Ressourcenorientierte Seelsorge - Heike Schneidereit-Mauth - E-Book

Ressourcenorientierte Seelsorge E-Book

Heike Schneidereit-Mauth

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Beschreibung

Nach Stärken fragen – Möglichkeiten entdecken

Das Thema Salutogenese hat Konjunktur: Medizin und Psychologie fragen zunehmend nicht nach den Defiziten, die Patienten haben, sondern orientieren sich an den Möglichkeiten, die ihnen bleiben, und schaffen so Brücken in ein verändertes Leben. Kann Seelsorge das auch?Dieses Buch macht die salutogenetische Fragestellung mit ihrer ressourcenorientierten Perspektive zum genuinen Bestandteil der Seelsorge. Es ermutigt professionelle Helfer, sich nicht nur mit dem Schrecken einer Biografie zu beschäftigen, sondern auch dem Leichten, Schönen, Hellen und Humorvollen in der Seelsorge Raum zu geben. Eine fundierte Einführung mit zahlreichen Fallbeispielen!

  • Salutogenese als neuer Ansatz in der Seelsorge
  • Eine fundierte Einführung mit zahlreichen Fallbeispielen!

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Seitenzahl: 269

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Heike Schneidereit-Mauth

Ressourcen-

orientierte

Seelsorge

Salutogenese als Modell

für seelsorgerliches Handeln

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Umschlagmotiv: © Hakki Arslan – Fotolia.com

ISBN 978-3-641-15422-6

www.gtvh.de

Inhalt

Teil 1:

Wissenswertes über Ressourcenorientierung und Seelsorge

1. Warum dieses Buch?

2. Das Modell der Salutogenese: Was erhält Menschen gesund?

3. Das Krankheits-Gesundheitskontinuum: Chronisch krank und trotzdem gesund?

4. Das biblisch-theologische Krankheitsverständnis: Unterscheidung von Krankheit und Erkranktem

5. Gesundheitserhaltung oder Heilkunst: Förderung des Gesunden statt Zurückdrängen des Kranken

6. Das Kohärenzgefühl: Zusammenhänge verstehen, handlungsfähig bleiben, Sinn finden

6.1 Warum ich? Warum jetzt?

6.2 Was kann ich tun?

6.3 Hat mein Leben einen Sinn?

7. Ressourcenorientierung: Wie geht das?

7.1 »Sorge für den Leib, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.«

7.2 »Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude.«

7.3 »Arbeit macht das Leben süß.«

7.4 »Geld allein macht nicht glücklich«

7.5 »Mach es wie die Sonnenuhr, zähl’ die heiteren Stunden nur«

8. Spiritualität als heilsame Kraft

8.1 Was trauen wir Gott im Alltag zu?

8.2 Wann kann Glauben heilen?

8.3 Warum erhält Spiritualität gesund?

8.4 Wie hilft der Glaube?

9. Plädoyer für eine ressourcenorientierte Seelsorge

Teil 2:

So kann ressourcenorientierte Seelsorge gelingen

1. Besondere Ressourcen der Seelsorge

1.1 Ressource Zeit

1.2 Ressource Hoffnung

1.3 Ressource Ritual

1.4 Ressource Bibel

1.5 Ressource Vergebung

1.6 Ressource Schweigepflicht

2. Ressourcenorientierung konkret – Fallbeispiele aus der seelsorglichen Arbeit

2.1 Ressourcenorientierte Seelsorge bei einem onkologischen Patienten

2.2 Ressourcenorientierte Seelsorge bei der Bitte um Sterbehilfe

2.3 Ressourcenorientierte Seelsorge bei schwierigen Lebensentscheidungen

2.4 Ressourcenorientierte Seelsorge bei depressiven Patienten

3. Methoden zur Ressourcenaktivierung in der Seelsorge

3.1 Die Kraft der Imagination

3.2 Das Potential des Storytelling

3.3 Die Funktion des Krankheitsgewinns

3.4 Der Gewinn der Achtsamkeit

3.5 Die Relevanz der Spiritualität

3.6 Die Wirksamkeit der Träume

4. Seelsorge – Fürsorge – Selbstsorge: Burnout-Prophylaxe für Seelsorgende

4.1 Burnout bei Seelsorgenden

4.2 Burnoutprohylaxe bei Seelsorgenden

4.3 Monotasking

4.4 Happy-Hour-Übung

4.5 Reframing

4.6 Pareto-Regel

4.7 Selbstbelohnung

5. Ressourcen stärken im Leben und im Sterben

Anmerkungen

Teil 1

Wissenswertes über

Ressourcenorientierung

und Seelsorge

1. Warum dieses Buch?

Schon lange arbeite ich als Seelsorgerin und Gestalttherapeutin mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder lebensbedrohlichen Krisen. Zahlreiche Aus- und Weiterbildungen haben mich geprägt und meiner Arbeit immer wieder neue Impulse gegeben.

Selten hat mich ein Konzept aber so nachhaltig beeindruckt und überzeugt und so unterstützend Eingang in meine konkrete Arbeit gefunden, wie das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky. Zunächst erschien mir vieles daran einsichtig, fast selbstverständlich und nicht unbedingt neu. Erst als ich mich intensiver mit dem Konzept beschäftigte, wurde mir deutlich, wie grundlegend es meine bisherige Arbeit in Frage stellte.

Eine konsequente ressourcenorientierte Haltung, ein salutogenetischer Blick auf das Leben, auch auf das eigene, verändert nicht nur die therapeutische, sondern auch die seelsorgerliche Begleitung.

