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Regierungskrise, Ruhrkampf, Hitlerputsch: Der Überlebenskampf der Weimarer Republik 1923 zeigt die Verwundbarkeit von Demokratien. 1923 war für Deutschland ein Jahr der Krisen. Innere Kämpfe belasteten die Besiegten. Frankreich besetzte das Ruhrgebiet, um seine Ansprüche durchzusetzen. Die Kosten für den passiven Widerstand verursachten eine Hyperinflation. Die Große Koalition zerbrach, und die nationale Rechte versuchte in Bayern den Umsturz. Doch der Hitlerputsch misslang. Mit Mühe und Glück konnte Reichspräsident Friedrich Ebert die Republik vorläufig retten - doch zu wenige Menschen wollten ihr noch vertrauen. 1923 wurde symptomatisch für die Instabilität der neuen Demokratie. Peter Reichel erkennt in diesen Ereignissen die Unfähigkeit der Parteien, Konflikte durch Kompromisse und Verhandlungen zu lösen. Anschaulich zeigt er: Der Umgang mit den Krisen von 1923 deutet bereits auf das Ende von 1933 hin.
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Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Regierungskrise, Ruhrkampf, Hitlerputsch: Der Überlebenskampf der Weimarer Republik 1923 zeigt die Verwundbarkeit von Demokratien. 1923 war für Deutschland ein Jahr der Krisen. Innere Kämpfe belasteten die Besiegten. Frankreich besetzte das Ruhrgebiet, um seine Ansprüche durchzusetzen. Die Kosten für den passiven Widerstand verursachten eine Hyperinflation. Die Große Koalition zerbrach, und die nationale Rechte versuchte in Bayern den Umsturz. Doch der Hitlerputsch misslang. Mit Mühe und Glück konnte Reichspräsident Friedrich Ebert die Republik vorläufig retten — doch zu wenige Menschen wollten ihr noch vertrauen. 1923 wurde symptomatisch für die Instabilität der neuen Demokratie. Peter Reichel erkennt in diesen Ereignissen die Unfähigkeit der Parteien, Konflikte durch Kompromisse und Verhandlungen zu lösen. Anschaulich zeigt er: Der Umgang mit den Krisen von 1923 deutet bereits auf das Ende von 1933 hin.
Peter Reichel
Rettung der Republik?
Deutschland im Krisenjahr 1923
Hanser
Für Annette Sophie
Cover
Über das Buch
Titel
Über Peter Reichel
Impressum
Vorwort — Das »unmögliche Jahr«
I Gefahr von außen
II Gefahr von innen
III Rettung der Republik?
IV Ausblick: Eberts Tod. Hindenburgs Wahl
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Das »unmögliche Jahr«
Sieben lange Jahre hatten die Deutschen nicht mehr wählen können — kriegsbedingt. Zuletzt waren 1912 allgemeine und freie Reichstagswahlen abgehalten worden. Am 19. Januar 1919 machten die Wähler mit ihrem hoffnungsvollen ersten Votum ihren ersten Schritt zur Gründung der ersten deutschen Republik. Er war die Bestätigung für den 28. Oktober 1918. An diesem Tag hatte der Kaiser, angesichts drohender Niederlage, Abdankung und Anklage, vor allem aber unter dem Druck der Sieger, insbesondere der USA, sich entschließen müssen, noch mitten im Krieg, seine Macht auf das Volk zu übertragen, den neuen Souverän. Unter diesen widrigen Umständen erlebte Deutschland die Vollendung der Paulskirchen-Revolution, die Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie. Kaum verwunderlich also, dass dieser Tag nicht Nationalfeiertag werden konnte. Wir blicken zurück.
Bismarck hatte Mitte des 19. Jahrhunderts begriffen, dass sich die alte aristokratische Ordnung nur noch militärisch behaupten konnte. Er ließ deshalb die Souveränitätsfrage in Deutschland ungelöst und im konfliktreichen Nebeneinander von Monarchie und Demokratie fortbestehen. Carl Schmitt hat diese Nichtentscheidung einen »dilatorischen Kompromiss« genannt. Er war mit erheblichen Repressionen und Folgekosten belastet und wurde erst im Zuge des Zusammenbruchs 1918 zugunsten der parlamentarischen Demokratie aufgelöst. Weimar und die Welt haben dafür in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen hohen Preis zahlen müssen.
Trotz eines wegweisenden frühen Aufsatzes von Wolfgang Sauer zum deutschen Nationalstaat ist diese Frage bedauerlicherweise ein weißer Fleck im allgemeinen Geschichtsbewusstsein geblieben. 1 In Schul- und wissenschaftlichen Lehrbüchern wird meist nur beiläufig von »Oktoberreformen« gesprochen. Schon die Zeitgenossen haben kaum bemerkt, welch grundstürzender Wandel sich mit den kaiserlichen Erlassen ereignete. Auch die SPD nicht. Mit einem Federstrich hatte Wilhelm II. das staatsbildende Prinzip des Kaiserreichs ausgetauscht und an die Stelle der absoluten Monarchie die Volkssouveränität gesetzt, also eine gewaltfreie, konstitutionelle Revolution vollzogen. Die Verfassung findet dafür nur eine schmucklose, juristisch umständliche Formulierung. »Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages« heißt es im Zusatz zu Art. 15RV. Nicht der 9. November ist der eigentliche Revolutionstag. Die Ernennung von Friedrich Ebert zum neuen Reichskanzler durch Prinz Max von Baden war nur noch der Übergang von der seit dem 28. Oktober bestehenden parlamentarischen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie. Was wir heute »Revolution« nennen, die nachfolgenden blutigen Ereignisse, waren Aktionen einer links- bzw. rechtsradikalen Gegenrevolution. Sie wollten rückgängig machen, was auf unblutigem Wege gerade geschaffen worden war, die auf dem Wettbewerb der Parteien beruhende parlamentarische Demokratie.
Über 23 Millionen Deutsche,2 immerhin drei Viertel aller Männer und Frauen im Alter ab 20 Jahren, die ihr Recht nutzten, stimmten bei der Wahl zur Nationalversammlung für die Weimarer Koalitionsparteien und damit für eine parlamentarische Demokratie — allerdings ohne von dieser, ihren Vorzügen und ihren Schwächen Kenntnis aus eigener Erfahrung zu haben. Das Land aber, in dem jenes Wahlereignis im Hungerwinter 1919 vollbracht wurde, war seit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs tief in verfeindete politische Lager gespalten — und blieb es, bis der totalitäre Zauberer Hitler kam und die im Weltkrieg geschlagenen, gedemütigten und kaiserlos gewordenen Deutschen wieder in ein »Herrenvolk« zu verwandeln versprach, für das sie sich immer gehalten hatten.
In den ersten fünf Jahren nach der großen schmerzlich-glücklichen Zäsur von 1918 fand Deutschland keine innere Stabilität. Die gegenrevolutionären Angriffe der links- und rechtsextremen Kräfte hielten die Weimarer Republik dauerhaft in einer prekären Lage. Die unverzichtbaren Strukturen demokratischer Politik, Publizität, Kommunikation und Verfahrensregeln, waren beständig durch Gewalt bedroht. Gewiss, der Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde im März 1920 durch einen Generalstreik der Gewerkschaften schnell beendet. Auch die Ministerialbürokratie bestand den Test dieses Umsturzversuches. Aber diese erste erfolgreiche Bewährungsprobe der republikanischen Kräfte fand in der anschließenden Wahl im Juni 1923 keine Bestätigung. Die Parteien der Mitte verloren; besonders groß waren die Verluste der SPD, die links- und rechtsextreme Opposition gewann. Wir erschrecken noch heute über ein Land, in dem Hass und Gewalt, Straßenkämpfe und Attentate, Parteiverbote, Putsche und rechtslastige Prozesse Ausdruck großer innerer Unzufriedenheit und Uneinigkeit waren. Deutschland stand im Herbst 1923 am Abgrund. Eine Militärdiktatur war nicht mehr auszuschließen, separatistische Bewegungen bedrohten in West-, Süd- und Ostdeutschland die nationale Einheit.
