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Widerstand ist ein großes Wort. Gerade im Film. Sind die Organisationsformen hierzulande, ist das Koproduktionseuropa nicht zu sehr auf Kompromiss gebaut, sind die Institutionen nicht verdammt dazu, sich selbst fortzusetzen, verwalteter Film, Verwaltungsfilm, Gremienkino? Ist nicht jeder Widerstand deshalb zwecklos, weil er vereinnahmt wird, bevor er auch nur einen Zuschauer gefunden hat? Die Werbung sagt „radikal”, damit es niemand sonst sein muss, und schon gar nicht der Film? Und doch: was übrig bleibt, im Kopf, nach dem Film, das ist der Blick, das Schnalzen der Zunge, der Splitter, der überschüssig, außer Kontrolle, widerständig war. Für und gegen den Zuschauer zugleich.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
VORWORT
Widerstand ist ein großes Wort. Gerade im Film. Sind die Organisationsformen hierzulande, ist das Koproduktionseuropa nicht zu sehr auf Kompromiss gebaut, sind die Institutionen nicht verdammt dazu, sich selbst fortzusetzen, verwalteter Film, Verwaltungsfilm, Gremienkino? Ist nicht jeder Widerstand deshalb zwecklos, weil er vereinnahmt wird, bevor er auch nur einen Zuschauer gefunden hat? Die Werbung sagt „radikal”, damit es niemand sonst sein muss, und schon gar nicht der Film? Und doch: was übrig bleibt, im Kopf, nach dem Film, das ist der Blick, das Schnalzen der Zunge, der Splitter, der überschüssig, außer Kontrolle, widerständig war. Für und gegen den Zuschauer zugleich.
Die Redaktion
Ben Gibson
Dein letzter Spielfilm Chevalier, der in Locarno Premiere hatte, handelt von einer Gruppe Männer auf einer Yacht, die versuchen herauszufinden, wer von ihnen der Beste ist. Wie ist das Projekt entstanden?
Athina Rachel Tsangari
Wir haben eine Gruppe. Wir arbeiten zusammen, und es gab den Moment, in dem alles infrage stand und keinen Sinn mehr ergab. Das Maß an Lächerlichkeit hatte einen Gipfel ereicht, wo wir gleichzeitig lachen und weinen mussten. Chevalier ist als eine Art Überlebensfilm für unsere Gruppe entstanden. Ich arbeitete eigentlich an einem anderen Film, den ich geschrieben hatte und gerade machen wollte, aber dann merkte ich, es ging nicht. Ich musste irgendwie an diesem Wahnsinn teilhaben, der immer noch in Griechenland wütet – nicht nur in Griechenland. Chevalier ist also ein Film über Macht und über die Formierung des Selbst durch eine sehr oberflächliche Hierarchie. Eigentlich inspiriert von oder basierend auf einer neuen Politik des Selbst, die aus den sozialen Medien kommt. Im Grunde ist es ein Film über das Ende der Ideologie und das Ende der Politik und unsere zunehmende Selbstgestaltung durch die Virtualität und den Wettbewerb um Popularität. Diese sind die neue Politik und das neue Begehren und die neue Identität geworden. Ich traf mich mit Efthymis Filippou, einem fantastischen Drehbuchautor, der die Filme von Yorgos Lanthimos geschrieben hat, von denen unsere Firma einige mitproduziert hat. Wir trafen uns zweimal die Woche und redeten nur über Wettbewerb, die ganze Idee des Wettbewerbs. Wir haben uns zuerst den Kontext ausgedacht, und über den Wettbewerb kamen wir auf die Figuren, sozusagen eine umgekehrte Methode, das Drehbuch zu schreiben. Wir hatten eine Art Blaupause vom Spiel Chevalier, das in sich selbst völlig lächerlich und unmöglich ist. Und dann verbrachte ich ungefähr zwei Monate mit Proben. Davor habe ich neun Monate gecastet. Ich lasse mir immer viel Zeit, bin nie in Eile. Ich muss nicht alle zwei Jahre einen Film realisieren. Es muss einfach stimmen, besonders in Bezug auf die Besetzung, die für mich 95% meiner Regie ausmacht. Wir haben auf dem Boot geprobt, und die Schauspieler sind dabei zu den Figuren geworden. Sie haben die Figuren, die im Drehbuch standen, in Besitz genommen.
Sollte die Handlung immer auf einem Boot spielen?