Das Thema Salutogenese hat in den letzten Jahren vor allem in den Bereichen Gesundheitsförderung und Psychoonkologie viel Aufmerksamkeit erfahren. Zahlreiche Publikationen sind dazu erschienen. Warum also ein weiteres Buch zu diesem Thema?

Mir geht es darum, das Konzept der Salutogenese mit seelsorgerlichem Handeln zu verbinden, eine konsequente salutogenetische Sichtweise in der Seelsorge zu etablieren und aufzuzeigen, dass dies durchaus biblisch zu begründen und theologisch plausibel ist.

In diesem Buch verknüpfe ich theoretische Grundlagen mit meinen Erfahrungen als Therapeutin und Seelsorgerin. Anhand der Lebens-, Krankheits- und Heilungsgeschichten meiner Patienten und Klienten möchte ich aufzeigen, wie ressourcenorientierte Seelsorge konkret aussehen kann.

Die Begebenheiten, die ich erzähle, habe ich so oder so ähnlich erlebt. Sie beruhen auf echten Begegnungen mit Menschen, die, indem sie ihre Stärken und ganz individuellen Kompetenzen wieder entdeckten, einen Weg gefunden haben, Krisen zu überwinden oder schmerzliche Erfahrungen als Teil ihres Lebens zu akzeptieren. Dabei habe ich manches so verfremdet, dass keiner meiner Patienten und Klienten befürchten muss, mit seiner oder ihrer Geschichte in diesem Buch vorzukommen. Ich danke allen meinen Klienten1, denn über die Kraft, die sie durch einem neuen Blick auf die eigene Lebensgeschichte erfahren haben, habe ich viel von und mit ihnen gelernt.

2. Das Modell der Salutogenese: Was erhält Menschen gesund?

Wenn wir nach den Gründen für Gesundheit und Krankheit fragen, nutzen wir für gewöhnlich das in der Medizin bevorzugte Risikofaktorenmodell oder das Modell der Pathogenese.2 Diese Modelle fragen: Was macht Menschen krank? Welche Faktoren könnten dazu führen oder haben bereits dazu geführt, dass ein Mensch erkrankt?

Diese Fragestellungen sind uns im Alltag sehr vertraut und die Suche nach Antworten hat die medizinische Forschung zu Höchstleistungen geführt. Weil Forscher interessiert waren an den Ursachen von Krankheiten, wurden z.B. Viren und Bakterien als Krankheiterreger erkannt und konnten die Medikamente entwickelt werden, die ihre krankmachenden Wirkungen bekämpfen.

Die Erkenntnisse der pathogenetischen Fragestellung sind für unser Leben und unsere Gesundheit unverzichtbar, denn niemand möchte im Ernst auf Antibiose, Schmerzmittel und fiebersenkende Arzneimittel verzichten – ganz zu schweigen von den vielen anderen Methoden, Techniken, Arzneimittel und Therapien, die die moderne Hochleistungsmedizin zur Verfügung stellt.

Auch das Risikofaktorenmodell ist jedem von uns wohlbekannt. Wir wissen alle, dass Übergewicht, Bewegungsarmut kombiniert mit Alkohol, Nikotin und einer guten Portion Stress das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu erkranken, deutlich erhöhen. Zuviel ungeschütztes Sonnenbaden triggert Hautkrebs, Rauchen ist verantwortlich für Lungenkrebs und damit nicht nur schädlich, sondern tödlich, Asbest sollten wir meiden und Alkohol schädigt die Leber. All das und noch vieles mehr wissen wir so selbstverständlich, weil Menschen sich immer wieder gefragt haben: Welche Faktoren führen dazu, dass Menschen krank werden?

Das Modell der Pathogenese und das Risikofaktorenmodell sind sinnvolle Konzepte, von denen jeder von uns laufend profitiert. Sie haben sehr erfolgreich die medizinische Forschung weitergebracht und geholfen, viele schädigende Wirkfaktoren zu identifizieren und in der Folge zu eliminieren oder wenigstens zu minimieren.3 Dabei liegt dem pathogenetischen Paradigma ein mechanistisches Menschenbild zugrunde: Der Mensch verstanden als Maschine, der durch chemische, physikalische oder chirurgische Therapie repariert werden kann, so wie eine Betriebsstörung bei einem technischen Apparat durch einen Wartungseingriff behoben wird.4

Ein Patient sagte zu mir einmal: »Jetzt bin ich ja in Rente. Da wollte ich mal das Ersatzteillager der Klinik nutzen.« Er hatte bereits eine neue Hüfte und ein neues Knie bekommen und wartete auf einen Termin für eine Herzklappen-OP.

Das Konzept der Salutogenese ergänzt und erweitert die pathogenetische Fragestellung, indem sie danach fragt, welche Wirkfaktoren die Menschen gesund erhalten. Es wurde erstmals vorgestellt von Aaron Antonovsky, einem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen, der die rein pathologisch-kurative Betrachtungsweise der Medizin kritisierte und ihr eine salutogenetische Perspektive gegenüberstellte, indem er fragte5: Warum bleiben Menschen – trotz vieler potentiell gesundheitsgefährdender Einflüsse - gesund? Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremen Belastungen nicht krank werden?

