#RespectMySize - Julia Kremer - E-Book

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Julia Kremer

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Beschreibung

„Für deine Figur hast du aber ein hübsches Gesicht“, „Du bist ja mutig! Mit deiner Figur würde ich mich nicht trauen, das Kleid zu tragen“ oder „Ich fühle mich heute so fett“.

Das sind Sätze, die wir alle schon einmal gehört oder vielleicht sogar selbst gesagt haben.
Warum Fett kein Gefühl ist und was sich eigentlich hinter dieser Aussage versteckt, erklärt Julia Kremer. Seit über zehn Jahren setzt sie sich für mehr Körper- Diversität und gegen Vorurteile ein. Auf der Reise zu mehr Selbstbewusstsein wurde ihr klar, wie allgegen- wärtig Bodyshaming und Diskriminierung sind. Im Dialog unter anderem mit einer Antidiskriminierungsex- pertin, einem angehenden Arzt und Weiteren geht sie folgenden Fragen auf den Grund:
Wofür steht Body Positivity wirklich? Was ist Thin Privilege? Und warum geht es vielen Menschen eigentlich gar nicht wirklich um die Gesundheit dicker Menschen?

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Buch

»Für deine Figur hast du aber ein hübsches Gesicht«, »Du bist ja mutig! Mit deiner Figur würde ich mich nicht trauen, das Kleid zu tragen« oder »Ich fühle mich heute so fett«. Das sind Sätze, die wir alle schon einmal gehört oder vielleicht sogar selbst gesagt haben.

Warum Fett kein Gefühl ist und was sich eigentlich hinter dieser Aussage versteckt, erklärt Julia Kremer. Seit über zehn Jahren setzt sie sich für mehr Körperdiversität und gegen Vorurteile ein. Auf der Reise zu mehr Selbstbewusstsein wurde ihr klar, wie allgegenwärtig Bodyshaming und Diskriminierung sind. Gemeinsam mit den unterschiedlichsten Expert*innen geht sie folgenden Fragen auf den Grund: Wofür steht Body Positivity wirklich? Was ist Thin Privilege? Und warum geht es vielen Menschen eigentlich gar nicht wirklich um die Gesundheit dicker Menschen?

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JULIA KREMER

#RespectMySize

Wie ich lernte, mich selbst zu lieben und gegen Vorurteile zu kämpfen

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Leah Smyra

Umschlagmotiv: vierfotografen

NG · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-6412-8562-3V001

www.blanvalet.de

Danke, Verena, dass ich unsere Botschaft #RespectMySize mit diesem Buch weiter in die Welt tragen darf, und danke an alle Menschen, die uns dabei unterstützen!

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 »Du passt da nicht rein!« – Zu viel und niemals genug

Kapitel 2 »Biggest Loser?« – Fehlende Vorbilder in den Medien von 1990 bis heute

Kapitel 3 »Für deine Figur bist du ja ganz schön smart« – Wie Vorurteile die Schulzeit und Arbeit erschweren

Kapitel 4 »Du bist meine Traumfrau, wenn du zehn Kilo abnimmst« – Über Dating-Erfahrungen

Kapitel 5 »Iss einfach weniger & mach Sport!« Was dicke Menschen bei Ärzten & Ärztinnen immer wieder erleben

Kapitel 6 »Ich schaffe das!« – Jetzt fängt mein Leben an

Kapitel 7 »Raus aus der Komfortzone« – Wie ich aus meinen vermeintlichen »Schwächen« meine Stärken machte

Kapitel 8 »Ich darf statt ich muss« - Die Macht der Sprache

Kapitel 9 Humor gegen Hate

Kapitel 10 »Jeder Mensch verdient Respekt«– Body Positivity, Body Acceptance und Thin Privilege

Kapitel 11 »Erstes Plus-Size-Model bei der Wahl zur Miss Germany« – Für Diversität und neue Sehgewohnheiten

Kapitel 12 #RespectMySize

Ausblick

Danksagung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Vorwort

»Wow, dein Kleidungsstil ist aber ganz schön mutig. Wenn ich deine Figur hätte, würde ich mich nicht trauen, so rauszugehen.« – »Willst du das wirklich noch essen?« – »Du musst dich halt einfach mehr bewegen!« – Sätze, die Menschen mit Mehrgewicht tagein, tagaus entgegenschlagen. Die unterschwellige Botschaft lautet immer wieder: Dick sein ist hässlich, ungesund, dicke Menschen sind undiszipliniert, faul und lassen sich gehen.

Was macht das eigentlich mit Menschen, die mehr Gewicht haben? Und was macht es mit Menschen, die nicht dick sind, aber vielleicht Angst davor haben zuzunehmen?

In diesem Buch erzähle ich euch von meiner eigenen Geschichte. Spreche über Diäten schon in der Kindheit, über zu wenig diverse Vorbilder und wie sich das auf mich ausgewirkt hat, über Dating-Erfahrungen als kurvige Frau, erschütternde Erlebnisse bei Besuchen von Ärztinnen und Ärzten, über den Mut, mithilfe von Therapien Traumata aufzuarbeiten, Gefühle spüren und meine Essstörung verstehen zu lernen, selbstbewusst zu werden, und wie ich es geschafft habe, meinen Körper so anzunehmen, wie er ist.

Ich erzähle auch, gegen welche Vorurteile Menschen mit Mehrgewicht täglich (unbewusst) ankämpfen müssen und welche Strategien mir im Alltag helfen, damit umzugehen. Und ich erzähle von unserer Kampagne #RespectMySize, die Verena Prechtl und ich gestartet haben. Ich freue mich sehr, dass ich mit verschiedenen Expert*innen Gespräche führen durfte, die uns allen hoffentlich neue Blickwinkel in unterschiedlichen Bereichen, die mit dem Thema Mehrgewicht zu tun haben, geben werden.

Ich nehme es schon mal vorweg: Das hier wird leider keine Märchenstory mit Happy End. Vielleicht ja im nächsten Buch. Für dieses Buch bin ich mit einem Brennglas durch mein Leben gegangen. Ich hätte sicherlich Tausende Geschichten darüber erzählen können, was für schöne und großartige Erlebnisse ich bereits hatte, aber mir geht es vor allem um Aufklärung. Deswegen habe ich den Fokus darauf gelegt, vor allem über strukturelle Diskriminierungserfahrungen als dicke Person in dieser Gesellschaft zu sprechen. Ich habe nämlich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es ganz vielen anderen Menschen genauso geht wie mir.

Dabei ist es mir wichtig zu sagen, dass dieses Buch im Juni 2022 zu Ende geschrieben wurde. Alles ist im Wandel, so auch ich. Ganz sicher gibt es bis zur Veröffentlichung dieses Buches schon wieder neue Erkenntnisse über einige Themen, die hier noch keine Berücksichtigung finden konnten, doch damit ich euch dieses Buch endlich präsentieren kann, setze ich hier einen Punkt. Vielleicht ist auch unsere Gesellschaft bis dahin schon wieder ein kleines Stück weitergekommen. Das wünsche ich mir sehr, denn ich habe die Hoffnung, dass wir alle nicht länger hinnehmen, wie mit dicken Menschen umgegangen wird. Und gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich ganz sicher nicht für alle Menschen mit Mehrgewicht spreche. Jede Person wurde anders sozialisiert, hat andere Prägungen und Erfahrungen, und doch habe ich mit den Jahren immer wieder Muster und Parallelen festgestellt, die ich hier sichtbar machen möchte. Genauso wie ich dafür sensibilisieren möchte, dass es wichtig ist, die unterschiedlichen Diskriminierungsformen als Gesamtheit zu betrachten.