Das Jahr begann mit der Besetzung des Ruhrgebietes. Nach zähem Ringen um Reparationen, Goldmarkmilliarden und Sachleistungen kam der Krieg gegen Frankreich doch noch nach Deutschland mit einer zunächst etwa 50.000 Mann starken, kriegsbereiten belgisch-französischen Armee. Frankreich glaubte bei der Verteilung der Kriegskosten und der Kriegsbeute durch den Friedensvertrag zu schlecht weggekommen zu sein und stellte sicherheits- und entschädigungspolitische Nachforderungen. Als die deutschen Kosten für den passiven Widerstand den Wirtschafts- und Währungsverfall in eine Hyperinflation trieben, Reichskanzler Cuno stürzte und Stresemann den aussichtslosen Ruhrkampf im September abbrechen musste, um Wirtschaft und Währung zu sanieren, wurde das Land durch mehrere Separatistenaufstände und Putsche abermals erschüttert und geriet nun von innen und außen in Bedrängnis. Im Westen drohte eine »Rheinische Republik« als autonomer und frankophoner Pufferstaat, der Frankreich wirtschaftlich nachhaltig gestärkt und gegenüber dem unberechenbaren Nachbarn sicherer gemacht hätte.
Andere Aufstände blieben lokal und folgenlos. In der Küstriner Festung putschte die Schwarze Reichswehr, in Hamburg, Sachsen und Thüringen träumten die Kommunisten von einer erfolgreichen Aktion »Deutscher Roter Oktober«, und in München glaubte eine Handvoll moskautreuer Marxisten eine kommunistische Rätediktatur errichten zu können. Eine rechtsradikale Gegenbewegung war erfolgreicher. Aus ihr ging Hitler hervor.
Koalitionsbrüche und Kabinettsstürze destabilisierten das Land im »Deutschen Herbst« auch staatspolitisch. Es war die Stunde der Hasardeure — und der integren Staatsmänner. Deren Verfassungstreue und Verantwortungsbewusstsein behielten die Oberhand — diesmal noch. Das verfassungsloyale Verhalten Hans von Seeckts dem Reichspräsidenten gegenüber am 9. November 1923 bestätigte Friedrich Ebert für den alternativlosen Pakt mit Wilhelm Groener am 10. November 1918, dem Beginn der Gegenrevolution, in der die gerade einen Tag alte und noch ganz unfertige Republik schon unterzugehen drohte. Aber 1923 bot einen Vorgeschmack auf das, was sich zehn Jahre später ereignen sollte.
Die größte Gefahr ging für das Reich von Bayern aus. Der Freistaat sah sich durch das rote Sachsen und Thüringen bedroht und durch Berlin nicht hinreichend geschützt. Hitlers Völkischer Beobachter beschimpfte die Reichsregierung und den Chef der Heeresleitung dermaßen, dass sich Reichswehrminister Geßler als Träger der vollziehenden Gewalt gezwungen sah, das Blatt zu verbieten. Der damit beauftragte militärische Befehlshaber weigerte sich, den Auftrag auszuführen, und überließ die Entscheidung Gustav Kahr, der zum »Generalstaatskommissar« ernannt worden war. Schon Ende Oktober hatte dieser die bayerische Vollzugsordnung zum Republikschutzgesetz außer Kraft gesetzt — eine Auflehnung gegen das Reich. Als Reichswehrminister Geßler den bayerischen General von Lossow seines Amtes enthob, zwang Kahr dessen 7. Reichswehrdivision unter bayerischen Befehl. Man konnte das als Verfassungsbruch bewerten. Aber wie sonst sollte die Regierung in Berlin politisch reagieren? Gegen eine Reichsexekution hätte sich Bayern militärisch gewehrt und Deutschland wahrscheinlich in einen Bürgerkrieg gezogen.
In diesem Augenblick traf aus München die Nachricht ein, dass Hitler im Bürgerbräukeller gegen die Republik putsche, die bayerische Regierung unter Kahr sich aber geweigert habe, zusammen mit ihm die Reichsregierung abzusetzen. Noch in derselben Nacht übertrug Ebert dem Chef der Heeresleitung auch die vollziehende Gewalt. General Hans von Seeckt, eigentlich ein erklärter Gegner der Weimarer Republik, hatte sich bisher dem Reichspräsidenten gegenüber loyal verhalten. Er galt als Legalist, besaß jetzt die Macht und war beauftragt, die Republik gegen die Putschisten zu schützen. Der Reichspräsident konnte nur darauf vertrauen, dass der General loyaler Befehlshaber bleiben werde. Friedrich Ebert hatte sonst nichts in der Hand, die Republik und sich selbst zu schützen, sollte sich Hans von Seeckt entschließen, mit der Reichswehr die Republik in eine Militärdiktatur zu verwandeln.
Dem Reichspräsidenten wird der Zufall nicht entgangen sein, dass er diese Machtübertragung ausgerechnet in der Nacht auf den 9. November 1923 vollzog — auf den Tag vier Jahre nachdem ihm Prinz Max von Baden, der letzte von WilhelmII. ernannte Reichskanzler, mit dem Kanzleramt den Oberbefehl über die Wehrmacht und die vollziehende Gewalt übergeben — und Deutschland zu einer parlamentarischen Demokratie gemacht hatte. Konnte er das Risiko eingehen, dass die Reichswehr ihn absetzen und die Republik liquidieren würde? Er musste, Friedrich Ebert hatte keine Wahl — und das sprichwörtliche Glück.3
Es ist für dieses »unmögliche Jahr«4 bezeichnend, dass erstmals mehrere seiner geistigen Wegbereiter — und der kommende starke Mann in Deutschland — selbst öffentlich hervortraten. Ernst Jünger rief im Völkischen Beobachter zur Erhebung auf: »Sie wird ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert.« Moeller van den Bruck veröffentlichte seine Programmschrift Das dritte Reich, und in Berlin traf er das erste und einzige Mal mit Hitler zusammen. In der Begegnung soll dieser sich im Juni-Klub, so der spätere Hitler-Gegner und konservative Widerstandskämpfer Rudolf Pechel, mit inzwischen berühmten, schmeichelnden Worten um die Unterstützung Moeller van den Brucks bemüht haben: »Sie haben alles das, was mir fehlt. Sie erarbeiten das geistige Rüstzeug zu einer Erneuerung Deutschlands. Ich bin nichts als ein Trommler und ein Sammler. Lassen Sie uns zusammenarbeiten.«5
Hitler bewies noch im selben Jahr, wie erfolgreich er als Schauspielerpolitiker im Umgang mit Blamagen und Niederlagen sein konnte. Bei seinem Putschversuch in einem Münchener Bierkeller, mit dem er seinen Machtanspruch durch einen Pistolenschuss in die Decke selbst zu einer lächerlichen Groteske machte, scheiterte er ebenso wie im nachfolgenden Prozess gegen ihn und seine Gefolgsleute. Aber beides erwies sich für ihn als paradoxer Glücksfall, »daß er den Putsch wagte und daß dieser ihm dann mißlang« — wie Theodor Heuss schon 1932 schrieb.6 Erstmals konnte er sich einer großen Öffentlichkeit als begnadeter Massenkommunikator präsentieren. Und seinen halb verlorenen, halb gewonnenen Prozess zum Beginn seines keineswegs unaufhaltsamen Aufstiegs machen.