Aaron Antonovsky hat sich mit einer ganz besonderen Gruppe von Menschen beschäftigt, nämlich mit Frauen, die schwerstes Leid, schlimmste Entbehrung, unvorstellbare psychische Belastungen und grausamste Traumatisierung erlebt hatten. Antonovsky untersuchte u.a. eine Gruppe von Frauen, die ein Konzentrationslager überlebt hatten. Thema seiner Forschung war eigentlich die Frage nach den Auswirkungen der Wechseljahre auf Frauen der Jahrgänge 1914 – 1923 verschiedener ethnischer Herkunft. Eine Gruppe der von ihm untersuchten Frauen war in einem Konzentrationslager gewesen. Wie zu vermuten, waren die KZ-Überlebenden gesundheitlich signifikant stärker belastet als die Kontrollgruppe. Das eigentlich erstaunliche Ergebnis war aber, dass ungefähr ein Drittel der ehemals inhaftierten Frauen (29 %) sowohl körperlich als auch psychisch als gesund gelten konnten, obwohl sie massiv traumatisiert waren und schlimmsten körperlichen Belastungen ausgesetzt gewesen waren.6

Daher fragte Antonovsky:

• Warum bleiben Menschen – trotz vieler potentiell gesundheitsgefährdender Einflüsse – gesund? • Was ist das Besondere an Menschen, die auch bei extremen Belastungen nicht krank werden?

Das Modell der Salutogenese wechselt die Sichtweise weg von den krankmachenden hin zu den gesundheitsfördernden Faktoren und ermutigt zu einer anderen Sicht auf das Leben.

Während A. Antonovsky für einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel plädiert, würde ich eher von einer ergänzenden Perspektive oder einer komplementären Sichtweise sprechen, die nicht nur die krankmachenden Ursachen, sondern auch die gesundheitsfördernden Faktoren in den Mittelpunkt des Interesse und der Forschung stellt. Das Modell der Salutogenese geht davon aus, dass es effizienter, sinnvoller und langfristig auch kostensparender ist, die zahlreichen Ressourcen und Potenziale von Menschen zu fördern, als ausschließlich Krankheiten, Defizite und Krisen zu therapieren. Denn nach Antonovsky ist die Förderung von Lebensenergien erfolgsversprechender als die bloße Reparatur des Körpers.

Ein einfaches Alltagsbeispiel kann das deutlich machen: Wir alle fahren Auto und die meisten von uns besitzen auch eines. Wir wissen, dass es notwendig ist, unserem Auto die notwendige Pflege zukommen zu lassen, denn wenn es nicht regelmäßig bei der Inspektion gewartet wird, der Ölwechsel nicht routinemäßig erfolgt, unser Benziner mit Diesel (also der falschen »Nahrung«) betankt wird, dann wird die Reparatur in der Werkstatt richtig teuer.

Wenn schon für unser Auto, also für ein materielles Gut gilt: Vorsorge ist besser als Nachsorge, wie viel mehr gilt das für ein so wertvolles Gut wie unseren Körper, für den es kein allumfassendes Ersatzteillager gibt und den wir nicht einfach ersetzen können wie ein Auto.

3. Das Krankheits-Gesundheitskontinuum: Chronisch krank und trotzdem gesund

Hauptsache gesund! Das ist ein Wunsch, den ich mit zunehmendem Alter immer häufiger höre. Noch vor wenigen Jahren war Gesundheit für mich ein nahezu selbstverständliches Gut. Doch je älter ich werde, je anfälliger erlebe ich die eigene Gesundheit. Sicher Geglaubtes wird infrage gestellt. Wenn schon nicht von mir selbst, dann doch von den guten Wünschen, die mich zum neuen Jahr oder zum Geburtstag erreichen: Hauptsache gesund!

Die Sorge um Gesundheit und die Angst vor Krankheit sind Grundfragen menschlicher Existenz und beschäftigen Menschen ein Leben lang. Grund genug, etwas genauer danach zu fragen, was wir eigentlich unter Krankheit und Gesundheit verstehen.

Das in Glückwünschen zum Ausdruck kommende Verständnis von Gesundheit passt ganz gut zu der Definition der Weltgesundheitsorganisation: »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.«

Nach dieser Bestimmung von Gesundheit wäre allerdings fast niemand gesund, sondern nahezu alle hätten als krank zu gelten, denn wer kann schon von sich behaupten, dass er sich immer sowohl körperlich und psychisch als auch sozial uneingeschränkt wohl fühlt. Vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden: Das klingt nach paradiesischen Zuständen. Interessanterweise verspricht christliche Hoffnung nach der Offenbarung des Johannes im Unterschied dazu nur die Abwesenheit von Krankheit und Leid, wenn es heißt, dass »Gott abwischen wird alle Tränen von unseren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.« (Offb 21,4)

Natürlich gibt es noch viele andere Definitionen von Krankheit und Gesundheit. Krankheit und Gesundheit kann man auch:7

1. individuell verstehen:

Wie ist die subjektive Befindlichkeit? Wie fühle ich mich?

2. medizinisch einordnen:

Entspreche ich objektivierbaren Normen? Oder weichen ich oder meine Organe von dem ab, was die Medizin als normal definiert hat? Besonders spannend ist diese Frage bei Vorliegen einer Behinderung: Ein Patient – nach einer Beinamputation an den Rollstuhl gefesselt – sagt mir: »Ich bin völlig gesund!« Nach objektiven Kriterien entspricht er nicht der medizinischen Norm, seinem eigenen Empfinden nach ist es aber ganz und gar nicht krank.

3. gesellschaftlich bewerten:

Bin ich arbeitsfähig oder falle ich der Gesellschaft zur Last? Hier steht der Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit im Vordergrund.