Ich hoffe, dass wir andere Menschen nicht weiterhin aufgrund ihres Aussehens oder anderer Merkmale ungefragt kommentieren, denn wir wissen nie, welche Auswirkungen das haben kann. Und ich wünsche mir sehr, dass ihr nach dem Lesen dieses Buches etwas gestärkter, etwas selbstsicherer und mit neuen Blickwinkeln rausgeht.

#RespectMySize!

Kapitel 1»Du passt da nicht rein!« – Zu viel und niemals genug

Mein Herz klopft wie wild. Mein Atem wird immer schneller. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Mit meinen zwölf Jahren stehe ich in der Modeabteilung eines Kaufhauses, ein Ort, den ich überhaupt nicht leiden kann. Dabei liebe ich es, shoppen zu gehen. Nur eben keine Kleidung. Ich will hier weg, doch ich brauche neue Anziehsachen. Mein Bauch ist etwas runder als bei den meisten anderen Kindern in meinem Alter, genauso mein Gesicht; meine langen braunen Haare verdecken es aber ein wenig, wenn ich sie offen trage. Das rät man mir auch immer.

Eine Verkäuferin steuert auf mich zu. »Wie darf ich helfen?«, fragt die Frau. Ehe ich antworten kann, fährt sie fort: »Ah ja, ich sehe schon, du musst in die Erwachsenenabteilung. Hier in der Kinder- und Jugendabteilung findest du mit deiner Figur nichts mehr.« Autsch. Das tut weh. Ich bin noch so klein und weiß bereits: Hier gibt es nichts für mich. Was ich noch nicht weiß, ist, dass es nicht meine Schuld ist, dass für Kinder keine Körperformen mitgedacht werden. Entweder man passt in eine Standardgröße, oder man hat halt Pech gehabt. So als würden Kinderkörper alle einer einzigen Norm entsprechen, dabei wiegen wir ja schon von Geburt an komplett unterschiedlich. Eine Weile konnte ich noch Kleidung für größere Kinder tragen, trat dann aber immer auf den Hosensaum. Mittlerweile passt davon nichts mehr.

Die Verkäuferin lotst mich in die Damenabteilung, um mich herum Personen, die mindestens dreimal so alt sind wie ich. Meine Scham – riesig. Mein Gesicht – heiß und wahrscheinlich rot. »Mit deiner kräftigen Figur solltest du auf keinen Fall mädchenhafte Kleidchen oder Röcke tragen, das ist schon mal klar. Keine Spaghettiträgertops oder irgendwas, wo man viel Haut sieht«, sagt die Verkäuferin. »Wir suchen dir weite Hosen, lockere Shirts, etwas, das deinen Bauch auf jeden Fall kaschiert. Was Sportliches.« Wieso sportlich?, frage ich mich. Ich höre doch sonst immer von allen Seiten, dass ich eben nicht sportlich sei, gar nicht sportlich sein könne, weil meine Figur rundlicher ist als die der anderen Kinder. Die Art, wie die Verkäuferin über meine Figur spricht, verschafft mir ein ekliges, beklemmendes Gefühl, das ich kaum beschreiben kann. Mein Kopf brummt. Sie schickt mich zur Anprobe. Ich höre, wie die Vorhänge in den Umkleidekabinen auf- und zugezogen werden. Glücklich aussehende Frauen und Kinder mit vollen Einkaufstüten ziehen draußen vorbei. Welche Kleidung habe ich in den vergangenen Minuten eigentlich anprobiert? Habe ich überhaupt irgendetwas anprobiert? Ich weiß es nicht. Ich höre die Stimme der Verkäuferin jetzt nur noch wie durch Watte, spüre nichts mehr. Sie mustert mich von oben bis unten und verabschiedet sich leicht kopfschüttelnd. Ich verlasse das Geschäft, ohne ein einziges Teil gekauft zu haben. Das ist nichts Neues. So läuft eigentlich jede Shoppingtour ab. Der Gedanke daran, einen eigenen Stil zu entwickeln, mich und meine Persönlichkeit über Kleidung zu entdecken, so wie es für viele andere in meinem Alter ganz natürlich ist, liegt mir fern. Im Gegenteil.

Wertlos. Hässlich. Faul. Undiszipliniert. Unsportlich. Ekelhaft. Ungesund. Wenig liebenswert. Das bin ich. Diese Attribute haben sich früh auf meine Festplatte gebrannt, selbstzerstörerische Gedankenfetzen. Das Einzige, was mich da rausholen kann? Schlank sein. Eines Tages endlich schlank sein, denke ich. Und es wird mir von allen Seiten gepredigt, dass das die einzige Lösung für alles ist.

***

In meiner Kindheit und Jugend gab es so gut wie keine Kleidung, in der ich mich wohlgefühlt habe. Alles zu eng, einschneidend, sackig, null modisch, verhüllend und kaschierend in Farben und Mustern, die alles waren, nur nicht ansprechend. Dabei ist Kleidung so wichtig, um sich in seinem Körper wohlzufühlen und seine Persönlichkeit ausdrücken zu können.

Wenn es euch schwerfällt, das nachzuempfinden, dann macht gerne mal ein Experiment: Zieht eine Hose an, die zwei Nummern zu klein ist, die gerade so zugeht, und verbringt einige Zeit darin. Wenn ihr anschließend die passende Größe anzieht, habt ihr vermutlich ein ganz anderes Gefühl zu euch und eurem Körper. Ich kann euch nur empfehlen, Kleidung auszusortieren, die »irgendwann mal (wieder) passen soll«. Wartet nicht darauf. Kauft oder tauscht Kleidung, die euch jetzt passt und in der ihr euch wohlfühlt und nicht erst irgendwann in der Zukunft, wenn ihr abgenommen habt.

Erinnert ihr euch an die Zeit, in der Miss-Sixty-Jeans total in waren? Ich konnte sie mir weder leisten, noch haben sie gepasst. Dennoch wünschte ich mir sie so sehr. Um dazuzugehören. Dann dieser Moment im Bekleidungsgeschäft, als ich vor ihnen stand und schon wusste, dass ich nicht reinpassen würde … nicht mal in die größte Größe. Ich nahm sie trotzdem mit in die Kabine und zog sie über das eine Bein, dann über das andere. Bis zu den Oberschenkeln bekam ich sie hoch, danach war Schluss. Tränen schossen mir in die Augen. Ich suchte den Fehler immer bei mir, bei meinem vermeintlich hässlichen Körper, so wurde es mir immer und überall suggeriert. Nie bei den Jeansproduzenten, die meinen Körper einfach nicht mitgedacht hatten.

