Richard Coudenhove-Kalergi - Walter Göhring - E-Book

Richard Coudenhove-Kalergi E-Book

Walter Göhring

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Beschreibung

Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972), adeliger Herkunft, gilt als Visionär und Wegbereiter der Europäischen Union. 1922 gründete er in Wien die "Paneuropa"-Bewegung, die von Österreich bald auf andere Länder übergriff. 1938 floh er vor dem NS-Regime über die Schweiz in die USA. Dort gelang es ihm, Politiker und Freunde für seine Idee zu gewinnen. Bei seiner Rückkehr nach Europa geriet er in den Konflikt um die Führung der Paneuropa-Bewegung. Als Initiator der Parlamentarier-Union und deren schrittweiser Entwicklung zum Europarat setzte er daraufhin einen Prozess in Gang, der viele Jahre später zur Gründung der Europäischen Union führen sollte. 1966 legte Coudenhove-Kalergi beim X. Wiener Paneuropa-Kongress in ein Memorandum für das künftige Europa vor, das bis heute als eine wichtige Leitlinie gilt. Coudenhove-Kalergi wirkte als Berater unter anderem für Charles de Gaulle, Georges Pompidou und Konrad Adenauer und begeisterte auch Bruno Kreisky für seine Ideen. Mehr als eine Biografie ist dieses Buch ein Plädoyer dafür, sich gerade in Krisenzeiten mit der Weiterentwicklung des Europäischen Gedankens auseinanderzusetzen.

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WALTER GÖHRING

Richard Coudenhove-Kalergi

Ein Leben für Paneuropa

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie durch das Österreichische Bundesministerium für Bildung und Frauen.

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01054-2 Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien, unter Verwendung einer Fotografie von Paul Almásy / AKG-images Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Vorwort

Kindheit und Jugendjahre

Alfred Hermann Fried und Richard Coudenhove-Kalergi

Der Freimaurer Richard Coudenhove-Kalergi

Paneuropa wird auf eigene Beine gestellt

Der Erste Paneuropa-Kongress in Wien 1926

Gründung und Führung der Paneuropa-Jugend Österreich

Knebelung der Demokratie in Österreich 1933–1934

Gesichter der Ida Roland I – Die »Hausfrau« Paneuropas

P. E. N. und Paneuropa

Bemühungen und Ringen Richard Coudenhove-Kalergis um den Friedensnobelpreis

Die Überparteilichkeit Paneuropas

Hitlers Angst vor Paneuropa

Das Leben im Exil

Mitsuko – Eine Frau zwischen zwei Welten

Paneuropäische Großkundgebung in den USA

Die Heimat hat sie wieder

Der Europarat – Debattierclub oder informelle Kontaktebene?

Gesichter der Ida Roland II – Schauspielerin, Sozialarbeiterin, Kulturmanagerin

Krise und Neuaufbau

Der europäische Gigant: Charles de Gaulle

Die Symbole Europas – Fahne und Hymne für eine europäische Identität

Zwei Patrioten im Ringen um den Frieden in Europa

Paneuropa zurück in Österreich

Der Zehnte Paneuropa-Kongress in Wien 1966

Der Abschied von de Gaulle

Das Goldene Jahrzehnt

Richard Coudenhove-Kalergis Spuren in die Gegenwart

Das Paneuropäische Picknick 1989

Helmut Kohl: Ein neuer Paneuropäer wird aktiv

Herbert Kraus – Das Projekt »Großeuropa«

Von der Coudenhove-Kalergi-Stiftung zur »Europagesellschaft Coudenhove-Kalergi«

Nachwort

Danksagung

Anhang

»Diese Wunde zu schließen und das entzweigerissene Europa wieder zu vereinigen, ist die neue Mission Österreichs. Es handelt sich nicht mehr um die Einigung des in Nationalstaaten zersplitterten Europa, sondern um die Versöhnung des durch den Eisernen Vorhang zweigeteilten Europa.«