4. theologisch deuten:

Woran hängt mein Heil? Krankheit und Gesundheit gelten als etwas zum Leben, zur conditio humana, Dazugehörendes. Sie sind Bedingungsfaktoren des menschlichen Lebens und unserer Geschöpflichkeit. Leidfreies Leben, ein Leben ohne Krankheit und Tod ist nicht für das Leben in der irdischen Zeit, sondern für die Zukunft in einem neuen Äon verheißen. Gottes Segen ist nicht mit Gesundheit und äußerlichem Wohlergehen zu verrechnen. Seine Liebe begleitet Menschen auch in dunklen und schweren Zeiten.

Zusätzlich zu diesen sozial tradierten Definitionen entwickeln Menschen ein individuelles Krankheits-Gesundheitsverständnis, das vor allem von persönlichen Erfahrungen und Gefühlen geleitet ist. Und da ist zu beobachten: Gesundheit wird immer mehr zum höchsten Gut und zur Voraussetzung eines gelingenden Lebens. Gesundheit wird zunehmend einer Machbarkeitslogik unterworfen. Gesellschaftlich wird uns suggeriert, dass Gesundheit (immer wieder) herstellbar ist, so dass Menschen vielfach davon ausgehen, ein Recht auf ein gesundes Leben zu haben. Krankheit wird zum außergewöhnlichen Ausnahmezustand, so dass krank werden, krank sein, krank bleiben größte Angst und Verunsicherung erzeugt und als Zustand gilt, der unbedingt verhindert und abgewehrt werden muss. Wir wollen und müssen gesund und leistungsfähig bleiben bis ins hohe Alter nach dem Motto: »Nur gesund bin ich ein vollwertiger Mensch.« Gesundheit mutiert auf diese Weise zum Religionsersatz und erscheint als unabdingbare Grundlage und Voraussetzung, wenn Leben gelingen und als sinnvoll und bedeutsam erlebt werden soll. Hauptsache nicht krank!

Die zahlreichen Abtreibungen behinderter Kinder sprechen in dieser Hinsicht Bände, denn behindertes, eingeschränktes, kurzum »krankes Leben« gilt per se als nicht lebenswert. Die überwiegende Mehrheit der Schwangeren nehmen die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik wahr. Wird ein, wie auch immer gearteter, Defekt festgestellt, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Schwangerschaftsabbruch.

Eine Pränataldiagnostikerin, die selber eine leichte Behinderung hatte, sagte einmal zu mir: »Ich frage mich manchmal, ob meine Mutter mich abgetrieben hätte, wenn sie von meiner Behinderung gewusst hätte. Aber trotz Einschränkung«, sagte sie lachend, »führe ich ein glückliches und erfolgreiches Leben.« Sie hatte gerade einen Wissenschaftspreis gewonnen.

Auch die aktuelle Diskussion über passive und aktive Sterbehilfe kreist letztlich um die Fragen: Ist krankes Leben lebenswert? Hat eingeschränktes Leben noch Lebensqualität?

Die Selbstverständlichkeit, mit der Abtreibungen von möglicherweise behinderten Kindern durchgeführt, und die Vehemenz, mit der ein Recht auf Sterbehilfe eingefordert werden, haben ihren Grund in einem weit verbreiteten Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das in Gegensätzen denkt. Entweder ist jemand gesund oder er ist krank. Klingt logisch! Aber ist das wirklich so einfach? Ein Beispiel: Besuch in der Frauenklinik. Im Doppelzimmer 25 liegen zwei Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs. Beide haben ihre OP gut überstanden und bekommen jetzt eine chemotherapeutische Behandlung. Es ist ein herbstlicher Tag. Ich betrete das Zimmer und es entsteht Durchzug. Frau M. sagt: »Schließen Sie schnell die Tür, Frau Pfarrerin, sonst werden wir noch krank!« Ein kurzes Zögern, dann ein Lächeln und sie korrigiert schmunzelnd: »Na ja, krank sind wir ja eigentlich schon. Ich meinte eben krank im Sinne von Erkältung.« Und es entspinnt sich ein längeres Gespräch darüber, inwiefern man chronisch krank und dennoch gesund sein kann …

Dabei wurde deutlich: Wir sind es gewohnt, die Begriffe Gesundheit und Krankheit als Gegensatzpaare zu verwenden. Das schützt vor allem die vermeintlich Gesunden in ihrer Angst vor schwerer Krankheit. Denn: »Wer gesund ist, ist nicht krank.«8

Gesundheit wird gleichgesetzt mit Glück, Zufriedenheit, Erfolg und in Verbindung gebracht mit Jugend, Leistungsfähigkeit, Schönheit und Perfektion. Krankheit ist verbunden mit Aussortiertsein, Leiden, Verlust der Freude und der Lebensqualität. Diese rigorose Zuschreibung führt dazu, dass sich viele Kranke tatsächlich ausgeschlossen fühlen, verlassen und einsam wie ein ausrangierter Waggon auf dem Abstellgleis. Biblisch-theologisch kennen wir die Ausgrenzung der Aussätzigen. Heute fühlen sich viele HIV-Patienten, Krebskranke, Menschen mit offensichtlichen Behinderungen oft wie Aussätzige.

Eine 25-jährige Leukämiepatientin schilderte folgende Episode: Aufgrund der Chemotherapie hatte sie ihre Haare verloren. Sie öffnete zuhause ihrem Postboten die Tür und der sagte: »Können Sie nicht Ihre Perücke aufsetzen. Das ist ja unzumutbar.« So unerfreulich die Reaktion des Briefträgers auch sein mag, sie drückt doch ehrlich aus, warum wir vermeintlich Gesunden so streng auf die Unterscheidung von gesund und krank achten: Krankheit macht uns Angst.