Dieser schmale Band beabsichtigt also nicht, eine Gesamtdarstellung des gefahrvollen Jahres 1923 zu sein. Vielmehr versuche ich, in drei Fallstudien exemplarisch äußere (Besetzung des Ruhrgebietes; rheinischer Separatismus) und innere Gefahren (Entstehung einer reichs- und republikfeindlichen rechtsradikalen Bewegung in Bayern) verständlich zu machen und frage vor diesem Hintergrund nach den strukturellen und personalen Bedingungen der vorläufigen Selbstrettung der Republik.
Der Krieg kam nicht aus heiterem Himmel zurück — und erstmals im Westen auf deutsches Territorium. Mit der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebietes im Januar 1923 musste seit Jahren gerechnet werden. Das Misstrauen der Alliierten gegen das besiegte Deutschland war groß. Militärische Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen. Und auf den zahlreichen Reparationskonferenzen, die Versailles folgten, drohten die Sieger dem vormaligen Kriegsgegner wiederholt, dass alliierte Truppen das Ruhrgebiet besetzen würden, sollte Deutschland den vertraglichen Bestimmungen zuwiderhandeln oder die Entschädigungsforderungen nicht erfüllen. Die vereinfacht »Ruhrbesetzung« genannte belgisch-französische Intervention ist wohl nur in diesem internationalen Konfliktkontext zu verstehen und zu beurteilen.1 Denn nicht nur im verhärteten deutsch-französischen Verhältnis ging es hochkontrovers zu. Auch zwischen Deutschland und den übrigen Alliierten wirkte der Krieg nach. Und die Verständigung unter den Alliierten selbst war insbesondere in der Reparationsfrage keineswegs einfach.
Man muss davon ausgehen, dass das Versailler Vertragswerk — zumindest außerhalb Deutschlands — große Erwartungen weckte. Gewiss, es war für die Besiegten ein niederschmetternder Friedensvertrag.2 Die Alliierten erklärten in Art. 231 das Deutsche Reich, das diesen Titel immer noch trug, zum Alleinschuldigen, bestraften es mit Landabtretungen und Bevölkerungsverlust (Art. 31—117), Entmilitarisierung und Überwachung (Art. 160—213) und nicht zuletzt mit schmerzhaften Forderungen: Der Kaiser und andere hauptverantwortliche Personen sollten ausgeliefert, vor allem aber hohe Wiedergutmachungsleistungen in Devisen und Sachwerten erbracht werden. Dafür war eigens ein interalliierter Ausschuss gebildet und beauftragt worden, der bis zum 1. Mai 1921 alle Schäden ermitteln und bewerten sollte. Für die Tilgung wurden 30 Jahre festgelegt, vom Schuldner als Anzahlung sofort 20 Milliarden Goldmark verlangt und danach in jährlichen Reparationsraten ein sehr viel höherer Betrag. Dieser Vertrag, an dem Deutschland nicht hatte mitwirken dürfen, wurde dort von einer großen Mehrheit mit scharfem Protest abgelehnt; man sprach vom »Diktatfrieden«, wegen des Alleinschuldvorwurfs auch vom »Schandvertrag«. In Frankreich dagegen galt er als »Charta« einer neuen Außenpolitik.3
Denn dieses Dokument war die Geburtsurkunde des Völkerbundes, der eine neue Weltordnung versprach. Dessen Satzung hatte man bereits aufgenommen und Frankreich den Plan vorgelegt, eine internationale Interventionsstreitmacht aufzubauen zur Umsetzung der Beschlüsse des Völkerbunds. Er fand bei den USA und England allerdings keine Zustimmung. Man kann darin bereits die spätere Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft erkennen, die allerdings bis heute nicht realisiert worden ist.
Viel mehr fiel ins Gewicht, dass der US-Senat einen Beitritt der USA in den Völkerbund und die damit verbundenen internationalen Verpflichtungen so wenig akzeptieren wollte wie den Vertrag selbst. Trotz intensivster Bemühungen des schwer erkrankten US-amerikanischen Präsidenten Wilson, der auf Vortragsreisen durch die Vereinigten Staaten unermüdlich, aber vergeblich um Zustimmung für den Vertrag warb. Noch scheuten die USA ein in seinen Folgen kaum absehbares, dauerhaftes, weltweites politisch-militärisches Engagement. In Großbritannien überwog das Interesse, Deutschland im politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau zu schonen und zu stützen und Frankreich nicht zu einer neuen Hegemonialstellung zu verhelfen.
Die angloamerikanischen Alliierten glaubten zudem, mit den Garantieverträgen und dem Rheinlandabkommen als sicherheitspolitische Ergänzung des Versailler Vertrages hinreichend für den Schutz Frankreichs vorgesorgt und zugleich bei Verstößen Deutschlands gegen seine Verpflichtungen ein Sanktionsinstrument in der Hand zu haben. Immerhin hatten sich die geschlagenen deutschen Truppen schon nach dem Waffenstillstand am 11. November 1918 auf das rechtsrheinische Ufer zurückziehen müssen, so dass dort eine 50 Kilometer breite entmilitarisierte Zone eingerichtet werden konnte, während die militärischen Verbände der Alliierten das linksrheinische Ufer und vier rechtsrheinische Brückenköpfe mit einem Radius von 30 Kilometern besetzten: in Köln, Koblenz, Mainz und Kehl. Diese Regelung sollte zunächst 15 Jahre bestehen, konnte gebietsweise vorher zurückgenommen werden und wurde 1930 aufgehoben, nachdem Deutschland einen neuen, den zweiten Reparationsvertrag (Young-Abkommen) unterzeichnet und ratifiziert hatte.4
Der Rückzug der USA aus Europa entwertete nicht nur die Garantieverträge, er beeinflusste auch Politik und Psychologie der innereuropäischen Beziehungen, zumal sich die englisch-französische »Entente Cordiale« tendenziell in eine »Mésentente cordiale«5 verwandelte. Frankreich war durch den Krieg weitaus stärker geschwächt als andere Länder; es hatte am meisten gelitten und gezahlt. Bei 40 Millionen Einwohnern waren mit 1,4 Millionen gefallenen Soldaten prozentual mehr Tote zu beklagen als in Deutschland mit einem Verhältnis von 62 Millionen Einwohnern und 1,9 Millionen Gefallenen. Noch im Sommer 1921 beliefen sich Frankreichs Kriegsschulden gegenüber den USA auf 3,6 Milliarden Dollar (etwa 15 Mrd. Goldmark), die Kosten für die Beseitigung der Kriegsschäden in Nordfrankreich und Belgien wurden auf das Doppelte bis Dreifache geschätzt. Im demografisch-sozialen und ökonomischen Kräftevergleich war der Pyrrhussieger Frankreich Deutschland gegenüber seit Langem, also strukturell, unterlegen. Von den angloamerikanischen Verbündeten allein gelassen, musste es sich vom rechtsrheinischen Aggressor schon wieder bedroht fühlen. Deutschland war in den vergangenen 100 Jahren mehrmals mit militärischer Macht auf französisches Territorium vorgedrungen.6 Nicht grundlos also hatte es von allen Kriegsgegnern das größte Sicherheitsinteresse, aber auch das stärkste Verlangen nach Entschädigung. »L’Allemagne paiera« lautete in Frankreich die ebenso populäre wie drohende Formel. Ebendeshalb gab es für die Lösung dieser und anderer Nachkriegsprobleme nur einen Weg, den der Verhandlung.