Hätte ich mich und mein Aussehen selbst beschreiben sollen, ich hätte kein nettes Wort für mich übrig gehabt. Der Wunsch, schlank zu sein, ist in meiner Jugend mein ständiger Begleiter, denn schließlich weiß ich seit dem Kindergarten, dass etwas mit mir nicht stimmt. An Details aus dieser Zeit erinnere ich mich kaum noch, aber eine Sache werde ich nie vergessen. Es ist der Tag, an dem ich mein Lieblingskleid trage, dunkelblau mit weißen Streifen. Wir sitzen im Stuhlkreis, ich muss kurz aufs Klo. Als ich zurückkomme, zeigt ein Junge auf meinen Bauch, ruft irgendetwas und beginnt zu kichern. Als ich an mir runterschaue, merke ich, dass ich mein Kleid aus Versehen falsch geknöpft habe, sodass man einen Teil meines Unterhemdes sehen kann. Jetzt zieht der Junge seinen Pulli hoch und streckt den Bauch ganz weit heraus. Dazu pustet er die Wangen auf, schiebt sein Kinn zu einem Doppelkinn zurück und beginnt, Grimassen zu ziehen. Andere Kinder fangen an zu lachen, und ich verstehe, dass ich es sein soll, die der Junge da nachäfft. Ich renne zurück ins Badezimmer und schließe mich dort ein. Ich kann meine Tränen nicht runterschlucken, ich weine. Meine Lieblingskindergärtnerin kommt herein und redet mir gut zu. Ich will erst wieder raus, wenn alle Kinder weg sind. Sie erlaubt mir, so lange zu warten. Zum Glück. In meinem Kopf rattert es trotzdem wieder: Du bist zu viel. Du bist zu dick. Und andere scheinen jedes Recht zu haben, sich über deinen Körper lustig zu machen – niemand schreitet ein.

Heute weiß ich, dass das Verhalten der anderen Kinder nicht von ungefähr kam. Schon Mädchen zwischen drei bis fünf Jahren verbinden positive Eigenschaften damit, dünn zu sein, und würden eher mit dünnen als mit dicken Kindern spielen. Das zeigen Studien*, die immer wieder das gleiche Vorurteil erkennen lassen: Dünn ist gut, dick ist nicht gut.

Die meisten Personen in meinem Umfeld** sind schlank, und die, die es nicht sind, versuchen abzunehmen. »Hast du dich mal im Spiegel angeschaut? Wie siehst du überhaupt aus? Willst du nicht endlich mal abnehmen?«, »Wenn du so bleibst, findest du niemals einen Partner« – Fragen und Behauptungen, die man mir als kleines Mädchen und Heranwachsende immer wieder von allen Seiten und aus allen Richtungen entgegenschleudert. Ich höre sie so oft, bis ich die Aussagen selbst glaube. Denn schlanke Menschen werden geliebt, denke ich. Schlanken Menschen geht es immer gut. Schlanke Menschen sind gesund. Schlanke Menschen sind immer gut drauf. Schlanke Menschen können die Kleidung tragen, die gut sitzt und schön aussieht.

Schon ganz früh bekomme ich die »Lösung« all meiner Probleme präsentiert: DIÄTEN! Und so mache ich mit vielleicht gerade mal acht Jahren Bekanntschaft damit. Diäten werden für Jahrzehnte mein treuester Begleiter. »Kein Zucker. Mehr Salat. Kleinere Portionen. Abends nichts mehr essen. Friss die Hälfte. Mehr bewegen. Heute kannst du dir noch mal was gönnen, jetzt hast du eh schon gesündigt, und am Montag wird dann richtig durchgestartet«, sagen die Kinderärzte und -ärztinnen, sagen Verwandte, sagen gute Bekannte, sagen Fremde, schallt es aus dem TV und liest man in Magazinen. Diäten werden mir immer wieder pauschal empfohlen, ohne mich jemals danach zu fragen, was ich wirklich zu mir nehme und wieso, wie viel Sport ich mache und wie es mir eigentlich geht. Wo vielleicht die Ursache liegen könnte.

Schmeckt mir nicht: erste Diäterfahrungen

Meine erste Diäterinnerung: Familienkur am Meer, zu dem Zeitpunkt bin ich etwa zehn Jahre alt.

Speisesaal. Die anderen Kinder stürmen zur Essensausgabe. Ich sehe Salat, Kartoffeln, Nudeln, verschiedene Sorten Fleisch, Gemüse in allen Varianten, Quark mit Mandarinen und Pfannkuchen mit Zimt und Zucker. Eine riesige Auswahl an leckerem frischem Essen. Es duftet so gut! Die Frau, die ich aus der Ernährungsberatung kenne, tippt mir auf die Schulter, als ich von meinem Stuhl aufstehen will. »Und du darfst dir da drüben etwas aussuchen, schau.« Sie zeigt auf etwas, das gar nicht aussieht wie ein Büfett, eher wie ein Abstelltischchen. Gemeinsam gehen wir auf den kahlen Tisch zu. Darauf stehen drei Glasschüsseln, abgedeckt mit Plastikfolie, davor platziert sind kleine Schildchen: SONDERKOST – Magerquark mit 0,1 % Fett. Magere Putenbrust. Grüner Salat mit Tomaten – kein Dressing. Dazu Wasser. Zu diesem Zeitpunkt hasse ich Wasser. Stilles Wasser trinken zu müssen macht mich irgendwie wütend. Ich brauche Geschmack. Saftschorle oder Limo. Ich brauche dieses Prickeln in Mund und Rachen, am liebsten eiskalt – das betäubt meine Sinne. Wasser gibt es bei uns selten, ich bin also nicht daran gewöhnt und finde es unerträglich, dass man mir den gewohnten Geschmack nehmen will.

Neben den Schalen mit dem Essen steht eine Tischwaage. Vor der Waage liegt ein mit Tesa befestigtes Blatt Papier, auf dem eine Tabelle abgedruckt ist. Es wartet eine große Aufgabe für ein kleines Mädchen: Ich soll in der Tabelle nachschauen, wie viel Gramm von Quark, Salat und Huhn ich meinem Alter entsprechend auf meinen Teller geben darf. So hat es mir die schlanke Ernährungsberaterin mit ihrem eigenen Teller voller Leckereien in der Hand gesagt. Ob sie wohl jemals eine Diät machen musste? Ob sie eine Ahnung hat, wie ich mich fühle?

Auf der Tabelle vor meinen Augen verschwimmen die schwarzen Zahlen zu einem grauen Brei. Wie viel Essen braucht man, bis man satt ist? Warum darf ich nicht mit den anderen das leckere Essen essen? Wie viel soll noch mal die Putenbrust wiegen? Der Hunger ist mir längst vergangen. Da ist dieses Gefühl, beobachtet und be- und vor allem entwertet zu werden. Sie meint es nur gut, aber gut gemeint ist nicht gut gemacht. Ich schäme mich. Es schnürt mir den Magen zu. Mir ist übel. Ich verzichte auf das Essen und werde dafür gelobt. So würde ich mein Abnehmziel sicher noch schneller erreichen. »Bravo, Julia. Weiter so!«, heißt es vom Betreuerteam. Das Wort »Diät« gebraucht bei der Kur zwar niemand, aber die Erwachsenen sagen ja sowieso nicht das, was sie wirklich meinen. Darauf kommt es auch nicht an. Jetzt, wo ich mit der Tischwaage Bekanntschaft gemacht habe, weiß ich einmal mehr: Ich bin zu viel. Und gleichzeitig nicht genug. Niemals genug.