Deshalb haben wir so ein großes Interesse an der klaren Grenzziehung. Denn wer gesund ist, ist per definitionem eben nicht krank. Die starre Unterscheidung schützt die Gesunden in ihrer Angst vor Krankheit, denn von den Kranken geht für die Gesunden ein großes Beunruhigungspotential aus. Folglich tragen wir Sorge dafür, dass Kranksein ein Stigma bleibt. Dies dient der Selbstregulation und ist ein wichtiger Schutzmechanismus.

Dabei stellen Gesundheit und Krankheit keine sich ausschließenden Zustände dar, sondern sind Extrempole auf einem Kontinuum.9 Dazwischen liegen Zustände von relativer Gesundheit und relativer Krankheit. Kein Mensch ist ja nur gesund – aber ebenso ist keiner nur krank, sondern jeder Mensch befindet sich irgendwo an einem bestimmten Punkt auf einem sozusagen als Linie gedachten Kontinuum zwischen gesund und krank. Aaron Antonovsky, auf den dieses Modell vom Gesundheits-Krankheitskontinuum zurückgeht, spricht von völliger Krankheit nur im Augenblick des Todes. Selbst im Sterbeprozess sind noch gesunde Anteile zu finden. Es gilt also: Jeder Mensch ist mehr oder weniger krank und mehr oder weniger gesund.

Diese Erkenntnis klingt zunächst banal. Ist es nicht selbstverständlich, dass die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit fließend sind, dass der Patient nicht festzulegen ist auf die Rolle des Kranken? Aber wie oft erleben wir im Alltag, dass eben die Symptomatik im Vordergrund steht und nicht der Mensch in seiner Ganzheit? Sätze wie: »Das Mammakarzinom in Zimmer 24, die Borderlinerin aus der Beratung, der Schizophrene aus der Psychiatrie«, sind keine Seltenheit. Oder viele Menschen sagen von sich selbst: »Ich bin Allergiker« oder »Ich bin Diabetiker«.

Solche Aussagen zeigen, wie das Krankheitssymptom zu dem bestimmenden Merkmal der eigenen Identität, wie die eigene Persönlichkeit auf einen kranken Anteil des Körpers in scharfer Weise eingegrenzt wird. Aber auch der Allergiker oder die Diabetikerin hat wahrscheinlich ein gesundes Herz-Kreislaufsystem, einen intakten Magen, erfreut sich einer relativen psychischen Gesundheit und agiert gesund in den ihm oder ihr zugeschriebenen gesellschaftlichen Rollen als Mann oder Frau, Vater oder Mutter, Arbeitnehmer, Nachbar.

Ist es also unser Anliegen, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen, kommen wir in der Tat nicht darum herum, Gesundheit und Krankheit als Kontinuum zu verstehen. Wenn gilt: Jeder Mensch ist mehr oder weniger krank oder gesund, dann wird dadurch eine ganzheitliche Sichtweise wahrscheinlicher, dann ist es bei jedem Patienten möglich, gesunde Anteile zu finden und zu fördern, dann steht der ganze Mensch im Mittelpunkt und nicht nur seine Symptomatik.

Diese scheinbar selbstverständliche Erkenntnis hat wichtige Konsequenzen im Umgang mit Krankheit z.B. im System Familie. Für die praktische Arbeit bei der psychosozialen Betreuung einer Familie, in der ein Mitglied von einer schweren Krankheit betroffen ist, kann dies bedeuten: Nicht nur der Kranke steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern auch die vermeintlich gesunden Familienangehörigen geraten rechtzeitig in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Frau A., eine sechzigjährige Patientin, sagt zu mir: »Frau Pfarrerin, glauben Sie, der Chefarzt lässt mich noch ein paar Tage hier? Ich möchte noch nicht wieder nach Hause.« Ich schaue Frau M. erstaunt an: »Ja, ich weiß, das klingt seltsam. Aber hier kann ich mich endlich mal erholen. Wissen Sie, mein Mann ist chronisch krank. Und ich kann nicht mehr. Ich brauche nur noch ein paar Tage. Dann habe ich auch wieder genug Kraft für die Pflege meines Mannes.«

Die Geschichte von Frau A. ist kein Einzelfall. Immer häufiger begegnen mir in der Klinik und in meiner Praxis erschöpfte, chronisch erschöpfte Angehörige. Und sie alle stellen die Frage: »Bin ich nicht egoistisch, wenn ich auch an mich denke? Darf ich überhaupt meine Bedürfnisse ernst und wichtig nehmen?«

Die nicht selten berechtigte Sorge um das kranke Familienglied steht der Selbstfürsorge im Wege. Aber niemand ist allein krank. Immer sind auch Angehörige, ob Familie oder Freunde, involviert. Getroffen ist der Kranke, betroffen sind aber auch die Menschen, mit denen er lebt und arbeitet.

Das Krankheits-Gesundheitskontinuum ermöglicht eine ganzheitliche Sichtweise und verhindert eine rigorose Rollenzuschreibung nach dem Motto: Der eine muss versorgt und behütet werden. Der andere ist der Kümmerer und der Beschützer.