Großbritannien gab den Anstoß und bemühte sich zudem, von Anfang an auch Deutschland als gleichberechtigten Partner an den Konferenzen zu beteiligen. Das war diplomatisch zweckmäßig und vernünftig, konnte aber die französischen Bedenken kaum zerstreuen, zumal das nachwilhelminische Deutschland, dessen Außenpolitik jahrzehntelang eine aristokratische Angelegenheit gewesen war, zunächst noch Mühe hatte, auf den Konferenzen den angemessenen Ton zu finden.
Schon das Einladungsschreiben an Deutschland zur Teilnahme an der von Lloyd George initiierten ersten Konferenz in Spa ließ erkennen, auf welch schwierigem Parkett sich die Deutschen bewegen mussten.7 »Die Alliierten leugnen die Schwierigkeiten nicht, denen die deutsche Regierung gegenübersteht«, begann es entgegenkommend, um dann in drohendem Tonfall schnell zur Sache zu kommen, »aber sie sind einig in der Erklärung, daß sie die Fortsetzung der Verstöße gegen den Friedensvertrag […] nicht dulden können« und notfalls »auch zur Besetzung eines neuen Teils des deutschen Gebiets« »schreiten« werden, »um die Ausführung des Vertrages sicherzustellen«.8 Das war im April 1920 die erste Ankündigung einer danach stets möglichen Besetzung deutscher Gebiete durch alliierte Truppen. Weitere Konferenzen folgten in Brüssel und in Paris.9
In London schließlich musste im März 1921 in einer abschließenden großen Konferenz die definitive Regelung und Verständigung mit Deutschland erfolgen, wollte man im Zeitplan des Versailler Vertrages bleiben. Bis zum 1. Mai 1921 sollte der Gesamtbetrag der Schäden, für den Deutschland aufzukommen hatte, ermittelt, ein Zahlungsplan für die Annuitäten in den kommenden 30 Jahren (bis 1951!) erstellt und mit dem Schuldner beschlossen sein. Das ehrgeizige Unternehmen scheiterte mit einem Eklat. Die Pariser Konferenz hatte die Gesamtschadenssumme inzwischen auf über 200 Milliarden Goldmark hochgerechnet. Als der deutsche Außenminister Simons seine Gegenrechnung vortrug, in der Form ungeschickt und im inhaltlichen Ergebnis unverständlich, weil er glaubte ein provozierendes Gegenangebot von gerade einmal 30 Milliarden vorlegen zu können, explodierte der britische Premier. Lloyd George warf den Deutschen eine »Verhöhnung des Versailler Vertrages« vor und verlangte ultimative Strafmaßnahmen. Falls Deutschland nicht bis zum 7. März die Pariser Beschlüsse anerkenne, würden Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort besetzt, der deutsche Export in die alliierten Länder besteuert und die deutschen Zolleinnahmen in den besetzten Gebieten beschlagnahmt. Der deutsche Staatssekretär Carl Bergmann, Mitglied der deutschen Delegation und Autor einer materialreichen Geschichte der Reparationspolitik bis zum Dawesplan, hat das politische Ergebnis von London in einem Satz zusammengefasst: »Die Sanktionen von London« seien der entscheidende Grund gewesen »für die spätere Besetzung der Ruhr«.10
Der Konflikt spitzte sich zu. Anfang Mai legten der Oberste Rat der Alliierten und die Reparationskommission eine Berechnung und einen neuen Zahlungsplan vor — das Ultimatum war gleich beigefügt. Nur weil das neue Kabinett Wirth (Zentrum) akzeptierte, was nicht ohne Weiteres zu realisieren war — eine Schadenssumme von 132 Milliarden und Annuitäten von 2 Milliarden Goldmark —, konnte die Besetzung des Ruhrgebietes durch alliierte Truppen verhindert werden. Schon die Überweisung der ersten Goldmarkmilliarde innerhalb weniger Monate erwies sich als unmöglich, obwohl auch Sachleistungen inzwischen zulässig waren. So musste gleich der erste Stundungsantrag gestellt werden. Die Annuitäten wurden übergangsweise reduziert und neue operative Lösungen gesucht. Die rasch zunehmende Inflation verlangte nach einer Währungs- und Steuerreform, die viel zu spät kam und erst durch Stresemann in seinem zweiten Kabinett mit präsidialen Vollmachten Ende 1923 durchgesetzt werden konnte (s. Kap. III, 211ff.)
Frankreich sah sich einmal nicht durch Deutschlands wirtschaftliche oder militärische Überlegenheit, sondern durch seine Finanzschwäche bedroht, zumal niemand sagen konnte, wie sie sich entwickeln und wann Währung und Finanzen saniert sein würden. Das rief den misstrauischen Poincaré auf den Plan, der wieder die Regierung in Paris übernommen hatte. Auf der erneut von Lloyd George einberufenen Konferenz in London im August 1922 verlangte Frankreichs Regierungschef, dass Deutschland nur dann Zahlungsaufschub gewährt werden dürfe, wenn es den Gläubigern neue Sicherheiten anbiete. Seine »Politik der produktiven Pfänder«11 suchte den direkten Zugriff auf deutsche Kohle aus dem Ruhrgebiet, auf deutsches Holz aus den rheinischen Wäldern und auf Zolleinnahmen. Möglich wurde diese Politik allerdings erst dann, wenn man Deutschland Verfehlungen in der Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen nachweisen konnte. Während Poincaré seinen Vertrauten, Louis Barthou, den Vorsitzenden der Reparationskommission, entsprechend instruierte, mobilisierte er selbst die Massen in Frankreich und machte Stimmung gegen Deutschland. In seinen »Sonntagspredigten« hielt er hasserfüllte Reden gegen das »verbrecherische Deutschland«.