***

Wenn ich heute Kinderbilder von mir anschaue, sehe ich ein Baby, das rundlichere Ärmchen und Beinchen hat, wie Babys nun mal aussehen. Ich sehe ein Grundschulkind mit einem eher rundlichen Gesicht und proportional passender Figur. Eine Gewichtsabweichung, die ich mit meinem erwachsenen Blick heute als geringfügig beschreiben würde. Sie hätte sich vermutlich einfach verwachsen, wäre man mir mit Mitgefühl und Empathie begegnet und hätte mir einen neutralen Umgang mit meinem Körper, Bewegung, Emotionen und Ernährung beigebracht. Aber diese Geringfügigkeit hat meinem Umfeld genügt, um mich in dieses Diätchaos zu stürzen, das mein Leben noch ganz schön beeinflussen würde. Von Anfang an lernen wir: Dick zu sein ist schlimm, dünn zu sein ist gut – gut oder böse und nichts dazwischen.

Wenn ich während der Kur sage, dass ich Hunger habe, bekomme ich meist zur Antwort: »Du kannst gar keinen Hunger haben, du hast doch vor drei, vier Stunden erst etwas gegessen.« Heute weiß ich, dass es wichtig ist, auf die Signale des Körpers zu hören. So aber wurde allein die Möglichkeit, das (wieder) zu lernen, im Keim erstickt.

Wie gerne würde ich, wie die anderen Kinder, eine unbeschwerte Zeit am Strand verbringen. Sandburgen bauen, Muscheln suchen, in die Ferne gucken und den salzigen Duft des Meeres genießen, den Wind im Haar spüren. Stattdessen jagt eine Sporteinheit die nächste, und so richtig satt werde ich von diesem Essen auch nie. Ich muss ein Kalorientagebuch führen und hasse mich dafür, weil ich unkontrollierbare Süßigkeiten-Ess-Flashs habe. Immer wenn mein Körper nach diesen anstrengenden Tagen zur Ruhe kommen will, habe ich ein Verlangen nach etwas Süßem. Manchmal kaufe ich mir heimlich einen Schokoriegel von meinem Taschengeld. Irgendwie beruhigt er mich.

Jetzt, Jahre später, verstehe ich endlich, was dahintersteckt. Alles ergibt für mich mittlerweile einen Sinn, und ich möchte die kleine Julia einfach nur in den Arm nehmen. Und nicht nur sie, sondern eine ganze Generation Menschen, die in der Diätkultur groß geworden sind und deren Umfeld es auch nicht besser wusste. Wie auch?

Die Waage, (m)ein Lebensgefühl

Zurück zu Hause. Nach dem Sommer in der Kur am Meer steht ein Routinebesuch bei meinem Kinderarzt an. Er ist irgendwie immer gut gelaunt. Bei ihm gibt es eine große Kiste mit Spielsachen und Traubenzucker in bunten Tütchen, und wenn man gut mitgemacht hat, darf man sich nach der Behandlung etwas davon aussuchen. Bei ihm fühle ich mich immer recht wohl. Bis zu diesem einen Termin, der alles ändert. Mit meinen zehn Jahren wiege ich statt 29 bis 42 Kilo 45 Kilo.

Hinter dem Schreibtisch des Arztes hängt ein Plakat mit vielen geschwungenen Linien und Zahlen, die entweder hellgrün oder dunkelrot sind. Meine Zahl liegt im roten Bereich.

»Mit diesem Ü*ergewicht* findest du aber später keinen Freund. Pass da gut auf«, sagt mein Arzt und presst die Lippen aufeinander. Mit einem Bleistift umkringelt er die 45 mehrfach und sagt etwas von Fettleibigkeit, Zuckerkrankheit und Krebs. Angst überkommt mich. Ich habe keine Vorstellung davon, was das alles wirklich bedeutet, aber ich fühle mich schlecht. Ich bin wie paralysiert, kann nicht mehr richtig atmen. Mir wird schwindelig.

»Du kannst dich jetzt wieder anziehen, Julia«, sagt er.

Ich schleiche hinter den Paravent. Für mich ist die Sache klar: Ich muss dringend dünn sein, sonst sterbe ich bald. Dieses Gefühl nehme ich mit. Dabei hat mein Leben doch noch gar nicht richtig angefangen. Während sich die Erwachsenen weiter unterhalten, warte ich hinter dem Raumteiler darauf, dass ich hier endlich rauskomme. Habe Tränen in den Augen, aber lasse sie nicht zu. Zum Abschied darf ich mir noch etwas aus der Kiste mit den Spielsachen aussuchen. Ich entscheide mich für eine kleine Dino-Spielfigur. Lieber hätte ich den Traubenzucker in dem bunten Plastiktütchen gehabt, um meine Nerven zu beruhigen, aber ich traue mich nicht, ihn zu nehmen.

Das Wort »Ü*ergewicht« kommt in diesem Buch nicht weiter vor. Im Folgenden spreche ich von Mehrgewicht. Das Wort Ü*ergewicht bezeichnet ein Abweichen von der »Norm« und ist auf den sehr kritisch anzusehenden BMI zurückzuführen (siehe Seite 147).

Noch heute frage ich mich manchmal, was eigentlich zuerst da war – mein sozial unverträglicher Körper, der von allen Seiten immer wieder kommentiert wurde, als stünde eine riesige Einladung auf ihm: KOMMENTIERMICHBITTE!, oder meine Essstörung? Intuitiv zu essen, also einfach dann, wenn man Hunger hat, habe ich jedenfalls nie gelernt. Sehr wohl aber, dass Essen in den unterschiedlichsten Situationen etwas mit Belohnung, Bestrafung und Liebesbekundungen zu tun hat.

Selbstverständlich soll man als gutes Kind unbedingt auch den zweiten übervoll geladenen Teller leeressen, egal ob man gerade Appetit hat oder nicht. Aber einen Bauch haben, das ist nicht okay.

Um meinen elften Geburtstag herum fallen auf Feiern in meinem Heimatdorf zum ersten Mal Sätze wie »Dafür, date so dick büs, hässe aver wenichstens en hübsches Jeseit!« Auf Hochdeutsch: »Dafür, dass du so dick bist, hast du aber wenigstens ein hübsches Gesicht!« Damals bedanke ich mich höflich, ist ja ein Kompliment, dass sie mir, dem dicken Mädchen, doch noch irgendetwas Gutes abgewinnen können. Selbstverständlich verstehe ich noch nicht, dass eine solche Aussage nichts anderes als eine Beleidigung ist, getarnt als Kompliment, auch backhanded compliment genannt. Etwas später bietet mir jemand aus meinem Umfeld Geld, wenn ich endlich abnehme: 100 Mark für zehn Kilo Gewichtsverlust in einem Monat. In dem vereinbarten, und wie ich heute weiß, völlig unrealistischen Zeitraum schaffe ich es aber nicht.