Ein fünfzehnjähriger Jugendlicher, an Leukämie erkrankt, beklagt die Überfürsorglichkeit seiner Mutter: »Ich bin doch kein kleines Kind, nur weil ich krank bin.«

Auch Kranke wollen nicht auf die Rolle der Hilfsbedürftigen festgelegt werden, sondern möchten auch mit ihren gesunden Anteilen, ihren Stärken und Möglichkeiten und den Dingen, die sie trotz Erkrankung leisten, gesehen werden. Und umgekehrt sagen pflegende Angehörige oft: »Und wer denkt an mich und fragt mal, wie es mir eigentlich geht?«

So führt das Krankheits-Gesundheitskontinuum dazu, dass auch die gesunden Familienmitglieder stärker in den Blick kommen mit ihren schwachen Anteilen, ihrem seelischen Leid und Schmerz, aber auch ihren oft massiven körperlichen Belastungen. Sich um kranke Familienangehörige zu kümmern kostet viel Kraft und daher benötigt das vermeintlich gesunde Umfeld dieselbe Aufmerksamkeit wie die Erkrankten.

Das Krankheits-Gesundheitskontinuum kann helfen, eine andere Sicht auf Angehörige und Kranke zu bekommen, so dass das kranke Familienmitglied nicht nur mit seinen Defiziten wahrgenommen wird, sondern auch mit seinen Potentialen, und das gesunde Familienglied nicht nur mit seinen Stärken, sondern auch mit seinen Schwächen.

Das entspricht im Übrigen auch dem biblisch-theologischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

4. Das biblisch-theologische Krankheitsverständnis: Unterscheidung von Krankheit und Erkranktem

Das Modell der Salutogenese lässt sich gut verbinden mit dem theologischen Konzept der Heilwerdung, auch wenn Antonovsky diese Perspektive nicht im Blick hatte. Der lateinische Begriff »salus« ist einerseits das alte Wort für Gesundheit, andererseits das theologische Wort für Heil. Insofern bedeutet Salutogenese »Gesundwerdung« und zugleich »Heilwerdung«. Beide Begriffe sind nach biblischem Verständnis untrennbar miteinander verbunden.

Die Absicht Gottes ist die Heilwerdung der Welt mit all ihren Geschöpfen. Mit Jesus Christus hat das Reich Gottes seinen Anfang genommen und als Zeichen dafür wurden Menschen von den verschiedensten körperlichen und seelischen Gebrechen geheilt.

Das Gesundheits-Krankheitskontinuum hat eine Entsprechung in der biblisch-theologischen Unterscheidung von Krankheit und Erkranktem. Der Kranke wird biblisch-theologisch ebenso wie bei Antonovsky nicht reduziert auf seine Erkrankung, sondern in den Blick kommt vor allem das Leiden an einer Krankheit, die existentielle Erfahrung des Krankseins.10Diese Sichtweise ermöglicht es, den Kranken mit seinen vielfältigen gesunden Anteilen wahrzunehmen. Niemand ist ausschließlich nur krank oder gesund, sondern Leben, gerade auch theologisch gedeutet, findet statt in einem Wechselspiel zwischen gesund und krank. Die biblischen Heilungsgeschichten berichten von Heilung nicht als völliger Gesundung, sondern Heilung bedeutet Rückkehr in die Lebens- und Glaubensgemeinschaft.

Auch wenn wir heute keine rituelle Ausgrenzung von Aussätzigen kennen, so geht es doch so manchen Krebs-, Aids- oder auch psychisch Kranken wie den Aussätzigen in biblischer Zeit. Die Einsamkeit und Isolation schwer und schwerst Erkrankter ist ein wichtiges Thema in der seelsorgerlichen und psychotherapeutischen Arbeit. Eine Sichtweise, in der alle Menschen als zugleich krank und gesund definiert werden, verändert medizinisches, therapeutisches und seelsorgerliches Handeln. Sowohl im biblisch-theologischen Verständnis als auch bei Antonovsky ist Begegnung auf gleicher Augenhöhe selbstverständlich, weil der andere nicht auf die Rolle des Kranken festgelegt wird.

5. Gesundheitserhaltung oder Heilkunst: Förderung des Gesunden statt Zurückdrängen des Kranken

Das Krankheits-Gesundheitskontinuum macht anschaulich, wie Gesundheit entsteht. Klassische, dem Modell der Pathogenese verbundene Schulmedizin versucht das Kranke zurückzudrängen, um Gesundes wieder wachsen zu lassen. Besonders dramatisch kennen wir dieses Vorgehen von der Knochenmarkstransplantation bei Leukämie. Das kranke Knochenmark wird chemotherapeutisch abgetötet, damit das gesunde implantierte Knochenmark dann wieder wachsen kann. Dass Gesundheit durch Zurückdrängen des Kranken entstehen oder wiederhergestellt werden kann, ist eine relativ junge Entwicklung und hat mit den großen Forschungserfolgen und der enormen Leistungsfähigkeit der Medizin zu tun. Erst aufgrund der Effektivität von chirurgischen Techniken, physikalischen Methoden und chemischen Möglichkeiten konnten körperliche Defekte zunehmend repariert werden.11

Ursprünglich war Medizin immer beides: Gesundheitspflege und Heilkunst. Erst durch die stetige Verbesserung der wissenschaftlich-technischen Hochleistungsmedizin in therapeutischer und prophylaktischer Hinsicht rückte der Reparaturaspekt der Medizin stärker in den Fokus und die Notwendigkeit von Gesundheitserhaltung konnte vernachlässigt werden.12 Die Folgen erleben wir tagtäglich: Warum sollte man Kopfschmerzen durch ausreichend Schlaf, genügende Flüssigkeitszufuhr und Spaziergänge an der frischen Luft vermeiden, wenn eine Schmerztablette das Defizit schnell und zuverlässig behebt? Warum sollte man Gewicht reduzieren, wenn ein beginnender Altersdiabetes durch Medikamente kontrolliert werden kann? Warum sollten wir einen gesunden Lebensstil bevorzugen, wenn es für so viele Krankheiten leicht zugängliche Arzneimittel gibt?