RICHARD COUDENHOVE-KALERGI 1964

»Es genügt nicht, Paneuropa zu wünschen, zu erhoffen oder zu ersehnen: Sie müssen es wollen. Sie müssen es nicht nur als Forderung der Geschichte betrachten, sondern als Forderung Ihres Gewissens; Sie müssen entschlossen sein, für dieses Ziel Opfer zu bringen, zu kämpfen und zu leiden – ohne Rücksicht darauf, ob Sie glauben, es erleben zu können oder nicht. Sie müssen sich als Armee fühlen im Kampf gegen überwältigende Übermacht, aber überlegen an Tatkraft, Mut und Opferfreudigkeit.«

RICHARD COUDENHOVE-KALERGI 1972

Vorwort

»Das Leben des Richard Coudenhove-Kalergi ist ein Abenteuer.« Dies sagte einer meiner Gesprächspartner im Rahmen der Recherchearbeiten im Spätherbst 2015. Denn Richard Coudenhove-Kalergi (im Folgenden abgekürzt als RCK) war ständig auf der Suche nach etwas Neuem für seinen Traum von einem geeinten Europa. Charakteristisch für ihn sind seine ständige Unrast dabei, Mitredner und Partner zu gewinnen, was auch zur Folge hat, dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt und auch Neuorientierungen durch Großereignisse auslöst.

Auch wenn er sich selbst als pragmatischen Pazifisten sieht, erkennt er bald, dass dies zu wenig ist und er nimmt sich selbst in die Pflicht, aktiv in die Politik Europas einzugreifen. Sein Motto dazu lautet: Wahrung der Unabhängigkeit, Führungsanspruch und Überparteilichkeit.

Dies hat zur Folge, dass sein Leben nach beschaulicher Kindheit und Jugend sich mit Ende des Ersten Weltkrieges sehr rasch verändert. Es ist eine Reihe oft schwerer Konflikte, die er durchstehen muss, um seine Idee von Paneuropa nicht nur in Worten, sondern auch in die Tat umsetzen zu können.

Mit diesem Wechselspiel gelingt es ihm, da er sich nicht zurücklehnt und beobachtet, sondern sich immer wieder öffentlich der Diskussionen stellt und sich Diffamierungen widersetzt, mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ins Gespräch zu kommen und für seine Ideen nicht nur Gegner, sondern auch Förderer und Mitträger zu gewinnen. Dazu kommt noch – wie am Beispiel von Churchill, de Gaulle usw. offensichtlich wird –, dass er Personen findet, die sehr rasch seine Fähigkeit erkennen, seine Ideen aufgreifen und in gegebener Form politisch umsetzen oder fortentwickeln.

Auch geschieht es, dass einzelne Teile seines Gedankenguts in Vergessenheit geraten, später ohne auf ihn Bezug zu nehmen aufgegriffen und weiterentwickelt werden.

RCK ist aber auch selbst ein Lernender. Von elterlicher Seite erlebt er großen disziplinierten Freiraum und bekommt die bestmögliche Ausbildung an der Theresianischen Akademie mit der Zielvorgabe, später im höheren diplomatischen Dienst der Donaumonarchie zu landen. Diese bildet auch die Grundlage – etwa mit seiner Vielsprachigkeit – für seine Präsenz bei den unzähligen Kongressen auf verschiedensten Ebenen. Entgegen den Erwartungen der Eltern entscheidet er sich jedoch nach dem Studium dafür, Journalist zu werden.