Während solcher Feiern werde ich auch gerne mal auf die Waage geschickt. »Komm, zeig uns mal, wie viel du wiegst!« Ich ziehe mich dann meist zurück und fühle mich einfach nur unwohl.

Als ich anfange, über den Tellerrand meines Heimatdorfes hinauszuschauen, merke ich, dass der Rest der Welt die Ansichten meines Umfelds zu teilen scheint. Ich bin elf, zwölf Jahre alt, und es prasselt jetzt auch von den Zeitschriften, die bei uns zu Hause herumliegen, auf mich ein: »Die neue Bauch-weg-Diät«, titelt das eine Heft. Und die anderen: »Kohlsuppen-Diät: 5 Kilo weniger in fünf Tagen« oder »4-Wochen-Diätplan: Abnehmen mit Proteinen«. Direkt daneben fünf Sahnetortenrezepte.

Dann und wann stöbere ich in den Katalogen, aus denen man seine Kleidung bestellen kann. Ganz selten ist eine Frau abgebildet, die eine etwas rundlichere Figur hat als der Rest. In ihr kann ich mich sehen, und das macht mich glücklich. Bis ich weiterblättere und realisiere, dass die schönen, modischen Sachen alle nur für schlanke Frauen gedacht sind.

Mit der Vollendung meines zwölften Lebensjahres erreicht meine Essstörung ein neues Level: Ich traue mich nicht mehr, in der Öffentlichkeit zu essen. Statt im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof oder in der Schulcafeteria schlinge ich meine Brote heimlich am Ende der Pause auf dem Gang hinunter. Bin ich auf einem Geburtstag eingeladen, gebe ich vor, nicht hungrig zu sein. Mittagessen mit Freundinnen? »Leider keine Zeit«, lautet meine Standardantwort, selbst wenn mein Magen laut vor Hunger grummelt. Körperlich fühle ich mich immer schwächer, weil mein gesamter Organismus durch die Diäten aus der Balance geraten ist. Mental mache ich eine Berg- und Talfahrt nach der anderen durch, habe ständig Kopfweh und Magenschmerzen. Trotzdem, meine Mission ist klar: alles sein, bloß nicht dick. So habe ich es schließlich gelernt.

Als ich auf die Realschule komme, bin ich längst eine »Expertin« in Sachen Diäten. In meiner Klasse erzählen ein paar Mädchen etwas von einem Diätprogramm, bei dem man Punkte zählt und so ganz einfach abnehmen kann. Ich höre, dass man so viel Gemüse essen kann, wie man möchte, weil es keine Punkte hat. Wow, so viel essen, wie ich will – da wird das Abnehmen ja sicher easy, denke ich mir. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich mir das Programm oder das Buch mit dem »heiligen Wissen« leisten soll. In meinem Umfeld hat jemand Mitleid mit mir und hofft wohl, mich eines Tages doch endlich einmal schlank zu sehen. Ich bekomme das Buch mit der endlos langen Punkteliste also geschenkt. Es wird mein neuer Begleiter. Neue Zahlen, die mir den Weg weisen.

Wie es bei einer Diät oft so ist … Zu Beginn klappt es wie im Bilderbuch. Ich bin stolz auf mich, berichte überall von ersten Erfolgen. Mache Vorher-Fotos, die mich an mein altes Ich erinnern sollen. Die schlanke Julia wartet ja nur in mir darauf, befreit zu werden – so wird es uns ja immer wieder in den Medien und der Werbung suggeriert. Ich ziehe das Ganze einige Wochen oder vielleicht auch einige Monate durch. Doch dann klappt es auf einmal nicht mehr. In der Zeit vor dem Zyklus, wenn die Hormone schwanken und ich Heißhungerattacken bekomme, in der nächsten Prüfungsphase, wenn mein Körper zur Stressregulation auf Essen zurückgreifen möchte, weil er keine anderen Coping-Mechanismen beziehungsweise Bewältigungsstrategien gelernt hat, oder beim nächsten Geburtstag, wenn der Kuchen einfach zu gut schmeckt. Irgendwann liege ich mit den Punkten konstant immer wieder drüber und bekomme nichts mehr kontrolliert. Das schlechte Gewissen, die Scham und der Selbsthass nehmen überhand. Habe ich doch gerade die ersten Komplimente für mein »neues Ich« bekommen, kann ich doch jetzt nicht wieder zurückfallen, denke ich. Die Angst ist riesig. Ich lege das Buch zur Seite und begebe mich in einen radikalen Hungerstreik. So, wie es mir alle ständig empfehlen: weniger Essen, mehr Sport. Doch das Ganze endet immer wieder in Essanfällen. Ich habe gelernt, dass die Nahrungsverweigerung über einen längeren Zeitraum wie Atem anhalten ist. Je länger man es macht, desto stärker muss man anschließend nach Luft ringen. Und so hat es sich für mich rückblickend auch nach diesen Hungerphasen angefühlt. Hätte ich regelmäßig über den Tag verteilt gegessen, wäre ich vermutlich gar nicht erst in diesen Teufelskreis abgerutscht. Aber das verstehe ich erst viele Jahre später.

Nimm Binge-Eating und Essstörungen im Allgemeinen bitte ernst und mach dir bewusst, dass auch mehrgewichtige Menschen von allen Arten von Essstörungen betroffen sein können! Essstörungen haben keinen »Look«. Falls du das Gefühl hast, dass du unter essgestörtem Verhalten leidest, hol dir bitte Hilfe. Anzeichen dafür können sein: ständiges Sichsorgen um Gewicht und Essen, Nahrungsverweigerung oder unkontrollierte Essanfälle, »Essen verdienen« durch Sport, heimliches Essen, Sport anstelle von Essen, Panik vorm Zunehmen, Ablehnen des eigenen Körpers, hoher Leidensdruck. Die Beratung ist im Normalfall kostenfrei, Anlaufstellen finden sich beispielsweise hier: www.bzga-essstoerungen.de. Suche auch nach Angeboten in deiner Stadt.

»Vanessa (Name geändert), was hast du denn da kleben?«, frage ich eine meiner damaligen besten Freund*innen, die etwas Kleines, Rundes, Metallisches mit Sporttape hinter dem Ohr befestigt hat. »Das ist ein Magnet«, erklärt sie. »Den habe ich vom Arzt, ich war letztens mit meiner Mom dort. Der Magnet soll beim Abnehmen helfen, man muss gar nichts machen. Möchtest du nächstes Mal mitkommen? Bis wir wieder hinfahren, kannst du bei unserem Essensplan mitmachen.«

Magnet und Essensplan – ich bin dabei! Auf dem Speiseplan steht ab jetzt eine Diät, bei der man auf kohlenhydrathaltige Lebensmittel wie Nudeln oder Brot verzichtet. Es folgen Kohlsuppen-, Protein- und Eierdiäten, keine Ahnung, wie oft und in welcher Reihenfolge. Keines dieser Konzepte halten wir lange durch und beenden die Abende gemeinsam – entweder joggend auf kilometerlangen Feldwegen oder mit Süßigkeiten und einem Film. Ich hasse mich für meine »Misserfolge«, werte mich und meinen Körper ab. Vanessa und ich hassen beide unsere Körper, und zusammen ist es irgendwie weniger mies. Rückblickend ist es wirklich schwer zu ertragen, dass wir diese schönen Jahre mit radikalen Diäten, Selbsthass und Selbstoptimierungsversuchen zerstört und verschwendet haben.