Allerdings scheint das unkritische Vertrauen in die biotechnische Medizin zumindest Risse zu bekommen. Anders ist das ungemeine Interesse an ganzheitlicher Komplementärmedizin kaum zu erklären. Es gibt so etwas wie eine Rückbesinnung auf die durchaus wichtigen Aspekte vorwissenschaftlicher Medizin, die, weil Krankheit noch nicht effektiv bekämpft werden konnte, viel Wert auf die Erhaltung von Gesundheit legte. Der kranke Mensch und sein Arzt verstanden sich als Gärtner, die einen Garten hegen und pflegen, um sich an Schönheit und den Früchten der Pflanzen erfreuen zu können.

Antonovsky steht in der Tradition alter Gesundheitslehren, wenn er die These vertritt: Wer sich auf die Förderung des Gesunden konzentriert, schwächt wie automatisch die Krankheitsprozesse.13 Wer das Gesunde wachsen lässt, drängt das Kranke zurück. Daher fordert er, dass die Suche nach spezifischen Krankheitsursachen durch die Suche nach gesundheitsfördernden bzw. gesunderhaltenden Faktoren ergänzt werden muss. Diese Faktoren nennt Antonovsky Widerstandsressourcen. »Schatzsuche statt immer nur Fehlerfahndung«14 wird dann zum griffigen Slogan der Gesundheitsförderung. Die Orientierung an vorhandenen Potentialen dient vor allem der Stärkung des Kohärenzgefühls, dem Kernstück der Salutogenese.

6. Das Kohärenzgefühl: Zusammenhänge verstehen, handlungsfähig bleiben, Sinn finden

Der wichtigste Schatz, die bedeutendste Einflussgröße für die Bewältigung des Lebens, besonders auch schwieriger Lebenssituationen, ist für Antonovsky das Kohärenzgefühl. Kohärenzgefühl meint die Wahrnehmung von Stimmigkeit und Zusammenhang im Erleben der Betroffenen.15 Es beschreibt ein ganzheitliches, von innerer Sicherheit getragenes Vertrauen.16 Je ausgeprägter und stärker das Kohärenzgefühl einer Person ist, desto eher gelingt es einem Menschen, gesund zu bleiben.

Diese Kompetenz, die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben, setzt sich nach Antonovsky aus drei Komponenten zusammen:17

• Gefühl der Verstehbarkeit (comprehensibility)• Gefühl von Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit (manageabilitiy)• Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit (meaningfullnes).

6.1 Warum ich? Warum jetzt?

Die erste Komponente des Kohärenzgefühls ist das Gefühl der Verstehbarkeit. Wir möchten Ereignisse nicht als willkürlich erleben, sondern die Dinge um uns und in uns grundsätzlich nachvollziehen und einordnen können. Stimuli – auch unbekannte – sollen nicht als chaotisch, willkürlich und unerklärlich erlebt werden müssen, sondern als geordnete, konsistente, strukturierte Informationen verarbeitet werden können.

»Warum ich? Warum jetzt?« sind in dieser Perspektive häufig gestellte Fragen, wenn Menschen in eine Krise kommen. Die kognitive Einordnung ist dann eine wichtige Bewältigungsstrategie. Menschen brauchen ein Gefühl der Verstehbarkeit.

Ein Beispiel: Eine junge Frau kommt zu mir in die Praxis. Sie ist schwanger. Ihr Lebenspartner hat sie ohne Angabe von Gründen verlassen. »Wenn ich doch wenigstens verstehen könnte, warum er gegangen ist. Aber er sagt, er weiß nicht, warum er aufgehört hat, mich zu lieben.« Die junge Frau möchte eine Antwort finden auf die Frage nach dem Warum, weil ihr diese bei der Bewältigung ihrer Krise helfen könnte.

Zusammenhänge erkennen wollen auch viele Patienten, wenn sie nach der Diagnose einer schwerwiegenden Erkrankung monokausale Krankheitstheorien entwickeln wie z.B.:

»Mein Mann ist schuld an meinem Mammakarzinom. Bei unserer schlechten Ehe ist das ja kein Wunder.« Oder: »Hätte meine Mutter mich nicht so ausgesaugt, hätte ich heute sicher keine Leukämie.« Oder: »Weil mich mein Chef so mobbt, habe ich einen Bandscheibenvorfall.« Selten höre ich dagegen: »Mein Lungenkrebs ist sicher die Folge des Rauchens.« Oder: »Wenn ich dreißig Kilo abgenommen hätte, bräuchte ich keine neue Hüfte.«

Monokausale Krankheitstheorien sind selten zutreffend, dienen aber der kognitiven Einordnung von Schicksalsschlägen. Darin drückt sich der legitime Wunsch aus, das eigene Erleben zu verstehen.

Dies ist auch der Grund dafür, dass sich der Tun-Ergehen-Zusammenhang, also die Vorstellung, dass mit einem Schicksalsschlag ein Vergehen, dessen man sich schuldig gemacht hat, bestraft wird, im Alltagsglauben vieler Christen und Christinnen hält: »Frau Pfarrerin, ich bin kein schlechter Mensch. Ich weiß wirklich nicht, warum mich Gott so straft.«

Wenn wir die Krise nicht als Willkür erleben, sondern die Gründe für unsere persönliche Katastrophe nachvollziehen und verstehen können, dann erhoffen wir uns, die Situation auch zu unseren Gunsten beeinflussen zu können. Damit sind wir bei der zweiten Komponente des Kohärenzgefühls.