Sanktionen konnte der französische Ministerpräsident allerdings erst dann in die Wege leiten, wenn die Reparationskommission (Repko) Verstöße bei der Erfüllung der deutschen Reparationspflichten nachweisen würde. Bereits im Oktober hatte der französische Delegierte und Vorsitzende der Repko, Louis Barthou, beantragt, festzustellen, dass Deutschland mit seinen Sachleistungen (Holz und Kohle) im Defizit geblieben war. Die Rückstände waren minimal, was insbesondere der britische Delegierte Sir John Bradbury unterstrich und deshalb vorschlug, sie durch deutsche Zusatzzahlungen auszugleichen. Er scheute keine Mühe, die Panne gütlich auf dem Verfahrenswege aus der Welt zu schaffen.12 Die Repko hatte diese Möglichkeit ausdrücklich vorgesehen — vergeblich. Die Konferenz Anfang Januar in Paris veränderte die verfahrene Lage nicht mehr. Auch ein allerletzter deutscher Vorschlag nicht, der auf den vom 14. November zurückging. Unter den Alliierten herrschte keine Einigkeit in der Reparationsfrage, allerdings »im gemeinsamen Strafzug gegen Deutschland«, so der deutsche Finanzstaatssekretär Carl Bergmann.13
Schon Ende November 1922 war bekannt geworden, dass Frankreich mit der Vorbereitung von Zwangsmaßnahmen begonnen hatte. Als Maßnahmen waren vorgesehen: »1. Die vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich jetzt besetzt hält […] 2. Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebiets einschließlich Essens und Bochums, so daß die Frankreich von Deutschland auf Entschädigungskonto zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert würden.«14 Wenige Tage später sprachen darüber der Staatssekretär des Reichskanzlers, Eduard Hamm, und sein Kollege Philipp Brugger, Staatssekretär für die besetzten Gebiete. Diesmal sei es ernst, stimmten beide überein, jetzt wolle Poincaré sein Ziel erreichen. Brugger empfahl, dass Reichskanzler Wilhelm Cuno mit den Ministerpräsidenten der Länder baldigst über diese »sehr ernste Frage« sprechen müsse; auch ausgewählte Pressevertreter sollten teilnehmen. In der Kabinettssitzung am 4. Dezember wurde der drohende Einmarsch allerdings nicht erörtert. In der Besprechung mit den Chefs der Länderregierungen am darauffolgenden Tage gab Brugger einen ausführlichen Bericht über die bisher besetzten Gebiete. Mehr geschah zunächst nicht. Zwei Tage später erwähnte Cuno erstmals die drohende Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebiets, begnügte sich aber mit der vagen Erklärung, dass »die Pfänderpolitik offenbar durchgesetzt werden [solle]«.15 Wie weit entfernt das Bewusstsein der Reichsregierung in Berlin von der aktuellen Lage und dem unmittelbar bevorstehenden feindlichen Einbruch war, lässt der Umdruck einer Besprechung mit den Reparationssachverständigen im Finanzministerium erkennen. Darin wird die Regierung allen Ernstes aufgefordert, »die dermalige Besetzung des linken Rheinufers […] raschestens« abzubauen und die »völkerrechtswidrige Besetzung von Düsseldorf und Duisburg sofort« aufzuheben.16 Kurz vor Weihnachten ließ die Regierung durch Wolffs Telegraphisches Büro (WTB) verbreiten: »Keine der alliierten Mächte kann Reparationsansprüche für sich allein gegen Deutschland erheben« und »allein auch [keine] Zwangsmaßnahmen zur Durchführung dieser Ansprüche ergreifen«.17 Eine törichte und politisch verantwortungslose Geste der Problemabwehr — Frankreich konnte.
So rückten am 11. Januar mehrere Divisionen in kriegsmäßiger Ausrüstung in das rechtsrheinische Ruhrgebiet ein, nach eigenem Bekunden nur zum Schutz einer kleinen zivilen Kommission von friedlichen Bergwerksingenieuren zur Kontrolle der deutschen Reparationsleistungen. Doch mehr als 90 Eisenbahnzüge wurden gebraucht, die belgisch-französische Armee mit rund 45.000 Mann in das Sammlungsgebiet zwischen Duisburg und Düsseldorf zu bringen (sie sollte bald auf mehr als die doppelte Zahl steigen); gegen 6 Uhr früh erreichten französische Kampfwagen und Kavallerie die Städte Essen und Oberhausen. Die Bevölkerung nahm diesen gewaltigen Aufmarsch von Menschen und Maschinen, wie Augenzeugen berichten, mit verständnislosem Schweigen teilnahmslos zur Kenntnis. Behörden und Betriebe begannen wie üblich mit ihrer Arbeit. Einen Tag später war der Raum zwischen Lippe und Ruhr besetzt, der Kern des Reviers abgeriegelt und gesichert. So außergewöhnlich diese militärische Operation den Arbeitern, Angestellten und Beamten erscheinen musste, Anzeichen einer spontanen aggressiven Abwehr gab es zunächst nicht. Schnell besetzten die Franzosen weitere wichtige Orte: Bochum, Dortmund, Essen, Hattingen und Recklinghausen; der Befehlshaber verhängte den Belagerungszustand und beauftragte mit der staatlichen wie industriellen Verwaltung die Micum (Mission Interallieé de Contrôle des Usines et des Mines).18
Aber schon bald sollten den Invasoren beim Abtransport der deutschen Kohle die widerständigen deutschen Eisenbahner und gezielte Sabotageaktionen zu schaffen machen. Durch die Organisation Hauenstein (Deckname »Heinz«) war die Reichswehr früh über die feindlichen Truppen auf deutschem Territorium alarmiert und mit Personal, Sachverstand und Geld beteiligt.19 Die ohnmächtige Reichsregierung setzte am Tag des Einmarsches auf Propaganda und bemühte sich wortgewaltig um innere, nationale Einheit. In ihrem Aufruf »An das deutsche Volk« protestierte sie mit national-poetischem Pathos gegen den »schweren Bruch des sittlichen Rechts« und rief auf zur »eichenfesten Zähigkeit« im Widerstand gegen den »Wetterbraus der Weltgeschichte«.20 Schon in der ersten großen Reichstagsdebatte nach dem Einmarsch am 13. Januar 1923 zeigte sich allerdings, wie unterschiedlich, ja mit Blick auf die politische Peripherie, wie unvereinbar die Standpunkte der Parteien waren.21
Reichskanzler Cuno wandte sich aber nicht nur an die deutsche Bevölkerung und an Frankreich. Der weltweit tätige Manager-Politiker, nach eigenem Bekenntnis weniger »macht- als wirtschaftspolitisch« denkend, richtete seine Rede, in der staatsmännische Klugheit nicht zu überhören war, immer wieder auch an die internationale Staatengemeinschaft und appellierte an ihr Interesse an einer politischen Lösung dieses ganz unnötigen innereuropäischen Konfliktes. Er sollte damit recht behalten. In London lag schließlich der Schlüssel zur Lösung des aktuellen deutsch-französischen Machtkonfliktes. Kein Geringerer als der legendäre südafrikanische Premier J. C. Smuts gab bei der Eröffnung der Commonwealth-Konferenz in London am 1. Oktober dazu den Anstoß.22 Davon wird noch die Rede sein. Zunächst zurück zur Reichstagsdebatte.
Die Kommunisten und Deutschnationalen dachten nicht an einen nationalen Schulterschluss. Die Rechtsnationalen attackierten die Mitte-Parteien wegen ihrer »weichlichen Illusionen« und offenbarten schon in ihrer Wortwahl, worauf sie ungeduldig warteten: auf ein Signal zum aktiven, gewaltsamen Widerstand.23 Mancher von ihnen hätte am liebsten Frankreich und Belgien abermals den Krieg erklärt. Der Sprecher der KPD glaubte im französisch-deutschen Reparationskonflikt einen »Kampf der Kapitalistengruppen« zu erkennen und gab die Parole aus »Klassenkampf gegen den Krieg«. Auch der DVP-Vorsitzende Gustav Stresemann verurteilte Poincaré für seinen »frevelhaften Völkerrechtsbruch«. Er klagte ihn an, in das industrielle Herz Deutschlands mit annexionspolitischen Absichten eingedrungen zu sein, und warf ihm vor, dass er »lang gehegte Ziele« erreichen, das »Rheinland von Deutschland« trennen und die »Wirtschaft des Ruhrgebietes rauben« wolle. Das war mit kalkulierter Absicht emotionsgeladen und reduzierte das Problem auf Poincarés Frankreich. Stresemann wollte seine Wähler zufriedenstellen und die Nation als ganze mobilisieren.
