls die Frage, wie in Zukunft Daten genutzt werden sollen. Wird weiter nach dem Prinzip der absoluten Datensparsamkeit und Zweckbindung verfahren, kann nur ein sehr geringer Teil des Potenzials der Digitalisierung genutzt werden (Vergleich weiter oben die CWA). Um die Auswirkungen der Pandemie auszuwerten, werden kaum Gesundheitsdaten aus Deutschland herangezogen. Stattdessen müssen Daten aus Israel, England und den USA analysiert und auf Deutschland übertragen werden.

Die Digitalisierung wird jedoch nicht nur die Kommunikation zwischen Behandelnden und Patientinnen bzw. Patienten sowie den Leistungserbringern untereinander und somit ganz konkret die Versorgung verbessern, sie wird auch große finanzielle Vorteile bringen. Die jährlichen Einsparungen werden auf bis zu 42 Milliarden Euro geschätzt (Biesdorf et al. 2022, S. 2). Um von diesem Einsparungspotenzial profitieren zu können, müssen aber trotz angespannter Finanzlage Investitionen getätigt werden.

1.3Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen auf solide Basis stellen

Die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sorgen mit einem Ausgabenvolumen von 285 Mrd. für einen Großteil der Finanzströme im Gesundheitswesen (BMG 2022, S. 134). Gerade in Krisenzeiten dürfen diese Ströme nicht versiegen, damit Leistungserbringer bezahlt werden können und Versicherte beispielsweise Krankengeld erhalten. Während die Kosten für die Behandlung von Menschen mit einer Corona-Infektion in der Pandemie für das System tragbar waren, haben vor allem die Rettungsschirme für die Leistungserbringer große Löcher in die Kassen der GKV gerissen. Die Politik steuerte gegen, indem einzelne Kassen ihre Finanzreserven abbauen mussten und der Gesundheitsfonds durch Steuerzuschüsse gestützt wurde. Prinzipiell war das eine gute Lösung, um das System kurzfristig am Laufen zu halten.

Die Finanzierungsschwierigkeiten in der der GKV deuteten sich jedoch bereits Jahre vorher an. Eine außergewöhnlich gute Konjunktur hatte verschleiert, dass das System in Schieflage zu geraten drohte. Obwohl die Lücke zwischen den Einnahmen und den Ausgaben immer größer wurde, lag der politische Fokus vor allem auf ausgabenintensiven Gesetzen. Die Möglichkeit, in einer finanziell stabilen Situation große strukturelle (und damit zunächst auch meist auch teure) Reformen anzugehen, wurde hingegen verpasst, viele der kostensenkenden Maßnahmen wirkten nur kurzfristig.

Durch die Maßnahmen während der Pandemie ist noch einmal Zeit verloren gegangen, grundlegende Reformen anzugehen, sodass der Handlungsdruck weiter gestiegen ist, die Finanzierung der GKV in Deutschland auf eine solide Basis zu stellen.

Um die Finanzierung auch in Zukunft krisenfest zu machen, muss sie weiterhin unabhängig von politischer Einflussnahme und zudem solide aufgestellt sein. Dazu ist es unerlässlich, dass es den gesetzlichen Krankenkassen wieder gestattet werden muss, finanzielle Reserven in vernünftiger Höhe aufzubauen.

Bei einer weiteren Pandemie wäre das Gesundheitssystem derzeit bei weitem nicht mehr so resilient wie noch im Jahr 2020.

Die derzeitigen politischen Regelungen machen eine solide Finanzplanung vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Turbulenzen unsicher, sodass Schwankungen unter Umständen mit unterjährlichen Beitragssatzanpassungen ausgeglichen werden müssten. In einer erneuten Notlage wie einer weiteren Pandemie wäre das Gesundheitssystem derzeit bei weitem nicht mehr so resilient, wie es noch im Jahr 2020 der Fall war.

Einmalige Steuerzuschüsse verschieben die Probleme nur weiter in die Zukunft und ein dauerhafter, unbegründeter Steuerzuschuss gefährdet die vom Staatshaushalt unabhängige Beitragsfinanzierung, welche die Basis für das selbstverwaltete Gesundheitssystem ist. Stattdessen muss ein resilientes Finanzsystem der Krankenkassen planbar sein. Dazu zählt, dass der Staat die regulären Steuerzuschüsse für versicherungsfremde Leistungen dynamisiert und kostendeckende Beiträge für Empfänger von Arbeitslosengeld II zahlt. Allein letztere Maßnahme würde laut Schätzungen jährlich rund 10 Milliarden Euro ausmachen (Albrecht et al. 2017).

Auch wenn politisch keine Leistungskürzungen zur Kostenreduktion angedacht sind, muss die Ausgabenseite betrachtet werden, wenn die Finanzierung der GKV nachhaltig gestaltet werden soll. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei Maßnahmen ein, die schnell wirken und rasch umsetzbar sind, da sie kurzfristig die finanzielle Handlungsfähigkeit sichern und weitere teure aber dringend notwendige Reformen ermöglichen. Dazu sollte den Krankenkassen zum Beispiel wieder die Möglichkeit gegeben werden, mehr Krankenhausrechnungen auf Fehler zu prüfen. Die Politik könnte zudem für fairere Preise im Arznei- oder im Hilfsmittelbereich sorgen. Konsequentes Vorantreiben der Digitalisierung und eine Stärkung der ePA würde zudem zu einem Abbau von Bürokratie und Doppelstrukturen führen. Überfällig ist außerdem eine Reduktion der Krankenhausbetten, die Fehlanreize schaffen und zudem kostbares Personal binden.

1.4Strukturelle Krankenhausreform angehen

Die Kliniken planten während der Pandemie in kurzer Zeit die stationäre Versorgung um, verlegten Patientinnen und Patienten, weiteten Intensivkapazitäten aus, verschoben planbare Eingriffe und organisierten Personal um (Gaß u. Visarius 2022, S. 92). Die Einführung des Intensivregisters der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell digitale Lösungen eingeführt werden können und wie hilfreich sie dabei sind, die Lage zu bewerten und die Pandemie zu bewältigen. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz ist ein guter Schritt gemacht worden, um deren Digitalisierung weiter voranzubringen.

Ähnlich wie bei der Finanzierung des Systems, hat auch hier die Corona-Pandemie dazu beigetragen, dass dringend notwendige Reformen auf sich warten lassen. Die Rettungsschirme in der Pandemie haben einigen Häusern einen Aufschub bei der Lösung vorhandener Probleme gewährt, aber diese sind nicht gelöst und bestehen weiter: Kostensteigerungen, Personalengpässe und ungesteuerte Stationsschließungen. Dabei gibt es in Deutschland viel zu viele Krankenhausbetten und viel zu wenig Spezialisierung. Das kostet Geld und kann Patientinnen und Patienten schaden, denn eine fehlende Ausstattung hindert Krankenhäuser oft nicht daran, die Patienten, die sie eigentlich nicht adäquat behandeln können, trotzdem zu behandeln (Busse 2021, S. 244).

Wichtig bei der Reform ist eine koordinierte Gesamtstrategie, denn ohne sie können auch sinnvolle Einzelmaßnahmen Schaden anrichten. Gerade vor dem Hintergrund eines resilienten Gesundheitssystems sind die derzeit diskutierten Vorhaltekosten ein guter Schritt. Führt man sie aber ohne Koppelung an den tatsächlichen Bedarf ein, können sie das Überangebot subventionieren und somit zementieren. Vor dem Hintergrund der föderalen Krankenhausstrukturen in Deutschland ist eine differenzierte Planung mit bundesweit einheitlichen Kriterien und einer zwischen Ländern abgestimmten Planung jedoch nur schwer umsetzbar.