6.2 Was kann ich tun?

Die zweite Komponente ist das Gefühl der Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit. Wir wollen nicht überrascht und überrumpelt werden von Ereignissen, die wir nicht haben kommen sehen, sondern möchten Handlungs- und Entscheidungsspielräume haben.

Wir möchten erleben, dass Schwierigkeiten grundsätzlich lösbar sind und dass wir ausreichend Ressourcen zur Verfügung haben, die uns helfen, die anstehenden Anforderungen zu bewältigen. Antonovsky betrachtet das Gefühl von Handhabbarkeit als kognitiv-emotionales Verarbeitungsmuster. In den Zeiten der Krise brauchen wir das Vertrauen, in irgendeiner Weise handlungsfähig zu sein.

Ich erinnere mich an eine Frau, die mir von einer versuchten Vergewaltigung erzählte und eindrücklich schilderte: »Das war furchtbar. Aber ich glaube, ich konnte es einigermaßen verarbeiten, weil ich mich noch gewehrt habe. Ich konnte schreien und treten. Und auch wenn er mir alle Kleider vom Leib gerissen hat, habe ich ihn letztlich in die Flucht geschlagen. Ich bin so froh, dass ich mich nicht ohnmächtig fühlte.«

Prägend für die Lebensgeschichte ist, ob jemand in einer als traumatisch empfundenen Situation noch agieren konnte oder ihr hilflos ausgeliefert war. Ohnmacht wird als besonders schlimm erfahren.

Wenn uns das Gefühl der Beeinflussbarkeit verloren geht, brauchen wir Menschen, die uns ihre Fähigkeit als Hilfs-Ich zur Verfügung stellen. Das können Familienangehörige, Freunde, Ärzte oder Seelsorgende sein. Es geht eben nicht darum, nur eigene Ressourcen und Kompetenzen einsetzen zu können. Gemeint ist vielmehr: Wenn die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, gibt es andere Personen oder - wenn auch deren Mittel erschöpft sind - eine höhere Macht, die dabei helfen kann, Schwierigkeiten zu überwinden.

»Not lehrt beten!« sagt ein altes Sprichwort. Darin drückt sich aus: Auch wenn ich selber keine Handlungsoptionen mehr habe, dann bleibt mir zumindest noch das Gebet und die Hoffnung, dass eine übergeordnete Macht hilft.

Ein Beispiel aus der Klinik: Ein 46-jähriger Mann wird in die Klinik eingeliefert. Er ist zusammengebrochen. Seine Frau steht hilflos daneben, hat keine Möglichkeit mehr zu agieren. Sie hofft auf die Hilfe der Ärzte. Doch als die Mediziner eine Sepsis diagnostizieren, sagt sie: »Jetzt hilft nur noch beten.«

Das Stoßgebet befriedigt den Wunsch nach Beeinflussbarkeit und delegiert das Gefühl der Handhabbarkeit an Gott, der oft als Garant für die Kontrollierbarkeit der Situation erlebt wird. Und in der Tat: Wer in der Krise auf einen Gott vertrauen kann, der allen Widrigkeiten zum Trotz zu einem hält, findet eine wichtige Kraftquelle.

Wenn wir grundsätzlich unser Leben verstehen und hinreichend Möglichkeiten der Einflussnahme haben, dann erhoffen wir uns ein Gefühl von Sinnhaftigkeit.

6.3 Hat mein Leben einen Sinn?

Die dritte Komponente des Kohärenzgefühls ist der Aspekt der Bedeutsamkeit. Wir brauchen das Gefühl, dass das, was wir tun, grundsätzlich als sinnvoll erlebt wird, dass es sich lohnt in Herausforderungen, Kraft und Zeit zu investieren. Wir möchten, dass die vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen auf ein Ziel hinführen, einem Wozu folgen und es wert sind, dass wir Energie für sie aufbringen. Ohne Sinnkontext fällt jede Anstrengung schwer. Mit Ziel und Sinn lässt sich manche Mühsal leichter ertragen. Diese motivationale Komponente ist die wichtigste zur Konstituierung des Kohärenzgefühls.

Die Lebensgeschichte von Hiob ist hier ein beeindruckendes biblisches Beispiel. Wer trotz wiederkehrender schlechter Nachrichten, trotz ständiger Hiobsbotschaften Sätze sagen und glauben kann wie: »Der Herr hat’s gegeben, der hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.« (Hiob1,2) oder »Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10), hat eine enorme Fähigkeit, im eigenen Leben Sinn zu entdecken, zu stiften und zu empfangen, kann auch noch die in der Krise verborgende Chance wahrnehmen. Voller Gottvertrauen formuliert der Benediktinerpater Anselm Grün: »Es gibt keinen Schmerz, der nicht zur Freude werden kann.«18

In einem Seelsorgegespräch erzählte mir ein Mann, der bald sterben sollte: »In meinem Leben habe ich viel erlebt. Viel Schönes, aber auch so manche schwere Stunde. Wenn ich etwas gelernt habe, dann das: Immer ist Gott mit im Spiel. Meistens merkt man das nicht in der Situation direkt, sondern erst später. Manchmal hat es bei mir Jahre gedauert, bis ich wirklich verstanden habe. Aber diese Erfahrung lässt mich jetzt ruhiger mit meiner Erkrankung umgehen. Auch wenn ich bald sterben werde, habe ich irgendwie das Vertrauen, dass Gott auch jetzt mit im Spiel ist.«

Dieser Mann nimmt sein Leben aus Gottes Hand. Er versucht das, was er erlebt und erleidet, mit Gott in Verbindung zu bringen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Gesegnet ist, wer das kann.