Ressourcen des Christentums - François Jullien - E-Book

Ressourcen des Christentums E-Book

François Jullien

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Beschreibung

»Kulturelle Ressourcen", das sind für Francois Jullien die vielen Konzepte, die den Charakter gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Lebensweise der Einzelnen darin bestimmen. In einer globalisierten Welt kann jeder Mensch die Ressourcen, die ihm helfen, wählen und für sich nutzen, ohne dass jede dieser Ressourcen für alle immer gleichermaßen verbindlich wäre.

Was für Sprachspiele, für Bildungstraditionen oder Alltagsbräuche gilt, so die These dieses Essays, gilt genauso auch für das Christentum. Betrachtet man es als kulturelle Ressource, dann geht es nicht mehr um die Frage religiösen Glaubens oder Unglaubens, sondern z.B. darum, welche Bilder vom Menschen in den Texten der Evangelien bewahrt werden - und um die Frage, was diese heute zu einem gelingenden gesellschaftlichen Zusammenleben beitragen können.

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Seitenzahl: 107

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François Jullien

Ressourcen

des Christentums

Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis

Aus dem Französischen von Erwin Landrichter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Original title: Les Ressources du christianisme

© Editions de L’Herne, 2018

Published by arrangement with Agence litteraire Astier-Pécher

ALL RIGHTS RESERVED

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © http://pixabay.com">pixabay.com

ISBN 978-3-641-25021-8V001

www.gtvh.de

Für Pascal David

Diesem Text ist die Verschriftlichung einer Vorlesung, die ich im Rahmen des Cours méthodique et populaire de philosophie an der Bibliothèque nationale de France im März 2016 sowie im Mai 2016 an der Université catholique von Lyon gehalten habe.

Ich danke Pascal David für die Erstellung der ersten Version dieses Textes.

INHALT

I

WEIGERN WIR UNS, DER FRAGE DES CHRISTENTUMS AUSZUWEICHEN

II

RESSOURCEN

III

EIN EREIGNIS IST MÖGLICH

IV

WAS IST LEBENDIG-SEIN?

V

LOGIK DER DE-KOINZIDENZ

VI

DIE REKONFIGURIERUNG DER WAHRHEIT

VII

EX-ISTENZ: AUSSERHALB DER WELT IM ANDEREN BLEIBEN

GLOSSAR

I

WEIGERN WIR UNS, DER FRAGE DES CHRISTENTUMS AUSZUWEICHEN

Sie werden sich fragen, weshalb ich mich heute mit dem »Christentum« auseinandersetze und was man damit noch zu schaffen haben kann? Nun bin ich der Meinung, dass es heutzutage wichtig ist, sich damit zu befassen und der Frage des Christentums nicht auszuweichen. Nicht aus Gründen der kulturellen Identität (Ist Europa christlich?), sondern aus Gründen der Ergiebigkeit für die Kultur, insbesondere, was uns betrifft, der Ergiebigkeit für die Philosophie. Denn nach einer Zeit seiner Dominanz, dann seiner Denunziation und heute seines Beiseite-Schiebens ist es an der Zeit, bilanzierend zu fragen, welchem Gedanken das Christentum den Weg bereitet hat. Was hat es an Möglichkeiten für den Geist gebracht bzw. verdrängt? Deswegen beschäftige ich mich damit. Weil es sich als Aufgabe geradezu aufdrängt. Selbst wenn ich, der ich so lange Zeit mit den Griechen und den Chinesen verbracht habe, wirklich nicht der bestens Geeignete bin, um an diese Sache heranzugehen. Aber vielleicht kann ich es gerade deshalb wagen, weil ich sie von außen her betrachte, weit entfernt von einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihr und mit größerem Abstand.