Er greift zu einem Buch des österreichischen Friedensnobelpreisträgers Alfred Hermann Fried mit dem Titel »Pan-Amerika – Entwicklung, Umfang & Bedeutung der zwischenstaatlichen Organisation in Amerika (1810–1916)«. Eine Herausforderung hierbei ist die Insideraussage, die Fried seinem Buch als Basis voranstellt. »Europa legt vielleicht für all dies nicht genügend Aufmerksamkeit an den Tag! Europa möge nicht vergessen, dass es einer jungen unternehmenden Welt gegenübersteht, deren Entwicklung durch Riesenschritte ausgezeichnet, die nicht die aufgehäuften finanziellen Verpflichtungen unseres alten Staates besitzt und auf der nicht die wahrhaftig ausschweifende Last unserer militärischen Organisation liegt.«1 Frieds Publikation ist für RCK ein Lehrbuch, von dem ausgehend er sein Modell Paneuropa entwickelt. Aus der unmittelbaren Aktualität des politischen Vakuums, ausgelöst durch den Zerfall sowohl der Donaumonarchie als auch der deutschen, russischen und türkischen Monarchien und den Erstarrungsprozess durch die Friedens- und Knebelungsverträge, setzt er sich, publizistisch angeregt durch seinen Freundeskreis, für den sich konstituierenden PEN-Club ein. Um Arthur Schnitzler, den ersten Präsidenten, schart sich eine Aufbruchs-Generation, der auch RCK und seine Frau Ida angehören. Sein Freiraumanspruch ist es, mit dem er sich selbst freispielt, mit seinem Paneuropa-Buch sein Umfeld überrascht und damit einen ganz neuen, zukunftsorientierten Weg geht, der typisch ist für die Zwischenkriegszeit. Und damit schafft er sich in der Folgezeit eine Bewegung, die durch Zusammenfügungen, innere Selbstauflagen und Perspektiven gekennzeichnet ist. So kommt es, dass er mit seinem Anspruch auf Überparteilichkeit und freigeistiges Selbstbewusstsein sowohl bei der jüngeren Generation als auch bei Spitzenpolitikern Anklang findet. Seine konkrete ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Form von imperialistischer Kriegslust und Kriegspolitik sowie die gesellschaftlichen Veränderungen und die neue Transformation Russlands zur Sowjetunion sind Einzel- aber auch Eckpunkte, die für seine künftige Arbeit Bedeutung haben.

Das Anwachsen der Paneuropabewegung im Neuen Geist Europas führt dazu, dass von nationalsozialistischer Seite befürchtet wird, durch diese Bewegung könnte ein neuer Feind entstehen. Hitler verfolgt RCK 1928, dies sei hier angedeutet, und rund 10 Jahre später muss RCK mit seiner Frau unter Rettung dreier weiterer Personen in die Schweiz und später in die USA emigrieren.

Hier lernt er, dass vom Bürger sowohl im allgemein gesellschaftlichen Leben als auch im politischen Leben viel Selbstinitiative gefordert wird. Paneuropa ist in den USA kein Thema. Die Einbindung geht dann jedoch nicht unproblematisch von sich. Dieser Gegensatz zu Europa, das großräumige Leben und die breite Basis des Denk- und Aktionsprozesses sind es, was das Ehepaar Coudenhove-Kalergi schnell umzusetzen lernt, als die beiden 1946 ihren Wiedereinstieg in das zweigeteilte politische Feld Europas wagen.

RCK muss aus Gründen der aktuellen Situation heraus sein Paneuropa-Modell den äußeren Rahmenbedingungen anpassen und setzt auf neue Organisations- und Informationsformen.

In dieser Lebensphase verändert sich durch die hochaktive Mitarbeit seiner Frau Ida sein Stil. Und der Weg heißt: über den Einfluss auf politische Meinungsbildung die politische Entwicklung Europas – und Paneuropas – lenken.

Das erste Problem bei seiner Rückkehr aus dem Exil ist, dass sein Platz an der Spitze der Bewegung, die er aufgebaut hat, jetzt besetzt ist, und es dauert lange, bis das alles geklärt ist. Aber mit der Idee eines Europaparlaments und einer Union gelingt es ihm, eine Initiative zu schaffen, die auch über seine aktuellen Möglichkeiten hinauswächst. Für ihn persönlich wichtig ist aber, dass er unter anderem in Charles de Gaulle einen Ideenträger findet und er als einziger der sogenannten »Neueuropäer« zu de Gaulle steht. Sehr bald zeigt sich, dass die Gedankenwelt RCKs durch de Gaulle transformiert und hoch politisiert in Angriff genommen wird.

Eine tiefe Vertrautheit zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten führt dazu, dass über die Initiative von de Gaulle ein entscheidender Schritt zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gesetzt wird. De Gaulle besteht darauf, dass RCK ob seiner Verdienste um das Zustandekommen dieses Akts der Aussöhnung als einziger Nichtpolitiker an der Unterzeichnung der Freundschaftsverträge teilnehmen kann.