Neben der Strukturreform und einer umfassenden Digitalisierung im Sinne der Vernetzung zwischen den Sektoren muss auch das Problem des Fachkräftemangels in den Kliniken gelöst werden. Der Pflegepersonalmangel ist derzeit die limitierende Größe in der Intensivversorgung. Dabei sind es häufig die Arbeitsbedingungen, die den Menschen in der Pflege zu schaffen machen und weniger die finanzielle Wertschätzung. Zu der vorhandenen Dauerbelastung sind die Pandemiejahre hinzugekommen. In der Folge reduzieren viele Pflegende Stunden oder wechseln den Beruf ganz.

Eine resiliente Krankenhauslandschaft kann nicht auf einer dünnen Personaldecke stehen.

Dokumentationspflichten und Bürokratie sollten auf Sinnhaftigkeit überprüft, bestehende analoge und digitale Doppelstrukturen abgebaut werden. Auch wenn die Pflegepersonaluntergrenzen aufgrund der Pandemiesituation flexibel herabgesetzt wurden, um Stationen offen zu halten, kann dies dauerhaft kein Mittel sein, um die Versorgung sicherzustellen. Dies ginge zulasten der Patientinnen bzw. Patienten und belastet die eingesetzten Pflegekräfte umso mehr. Eine resiliente Krankenhauslandschaft kann nicht auf einer dünnen Personaldecke mit analogen Prozessen und ohne sektorenübergreifende, leistungs- und qualitätsorientierte Bedarfsplanung stehen.

1.5Nicht auf Lieferketten verlassen

Als sich im Winter 2020 die Ausmaße der Corona-Pandemie langsam abzeichneten, wurde schnell klar, dass unser Land auf ein Ereignis dieses Ausmaßes schlecht vorbereitet war. Es folgte ein Nachfrageboom auf Schutzausrüstung und Medizintechnik, dem die Hersteller nicht nachkommen konnten. Denn zusätzlich zu den medizinischen Einrichtungen konkurrierten nun auch Privatpersonen um Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel – und zwar weltweit. Dies führte zu einem irrationalen Bestellverhalten und unkoordinierten wie unabgestimmten Hamsterkäufen auf dem Weltmarkt. Zusätzlich wurden aufgrund der Lockdowns Produktionsstätten geschlossen und die internationalen Transportwege, beispielsweise durch Grenzschließungen, gestört (Jakobs-Schäfer 2022, S. 276).

Nicht nur die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die globalen Lieferketten wesentlich anfälliger sind, als es vor ein paar Jahren vielleicht noch angenommen wurde. Die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ und die damit einhergehende Blockade des Suezkanals, Streiks von Hafenarbeitern und auch der Krieg in der Ukraine sowie die damit verbundenen Sanktionen gegen Russland wirken sich teils unmittelbar auf die generelle Warenverfügbarkeit aus.

Was zu weltweitem Wohlstandswachstum führen sollte, erweist sich in Krisen oftmals als Bumerang: Die Globalisierung erlaubte es, Produktionen in Billiglohnländer zu verlegen, und führte zu Kosteneinsparungen sowie Profitsteigerung. Der zuverlässig laufende Warenstrom erlaubte es zudem, die teure Lagerhaltung auf ein Minimum zu reduzieren.

Während sich die globalen Lieferketten von Konsumgütern von den Schocks langsam wieder erholen, scheinen die Pharmaunternehmen nicht mehr aus dem Krisenmodus herauszukommen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass viele Wirkstoffe in wenigen Werken in China produziert werden und die eigentliche Herstellung der Arzneimittel dann oftmals in Indien erfolgt. Aber auch eine Produktion von Arzneimitteln in Europa schützt nicht vor Lieferausfällen. Denn deren Ursachen sind vielfältig. So können zum Beispiel auch Personalknappheit (EMA 2023) oder eine „Verzögerungen bei der Lieferung von Pen-Komponenten und Probleme bei der Abfüllung, Montage und Verpackung“ zu Lieferausfällen führen (BfArM 2023), obwohl die eigentliche Herstellung in Europa erfolgt.

Eine vollständige Autarkie von globalen Lieferketten ist sowohl für Deutschland als auch für Europa unrealistisch.

Eine vollständige Autarkie von globalen Lieferketten ist sowohl für Deutschland als auch für Europa unrealistisch. Ebenfalls wird es nicht möglich sein, allein durch ein Anheben der Preise Produktionsschritte nach Europa zu holen. Denn Lieferausfälle sind selten auf reinen Kostendruck zurückzuführen. Die Pharmaindustrie ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt und jedes Unternehmen wird immer dort produzieren, wo es am kostengünstigsten ist. Generell ist es im ureigenen Interesse eines jeden Unternehmers, Lieferausfälle so weit wie möglich zu vermeiden.

Es sollte ein Mindestbestand von zentralen Arzneimitteln, Verbrauchsmitteln für Medizinprodukte und Schutzausrüstung im Rahmen des Katastrophenschutzes bevorratet werden. Um kurzfristige Schwankungen der globalen Lieferketten auszugleichen, ist die verpflichtende Bevorratung von bestimmten Arzneimitteln oder der Komponenten (bei begrenzter Lagerfähigkeit) sinnvoll.

1.6Dem Klimawandel angemessen begegnen

Der derzeit stattfindende Klimawandel wird unseren Planeten und unser Leben auf vielen Ebenen verändern. Die genauen Folgen sind bislang nicht seriös vorherzusagen, aber es scheint bereits festzustehen, dass Deutschland vor allem häufiger von Extremwetterereignissen wie Hitzeperioden, starken oder langanhaltenden Niederschlägen und Stürmen betroffen sein wird. Das wird wahrscheinlich auch der Fall sein, wenn der globale Temperaturanstieg auf 1,5 Grad begrenzt werden kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass der Klimawandel die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit ist („single biggest health threat facing humanity“) (WHO 2021).

Die direkten Auswirkungen des Klimawandels werden im Gesundheitssystem zunächst vor allem für die Rettungskräfte und den Katastrophenschutz bedeutend, die zukünftig häufiger auf extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen oder Waldbrände reagieren werden müssen. Lange oder starke Hitzeperioden führen durch Hitzschlag, Dehydrierung und der damit einhergehenden Belastung des Kreislaufs zu einer erhöhten Sterblichkeit vor allem älterer und kranker Menschen (Sachverständigenrat 2023, S. 35). Außerdem bedroht der Klimawandel die Gesundheit auch durch Zunahme von übertragbaren Krankheiten durch Lebensmittel, Wasser, Zoonosen und Vektoren (WHO 2021). Auch die Pollensaison verlängert sich und führt so zu einer längeren Beschwerdezeit für Allergiker. Betroffene leiden unter neuen Allergenen, wie zum Beispiel der Pflanze Ambrosia artemisiifolia, die sich in den letzten Jahren vermutlich durch Beimengung in Vogelfutter in weiten Teilen Deutschlands ausbreiten konnte. Ihre Pollen können starke allergische Reaktionen auslösen (BMUV 2018).

Im Fokus muss natürlich die Bekämpfung des Klimawandels selbst stehen, zum Schutz der Bevölkerung müssten aber zusätzlich Frühwarnsysteme für Hitzewellen, erhöhte Ozon- und UV-Werte eingerichtet werden. Dennoch fehlt es an einem nationalen Plan, wie ihn zum Beispiel auch der Sachverständigenrat fordert, um das deutsche Gesundheitssystem auf die Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten (BMUV 2020).