Ich glaube also, dass man der Frage des Christentums im Rahmen des zeitgenössischen Denkens nicht mehr ausweichen sollte, dass man sich in Europa in der Tat fragen sollte, was das, was unter diesem -tum (des Christentums) verallgemeinert (abgestempelt) subsummiert wird und nun neben vielen anderen -tums und -ismen gelagert ist, dem Denken gebracht, in ihm verändert, entdeckt oder verdeckt hat. Die eigentliche Idee von »Europa« würde davon profitieren, ist sie doch mit dieser Geschichte verbunden. Ich spreche von einem Ausweichen, denn man kann nicht leugnen, welches atmosphärische Unbehagen dieses so erstaunliche, ja aberwitzige Christentum, das man allzu gerne endgültig aufgeräumt und weggeräumt haben möchte, heutzutage allgemein hervorruft: Man möchte gerne glauben, es gehöre der Vergangenheit an. So gelingt es zwar, ihm auszuweichen. Aber kann man es deshalb schon loswerden?

Und während man sich mit so vielen falschen Fragen beschäftigt oder mit Fragen, die keine mehr sind, die man nur mit künstlich wach gehaltenen Debatten am Leben erhält, zieht man es vor, die Augen vor dem zu verschließen, was in diesem so verstörenden Erbe tatsächlich die echte Frage ist. Denn weil sich unsere [französische] Gesellschaft offiziell als laizistisch deklariert, heißt das noch lange nicht, dass man sich dieser heutzutage nur schwerlich zu erfassenden »Sache« des Christentums entledigt hätte. Weil man weit verbreitet nicht mehr »glaubt«, jedenfalls den Glauben nicht mehr »praktiziert« (es gibt ja so viele passive Christen), heißt das noch lange nicht, man hätte sich von dem befreit, was das Denken geprägt hat. Nun, man weiß das, aber bis zu welchem Ausmaß will man es wissen? Handelte es sich hier bloß um ein Relikt, so müsste man sich fragen, was dabei noch nicht überholt sei. Und ich frage mich, ob eine so ausweichende Haltung heute nicht bis hinein in die Kirche zu finden ist, die sich viel lieber mit Ökologischem oder Humanitärem als mit der nicht gestellten Frage beschäftigt: Was hat das Christentum dem Denken angetan?

Was ich damit sagen will, ist, dass ich an die Frage des Christentums nicht mit der in traditioneller Weise verknüpften Frage »Glauben oder Nicht-Glauben?« herantreten werde. »Wer an den Himmel glaubt / wer nicht an ihn glaubt« scheint mir eine etwas veraltete Aufspaltung zu sein. Ich werde das Christentum nicht von vornherein im Hinblick auf den »Glauben« betrachten. Selbst die Frage, ob »Gott« existiere oder nicht, scheint mir erschöpft: Sie bleibt hinsichtlich der Geschichte des Denkens interessant, man kommt jedoch damit nicht von der Stelle. Vielleicht ist sie später einmal, in einem anderen geistigen Zusammenhang noch von einigem Interesse, im Hinblick auf das gegenwärtige Denken jedoch ist sie eine Frage, die sich totgelaufen hat, die keine Auswirkung mehr hat. Die christlichen Philosophen selbst, von Kant belehrt, haben gezeigt, dass alle nur vorstellbaren Gottesbeweise nirgendwo hinführen: Das Christentum hat mit dieser anschaulichen Hilfskonstruktion nichts zu tun. Doch zugleich ziehe ich mich auch nicht auf die sichere Position eines Spezialisten für Geistesgeschichte zurück, wozu mir auch die Kompetenz fehlt; und ich werde das Christentum nicht in noch allgemeinerer Weise vom gelehrten, distanzierten und desinteressierten Standpunkt der Humanwissenschaften aus betrachten. Diese Außen-befindlichkeit nicht sosehr gegenüber der kulturellen Tradition, sondern vielmehr auf Grund der eingenommenen »objektiven« Position, würde mir von vornherein den möglichen existenziellen Nutzen seines Denkens verwehren. Um diesen zu erforschen, muss man in der Tat in sein Denken eintreten – aber bedeutet »eintreten« so viel wie ihm anhängen? Wie kann man also eine Philosophie entwickeln, die nicht länger eine christliche wäre, geehrt durch so große Namen wie Augustinus, Pascal, Kierkegaard und in unseren Tagen Jean-Luc Marion, Jean-Louis Chrétien oder Michel Henry, sondern eine Philosophie des Christentums? Eine, die sich also nicht mehr auf den traditionellen Standpunkt der Apologie oder der Kritik, der Verteidigung oder der Anklage stellt? Denn dies ist eine Frage, die nicht mehr diese Trennungen hinter sich lassen muss, sondern uns alle angeht: Haben die meist paradoxen Kohärenzen des Christentums für unser Denken, und zwar vor allem für unser Denken der Existenz, noch einen Gebrauchswert? Anders gesagt: Welche Relevanz haben sie für uns, jedoch ohne dass ein Glauben erforderlich wäre?