Mit dem Tod de Gaulles und zwei Jahre später RCKs stellt sich unmittelbar die Frage, ob Paneuropa eingestellt werden soll. Die Paneuropa-Bewegung beginnt, sich unter den neuen Voraussetzungen zu wandeln und auch auszuweiten in der Zielorientierung, wie etwa mit der von RCK bereits schon angedachten Ausweitung zu »Großeuropa« sowie mit der Einbindung Russlands als gleichberechtigtem Partner in ein Europa vom Atlantik bis Wladiwostok. Zielrichtung dieses Projekts ist es, ein Staatengefüge zu schaffen, in dem Russland in einer Form der Konföderation mit Europa vereint ist; damit, und hier ist wieder die Fragestellung RCKs fest eingebunden, soll Europa zum gleichwertigen politischen und ökonomischen Partner für die USA und China werden.

Die Quellenlage für dieses Projekt ist durch große Unterschiede gekennzeichnet. Auf der einen Seite steht ausgesprochene Kernliteratur, im Anhang angezeigt, und auf der anderen Seite viel unveröffentlichtes Material.

Nüchtern betrachtet ist die Quellenlage sehr bunt und breit gestreut. So gibt es gut aufbereitete Materialien zu RCK in Moskau bis 1939. Mehrfach ist schon von öffentlicher und privater Seite versucht worden, diese Dokumente, sogenannte »Beuteakte«, die von den Nationalsozialisten nach Berlin gebracht, dann von den Russen beschlagnahmt und in die UdSSR verlegt wurden, öffentlich zugänglich zu machen, aber die Bemühungen waren bisher immer erfolglos. Sehr gut aufbereitete Bestände liegen ebenfalls in der Schweiz, vor allem in Lausanne im RCK-Archiv und im Monnet-Archiv. Weitere Bestände ruhen im französischen Nationalarchiv in Paris (Archives nationales de France). Dazu kommen noch die Bundesarchive in Wien, Bratislava und Berlin und die vielen kleinen Privatarchive in Frankreich, Österreich und der Schweiz.

Die Recherche, die oft bedeutsame Ergebnisse erbrachte, konnte in Zeitzeugengesprächen ergänzt und korrigiert werden. Dabei muss gesagt werden, dass bis auf eine einzige Ausnahme alle ihr Wissen oder ihre Korrekturhilfe zur Verfügung gestellt haben. Gerade die Phase ab 1946 ist nach dem Tod RCKs noch wenig bearbeitet – trotz hohem Wert. Dazu gibt es sehr viele Tondokumente und Filmmaterial in Österreich und anderen Ländern.

Mit dieser Arbeit, die nicht nur als politisch-organisatorisch anzusehen ist, sondern auch das Umfeld RCKs, seine Lebensweise und seinen Umgang mit Krisensituationen analysiert, wird gleichzeitig ein Leben bis in die Gegenwart exemplarisch aufbereitet. Damit verbunden sind auch das exemplarische Aufgreifen von Vorurteilshaltungen und Einseitigkeiten. Damit wird versucht, einzelne Fragen aufzuklären.

Das Gesamtbild zeigt, dass das Forschungsfeld – insbesondere die Zeit von RCKs Aufenthalt in den USA und die Phase nach 1946 – noch viele Möglichkeiten zur Vertiefung bietet.

Die Darstellungen dieser Publikation erfassen die Bedeutung und Verdienste RCKs, aber auch seine Enttäuschungen, seine Beziehungen zu den unterschiedlichsten Persönlichkeiten und auf verschiedenen Ebenen, sein Bemühen um die Gewinnung von Persönlichkeiten, deren Grundeinstellungen zunächst weit neben seinen eigenen liegen. Weiters wird der Entwicklungsprozess RCKs aufgezeigt, der mit extremer Konsequenz und Vehemenz fortschreitend bemüht war, das sich globalisierende Europa mit Zukunftsorientierung weiterzuentwickeln. Gleichzeitig wollte er aber die Vielfalt eines neuen Europa im Auge behalten.

Seine Ideen, seine Arbeitsergebnisse finden sich in der nachfolgenden Generation deutlich wieder.