1.7Wie wir durch die nächsten Krisen kommen

Der Sachverständigenrat attestiert dem deutschen Gesundheitssystem, dass es ein sehr komplexes, fragiles, nicht sehr reaktionsschnelles und wenig anpassungsfähiges „Schönwettersystem“ ist (Sachverständigenrat 2023, S. XXV). Sicher war das gesamte Gesundheitswesen schlecht auf eine globale Pandemie vorbereitet. Betrachtet man aber retrospektiv, wie wir in Deutschland insgesamt durch die Pandemie gekommen sind, ist auch eine andere Schlussfolgerung möglich. Nur exemplarisch seien hier die Flexibilität der Leistungserbringer durch Umwandlung von Stationen und Reha-Einrichtungen, die Impfkampagne durch Hausärzte und die schnelle Einführung von digitalen und telemedizinischen Lösungen genannt. Letztendlich haben aber natürlich auch politische Maßnahmen wie Lockdowns und freiwillige Kontaktbeschränkungen dazu beigetragen, das Pandemiegeschehen unter Kontrolle zur bringen.

Auch wenn wir in Anbetracht der überstandenen Corona-Pandemie auf ein zumindest bedingt resilientes System blicken können, muss es mit dem Blick auf mögliche kommende Schocks von außen, dringend weiterentwickelt werden. Selbst wenn eine globale Pandemie ein Jahrhundertereignis ist, kann sich jederzeit wieder ein neues Virus auf ähnliche Weise ausbreiten. Wie weiter oben beschrieben, wird zudem der Klimawandel große Herausforderungen mit sich bringen. Hinzu kommen Ereignisse, die heute noch überhaupt nicht oder nur sehr schwer vorstellbar oder vorhersagbar sind, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine oder weitere Naturkatastrophen globalen Ausmaßes.

Ein resilientes System ist nicht nur in Krisenzeiten besonders effektiv, sondern auch unter normalen Bedingungen.

Das Gesundheitssystem zu einem resilienten weiterzuentwickeln, beziehungsweise seine Resilienz zu verbessern, ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht immer einfach ist. Noch in der Pandemie waren die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft mit dem Vorsorgeparadoxon konfrontiert, ein Phänomen, das auch in anderen Bereichen, wie dem Klimawandel, auftreten kann. Dies gilt es zu überwinden. Wir sollten auch gegen Widerstände weiter an Notfallplänen arbeiten. Der Sachverständigenrat sieht die Resilienz als zentrale Aufgabe im Gesundheitswesen. Als solche sollten wir sie auch behandeln, denn ein resilientes System ist nicht nur in Krisenzeiten ein effektives und gutes System, sondern auch unter normalen Bedingungen.

Literatur

Albrecht M et al. (2017) GKV-Beiträge der Bezieher von ALG II – Forschungsgutachten zur Berechnung kostendeckender Beiträge für gesetzlich krankenversicherte Bezieher von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld im SGB II. IGES Institut. URL: www.iges.com/sites/igesgroup/iges.de/myzms/content/e6/​e1621/e10211/e15829/e22149/e22151/e22153/attr_objs23127/IGES_GKV-Beitraege_Dez2017_ger.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

BfArM (2023) Informationsbrief INSUMAN RAPID/INSUMAN BASAL/INSUMAN COMB 25 (Humaninsulin): Vorübergehender Lieferengpass. URL: www.bfarm.de/SharedDocs/Arzneimittelzulassung/Lieferengpaesse​/DE/2023/info_insulin_20230222.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 13.07.2023)

Biesdorf S et al. (2022) Digitalisierung im Gesundheitswesen. Die 42-Milliarden-Euro-Chance für Deutschland. McKinsey & Company Berlin

BMG (2013) Gemeinsam Digital – Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege. Bundesministerium für Gesundheit Berlin

BMG (2022) Daten des Gesundheitswesens. URL: www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/​5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/230223_BMG_DdGW_2022.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

BMUV (2018) Klimawandel und Pollenallergien. URL: www.bmuv.de/themen/gesundheit/gesundheit/gesundheit-im-klimawandel/klimawandel-und-pollenallergien (abgerufen am 13.07.2023)

BMUV (2020) Gesundheit im Klimawandel. URL: www.bmuv.de/themen/gesundheit/gesundheit/gesundheit-im-klimawandel (abgerufen am 13.07.2023)

Bundestag (2013) Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Drucksache 17/12051. URL: https://dserver.bundestag.de/btd/17/120/1712051.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

Busse R (2021) Ein Plädoyer für eine bedarfsgerechte und qualitätsorientierte Neuordnung der Krankenhauslandschaft. In: Baas J (Hrsg.) Perspektive Gesundheit 2023. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

EMA (2023) Shortage of amoxicillin and amoxicillin/clavulanic acid. URL: www.ema.europa.eu/en/documents/shortage/amoxicillin-amoxicillin/clavulanic-acid-supply-shortage_en.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

Gaß G, Visarius M (2022) Die Bedeutung der Coronapandemie für die Krankenhäuser. In: von Eiff W, Rebscher H (Hrsg.) Krisenresilienz – wie Corona das Krisenmanagement des Gesundheitssystems verändert. Medhochzwei Heidelberg

Jakobs-Schäfer A (2022) Einsichten und Aussichten in Einkauf und Logistik: Lehren aus der Coronapandemie. In: von Eiff W, Rebscher H (Hrsg.) Krisenresilienz – wie Corona das Krisenmanagement des Gesundheitssystems verändert. Medhochzwei Heidelberg

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (2021) Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems. Gutachten 2021. URL: www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2021/SVR_Gutachten_2021.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (SVR) (2023) Resilienz im Gesundheitswesen: Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

Streibich K, Lenarz T (2021) Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten. Acatech – Deutsche Akademie für Technikwissenschaften München

WHO (2021) Climate change and health. URL: www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/climate-change-and-health (abgerufen am 13.07.2023)

Dr. Jens Baas

Jens Baas ist seit 2012 Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK). Vor seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer. Sein Studium der Humanmedizin absolvierte Jens Baas an der Universität Heidelberg und der University of Minnesota (USA). Er arbeitete anschließend als Arzt in den chirurgischen Universitätskliniken Heidelberg und Münster.

 

Dennis Chytrek

Dennis Chytrek ist seit 2019 persönlicher Referent des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse (TK). Zuvor war er stellvertretender Pressesprecher und Pressereferent in der Unternehmenskommunikation der TK. Er hat sein Studium der Politik und Rechtswissenschaften in Hamburg und Schweden absolviert. Bevor er zur TK ging, war er unter anderem als freier Journalist und Berater bei einer Unternehmensberatung für Gesundheitskommunikation tätig.

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Zukunftskraft Resilienz

Christian Schuldt

In einer global vernetzten Welt, die für neuartige Dimensionen der Gefährdungen anfällig ist, wird eine neue Zukunftskompetenz zentral: die Fähigkeit, adaptiv auf Krisen zu reagieren. Auch und gerade im Gesundheitssystem werden die 2020er-Jahre zur Dekade der Resilienz.

2.1Einleitung

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energie, Finanz- und Flüchtlingskrisen, Terrorbedrohungen, wachsende soziale Ungleichheit – und als chronische Superkrise der Klimawandel: In einer global vernetzten und ökologisch verletzten Welt wird der Modus der Krise zum festen Bestandteil einer neuen Normalität. Die Lebensrealität im 21. Jahrhundert ist komplexer, dynamisierter und unvorhersehbarer als je zuvor. Die „Risikogesellschaft“, die der Soziologe Ulrich Beck bereits vor 35 Jahren beschrieb (Beck 1986), hat eine neue, global vernetzte Ebene erreicht. Sie erzeugt vielschichtigere Problemlagen, auch für das Gesundheitssystem.