Nicht ohne Weiteres verständlich erscheint allerdings, was nach ihm Hermann Müller für die Sozialdemokraten und ihre Wähler zum Thema zu sagen hatte. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und seiner parlamentarischen Programmrede hatte sich der neue Außenminister als europäischer Erfüllungs- und Versöhnungspolitiker profiliert und in seiner Antrittsrede im Sommer 1919 eingeräumt, dass Belgien während des Krieges unter deutscher Besetzung schwer gelitten habe. Jetzt zögerte er nicht, dem kleinen Nachbarn vorzuwerfen, an der Seite Frankreichs sich selbst der »Macht brutaler Gewalt« zu bedienen. Der frankophone Sozialdemokrat, als Verbindungsmann schon in der Vorkriegszeit hochgeschätzt, war sich nicht zu schade, gegen den Nachbarn den Vorwurf »widerlicher Tartüfferie« zu erheben. Müller schien nach seiner Reise durch das verwüstete Nordostfrankreich aufrichtig erschüttert und hatte im Reichstag nachdrücklich um Verständnis für die deutschfeindliche Einstellung der Franzosen geworben und seine Landsleute zu großen materiellen und geistigen Anstrengungen nachhaltiger Versöhnung aufgerufen. Vier Jahre später schien das vergessen, zeigte sich doch, dass er diese Haltung nicht dauerhaft und unter allen Umständen einnehmen mochte.24 Distanz, ja Missachtung wurden sichtbar. War das wieder der nationale Außenpolitiker Hermann Müller, der einst Burgfrieden und Kriegskrediten zugestimmt und als »Kaisersozialist« die Loyalität unter den Sozialdemokraten der II. Internationale belastet hatte?25
Erstaunlicherweise ist der Zusammenhang von Weltkriegsbeginn — durch den deutschen Einmarsch in Belgien und Nordostfrankreich — und »Weltkriegsende« — durch die Ruhrgebietsbesetzung der französisch-belgischen Truppen — erst in jüngerer Zeit eingehender ins wissenschaftliche Blickfeld geraten. Gerd Krumeich, einer der führenden Weltkriegsexperten, bemüht sich seit Jahren um diese Korrektur unseres Geschichtsbildes. Um den Hass auf die Deutschen und die während der Besatzungszeit zunehmende Aggression der Franzosen besser zu verstehen, müsse man darin den Widerschein jener Brutalität erkennen, der sie bei Kriegsbeginn selbst ausgesetzt waren, als die deutschen Truppen ihre Territorien besetzten.26
Erst Jahre nach dem Waffenstillstand bekam die unwirklich abstrakt gebliebene Niederlage in Feindesland ein reales Gesicht. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Soldaten hätte man in Deutschland womöglich verstehen können, was Belgier und Franzosen beim Überfall durch die deutschen Truppen 1914 erlitten hatten; sie sprachen damals vom neuen »Hunnensturm«. Aber um diesen Zusammenhang zu erkennen und öffentlich diskutieren zu können, fehlte in jener Zeit eine im doppelten Wortsinn grenzüberschreitende kollektive Empathie und allgemeine politische Bewusstseinsreife. So wenig Belgier und Franzosen den Weltkriegsbeginn verarbeitet hatten, so wenig gelang dies den Deutschen. In ihrem Selbstbild kam der Weltkrieg als Angriffskrieg nicht vor; sie konnten sich 1923 nur »als schuldlose Opfer eines Überfalls mitten im Frieden fühlen«.27
Als am Nachmittag des 10. Januar schon die Fanfarensignale der französischen Armee vom Stadtrand zu hören waren, rief man die Essener Bürger eiligst in den Großen Saalbau zu einer Versammlung. Der Zentrumsabgeordnete Johannes Bell, Reichsminister, Mitunterzeichner in Versailles und selbst Bürger der Stadt, hielt eine Rede. Auch er appellierte an seine Mitbürger, standhaft zu bleiben gegen »Gewalt und Rechtsbruch«; Frankreich ginge es gar nicht um die Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen. Ziel der Franzosen sei es, »ewig am Rhein zu bleiben«.28 Danach ertönten auf den Straßen die populären deutschen Nationallieder, die zu singen ihnen die Besatzer bald verbieten würden.
Gegen den »Einbruch« waren sie jedenfalls militärisch machtlos; ihre nach der Demobilisierung stark reduzierten Kräfte hätten dazu nicht gereicht. Außerdem fiel der größte Teil des Besetzungsgebietes in die 50 Kilometer breite entmilitarisierte Zone beiderseits des Rheins. Die Alliierten hatten, wie schon erwähnt, als Sanktionsmaßnahme bereits strategisch wichtige Städte besetzt. Rheinländer und Westfalen waren also informiert und mussten bei einem ungünstigen Verlauf des Reparationsstreits zwischen den Alliierten und Deutschland mit dieser Eskalation rechnen. Mit einem »Wirtschaftskrieg«29 wollten die Sieger nun ihre Ansprüche durchsetzen.
Der Großindustrielle Hugo Stinnes erkannte das nicht nur früh, sondern zog daraus auch früher als andere praktisch-politische Konsequenzen. Er wäre nicht der überragende politisch-strategisch denkende Wirtschaftsführer und außenpolitische Akteur dieser Zeit gewesen, hätte er nicht in einem entscheidenden Augenblick jene Initiative unterstützt, die dann zur schnellen Herausbildung des sogenannten »passiven Widerstands«30 führen sollte. Die Notwendigkeit internationaler Verständigung hat er dabei nie aus dem Auge verloren. Später noch mehr dazu.
Den Anstoß, die zentrale Schaltstelle für die Kohlenerzeugung und -verteilung dem Zugriff der Besatzer zu entziehen, gab wohl die Handelskammer Essen-Mülheim-Oberhausen. Dass aber die Akten über Nacht im Sonderzug nach Hamburg in Sicherheit gebracht werden konnten, war dem tatkräftigen und über beste Beziehungen verfügenden Stinnes zu verdanken.
Vermutlich ist durch seine Initiative auch der Reichskohlenkommissar beeinflusst worden. Noch am ersten Tag des Einmarschs der Truppen teilte er den Zechen mit, dass sie keine Reparationskohle mehr an Belgien und Frankreich liefern dürften. Wenige Tage später — inzwischen hatte eine Besprechung in der Reichskanzlei stattgefunden — erweiterte er seine Anordnung: Das Verbot schloss jetzt auch alle weiteren, nicht an Reparationsvereinbarungen gebundenen Koks- und Kohlenlieferungen ein. Nun eskalierte der Konflikt. Denn zwischenzeitlich hatten sich die Bergwerksbesitzer in einer Vereinbarung mit der Besatzungsverwaltung, der Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines (Micum), ebendazu bereiterklärt. Ende Januar trafen die internationale Ingenieurskommission mit der von Fritz Thyssen angeführten Bergbaukommission zusammen.31
Die deutschen Unternehmer, die weiter produzieren wollten, zumal reparationsfreie Kohle zum Verkauf gegen Bezahlung, weigerten sich nun, der französischen Anweisung zur Wiederaufnahme der Arbeit in den Zechen nachzukommen. Sie widerstanden erst recht, als die zivile Anordnung in einen militärischen Befehl umgewandelt worden war. Schließlich wurden sie verhaftet und am 24. Januar in Mainz vor dem französischen Kriegsgericht angeklagt. Die Verteidigung hielt den »Ruhreinbruch« der Franzosen und die Kriegsgerichtsbarkeit gegen deutsche Bürger staatsrechtlich für unzulässig. Sie verwies ausdrücklich auf den französischen Ministerpräsidenten, der erklärt hatte, die Ruhrbesetzung verfolge keinen militärischen Zweck. Die Nichtzuständigkeit des Gerichts unterstrichen auch die sechs angeklagten Zechenbesitzer. Nachdem sie Revision beantragt und Widerspruch eingelegt hatten, wurden sie freigelassen. Mainz jubelte und sang.