Als eine Art Vorwarnung dazu, welche Wege ich nicht einschlagen werde, sei hier ganz kurz rekapituliert; zumindest diese drei seien genannt: (1) Zunächst einmal heißt eine Philosophie des Christentums zu entwickeln nicht, das Christentum unter die Fuchtel der philosophischen Vernunft zu stellen und es deren Erfordernissen zu unterwerfen. Es bedeutet auch nicht, es auf seinen moralischen Inhalt zu reduzieren, damit es möglichst räsonabel, um nicht zu sagen akzeptabel ist. Die Heilige Schrift würde sich dann auf eine ganz elementare Lehre für einen rein praktischen Gebrauch reduzieren. Ihr einziger Glaubensartikel wäre »die Befolgung der Nächstenliebe«; ihr einziges Glaubensbekenntnis, dass »ein höchstes Wesen voll Gerechtigkeit und Barmherzigkeit existiert« (Spinoza in Tractatus Theologico Politicus). Nun ist es eine Sache, den Glauben solchermaßen auf das zurückzuführen, was sein minimaler Inhalt wäre, wie Spinoza das macht, dabei aber das zu vernachlässigen, was die christliche Lehre an besonders Einzigartigem und Erfindungsreichem haben könnte. Etwas völlig anderes ist es, in das christliche Denken so einzutreten, wie ich es vorschlage, nämlich ohne die Vorbedingung des Glaubens, ohne durch die Reduktion auf diese minimalistische (rationalistische) Ebene das verlieren zu müssen, was es in seiner Konzeption an äußerst Gewagtem und daher auch Fruchtbarem an sich haben könnte. Es stimmt, dass Spinoza parallel zu dieser Rationalisierung des Christentums die Forderung nach einer rigorosen, linguistisch und historisch abgesicherten Exegese gestellt hat, und zwar, um die Autorität der Texte einer kritischen Beurteilung zu unterziehen, die sich nur mehr um ihren »Sinn« und nicht mehr um ihre »Wahrheit« kümmert. Damit hat Spinoza bereits auf vielversprechende Weise den Weg eröffnet, sich des üblicherweise geforderten Glaubensrequisits zu entledigen. (2) Es geht aber auch nicht darum, im Gegensatz zu Spinoza und quasi auf seiner Kehrseite, die Sache der Vernunft zu vernachlässigen: das Christentum zu veranschaulichen, indem man das heranzieht, was es an menschlicher Erfahrung dichterisch ausgestaltet hat und wegen des dabei erbrachten seelischen Zusatzes [supplément](wie das Chateaubriand in seinem Geist des Christentums macht). Die »Seele« werde mit Erklärungen, die immer zu kurz greifen, nicht zufriedengestellt; sie verlange nach einem »Mysterium«: »Die wunderbarsten Gefühle sind jene, die uns auf etwas unklare Art bewegen« … Nun ist diese einfache Zweiteilung, der zufolge das »Vage« der Religion die Strenge der Wissenschaft kompensiere, allein schon wegen ihrer Bequemlichkeit suspekt. Oder wenn schon der Klang der Glocken am Abend in ländlicher Umgebung (oder die lateinischen Choräle in der Kirche, die Gemälde von Fra Angelico) Träger von Gefühlen sind, müsste man, um damit argumentieren zu können, aufzeigen, was sie so spezifisch religiös macht. Die christliche Religion, sagt Chateaubriand, habe Platz für das »Geheimnis« gemacht, den »Sinn des Heiligen« entwickelt – aber sagt man das nicht auch von vielem anderen? Und wenn man dann noch den vergleichenden Lobgesang auf das Christentum anstimmt, gerät man, wie das fatalerweise auch Chateaubriand passiert, in die Falle des Ethnozentrismus. Wir wissen heute, dass der Weg des Vergleichs mit anderen Traditionen in eine Sackgasse führt. Er funktioniert nur auf Grund der Unkenntnis anderer Kulturen oder, schlimmer noch, auf Grund der Verachtung des