Vor allem die Corona-Krise hat drastisch vor Augen geführt, wie globale Pfadabhängigkeiten unser gewohntes Leben plötzlich aus den Fugen werfen können. Dabei wurde auch ein strukturelles Prinzip der neuen Netzwerkgesellschaft deutlich: Sie bietet keine langfristig stabilen oder verlässlich berechenbaren Strukturen mehr. Beständigkeit kann unter vernetzten Vorzeichen immer nur punktuell oder phasenweise gegeben sein. Damit sind die Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert galten, endgültig passé.

Die Polykrise stellt die interdependente, hyperkomplexe Welt des 21. Jahrhunderts – und damit auch das Gesundheitssystem – nun vor eine existenzielle Frage: Wie sieht ein produktiver Umgang mit Krisen aus, auch mit solchen, die nicht prognostiziert werden können oder noch nicht einmal gedacht sind? Ins Zentrum rückt dabei ein bereits bekannter Begriff – der im Kontext spätmoderner Krisenkonstellationen eine völlig neue Relevanz erlangt: Resilienz.

2.2Systemischer Umgang mit Unsicherheit

Resilienz ist der passende Begriff für die fundamental neue Weise, in der spätmoderne Gesellschaften die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts formulieren und prozessieren. Je unvorhersehbarer die Risikopotenziale werden, umso mehr rückt die Frage nach der Widerstands- und Regenerationsfähigkeit in den Fokus – gesellschaftlich, organisational und individuell. Dieser „Resilient Turn“ zeichnet sich schon länger ab. So bezeichnete etwa das World Economic Forum 2013, das unter dem Motto „Resilient Dynamism“ stattfand, das Resilienzkonzept als einen „21st Century Imperative“ (Huffington 2013).

Sicherheit muss als ein dynamischer Prozess verstanden werden, als eine Variable, die ständig neu ausgehandelt werden muss – individuell, organisational und gesellschaftlich.

Zentral ist dabei ein ganzheitlicheres und systemischeres Verständnis von Sicherheit. Je klarer wird, dass sich Bedrohungen und Risiken permanent verändern, umso mehr muss Sicherheit verstanden werden als ein dynamischer, kontinuierlicher Prozess, als eine Variable, die ständig neu ausgehandelt und aufgebaut werden muss, individuell, organisational und gesellschaftlich. Die Corona-Krise und auch die Folgen des Ukraine-Krieges sind kollektive Erfahrungen der Verwundbarkeit, die klarmachen: Jetzt ist die Zeit gekommen für ein Umschwenken auf Adaption und den Ausbau systemischer Schutzfaktoren.

Eine zentrale Voraussetzung dafür ist ein erweitertes Verständnis für die Entwicklungsdynamiken komplexer Systeme. Je mehr die hochkomplexen Herausforderungen der vernetzten Gesellschaft Ungewissheit und Unsicherheit steigern, umso wichtiger werden kluge systemische und intersektorale Kompetenzen und Konstellationen. Auch im Gesundheitssystem lauten die neuen Zukunftsfragen deshalb: Wie können sich individuelle und soziale Systeme gegen Unvorhergesehenes wappnen? Was stärkt die Überlebensfähigkeit in Krisenzeiten? Und was stiftet systemischen Zusammenhalt? Antworten finden sich im paradigmatischen Umschalten auf Komplexität und Adaption.

2.3Die Evolution des Resilienzdiskurses

Um zu verstehen, wie ein komplexes und zukunftsfähiges Resilienzverständnis gestaltet sein muss, das der dynamisierten Netzwerkwelt des 21. Jahrhunderts gerecht wird, hilft zunächst ein Blick auf die Evolution des Resilienzdiskurses. Rückblickend lassen sich dabei vier Phasen nachzeichnen, die einander allerdings überlagern und teilweise bis heute parallel verlaufen.

In der ersten Phase seit den 1950er-Jahren ging es primär darum, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen personalen, familiären und sozialen Schutzfaktoren und der individuellen Gesundheit zu ermitteln. Standen zunächst Ansätze der Stressforschung im Fokus, folgte der eigentliche Durchbruch der Resilienzforschung durch die deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner: In einer Langzeitstudie untersuchte sie, warum einige Kinder der Hawaii-Insel Kauai, die unter widrigen Umständen aufgewachsen waren, sich später dennoch zu gesunden und selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln konnten (Werner 1977). Die zentrale Erkenntnis der Längsschnittstudie, die über 40 Jahre in regelmäßigen Abständen aktualisiert wurde: Resilienz ist nicht angeboren, sondern kann erlernt werden.

Heute herrscht gemeinhin Konsens darüber, dass persönliche Resilienz auf etwa sieben bis zehn sogenannten Resilienzfaktoren beruht. Dazu zählen Optimismus und Gelassenheit, Netzwerk, Zukunfts- und Lösungsorientierung, Improvisationstalent sowie die Fähigkeiten, in Krisen einen Sinn zu sehen, die Opferrolle verlassen zu können und Verantwortung für die eigene Situation zu übernehmen (Fathi 2014).

In der zweiten Phase ab den 1980er-Jahren verlagert sich der Fokus auf die komplexen Wirkmechanismen der verschiedenen Schutzfaktoren: auf ihre Kontextspezifität, ihre Wechselwirkungen und die Dynamik der daraus resultierenden Entwicklungs- und Anpassungsvorgänge. Die Erkenntnisse aus der ersten Phase bildeten damit die Basis für eine stärkere Konzentration auf die Prozesse der Resilienz und die Frage nach dem „Wie“. Je mehr sich dabei herauskristallisierte, dass Resilienz kein bloßes Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern vielmehr vom Lebensumfeld und den individuellen Erfahrungen abhängt, umso mehr verlagerte sich der Fokus der Forschung auf das Ableiten von Prozessmodellen.

Der Ansatz des israelischen Stressforschers Aaron Antonovsky läutete einen Paradigmenwechsel ein. Statt danach zu fragen, wie Krankheiten entstehen (Pathogenese), fokussierte Antonovsky auf die Salutogenese: auf die Frage, wie Gesundheit entsteht (Antonovsky 1979; 1997).

Gesundheit ist demnach kein stabiler Zustand, sondern ein aktiver Aushandlungsprozess, der von internen wie externen Einflüssen abhängt. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Sense of Coherence, das Gleichgewicht zwischen Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Machbarkeit des eigenen Lebens. Der Einfluss der Umwelt auf die persönliche Resilienz und das neue Verständnis von Gesundheit als einem aktiven Aushandlungsprozess eröffnete einen neuen Blickwinkel auf Resilienz – und verlagerte die Forschung auf die Frage, welche vorbeugenden Maßnahmen eine relevante Rolle spielen.

Eine dritte Phase setzte seit den 1990er-Jahren mit der Erarbeitung und Etablierung von Resilienzförderungsprogrammen ein. Immer mehr geht es seitdem darum, effektive Maßnahmen und Präventionsstrategien zu entwickeln, um Individuen, Organisationen, Infrastrukturen und Ökosysteme zu ermächtigen, sich zu erholen und die eigene Widerstandsfähigkeit zu verbessern. Das Ziel ist dabei nicht die Prävention von Krisen, sondern ein resilienter Umgang mit den destabilisierenden Effekten, die mit Krisen einhergehen.