Mein Essverhalten wird im Laufe meiner Jugend immer extremer: Entweder esse ich tagelang nur Brühe, oder ich esse, ohne das Gefühl zu haben, jemals satt zu sein. Dann stoppe ich erst, wenn ich Bauchschmerzen habe und körperlich spüre, dass ich voll bin.

Vanessa und ich zelebrieren die Momente des gemeinsamen Hungerns regelrecht. Und denken, das sei normal. Eine ewige Schleife. An regelmäßiges Essen ist längst nicht mehr zu denken. Diese »Flashs«, die ich jetzt immer wieder habe, bezeichnet man auch als Binge-Eating, würde ich rückblickend vermuten. Das sind exzessive Essanfälle, bei denen man das Gefühl hat, die Kontrolle über sein Essverhalten zu verlieren. Dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits mitten in einer Essstörung stecke, sehe ich heute, nach einer Therapie, glasklar. Damals habe ich aber einfach nur das Gefühl, in einer Achterbahn der Gefühle zu sitzen. Jeder Tag ein neues Auf und Ab, immer mit dem Ziel, schlank zu sein und dann ein besseres Leben zu leben. Um jeden Preis. Gesund, glücklich und geliebt. Dass dieser Weg alles andere als dorthin führt, ist mir lange nicht klar.

Rückblickend wünschte ich, man hätte uns schon als Kind beigebracht, unseren Körper einfach so anzunehmen, wie er ist, ohne ihn ständig zu manipulieren, um eine bestimmte Zahl auf der Waage zu erreichen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Seit ich lesen und schreiben kann, mache ich meinen Selbstwert und mein Gefühlsleben von unterschiedlichen Zahlen abhängig. Mal von meiner Kleidergröße und dem Etikett in der Hose, mal von der Zahl auf der Waage und mal vom Maßband. Und ab meinem elften Lebensjahr entscheidet die Waage täglich über meinen Selbstwert.

Ich stelle mich jeden Morgen und jeden Abend drauf. Sind morgens nur 100 Gramm mehr auf der Anzeige zu sehen als am Vortag, ist der Rest des Tages für mich gelaufen. Frust, Selbsthass und Tränen steigen in mir hoch. Und immer wieder dieselbe Frage: Wie soll ich es schaffen abzunehmen, wenn es doch das Essen ist, was mir nach solchen Tiefschlägen Halt gibt? Nur eine Sache kann mich umstimmen: wenn ich die 100 Gramm am Abend wieder weggehungert habe.

In den schlimmsten Phasen meiner Essstörung bedeutet das, dass ich mich ausschließlich von einem Apfel und fünf Litern Wasser am Tag ernähre. Habe ich am darauffolgenden Tag wieder einen Essanfall, liegt meine Welt erneut in Trümmern. All meine Gefühle sind mit der Zahl auf der Waage verknüpft.

Und dann erinnere ich mich noch an die Momente, in denen es vor Ort keine Waage gab. Man könnte meinen, dass es eine Befreiung war, aber das Gegenteil war der Fall.

Mit dreizehn Jahren bin ich auf Ferienfreizeit in Österreich an einem See. Traumhafte Kulisse: Wald, Lichtung, Bergsee, Steg – es könnte so schön sein. Ein Teil der Tagesgestaltung besteht darin, dass wir Jugendlichen mittags schwimmen gehen. Das Problem: Mich in einem Badeanzug zu zeigen, ist für mich eigentlich undenkbar. In Magazinen ist mir ja immer wieder demonstriert worden, wie ein Beachbody auszusehen hätte und wie nicht. Dazu kommen all die Kommentare und verachtenden Blicke, die mein Körper schon über sich hat ergehen lassen müssen. Nicht schon wieder! Ich habe früh genug erfahren müssen, dass mein Körper andere Menschen anwidern könnte, und das will ich hier, während der Ferienfreizeit, niemandem zumuten, und mir selbst auch nicht. Andererseits schreit mein Körper nach Abkühlung, nach Spaß im Wasser, dem Gefühl, mich treiben zu lassen. Dazuzugehören. Und so verbringe ich eine gefühlte Ewigkeit in der Umkleidekabine und kämpfe mit mir. Dann entscheide ich mich doch gegen den Badeanzug. Tag für Tag bleibe ich in meinem langärmligen Pullover. Im Hochsommer. Mein Highlight ist der letzte Abend, an dem wir alle beschließen, mit Kleidung, Hand in Hand, in den kühlen See zu springen. Endlich kann ich auch das Wasser genießen, ohne meinen Körper zeigen zu müssen.

Die Sucht danach, meinen Körper zu kontrollieren, macht leider auch im Urlaub keine Pause. Dass es vor Ort keine Waage gibt, macht mich nervös. Um mein Gewicht ohne Waage zu kontrollieren, nehme ich die rechte Hand zu Hilfe: Ich lege den Daumen in meine Taille, um zu sehen, ob ich mit den anderen Fingern in die Nähe meines Bauchnabels komme. Habe ich zugenommen? Oder vielleicht abgenommen? So geht das jeden Tag. Immer wieder schaue ich mich in sämtlichen Spiegelungen an, um zu kontrollieren, wie ich aussehe. Wenn ich mein Aussehen okay finde, dann fühle ich mich sicherer. Wenn ich mich »hässlich« finde, dann ist der Tag gelaufen.

Ich kann rückblickend nur vermuten, dass ich von Body Dysmorphia und Body Checking betroffen war. Leider hat das kein Arzt und keine Ärztin erkannt. Viele Jahre war mir nicht bewusst, wie tief ich in diesen Teufelskreisen steckte. Zur körperdysmorphen Störung gehört unter anderem, dass sich die Gedanken ständig um das eigene Aussehen drehen und man den Körper immer wieder, schon fast zwanghaft kontrolliert. Man hat große Ängste und eine verschobene Realität. Ursachen können ganz unterschiedlich sein, sind aber eng mit Essstörungen verknüpft, soweit ich das recherchiert habe.

Parallel zu meinem zwanghaft kontrollierenden Verhalten und meinem schwankenden Gewicht gebe ich alles, um bloß nicht »dick zu wirken«. Zugleich stemme ich mich mit aller Kraft gegen die Vorurteile, die mit dem Wort »dick« einhergehen. Auf keinen Fall will ich als faul und unsportlich gelten oder als eine Person, die viel isst. Heute weiß ich, dass man dieses Phänomen als »The Good Fatty« bezeichnet. Ich würde es so zusammenfassen, dass man alles tut, um möglichst angepasst zu sein, um möglichst gemocht zu werden, um Privilegien zu genießen und um keine Diskriminierung zu erfahren. So habe ich damals anderen immer wieder zu verstehen gegeben, wie diszipliniert ich sei und wie viel ich an mir arbeiten würde, um bloß keinem Vorurteil von dicken Menschen zu entsprechen. Bin morgens richtig früh aufgestanden, um mich zu stylen, damit ich auf jeden Fall als sehr gepflegt wahrgenommen werde. Die Liste ist endlos, und das meiste passierte ganz unbewusst. Hätte man mich gefragt, wieso ich das mache, dann hätte ich gesagt: Für mich. In Wahrheit wollte ich einfach nur dazugehören. Ich habe so viel dafür getan, um möglichst nicht als dicke Person wahrgenommen zu werden. Das haben auch immer wieder Freunde und Freundinnen zu mir gesagt: »Ne, ich nehme dich gar nicht als dick wahr. Für mich bist du schlank. Du bist anders«, wenn sich in der Gruppe wieder mal über eine andere dicke Person der Mund zerrissen wurde und ich darauf aufmerksam machte, dass ich auch anwesend sei und mich das verletzen würde.