Anderen, der dann nur als negative Kontrastfolie für die Selbstbestätigung dient. So sagt Chateaubriand: »das römische Volk war ein schreckliches Volk …« Dieses Lob a contrario stimmt nur dann, wenn man bloß in die eine und nicht die andere Kohärenz eintritt, der Vergleich daher nur innerhalb der angepriesenen Religion berechtigt ist. Wohl hat Chateaubriand angefangen, in Verbindung mit der beginnenden Romantik das Konzept der Moderne herauszuarbeiten, ebenso die Subjektivität zum Vorschein zu bringen, die sich in der Tat im Christentum entwickelt hat – aber welche Religion auf dieser Welt hat nicht ihren »Geist«? (3) Der umgekehrte Weg, wieder zu Spinoza zurückkehrend, allerdings unter einem anderen Blickwinkel, wäre daher jener der Demystifizierung: Vom Christentum müsste man das »Geheimnis« nicht sosehr loben als vielmehr aufdecken, seine Illusion zum Vorschein bringen und daher auf sein »Wesen« zurückführen (Feuerbach in: Das Wesen des Christentums). Indem es den »nationalen« Rahmen, die ethnische Begrenzung, wie sie jene des Gottes Israels war, überschritt, war es das Eigentümliche des Christentums, so sagt Feuerbach, das menschliche Streben nach dem Absoluten in seiner Universalität zu begreifen. Das Christentum hat, anders gesagt, das Primat der Subjektivität (*des Gemüts) über die (von der Wissenschaft bestimmten) Objektivität eingeführt, und zwar so weitgehend, dass die eine in der anderen aufgeht, d. h. so viel wie die Befriedigung der subjektiven (affektiven) Bedürfnisse in Gott zu objektivieren, was den Triumph der »Liebe« über das »Gesetz«, sei es jenes der Natur oder der Gesellschaft, bedeutet. Gott ist derjenige, der meine Wünsche, selbst die unmöglichsten, »bejaht«. Daher sind in den Augen Feuerbachs der christliche Glaube und der Glaube an Wunder zum Verwechseln ähnlich: Wonach ich mich sehne, selbst wenn es der natürlichen Notwendigkeit (wie dem Tod) entgegensteht, kann mir von Gott gewährt werden. Im Christentum wird das Verlangen erhöht und auch erhört. Un-bedingt geworden, verwandelt es sich in die intimste Gewissheit des Bewusstseins. Selbst wenn diese Erhörung dem Verstand ebenso wie der Tatsachenerfahrung widerspricht und uns bis zum *Undenkbaren drängt. Kann nun diese Erhörung, die sich unmittelbar verwirklicht, die weder einem Widerstand der Welt begegnet, noch eine geduldige Erkenntnisanstrengung erfordert, ein Wunder »so schnell wie der Wunsch« (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 14. Kapitel) etwas anderes sein als eine Fiktion, in der man seine Wünsche für Realität erachtet? Was kann sie anderes sein als eine Produktion und Projektion der Vorstellungskraft, die nach Belieben, ohne sich dafür anzustrengen, vom Glück träumt?

Freud wird (in: Die Zukunft einer Illusion) nicht viel mehr sagen. Alle unsere Handbücher der »Anti-Theologie« haben diese Argumente wiedergekäut. Kann man es nun dabei belassen? So passend und sogar erhellend die Analyse Feuerbachs auch sein mag, was hat sie dazu geführt, etwas zu ignorieren? Was hat sie bereits mit der Wahl ihres Ansatzes dazu gezwungen, etwas unbemerkt beiseite zu lassen? Denn wenn es auch stimmt, dass das Christentum die Subjektivität befördert hat, so muss man doch fragen, ob sich dieses »Subjektive« nur als ein Korrelat zum Objektiven, wie es die Wissenschaft festlegt, versteht. D.h. ob man dann nicht verkennt, was genau das Christentum an der Subjektivität als nicht der Objektivität gegenüberstehend