2.4Resilienz heute: Bounce forward

Die vierte Phase der Resilienzforschung hat in den 2000er-Jahren begonnen. Sie ist geprägt durch interdisziplinäre Ansätze und Mehrebenenmodelle, die nicht nur psychosoziale und physiologische Faktoren, sondern auch neurobiologische Prozesse betrachten. 2014 wurde das Deutsche Resilienz Zentrum an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gegründet, das neurowissenschaftliche, medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Ansätze zur Erforschung der Resilienz vereint. Neuere Forschungen sehen Resilienz nicht als definierbares Set persönlicher Eigenschaften oder förderlicher Umweltbedingungen, sondern betonen Faktoren wie Prozesshaftigkeit, Variabilität, Situationsabhängigkeit und Multidimensionalität. Anstatt die individuelle Widerstandsfähigkeit zu untersuchen, geht es darum, Resilienzkonstellationen zu identifizieren: Wie wirken kollektive und individuelle Resilienz zusammen? Aus dieser Perspektive eröffnen sich auch komplexe Fragen danach, was Städte und ganze Gesellschaften resilient macht. Historisch hat sich der Fokus der Resilienzforschung also zunehmend erweitert: Ging es zunächst darum, die Faktoren herauszufinden, die einzelne Individuen widerstandsfähig machen, dominiert inzwischen die übergeordnete Frage nach resilienten Konstellationen und resilienten Gesellschaften. Übergreifend ist der heutige Resilienzdiskurs dabei von zwei dominanten Definitionsansätzen oder Denkrichtungen geprägt ist (siehe unten): Bereits seit den 1970er-Jahren etabliert ist ein statisch-stabiliätsorientiertes Verständnis, das Resilienz vor allem als Sicherheit und Funktionsfähigkeit definiert („Resilienz 1.0“, bounce back). Erst in jüngerer Zeit an Relevanz gewonnen hat eine evolutionär-innovationsorientierte Perspektive, die Resilienz als dynamische Risikoanpassung und „beständige Unbeständigkeit“ sieht („Resilienz 2.0“, bounce forward).

Was ist Resilienz?

Grundsätzlich bezeichnet Resilienz die Fähigkeit eines Systems, schnell auf akute Krisen oder Rückschläge zu reagieren und sich an neue Rahmenbedingungen anzupassen. Diskurshistorisch lassen sich dabei zwei zentrale Resilienzansätze nachzeichnen (Manyena et al. 2011; Roth 2020):

Robustheit („Resilienz 1.0“): Das System kehrt nach einer Störung in den Ursprungszustand zurück (bounce back).

Anpassungsfähigkeit („Resilienz 2.0“): Das System adaptiert sich kontinuierlich an veränderte Umweltbedingungen (bounce forward).

Übergreifend spielt das Prinzip der Ambidextrie oder „Beidhändigkeit“ eine zentrale Rolle für die Schaffung und Erhaltung von Resilienz: die dynamische Kombination aus Stabilität (Identität, Sicherheit, Verlässlichkeit) und Flexibilität (Beweglichkeit, Offenheit, Kreativität).

In einer Welt, die von multiplen und oft unvorhersehbaren Krisen geprägt ist, gewinnt der Ansatz der Resilienz 2.0 immer mehr an Relevanz. Schließlich macht erst die evolutionäre Anpassung an neue Umweltbedingungen ein System kontinuierlich leistungsfähiger und langlebiger. Zugleich jedoch ergänzen und bedingen sich beide Ansätze wechselseitig: Ohne Flexibilität fallen Veränderung und Anpassung schwer, ohne feste Verwurzelung bleibt Beweglichkeit ein richtungsloses Mitschwimmen im Strom. Voraussetzung für Resilienz ist also ein vitales Verhältnis von Robustheit und Adaptivität, von Tradition und Innovation, von Regulierung und Dynamisierung.

2.5Komplexität systemisch verstehen

Die Grundlage für einen konstruktiven Umgang mit Störungen und erhöhter Umweltvolatilität bildet ein evolutionäres und systemisches Verständnis von Komplexität. Ausgehend von der Basiserkenntnis, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, richtet sich der Fokus neu aus: Es geht weniger um einzelne Systemelemente als um ihr dynamisches Zusammenspiel und die reflexiven Lerneffekte, die dabei erzielt werden. Resilienz besteht deshalb im Kern darin, „systemrelevante“ Lernkompetenzen zu trainieren.

Eng damit verknüpft ist ein ganzheitliches Verständnis systemischer Vernetzungsstrukturen. Gemäß dem „Gesetz der erforderlichen Varietät“ besteht eine ausgewogene Vernetzungskonfiguration in der Balance zwischen Zentralität und Dezentralität (Ashby 1956). Die Vernetzung eines resilienten Systems ist deshalb weder überkomplex (alles ist mit allem verbunden) noch unterkomplex (Verbindungen sind nur zufällig oder lose), sondern sie nutzt Knotenpunkte, um ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Variabilität zu schaffen. Das beste Beispiel dafür ist das menschliche Gehirn: Um die Speichersysteme unterschiedlicher Hirnregionen schnell auslesen und prozessieren zu können, sind seine 100 Billionen Synapsen über Knotenpunkte verschaltet. Erst so wird ein agiles Zusammenspiel von Struktur und Diversität möglich.

Das gleiche Prinzip gilt für den Aufbau resilienter Netzwerke in und zwischen sozialen Systemen, der mit steigender gesellschaftlicher Komplexität zentral für die Überlebensfähigkeit wird. Das hat auch die Corona-Krise deutlich gemacht: Je weniger globale Risiken innerhalb von Nationalstaaten zu bewältigen sind, umso mehr verlagert sich die Verantwortung für Zukunftssicherheit zu internationalen Kooperationen sowie zu Unternehmen und Individuen. In diesem Kontext sind auch die Ansätze für ein resilientes Gesundheitssystem zu finden.

2.6Das resiliente Gesundheitssystem

Eine resiliente Gesellschaft ist eine gesunde Gesellschaft. Nur gesunde Individuen können sich an permanente Umweltveränderungen anpassen und auch Krisen trotzen. Lag das Augenmerk in puncto individueller Resilienz lange darauf, zu erforschen, wie Menschen gestärkt aus Lebenskrisen hervorgehen können, ist heute eine „prophylaktische“ Perspektive vorrangig. Angesichts zunehmender psychischer Stresserkrankungen verlagert sich der Blick auf Stressprävention und vorbeugende Gesundheit: auf die Erforschung der Faktoren, die Individuen in Krisenzeiten helfen, nicht zusammenzubrechen.

Für die langfristige Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz spielen Gesundheitssysteme eine zentrale Rolle.

Die Corona-Krise hat dabei den Schwerpunkt verändert. Seit der Pandemie liegt der gesundheitliche Fokus weniger auf Wellness und Selbstoptimierung, stattdessen ist die Abwesenheit von Krankheit wieder zum zentralen Gesundheitsthema geworden. Und je deutlicher wird, dass mentale und körperliche Gesundheit von zahlreichen äußeren Faktoren abhängen, umso mehr verschiebt sich auch die Verantwortung für Gesundheit hin zu Institutionen und Organisationen – zu den größeren Kontexten, in denen Menschen leben. Für die langfristige Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz spielen Gesundheitssysteme daher eine zentrale Rolle.

Ein wichtiger Bereich ist dabei das Thema Klimaresilienz, schließlich sind gesundheitliche Präventionsmaßnahmen häufig zugleich Klimaschutzmaßnahmen. Angesichts der fortschreitenden Klimakrise rückt diese Schnittstelle zwischen individueller und planetarer Resilienz zunehmend ins Zentrum. Die Verbindung von Klimawandel und Gesundheit ist ein sehr überzeugendes Thema, das jeden Menschen emotional trifft: Sobald uns bewusst wird, dass es bei Themen wie Baumsterben oder Meeresversauerung auch ganz konkret um unsere eigene Gesundheit geht, um das Wohlergehen unserer Familie, sind wir ganz anders betroffen. Wer persönlich und emotional involviert ist, kann anders überzeugt werden und entwickelt einen starken Handlungsdrang.