Die Rückfahrt der Freigesprochenen am 25. Januar geriet zu einem Triumphzug. Das erste gewaltlose Nein, von Zechenbesitzern und Fabrikdirektoren gegen das französische Militärgericht durchgesetzt, versetzte die Menschen am Rhein in allgemeine Begeisterung. Hunderttausende säumten triumphierend die Strecke. »Die Gehorsamsverweigerung«, schreibt der Verteidiger dieses ersten spektakulären Ruhrkampf-Prozesses, »wurde vor den Kriegsgerichten bald zu dem Vergehen des passiven Widerstands.«32 Im feindseligen Kampf um Kohle und Hüttenkoks reagierten die alliierten Besatzer auf den passiven Widerstand der Deutschen zwangsläufig mit verstärkter Repression, die wiederum mit aktiver Abwehr beantwortet wurde und immer wieder in blutige Gewalt mündete, Menschenleben forderte, Widerstandsenergien verbrauchte und Unsummen von Geld, zumal dieses sich durch den hyperinflationären Währungs- und Wertverfall zusammen mit den Staatsschulden rasant vermehrte. Die Notenpresse war Tag und Nacht im Einsatz. Eine Sanierung der Währung hätte allerdings den Abbruch des Widerstands erfordert — daran dachten zunächst nur wenige.
Politisch gesteuert wurden Finanzierung und Legalisierung dieses Widerstands von Berlin. Ministerielle Erlasse untersagten den betroffenen Millionen Arbeitern, Angestellten und Beamten des besetzten Ruhrgebietes, Anweisungen und Aufträge der militärischen Besatzungsbehörden anzunehmen. Den etwa 150.000 ausgewiesenen deutschen Staatsangehörigen, etwa ein Drittel von ihnen waren preußische Beamte, wurden die Gehälter weitergezahlt, und die stillgestellten Zechen erhielten für ihre Arbeiter Lohngelder aus der Staatskasse, sofern diese auf dem Transportwege nicht die Beute der Besatzer wurden.
Neben der Gewinnung von Kohle und Koks war der Verkehr, waren Gütertransport und Kommunikation, Abriegelung der besetzten Enklave nach Osten und Öffnung nach Westen ein ebenso schwieriges wie gefahrvolles Problem. Die Besatzungsmächte hatten das größte Interesse daran, das Ruhrgebiet im föderalen Länderverbund vom nichtbesetzten Deutschland zu isolieren und das Reich wirtschaftlich wie sozial entscheidend zu schwächen. Am 30. Januar sperrten sie den Transport ins unbesetzte Deutschland; was nicht abtransportiert werden konnte, wurde auf Halde geschüttet. Auch die Kohlensteuer kassierte das alliierte Militär.
Allerdings hatten Franzosen und Belgier in den ersten zwei Monaten die größten Schwierigkeiten, die geringen Brennstoffmengen an die Stahlproduktionsstandorte in Lothringen und in der Wallonie zu bringen. An einen Generalstreik konnten die Eisenbahner nicht denken; er hätte auch die deutsche Versorgung gefährdet.33 Aber nur wenige Hundert von den über 150.000 deutschen Eisenbahnern waren überhaupt bereit, für die französische Régie zu arbeiten, und ihre abziehenden Kollegen schlau genug, Lokomotiven in unbesetztes Gebiet zu bringen, Schaltpläne für die komplizierten Bahnanlagen zu entwenden oder unbrauchbar zu machen — hier wurde passiver Widerstand in Vollendung praktiziert! Erst im März gelang es der Régie den personellen Fehlbestand qualifzierter Eisenbahner halbwegs zu kompensieren. Die Leistungsbilanz war für Frankreich gleichwohl mehr als enttäuschend. Im ersten Monat konnten die Franzosen 45.000 Tonnen des schwarzen Goldes herausholen und abtransportieren, die Belgier 18.000 Tonnen; das war nicht mehr als eine einzige Tagesleistung vor der Besatzungszeit. Sie versuchten sich allerdings schadlos zu halten bei ihren Raubzügen von Zeche zu Zeche, konfiszierten Maschinen und Fahrzeuge und zögerten nicht, Privatpersonen und Kohlenfuhren auf offener Straße zu berauben.
Dass sich Deutschland als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Besetzung des Ruhrgebiets weigerte, die laufenden Reparationsverpflichtungen aufzubringen, veranlasste das Militär, dem Land auch die Besatzungskosten aufzubürden. Das französische und belgische Militär ging mit Zwangsrequisitionen gegen die Bevölkerung, kommunale Einrichtungen und Industriebetriebe vor, entwendete Maschinen, Fahrzeuge und andere bewegliche Güter. Soldaten wurden in Privathäusern und Schulen untergebracht, Banken und Sparkassen ebenso ausgeraubt wie die Kassen der Post. Auf diese Weise erbeuteten sie Berge von Papiergeld und gewaltige Summen einer tendenziell wertlosen Inflationswährung — der damaligen deutschen Mark. Gewalt und Blutvergießen waren dabei unvermeidbar.
Zum repressiven Repertoire der Franzosen gehörten auch Ausweisungen, Verhaftungen und gerichtliche Bestrafungen in großer Zahl — Maßnahmen, die die Stimmung der Bevölkerung verschlechterten und ihren Widerstandswillen stärkten. Der wurde auch durch die hohe Zahl von schwarzafrikanischen Soldaten aus französischen Kolonialregimentern und ihre Unterbringung in Wohngebäuden und Schulen erhöht. Die Besatzungssoldaten sollten sich so verhalten, als wären sie in Feindesland stationiert, und durften im Bedrohungsfall auch von der Waffe Gebrauch machen. Von Duisburg bis Trier ging französische und belgische Kavallerie gegen Demonstranten vor; es gab Tote und Verletzte. In vielen Orten misshandelten französische Soldaten auch deutsche Polizisten. Verhaftungen, Raubzüge, Ausweisungen nahmen zu. Ende Januar verbot die Besatzungsmacht politische Kundgebungen, auf denen vaterländische Lieder gesungen wurden. Eine Zollgrenze trennte das Ruhrgebiet vom nichtbesetzten Deutschland; innerhalb dieses Raums wurden alle Eisenbahnen durch die Besatzer kontrolliert. Als die leitenden Beamten der Rheinprovinz Düsseldorf erklärten, »durch Eid Ehre und Gewissen verpflichtet« zu sein und nur die Anweisungen der deutschen Regierung auszuführen, verschärfte der Oberbefehlshaber der Rheinarmee, General Degoutte, den Belagerungszustand. Unter den materiellen und sozialen Auswirkungen der Spirale von passivem Widerstand und repressiver Gewalt wuchs der Leidensdruck.