Mobbing, Trauma, Panikattacken

Während ich heranwachse, sind Tuscheleien, Sprüche, Gelächter alles Alltag. Auf manchen Nachhausewegen werde ich vom Fahrrad gerissen, am Weiterfahren gehindert und bedroht. In Sportstunden werde ich ausgelacht und oft nicht mal mehr aufgerufen, um in die Gruppe gewählt zu werden.

Wenn dir alle nur lange genug sagen, dass du nicht okay bist, fängst du irgendwann selbst an, das zu glauben. Dann wird die Wahrheit der anderen zu deiner Wahrheit. So geht es auch mir. Meine Festplatte im Kopf ist voll von diesen hasserfüllten Sprüchen.

Die Leute aus meiner Klasse haben einen Spitznamen für mich etabliert, den ich so sehr verdrängt habe, dass er mir während der gesamten Arbeit an diesem Buch nicht einfallen wollte. Blank Space. Vergraben. Gelöscht. Vor manchen Erinnerungen will mich mein Gehirn so sehr schützen, dass ich einfach nicht mehr an sie herankomme.

*Siehe auch https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale-die-ideenkolumne/teresa-buecker-schoenheit-ungerecht-90174, zuletzt aufgerufen am 1.7.2022.

**Ich spreche im Buch immer wieder von »meinem Umfeld«, um Personen zu beschreiben, die Einfluss auf meine Entwicklung hatten – entweder aufgrund ihres Daseins oder ihrer Abwesenheit, ohne jemanden genauer zu benennen. Das können engere Verwandte, aber auch ferne Bekannte sein.

Die leere Seite 31 ist kein Druckfehler. Diese leere Seite ist der blinde Fleck in meiner Erinnerung. Diese leere Seite steht für mein Trauma. Ich dachte lange, dass Traumata immer nur in Zusammenhang mit großen Naturkatastrophen oder anderen sehr schweren Erlebnissen auftreten können. Bis ich mir eingestehen musste, dass das, was ich erlebte, für mich sehr schwer war. So richtig geglaubt habe ich es auch erst, als bei mir eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde. Ich dachte immer, das sei doch alles irgendwie »normal« …

Was ist ein Trauma? Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Eine Psychologin hat es mir einmal so erklärt: »Ein Trauma ist ein belastendes Ereignis, das von der Person, die es betrifft, nicht bewältigt werden kann. Es entsteht zum Beispiel durch Gewalt, sowohl physischer wie psychischer Natur.« Die Definition möchte ich mit dem Auszug aus einem Artikel aus dem Magazin My Life ergänzen, da er sich für mich so vertraut wie schmerzhaft anfühlt: »Das zentrale Element im Trauma ist das massive Erleben von Kontrollverlust: Was jetzt passiert, passiert, und im schlimmsten Fall kostet es mich das Leben.«

Während ich groß wurde, hörte ich immer wieder: »Du bist die Kräftige, die Starke«, dabei wurde unbewusst von meinem Umfeld nicht nur auf die physische Verfassung geschlossen, sondern auch auf die psychische. Jahre später erst fällt mir auf, dass ich immer die Starke sein musste und mir nicht erlaubt habe, vermeintliche »Schwäche« zuzulassen und zu weinen, über Gefühle zu sprechen oder nach Hilfe zu fragen. Anzuerkennen, dass das, was ich erlebt habe, unfassbar schmerzvoll war.

Mit etwa dreizehn Jahren überfällt mich das erste Mal eine Panikattacke. Ich kann die heftigen Gefühle und körperlichen Reaktionen nicht einordnen. Was mit mir während einer Panikattacke passiert, wie sich das anfühlt, finde ich noch heute schwierig in Worte zu fassen:

Mein Herz schlägt so stark, dass ich es am Hals spüre.

Je mehr ich atme, desto weniger Luft bekomme ich.

Mein Magen krampft, zieht sich zusammen.

Angsteinflößende Gedanken.

Mein Herz rast wie wild.

Beklemmungen.

Massive Angst.

Schwindel.

Übelkeit.

Ich schaue von oben auf mich hinunter.

Und frage mich: Werde ich das überleben?

Ich werde! Ich überlebe die Panikattacken und die Ängste vor den Ängsten. Gefühlte tausend Mal in den kommenden zehn Jahren in allen vorstellbaren Situationen.

Das Ganze geht wahrscheinlich immer ein paar Minuten bis zu einer halben Stunde so. Ein Zeitgefühl habe ich währenddessen nie, aber immer die feste Überzeugung, dass mein Herz gleich stehen bleibt.

Hätte mein Kinderarzt, als ich nach meiner ersten Panikattacke bei ihm in der Praxis stand und meine Symptome schilderte, erkannt, worum es sich handelte, wäre mir wahrscheinlich einiges erspart geblieben. Statt einer Untersuchung oder Fragen bekam ich von ihm aufmunternde Worte: »Das wird schon wieder, mach dir mal nicht so viele Sorgen, das brauchst du doch gar nicht. Bist doch noch so jung.«

Hätte er merken können oder müssen, in welchem Teufelskreis ich mich befand? Dass hier ein Mädchen darauf hoffte, jemand würde seine Essstörung, den psychischen Druck und die ADHS endlich erkennen? Dass jemand Fragen nach Mobbing in der Schule stellen würde? Dass jemand es mitsamt seinen Panikattacken zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten überweisen würde?

Wenn ich mich auf ein einziges Gefühl festlegen müsste, das meine Kindheit und Jugend am besten beschreibt, so wäre es der Eindruck, falsch zu sein. Was ich auch tat, wo ich mich auch befand, immer gab man mir zu verstehen: Du passt hier nicht rein. Es zog sich durch alle Bereiche: den Sportunterricht, weil ich nicht sportlich aussah. Die Arztpraxis, weil mein Gewicht in der roten statt in der grünen Kurve lag. Bekleidungsgeschäfte, weil mir nichts passte. Die Diätgruppe, weil ich mehr zu mir nahm als vorgegeben. Filme, Serien und Zeitschriften, weil Menschen wie ich dort entweder gar nicht vorkamen oder ungestraft verhöhnt und gedemütigt wurden. Wohin sollte sich eine mehrgewichtige Heranwachsende, für die es nirgends einen Safe Space gab, wenden? Nach wem sollte sie sich richten? Die acht Jahre alte Julia aus der Kur hätte keine Antwort auf diese Frage gehabt. Die vierzehn Jahre alte Julia mit den Panikattacken auch nicht.