Es sollte ein begrenzter Raum sein, auch weil ich mich damit wohl fühle. Ich fühle mich nicht wohl mit meinen Figuren, wenn sie frei in der Welt rumlaufen. Da bin ich von der Realität geschockt.
Ich habe gelesen, dass du einmal gesagt hast, wenn es sich um eine Gruppe von Frauen gehandelt hätte, wäre es nicht viel anders gewesen. Deshalb möchte ich nach dem Geschlecht in diesem Film fragen. Kannst du mehr dazu erzählen?
Als ich mit Chevalier begann, war das Wichtigste für mich, über ein paar Menschen zu reden, die versuchen, sich übereinander selbst zu definieren. Ich entschied, nur ein Geschlecht im Film zu haben. In Chevalier sind es Männer, weil es im vorherigen Film, The Capsule, Frauen waren. Es ist das gleiche anthropologische Experiment. Grundsätzlich hätte ich Chevalier auch mit Frauen machen können. Ich wollte sehen, wie sehr sich das ähnelt, und die Erfahrung als Regisseurin mit meiner Besetzung war eigentlich ziemlich ähnlich. Aber das ist eine knifflige Frage, weil ich nicht sicher bin, wie ich mich der Geschlechterfrage als Frau nähern soll. Es ist immer schwierig, sich der Geschlechterfrage als Frau zu nähern, weil wir eine Minderheit sind. Es ist, als ob ich mich als Minderheit entschuldigen oder verteidigen müsste, und das lehne ich ab. Überall gibt es Wände und Mauern, aus Glas, Beton, Ziegeln, weiche Wände – aber ich entscheide mich dafür, sie nicht zu sehen. Deshalb habe ich mich nie wirklich diskriminiert gefühlt, weil ich mich einfach nie positioniert habe. Ich komme aus einer sehr patriarchalischen Gesellschaft und bin in meiner Familie mit einem sehr starken Patriarchen aufgewachsen, mehreren, und auch mit einer sehr starken Matriarchin. Aber ich habe Griechenland schon früh verlassen, wahrscheinlich um dem zu entkommen, und bin nach Amerika gegangen. Ich bin eine Nomadin, und es hat etwas sehr Befreiendes, Nomade zu sein. Gerade politisch betrachte ich mich als Nomade. Ich bin geschlechtslos, soweit ich kann. Das ist die Sorte Identität, die ich forciere. Ich war Teil der politischen Linken in Griechenland, seit ich Teenager war. Aber für mich ist hier das Ende der Ideologie. Die Partei, die ich vor zwanzig Jahren unterstützt habe, ist jetzt an der Macht, und es ist der größte Alptraum. Ich habe also meine eigene Art, durch Wände und durch Diskurse zu gehen, durch Geschlechter und durch Genres. Aber als weibliche, griechische Filmemacherin muss ich mich immer dafür entschuldigen, dass ich Filme mache, die mit verschiedenen Genres arbeiten. Warum sind meine Filme nicht immer gleich? Was ist ein Tsangari-Film? Ist das The Slow Business of Going? Was bist du? Bist du Regisseurin, bist du Produzentin, bist du Lehrerin, bist du Kuratorin? Ich spreche jetzt davon, dass ich eine Frau bin. Denn wenn du eine Frau bist, ist es, aus unerfindlichen Gründen, viel schwieriger, all diese Dinge sein und tun zu dürfen. Normalerweise höre ich auf all das gar nicht und mache einfach weiter. Mit Chevalier wollte ich nicht meinen Machismo in einer Machismo-Welt ausprobieren, sondern genau das Gegenteil davon. Da war so viel Zärtlichkeit und so viel Verletzlichkeit, Weibliches und Männliches schwang bei uns allen mit. Es gab nicht einen Moment, in dem das Gefühl aufkam: „Sie ist die Regie-Frau und wir sind ihre männlichen Untertanen“. Diese offene Atmosphäre wollte ich herstellen, weil ich glaube, dass wir alle Hermaphroditen sind. Ich erschaffe diese erweiterte Familie und ich liebe das an den Leuten, von denen ich inspiriert oder umgeben bin. Diese Mischung aus Masculin – Feminin (Masculin, féminin: 15 faits précis), einer meiner Lieblingsfilme von Godard. Ich muss sagen, Godard war extrem wichtig für mich, er ist mein Held. Von allen Filmemachern war er es, der mir beigebracht hat, nicht zu urteilen.