In einer parlamentarischen Anfrage aus dem Preußischen Landtag wurde berichtet, dass der Kohlemangel Deutschland bereits in eine Notlage bringe. Ernährung und Volksgesundheit zeigten alarmierende Mängel und Tendenzen. Todesfälle häuften sich, die Zahl der an Tuberkulose erkrankten Menschen habe sich verdoppelt, die Hälfte der Schulkinder sei unterernährt, viele Krankenanstalten müssten schließen, weil sie wegen der hohen Kohlepreise nicht mehr heizen könnten. Abermals appellierten Reichsregierung und Länder an die Nation und riefen zu einer Spendensammlung auf, zur »Hilfe des Volkes am Volke!«. Die Notlage spiegelte sich nicht zuletzt auch in einer Denkschrift über »Untaten«, die Reichsinnenminister Carl Severing veröffentlichte. Für die ersten beiden Besatzungswochen waren bereits Hunderte Vorfälle polizeilich dokumentiert, darunter zahlreiche vorsätzliche Tötungen, Misshandlungen und Sittlichkeitsdelikte.34
Kinder und Mütter hatten schon während des Krieges und in der Hungersnot der frühen Nachkriegszeit unter vielfältigen Entbehrungen zu leiden. Durch die Bedingungen der Besatzung und des passiven Widerstands verschlechterte sich die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnraum und gesundheitlicher Fürsorge erneut. Arbeiter konnten sich mit dem passiven Widerstand bedingt identifizieren; er war die einzige ihnen mögliche Kampfform gegen den Aggressor, und sie bekamen vom Staat einen Teil ihres Lohnausfalls ersetzt. Ihre Angehörigen waren die eigentlichen Verlierer, auch wenn sich das französische Militär bemühte, die Mangelerscheinungen teilweise auszugleichen, die der Arbeits- und Produktionsausfall des passiven Widerstands hervorgerufen beziehungsweise verstärkt hatte. Bereits im Februar 1923 wurde eine Zentralstelle für Kinderhilfe im besetzten Gebiet gegründet. Auch die Bauernverbände beteiligten sich in großem Umfang. Schon im Februar wurden etwa eine halbe Million freie Betten versprochen; mehr als 300.000 chronisch kranken oder unterversorgten Kindern konnte durch die Landverschickung geholfen werden.35
Ostern 1923 ereignete sich im besetzten Ruhrgebiet ein erster blutiger Höhepunkt im Konflikt zwischen dem feindlichen Militär und der leidenden Zivilbevölkerung. Eine »Kampfgruppe« der französischen Militärmacht besetzte die Essener Krupp-Werke und verlangte die Herausgabe von Fahrzeugen, was Arbeiter und Betriebsleitung verweigerten. Der Überfall ist als »blutiger Karsamstag« in die Geschichte des Krupp-Unternehmens und der Ruhrbesetzung eingegangen.36 Der Anführer, ein älterer Leutnant, gab an, den Auftrag zu haben, die Ankunft einer »technischen Kommission« abzuwarten, die brauchbare Pkw beschlagnahmen sollte. Vergeblich protestierten Betriebsratsmitglieder gegen das Vorhaben. Ein Mitglied des Direktoriums sah sich gezwungen, die Sirenen in Gang zu setzen — ein »schaurig aufrüttelnder« Ton (Erik Reger) breitete sich über den Fabrikhallen aus. Für das Personal hieß das: Arbeitsniederlegung und Protest. Schnell füllte sich das Gelände; mehrere Hundert Menschen kamen zusammen, auch Arbeiter aus den Betrieben ringsum. Teilweise kletterten sie auf die Dächer und verharrten in angespannter Stille. Mehrfach bat der Betriebsrat den Offizier, von der Schusswaffe keinen Gebrauch zu machen. Schließlich ließ dieser ein Maschinengewehr aufstellen und verlangte, dass der Eingang der Auto-Halle von der vorwärtsdrängenden Menge nicht überschritten werden dürfe. Inzwischen war die Sirene abgestellt. Aus der langsam abwandernden Arbeiteransammlung hörte man vereinzelt vaterländische Lieder. Der militärische Überfall schien friedlich zu enden. Plötzlich wurde das Gewehrfeuer eröffnet. Die Soldaten rückten schnell bis zur Straße vor und schossen in die Fliehenden — 13 Tote und 15 Schwerverletzte blieben zurück. Die Mörder entkamen unerkannt.
»Voller Entsetzen« protestierte Reichspräsident Friedrich Ebert gegen das »Blutbad, das französischer Militarismus unter friedlichen Arbeitern« angerichtet hatte. Schon am 31. März erhob Regierungspräsident Grützner in einem Brief an den Befehlshaber General Degoutte den Vorwurf, dass die ihm unterstellte Soldateska den »Ruf Frankreichs als eines Kulturträgers« ruiniert habe. Die deutschen Gewerkschaften appellierten wegen des Massakers an die Welt.37 Am 10. April läuteten zur Stunde der Beisetzung im ganzen Land die Glocken. Die Regierung veranstaltete im Reichstag eine Totengedenkfeier. Der Kanzler ehrte die »Märtyrer von Essen« — einmal mehr mit nationalem Pathos und realitätsfernen Wünschen. Aufmerksame Beobachter übersahen nicht, dass Zechenbesitzer und Kumpel zwar vereint marschierten und sämtliche politische Parteien vertreten waren; sie zogen allerdings nicht mit schwarz-rot-goldenen, sondern »von rechts bis links mit schwarzweißroten Kranzschleifen und Moskauer Farben […] einträchtig hinter den Toten her«.38
Die Besatzer beließen es nicht bei symbolischer Politik; sie nutzten die härtere Propagandawaffe nach Kräften. Flugzeuge warfen Millionen von Zetteln ab mit irreführenden Nachrichten und falschen Beschuldigungen. Der blutige Vorfall beruhe allein auf einer Provokation der Werksleitung, hieß es. Noch am Ostersonntag wurden die ersten Mitglieder verhaftet; Direktor Krupp von Bohlen und Halbach traf erst später ein und schloss sich solidarisch seinen Mitarbeitern an. Obwohl das Gericht ihre Schuld nicht nachweisen konnte, wurden sie zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Nach dem Austausch von Anschuldigungen zwischen beiden Ländern machte die Reichsregierung den Vorschlag, eine internationale Untersuchungskommission einzusetzen. Paris antwortete darauf nicht mehr.
Es war ein Zufall, aber doch ein sehr bezeichnender, dass am gleichen Tag, als im Krupp-Prozess das Urteil verkündet wurde, in Düsseldorf der Schlageter-Prozess über die Bühne ging. Beide Verfahren gehören durch ihre prominenten Akteure ebenso wie durch ihre unterschiedlichen Gewaltaktionen zu den bekanntesten Beispielen des passiven Widerstands. Der 8. Mai 1923 steht nach verbreiteter Einschätzung auch für den Übergang vom passiven Widerstand zum »aktiven Ruhrkrieg«.39 Frankreich hielt offenbar den Zeitpunkt für gekommen, die repressiven Maßnahmen zu steigern, während im besetzten Land die anfängliche Euphorie der nationalen Erhebung erloschen war und die Kräfte des passiven Widerstands erlahmten; nicht zuletzt unter dem Druck der sich verschlechternden Versorgungslage und des rapiden Kursverlustes. Für einen Dollar mussten nun über 30.000 (Papier-)Mark bezahlt werden.
Albert Leo Schlageter galt schon in Weimarer Jahren als Märtyrer und Freiheitsheld, der er nicht war. 1894