Medizinischen Fachkräften wird in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zuteil, weil sie als „Transformator:innen“ auftreten können, die Menschen überzeugen. „Wir haben eine hohe Glaubwürdigkeit, die im Rahmen der Pandemie stark gestiegen ist“, sagt Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann, Medizinerin und stellvertretende Direktorin des Zentrums für Klimaresilienz in Augsburg: „Deshalb müssen wir jetzt sagen: Wir müssen das gemeinsam angehen.“ (Zukunftsinstitut 2021) Das Gesundheitssystem steht dabei allerdings vor einer Art Doppelherausforderung: Zum einen soll es für Patienten und Patientinnen Resilienz herstellen, etwa in Form von Frühwarnsystemen oder der Anpassung von Medikationen bis hin zur Versorgung von vulnerablen Gruppen. Zum anderen ist das Gesundheitssystem selbst einer der größten globalen CO2-Verursacher, muss also den Weg zur CO2-Neutralität einschlagen.

2021 beschloss der Deutsche Ärztetag deshalb, Klimawandel und Gesundheit in die Weiterbildung zu integrieren, auch das gesundheitliche Versorgungssystem wird auf Investitionen in klimafreundliche Geldmittel umgestellt. Das Augenmerk liegt aber auch auf einzelnen Disziplinen: Wie kann beispielsweise die Anästhesie, die klimaschädliche Narkosegase verwendet, klimaneutraler werden? Darüber hinaus wird auch versucht, die Krankenhäuser CO2-neutral zu gestalten – eine der großen Zukunftsherausforderungen, vor denen das Gesundheitssystem steht.

2.7Resiliente öffentliche Räume

Deutlich wird das Zusammenspiel verschiedener Kontexte für eine Steigerung der gesundheitssystemischen Resilienz auch am Beispiel der neuen Resilienzanforderungen an urbane soziale Räume. Auch hier schuf die Pandemie ein Momentum: Sie machte Städte zum Teil eines sozial-ökologischen Experiments, an das Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Bürgermeister:innen und Politiker:innen nun anknüpfen können, um die physische und psychische Gesundheit innerhalb von Städten langfristig zu fördern.

Ein Beispiel ist das Vorantreiben von autofreien und fahrradfreundlichen Innenstädten, das gleich doppelt positive Effekte erzeugt: für die Menschen wie für das Klima. Auf solche Win-win-Effekte zielen auch Initiativen wie „10 Minute Walk“, die allen Menschen in US-amerikanischen Städten bis 2050 einen sicheren Zugang zu einem hochwertigen Park oder einer Grünfläche garantieren will, maximal zehn Gehminuten von ihrem Zuhause aus. Eine ähnliche Idee verfolgt das inzwischen populär gewordene Konzept der 15-Minuten-Stadt: Sämtliche wichtigen Bereiche des Lebens sollen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sein. Ganz generell sorgen hyperlokale Strukturen in Städten automatisch für Vielfalt und Redundanz – und schaffen Infrastrukturen, die auch in Notfällen funktionieren und die Vulnerabilität einer Stadt verringern.

An diesem Punkt wird deutlich, dass der eigentliche Kern städtischer Resilienz in der Kraft des Sozialen liegt: im gemeinschaftlichen Zusammenhalt resilienter Communities, die sich besonders gut in belebten Stadtvierteln entwickeln können. Maßnahmen für eine gesteigerte Resilienz verbessern dann auch unmittelbar die Lebensqualität vor Ort. Von elementarer Bedeutung ist dabei auch das Thema soziale Gerechtigkeit. Gerade die Frage, wie Klimaresilienz und soziale Gerechtigkeit vereinbar sind, wird noch viele Aushandlungsprozesse provozieren – etwa wenn es um das Menschenrecht auf Gesundheit geht, an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht. Doch auch progressive Konzepte wie ein bedingungsloses Grundeinkommen sind in diesem Kontext zu verorten, denn die positiven Effekte einer Grundeinkommenssicherheit umfassen auch eine Verbesserung der persönlichen Gesundheit (Llanque 2021).

2.8Unsicherheitskompetenz und Zukunftsmut

In einer Zeit, in der das Zusammenspiel von ökologischen, ökonomischen, sozialen, geopolitischen und technologischen Systemen schwer abschätzbare Risiken erzeugt, wird eine systemische Perspektive ausschlaggebend für eine resiliente Aufstellung des Gesundheitssystems. Angesichts multidimensionaler Krisenphänomene und -potenziale muss sich ein resilienter Gesundheitssektor auch gegen vielfältige denkbare Krisendimensionen wappnen.

Das Sicherheitsmanagement von morgen surft auf den Wellen der Unsicherheit.

Das neue Resilienzparadigma – der Übergang in den Modus der „Resilienz 2.0“ – markiert dabei einen historischen Bruch mit dem modernen Optimismus der Systemkontrolle. Die über lange Zeit etablierte Vorstellung der festen Einplanbarkeit von Unwägbarkeiten in die Struktur- und Funktionszusammenhänge sozialer, technischer und natürlicher Systeme wird gleichsam auf den Kopf gestellt: Resiliente Systeme sind gerade deshalb zukunftssicher, weil sie im mechanischen Sinne „unsicher“ sind – weil sie ihre inneren Strukturen in Varianz wiederherstellen können. Zur zentralen Voraussetzung für die Schaffung von Zukunftssicherheit wird deshalb die Kultivierung einer grundsätzlichen Unsicherheitskompetenz. Das Sicherheitsmanagement von morgen surft auf den Wellen der Unsicherheit.

Die Basis dafür bildet ein Mindset, das Wandel immer auch als Chance begreift. Im Grunde geht es um die Wiederentdeckung eines uralten Lebensprinzips, das der griechische Philosoph Heraklit schon vor rund 2.500 Jahren formulierte: Panta rhei – alles fließt. In der Ära der multiplen Krisen erlangt dieses Prinzip eine neue Relevanz und Dringlichkeit. Auch das macht deutlich, dass gesundheitssystemische Resilienz künftig sehr viel mehr bedeutet als nur die Anpassung an sich ständig verändernde Gegebenheiten. Sie impliziert auch das aktive, gemeinsame Gestalten von Möglichkeitsräumen: offen, flexibel und zukunftsmutig.

Literatur

Antonovsky, A (1979) Health, Stress and Coping. Jossey-Bass San Francisco

Antonovsky, A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DGVTVerlag Tübingen

Ashby, WR (1956) An Introduction to Cybernetics. Chapman & Hall London

Beck, U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp Frankfurt am Main

Fathi, K (2019) Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit. Anforderungen an gesellschaftliche Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert. Springer Wiesbaden

Huffington, A (2013) Davos 2013: Resilience as a 21st Century Imperative. URL: https://www.linkedin.com/pulse/20130122234855-143695135-davos-2013-resilience-as-a-21st-century-imperative (abgerufen am 24.4.2023)

Llanque, M (2021) Grundeinkommen, made in Gyeonggi. In: enorm 04/2021, 60–63

Manyena, B et al. (2011) Disaster Resilience: A Bounce Back or Bounce Forward Ability? In: Local Environment: The International Journal of Justice and Sustainability 16(5), 417–424

Roth, F (2020) Bouncing forward – Wie Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in der Corona-Krise helfen können. URL: https://www.isi.fraunhofer.de/de/blog/2020/resilienz-corona-krise.html (abgerufen am 24.4.2023)

Werner, E (1977) The Children of Kauai. A Longitudinal Study from the Prenatal Period to Age Ten. University of Hawaii Press Hawaii

World Economic Forum (WEF) (2021) The Global Risks Report 2021. URL: https://www.weforum.org/reports/the-global-risks-report-2021 (abgerufen am 24.4.2023).