Das bringt uns zurück zu The Slow Business of Going, denn abgesehen von allem anderen ist in diesen Film die Vorstellung einer Migrantin, einer geflüchteten Filmemacherin, die überall sein kann, eingeschrieben. Ganz offensichtlich ist es ein sehr persönlicher Film, weil es um jemanden geht, der nirgendwo hingehört. Und es ist ein Science-Fiction-Film, in dem es um Menschen geht, die sich zwischen vielen Orten bewegen. Und unsere Heldin im Film, die Going heißt, hat einen Plattenspieler und einen Schaukelstuhl an Gurten auf ihrem Rücken, und der Schaukelstuhl ist ein tragbares Zuhause. Sie hat kein Haus, und sie hat tausende Visa in ihrem Pass, und sie geht in Hotelzimmer, die seltsamerweise auf der ganzen Welt gleich sind. Und sie hat diese Begegnungen mit Auftragsmördern oder Gangstern oder was auch immer sie sind. Was mir dabei auffällt, ist die Verspieltheit. Es gibt Animationen, die Geschichte des Trabant-Automobils, unglaubliche grafische Szenen, die an Godard erinnern. Ein Text erzählt davon: was bin ich, und was bin ich nicht, und die Leinwand ist voller Bilder im Bild. Wie hat sich dieses umfassende Gefühl für das Essentielle am Kino in dir gebildet? Wie hat sich das in dir angesammelt? Ich meine, von dem Moment an, als du in Austin, Texas angekommen bist, und dort das amerikanische Independent-Modell vorfandest. Was hast du selbst mitgebracht? Offensichtlich hattest du eine Menge Godard gesehen.
Als ich nach Austin ging, war ich schon an der NYU gewesen, nicht um Schauspiel zu studieren, sondern Performance Studies – so heißt das dort. Das ist eines der ersten interdisziplinären Studienprogramme in Amerika. Für meine Entwicklung als Beobachterin, als professionelle Beobachterin, professionelle Voyeurin, die ich bin, war dieses Studium wichtig, in dem alles, was wir sind, als Performance oder Theater betrachtet wurde. Das ist im Grunde genommen die Semiotik des Seins. Einer der Kurse hieß „Reisen als Performance“. Wie konsumierst du das Andere? Wie projizierst du dich in das Andere? Wie kapitalisierst du das Andere? Wie entsteht Kapitalismus beim Reisen, und was ist der performative Aspekt davon? Ich hatte dabei großes Glück, weil wir ein Praktikum machen mussten. Ich weiß nicht, ob das an der DFFB so gehandhabt wird, aber dort war es Teil des Lehrplans, irgendwo ein Praktikum zu machen. Ich machte also ein Praktikum im Filmarchiv des MoMA und verbrachte die Hälfte meiner Zeit damit, mir Filme anzuschauen. Als ich nach Texas ging, habe ich Rick Linklater getroffen, ich war 18 und hatte diese kleine Rolle in Slacker. Ich sollte Theater machen, habe dann aber einfach an diesem unglaublichen Experiment von ihm teilgenommen, das tatsächlich ein neues amerikanisches Independent-Kino begründet hat. Sechs Freunde, die zusammen leben. Der Film basierte auf echten Menschen und den Geschichten, die sie einander erzählen. Das waren ernsthafte, ehrliche Geschichten von Menschen, die wirklich versuchen, eine kleine Revolution in ihrem alltäglichen Leben zu machen. Für mich war es wichtig, von der großen Politik runterzukommen, davon Marxistin zu sein und bei Demos dabei zu sein… Ich kam nach Austin und begriff, dass es einen Weg gibt, sein Leben zu revolutionieren, an der eigenen Ecke beginnend, der Ecke deines Betts, der Ecke deines Viertels, durch die Art, in der man die Straße überquert und stehen bleibt und mit jemandem redet, durch die Gespräche, die du als Slacker hast. Diese ganze Idee, Zeit zu verschwenden, die in Wirklichkeit Zeit ist, die du zurückgewinnst, darin habe ich mich total verliebt. Du hast eine Gemeinschaft und stellst im Grunde die ganze Welt nach, mit sehr geringen Mitteln. Rick hat das auf Film gedreht mit Restmaterial, das er von Firmen bekommen hat, die Werbung produzieren. Für jemanden wie mich, aus einem Land, in dem 98% der Regisseure alte Männer waren…
…die niemals nur deshalb etwas taten, weil sie es tun wollten.