Damals fehlte mir neben Empathie und einer Ärztin oder einem Arzt, die sich Zeit genommen hätten, vor allem eines: ein Vorbild. Ein Mensch, der ähnlich aussah wie ich. Der mir zu verstehen gab, dass ich so, wie ich war, richtig war. Genug. Liebenswert.

Kapitel 2»Biggest Loser?« – Fehlende Vorbilder in den Medien von 1990 bis heute

Eine Welt, in die ich mich als Jugendliche immer wieder flüchtete, um all den Anstrengungen des Alltags zu entkommen, waren die Magazine, Musik- und TV-Shows in den Neunzigern. Die Chartshow TOP 100 am Freitag und die Magazine, die immer mittwochs erschienen, gaben mir im heiklen Alltag Struktur. Vor der Schule ging ich dann extra einen kleinen Umweg, um am Kiosk vorbeizukommen. Ich war immer ganz aufgeregt, ob meine Lieblingsstars dieses Mal als Poster zu sehen sein und wie die Magazine über sie berichten würden.

Ich frage mich heute oft, wie anders meine Kindheit wohl verlaufen wäre, wenn bei den Zeitschriften damals auch kurvige Frauen auf dem Cover zu sehen gewesen wären. Wenn dicke Frauen Filmheldinnen und nicht nur Feindbilder gewesen wären. Wie anders die Entwicklung unserer Generation wohl gewesen wäre, wenn lesbische Frauen, Schwarze Frauen und nicht binäre Personen Repräsentation erfahren hätten. Queere Personen, Menschen, die eine Behinderung haben, und alte Menschen. Alle Menschen, die in dieser Zeit keine, nur sehr wenig oder sehr stereotype Repräsentation erfahren haben.

Kennt ihr einen Film mit einer mehrgewichtigen Frau, in dem es nicht um ihren Körper geht, die einen mehrdimensionalen Charakter hat und nicht nur der Joke des Filmes ist?

Mir hätte es als junges Mädchen sicher geholfen, diverse Vorbilder zu haben. Model-Casting-Shows, in denen junge Mädchen mit einer schlanken Figur als »fett« bezeichnet und zum Abnehmen nach Hause geschickt wurden, haben sich in mein Gehirn eingebrannt und mit dazu geführt, dass ich täglich mein Gewicht gecheckt habe. Und wenn es in den Medien doch mal um dicke Mädchen oder marginalisierte Gruppen ging, dann hauptsächlich in einem negativen Kontext, der Vorurteile bestärkte.

Die Attribute dick_fett, alt, behindert oder schwul wurden und werden leider nicht etwa beschreibend verwendet, sondern als Abwertung. Gekapert als Werkzeug, das diejenigen, die es betrifft, zum Schweigen bringen soll. Als Jugendliche hinterfragte ich das alles noch nicht, heute, als Erwachsene, aber schon.

Ein kleiner Einblick ins TV-Programm gefällig? 1997 strahlt der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) die erste Folge der deutschen Comedyserie »Mama ist unmöglich« aus, da bin ich acht Jahre alt. Die Protagonistin Vicky, eine dicke Schriftstellerin ohne Mann und mit zwei Töchtern im Teenageralter, wird in einer Handlungsangabe auf Wikipedia wie folgt beschrieben: »Sie macht ihren Beruf zwar leidenschaftlich, ist mit dem Haushalt aufgrund ihrer Faulheit und Tollpatschigkeit jedoch überfordert (…). Zudem hat sie eine Vorliebe für Süßigkeiten und anderes ungesundes Essen, insbesondere Stracciatella-Eis, und ist deshalb etwas ü*ergewichtig, worauf sie jedoch nicht gerne angesprochen wird.«

Den Vorspann der Serie gestalten die Macher*innen so, dass sich Vicky für ein Familienfoto im Kreise ihrer Liebsten in einen Campingstuhl setzen will. Dabei bricht Vicky jedoch durch die Sitzfläche, was im Teaser mit einem überlauten reißenden Geräusch unterlegt ist. Die Nachbarn, die das Ganze mitbekommen, lachen Vicky aus. Für den Rest des Vorspanns versucht die Familie, Vicky, die mit ihrem Gesäß im Stuhlgestänge feststeckt, herauszuziehen. Drei Personen und sogar der Hund, alle hintereinander zerren an dem Stuhl. Als dies schließlich gelingt, ertönt ein lautes Ploppgeräusch, und die drei fallen auf den Boden. Die Familienmitglieder verdrehen die Augen oder kichern. Auf dem per Selbstauslöser getätigten Familienfoto, das eingeblendet wird, sieht man Mama Vicky, wie sie in dem durchgebrochenen Stuhl hängt und hilflos die Arme von sich streckt.

Als Kind hatte ich ein total gemischtes Gefühl. Auf der einen Seite war mir Vicky sympathisch, weil ich eine Verbindung spürte durch all die Dinge, die man mir über mich und meinen Körper immer wieder sagte, und auf der anderen Seite empfand ich eine tiefe Abneigung. Es war die Abneigung gegen dicke Menschen, die auch ich verinnerlicht hatte. Erst jetzt, viele Jahre später, kann ich genau benennen, was da als kleines Mädchen in mir vorging. Wenn ich diesen Trailer heute schaue, kann ich nur mit dem Kopf schütteln.

Ein anderer Film, der mich damals total packte, weil ich dort zum ersten Mal eine Schauspielerin mit einer rundlicheren Figur sah, war die Liebeskomödie »Schwer verknallt«, die 2003 rauskam, als ich vierzehn war. Sie handelt von Alma, die tagtäglich die Zugverbindungen am Bahnhof Wuppertal ansagt und sich wegen ihrer wohlklingenden Stimme vor Verehrern kaum retten kann. »TV Spielfilm« beschreibt die weitere Handlung auf der Website mit den folgenden Worten: »Leider ist Alma ein ziemlicher Moppel, und XXL liegt bei den Jungs nun mal nicht im Trend. Deshalb kann sie ihr Glück kaum fassen, als sie per Internet Stefan kennenlernt. (…) «

ENDLICH! Ein Film, in dem eine Frau, die mir ähnlich sieht, mit dem Thema Liebe in Berührung kommt. Aber auch nur in Berührung. Schon aus der Beschreibung des Filmes werdet ihr sicher ein Gefühl haben, was im Film passiert ist. SPOILER! Alma und Stefan sind kein Paar geworden. Viele schmerzhafte Szenen machen deutlich, dass dicke Frauen keine Ansprüche haben dürfen, dass sie immer nett sein sollten und einfach keine Liebe verdient haben. Und trotzdem hätte ich jahrelang gesagt, dass das einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist, weil ich mich mit der Hauptdarstellerin irgendwie identifizieren konnte. So sehr fehlte mir ein Vorbild: ein Mensch, wenn auch nur im Film oder auf einem Cover, der mich spiegelte. Eine Frau, die aussah wie ich und mir das Gefühl gab, richtig zu sein. Und vor allem: nicht allein.