Zukunftsinstitut (Hg.) (2021) Zukunftskraft Resilienz. Gewappnet für die Zeit der Krisen. Zukunftsinstitut Frankfurt am Main

Dieser Text basiert auf der Publikation „Zukunftskraft Resilienz“ des Zukunftsinstituts.

Christian Schuldt

Christian Schuldt ist Soziologe, Autor und Zukunftsforscher. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen ist der Kultur- und Medienwandel im Zuge der digitalen Transformation. Für das Zukunftsinstitut leitete er die Studie „Zukunftskraft Resilienz“ (Zukunftsinstitut 2021). Seit September 2023 leitet er die Redaktion des Thinktanks The Future:Project (thefutureproject.de), der Organisationen auf dem Weg in eine resiliente Zukunft unterstützt.

Interview mit Florian Roth

Das Interview führte Andreas Meusch.

Der Sachverständigenrat Gesundheit (SVR) bezeichnet das deutsche Gesundheitssystem als „Schönwettersystem“. Teilen Sie diese Ansicht?

Für das deutsche Gesundheitssystem gilt wie für andere Bereiche auch: Es ist auf betriebswirtschaftliche Effizienz getrimmt. Kurzfristige Effizienzmaximierung steht aber in einem Spannungsfeld zum Ziel systemischer Resilienz: Gerade ein Gesundheitssystem darf nicht nur unter optimalen Bedingungen funktionieren. Ich will es mit einem Bild beschreiben: Ein Formel-1-Wagen ist für Rennen optimiert. Technik, Aerodynamik, Gewicht: Alles ist optimiert auf Effizienz und Geschwindigkeit unter sehr engen Parametern. Zugleich sind diese Boliden nicht wirklich robust, sie sind im Gegenteil sehr störanfällig. So extrem ist es in unserem Gesundheitssystem nicht, aber der SVR leistet einen wichtigen Beitrag, wenn er die fehlende Resilienz des Gesamtsystems frühzeitig thematisiert.

Ihre These ist also, dass die betriebswirtschaftlichen Optimierungen einzelner Systemelemente die Krisenanfälligkeit des Gesamtsystems erhöhen. Durch welche Maßnahmen kann man jetzt, kann der Gesetzgeber gewährleisten, dass die Resilienz des Gesamtsystems mit Blick auf künftige Krisen verbessert wird?

Volkwirtschaftlich gesprochen geht es hier um die Internalisierung externer Kosten. Wie schaffe ich Anreize, zum Beispiel für Pharmaunternehmen, ihre Lieferketten so zu organisieren, dass die Lieferfähigkeit von Medikamenten auch in Krisenzeiten gewährleistet bleibt? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Ich bezweifele aber, dass es ein guter Ansatz ist, den Pharmaunternehmen einfach mehr Geld zu bezahlen in der Hoffnung, dass sie das Geld für die Resilienz der Lieferketten verwenden. Die Erfahrung zeigt leider, dass Unternehmen häufig Investitionen in Resilienz unterlassen, um kurzfristig Kosten zu optimieren, insbesondere wenn sie damit rechnen können, dass im Falle einer Krise die Allgemeinheit für die Schäden aufkommt.

Es ist aber gut, dass jetzt wenigstens das Problem in der Gesellschaft und der Politik diskutiert wird. Das Gesundheitssystem kann hier von anderen Bereichen lernen. Die CO2-Abgaben sind ein Beispiel dafür, wie Gesellschaften es geschafft haben, die externen Kosten des klimaschädlichen Verhaltens zumindest teilweise zu internalisieren.

Ich habe also kein Patentrezept, mir ist es aber wichtig zu betonen, dass es dafür Lösungen geben kann. Wir haben jetzt ein wachsendes Bewusstsein für solche Probleme. Diese Chance müssen wir nutzen.

Das ist ein Plädoyer gegen ein „Weiter so“!

Resilienz und damit Zukunftsfähigkeit hängen davon ab, sich anzupassen.

Ja, ich halte nichts von der Bambus-Metapher, die im Kontext von Resilienz häufig herangezogen wird: In der Krise biege ich mich, um danach wieder in die Ausgangssituation zurückzukehren. Richtig ist vielmehr: Systeme – also auch das deutsche Gesundheitssystem – brauchen die Fähigkeit zur Transformation, sich zu wandeln und sich an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Nicht nur Krisen, sondern auch die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die Digitalisierung erfordern Veränderungen. Die Zukunftsfähigkeit und damit auch die Resilienz hängen davon ab, sich anzupassen. Das gibt es nicht zum Nulltarif – weder finanziell noch intellektuell.

Wenn ich Sie richtig verstehe, werden dadurch aber die Ausgaben steigen.

Kurzfristig ist das so. Die Feuerwehr kostet auch erst einmal Geld, für das es keinen unmittelbaren „Return on Investment“ gibt. Dennoch gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, dass es sinnvoll ist, die Kosten von Feuerwehren zu tragen. Genauso ist es auch bei Investitionen in die Resilienz des Gesundheitssystems: Wir brauchen einen Konsens, dass es sinnvoll ist, Investitionen zu tätigen, die sich bezahlt machen, wenn Krisen eintreten: Pandemien, Lieferengpässe, Hochwasser, Stromausfälle, Kriege oder was die Zukunft sonst noch bringen mag.

In Ihren Forschungen beschäftigen Sie sich auch damit, dass die öffentliche Kommunikation von Risiken und Krisen eine wichtige Bedingung für die Legitimation demokratischer Politikgestaltung ist. Können Sie das erläutern und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für eine resiliente Gesundheitspolitik?

Es gibt in Krisen nicht die eine zentrale Stelle, die den Überblick hat.

Die Kommunikation in der Krise ist aus meiner Sicht die Königsdisziplin der politischen Kommunikation. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es in Krisen eine zentrale Stelle gibt, die den Überblick hat und deshalb auf der Grundlage vorhandener Informationen die richtigen Entscheidungen trifft. Dass ist aus zwei Gründen unrealistisch:

Entscheidungen in Krisensituationen sind immer Entscheidungen unter Unsicherheit. Die Notwendigkeit der Entscheidung reicht deshalb immer weiter als der Horizont des Wissens. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat dies auf die Formel gebracht, „Wir werden uns anschließend viel zu verzeihen haben“. Das ist eine realistische Einschätzung. Prognosen sind schon in normalen Zeiten eine Herausforderung. In Krisenzeiten muss entschieden werden mit dem hohen Risiko, hinterher falsifiziert zu werden. Wer dazu nicht bereit ist, hat im Krisenmanagement nichts zu suchen. Man muss damit leben, dass hinterher alle schlauer sind.

Der Informationsfluss ist Teil des Problems. Krisenstäbe werden mit Informationen überflutet. Für die Verantwortlichen ist es so, als ob sie aus einem Feuerwehrschlauch trinken. Die Fülle der Informationen ist kaum zu bewältigen. Auch hier gilt: Die Krisenvorbereitung ist entscheidend. Wer sich nicht bereits in der Krisenvorbereitung mit der Frage beschäftigt, welche Informationen entscheidungsrelevant sind und wie er die Informationsflut kanalisiert, wird in der Krise im Informations-Overkill untergehen. Das ist leider in der Corona-Krise zum Teil zu beobachten gewesen.

Sie betonen die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Konsenses für Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz im Gesundheitswesen. In Ihren Forschungen haben Sie sich mit dem Zusammenspiel von parlamentarischer Politik, Medien und Öffentlichkeit beschäftigt: Was sind die wichtigsten Erkenntnisse im Kontext Resilienz des Gesundheitswesens?

Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass Top-down-Ansätze in demokratischen Systemen nur begrenzt funktionieren. Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Verbote, wie sinnvoll sie im Einzelfall sein mögen, wecken Widerstände. Deshalb ist es klüger, die Zeit vor der Krise zu nutzen, um gesellschaftliche Akteure zu beteiligen. Wer sich einbringen kann und nicht nur passives Objekt staatlicher Maßnahmen ist, leistet auch eher einen Beitrag zur Lösung der Probleme, stärkt also die Resilienz des Systems.

Kommunikation ist für Sie ein wichtiger Schlüssel für die Stärkung gesellschaftlicher Resilienz. Was schlagen Sie konkret vor?

Für meine Studien habe ich eine Vielzahl von Gesprächen mit Entscheidern geführt. Mein Eindruck: Es gibt bei ihnen eine starke Skepsis gegenüber der Beteiligung von Nicht-Fachleuten am Krisenmanagement. Die dominierende Sicht von Entscheidungsträgern ist: Nicht-Fachleute sind ein Störfaktor im Krisenmanagement. Wir brauchen hier eine grundlegend andere Sicht, sonst werden vorhandene Ressourcen, die dringend gebraucht werden, nicht genutzt. Ob es um das Hochwasser an der Ahr oder die Flüchtlingssituation geht: Ohne die aktive Beteiligung von Menschen außerhalb von „professionellen Strukturen“ wäre dies nicht zu bewältigen.

Welche Rolle spielen die Medien?

Aus meiner Sicht ist es für die Stärkung der systemischen Resilienz unverzichtbar, sich in der Krisenvorbereitung viel mehr Gedanken über den Umgang mit den Medien zu machen – auch den sozialen Medien. Das ist ein relevanter Aspekt für die Nachbereitung der Corona-Krise als Vorbereitung auf die nächste Krise. Hierzu gehört auch die Einsicht, dass der Anteil der Menschen, die die Medien ziemlich undifferenziert nur als Sprachrohr der Herrschenden sehen, wächst. Sie sind offen für populistische Thesen bis hin zu Verschwörungstheorien. Damit müssen wir umgehen.

Wie stellen Sie sich eine solche Aufbereitung vor?

In der Politik geht es häufig vor allem um die Suche nach Schuldigen. Gerichte und Untersuchungsausschüsse sind deshalb kaum geeignet für die Frage der Aufarbeitung im Sinne von „Lessons learned“. Vielleicht helfen Enquête-Kommissionen. Wenn man das Blame-Game der Medien schon nicht verhindern kann, sollte die Politik es nicht auch noch befeuern, sondern nüchtern analysieren, was schiefgelaufen ist und was man beim nächsten Mal besser machen kann.

Sie halten den Versuch, das Verhalten von Menschen in Krisen durch Nudging in eine bestimmte Richtung zu steuern, für kontraproduktiv. Warum?

Das klassische Beispiel für erfolgreiches Nudging sind öffentliche Toiletten für Männer. Die Fliege im Urinal mag dazu führen, dass Toiletten sauberer bleiben. Für eine Kommunikationsstrategie seitens Behörden sehe ich Nudging jedoch problematisch, da dieser Ansatz zumeist versucht zu manipulieren und damit unweigerlich im Gegensatz zum Anspruch der Transparenz steht. Zudem fußt Nudging auf der Annahme, dass die Behörden wissen, was richtiges Verhalten ist, die Bedürfnisse der betroffenen Menschen werden hingegen kaum berücksichtigt. Involvement statt Nudging, das ist mein Rat.

Sie plädieren dafür, in Krisen nicht zentral zu handeln, sondern auch kleinere Einheiten zu befähigen, Entscheidungen zu treffen. In der Corona-Krise war die Kakophonie der föderalen Maßnahmen aber kein Erfolgsrezept für die Akzeptanz der getroffenen Regelungen. Wie kann man dezentrale Entscheidungsfindung und einheitliche Kommunikationsstrategie miteinander vereinbaren?

Zentralistische Staaten sind nicht besser durch die Krise gekommen.

Mein Eindruck ist nicht, dass zentralistische Staaten wie Frankreich besser durch die Krise gekommen sind. Was in Deutschland zur Wahrnehmung der Maßnahmen als Kakophonie beigetragen hat, ist, dass die Pandemie die Politik unvorbereitet getroffen hat. Es gab keine eingeübten Prozesse der Abstimmung. Deshalb ist es unverzichtbar, in der Krisenvorbereitung Abstimmungsprozesse einzuüben. In jeder Krise muss improvisiert werden, denn jede Krise ist anders als die vorhergehende. Aber professionelle Vorbereitung ist wichtig, um das Maß und die Art der Improvisation zu beeinflussen, das Krisenmanagement und die Krisenkommunikation zu professionalisieren.

Sie plädieren dafür, die Zivilgesellschaft zu stärken. Was schlagen Sie dafür vor und wie wird uns das in künftigen Krisen helfen?

Entscheidend ist, dass man in der Vorbereitung auf eine Krise Strukturen und Netzwerke schafft, um zivilgesellschaftliches Engagement in die Bewältigung der Krise einzubeziehen. Wenn die Fluten durch das Ahrtal rauschen, ist es zu spät, Strukturen zu schaffen. Aber mein Eindruck von außen ist: Das zivilgesellschaftliche Engagement hat sich da bewährt, darauf kann man aufbauen.

Wenn die Fluten durch das Ahrtal rauschen, ist es zu spät, Strukturen zu schaffen.

Sie arbeiten auch in der Schweiz. Was kann Deutschland mit Blick auf Resilienz des Gesundheitssystems von den Schweizern lernen?

Ein wichtiges Stichwort ist Bevorratung. In der Schweiz gibt es eine Tradition, über entsprechende Verträge sicherzustellen, dass für Krisenzeiten Vorräte angelegt werden. In der Schweizer Bevölkerung gibt es ein Bewusstsein für die Notwendigkeit privater Krisenvorbereitung. Das wird von der Regierung gefördert, entscheidend aber ist, dass es fast als eine staatsbürgerliche Pflicht angesehen wird – wie wählen gehen.

Wir sind jetzt am Ende unseres Gesprächs. Welche Botschaft ist ihnen noch wichtig?

In meinen Forschungen und Gesprächen ist mir aufgefallen, dass wir in Deutschland praktische keine Institutionen haben, die die Erfahrungen vergangener Krisen auswerten und einen strukturierten Prozess des institutionalisierten Vorbereitens auf die Krisen der Zukunft systematisch nach vorn bringen. Darauf zu setzen, dass die Vielzahl von Einzelaktivitäten schon zu mehr Resilienz führen wird, greift aus meiner Sicht zu kurz.

Herr Roth, Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Dr. Florian Roth

Florian Roth hat Politikwissenschaft, Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Konstanz studiert. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit der Frage, wie politische Akteure Entscheidungen unter Bedingungen hoher Komplexität und Unsicherheit treffen und diese kommunizieren. Anschließend arbeitete er in unterschiedlichen Forschungsprojekten an der ETH Zürich sowie am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Seit 2022 forscht und lehrt Florian Roth an der Züricher Hochschule für Angewandten Wissenschaften (ZHAW). Der Fokus seiner Arbeit bildet unter anderem die Verbindung von Resilienz, Innovation und Nachhaltigkeit.

 

Dr. Andreas Meusch

Andreas Meusch ist Beauftragter des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK) für strategische Fragen des Gesundheitssystems und Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). Vor seiner Tätigkeit für die TK war er Leiter der Landesvertretung Baden-Württemberg der Ersatzkassenverbände und Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er hat Politik, Geschichte und Publizistik in Mainz, Dijon und Krakau studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationale Politik der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz.

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„Schönwettersystem“ in der Klimakrise: Was Resilienz im Gesundheitswesen in Zeiten des Klimawandels bedeutet

Kerstin Blum und Eckart von Hirschhausen