Kindheit und Jugendjahre

RCKs Vater Heinrich Coudenhove-Kalergi (1859–1906) war in seinem Ausbildungsgang geprägt durch die Schule des Jesuitenkollegiums Kalksburg bei Wien. Der sprachbegabte Heinrich mit seinen 16 Sprachen war für die damalige Zeit eine ungewöhnliche Erscheinung und durchlief eine Diplomatenausbildung. Er erhielt wichtige Posten, wo es um Neuorientierungen oder Neuerschließungen für das Habsburgerreich ging. Dazu zählten Athen, Rio de Janeiro, Istanbul, Buenos Aires und Tokio. Überall erlernte er in kürzester Zeit die Landessprache. Besonders starken Eindruck machte auf ihn das Leben in Tokio. Gerade die japanische Kultur und Lebensweise, die Höflichkeit, der Respekt anderen Persönlichkeiten gegenüber prägten das Lebensbild des bereits sehr erfahrenen Diplomaten.

Besonderes Aufsehen erregte er im Außenministerium in Wien mit seinem Bericht über den russisch-japanischen Krieg, in dem er den Sieg Japans über Russland voraussah. Von Tokio sandte er laufend Berichte über dieses neue Feld diplomatischer Fragestellungen, die in Wien mit höchstem Interesse aufgenommen wurden.

In Tokio trifft er als 32-Jähriger die 17-jährige Japanerin Mitsuko Aoyama (1874–1941). Aus einer ganz anderen Kulturwelt kommend, lernt er in vielen Gesprächen ihre Kultur kennen. Es entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Beziehung und Liebe. Und er vervollkommnet sein Brockenwissen in Japanisch.2

Mitsuko ist die Tochter einer Ölhändler- und Kunsthändlerfamilie. Sie ist im Sinne ihres Vaters klassisch-japanisch erzogen. Heinrich, der oft Gast in der Familie ist, entwickelt sich zu einem leidenschaftlichen Antiquitätensammler. Bei den regelmäßigen Treffen lernt er Mitsuko kennen, die ihm den Tee serviert.

Schließlich gelingt es Heinrich, den Vater der jungen Frau zu überreden, dass diese in der Gesandtschaft angestellt werden kann. Nach einiger Zeit spricht Heinrich bei dem Vater der jungen Frau vor und hält um die Hand von Mitsuko an. Dieser lehnt jedoch empört ab. Daraufhin heiraten die beiden gegen den Willen des Vaters, der für die Zukunft alle Kontakte zu seiner Tochter abbricht und ihr Hausverbot erteilt. Später bekommen die beiden, was für Japan nicht ganz ungewöhnlich ist, zwei Kinder. Nach Jahren soll dann die Aussöhnung Heinrichs und Mitsukos mit dem Vater erfolgt sein. Entscheidend für diesen Schritt war, ob die weitere Lebensplanung mit oder ohne Mitsuko erfolgen würde. Der Druck auf die beiden war relativ hoch, und Heinrich kämpfte um den Erhalt seiner Familie und seiner Karriere. Nach mühsamer Klein- und Überzeugungsarbeit geben sowohl der Mikado als auch die Kirche ihre Zustimmung zur Verehelichung (1892). Am Freitag, dem 16. November 1894 wurde Richard in Tokio geboren. Sein japanischer Name lautete Eijiro. Sein englischer Name, gleichsam Spitzname, der ihn sein Leben lang begleitete, lautete Dicky.

Kindheit Richards im Spannungsfeld Eltern und Betreuung

Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte Richard in Tokio. Dann übersiedelte die Familie mit den beiden Söhnen nach Ronsperg (heute Poběžovice, Tschechische Republik). Richards älterer Bruder Johannes wurde noch in Tokio geboren. Im Schloss Ronsperg, das ursprünglich eine Burg war und im 16. Jahrhundert erweitert wurde, liegt die Heimstätte der Kinder. Der Ort liegt in der böhmischen Waldzone, nahe der Grenze zu Bayern an der Pivoňka im Vorland des oberpfälzischen Walds. Das Schloss war bis 1945 im Familienbesitz der Familie Coudenhove-Kalergi. Die Bevölkerung umfasste damals 1800 – überwiegend deutschsprachige – Einwohner. Das Jagdschloss »Dianahof« war für die Kinder eine Oase des Friedens und sollte später, als Richard schon im Theresianum war, zu einer Zufluchtsstätte der kleinen Freiheit und Erholung werden.3

Für Richard und den älteren Bruder Hansi bietet der Innenhof mit dem großen Garten, der von einer Mauer umgeben ist, ein breites Feld für Entdeckungen und Abenteuer. Allerdings sind sie dort von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten. Es gibt keinerlei Kontakt zur Bevölkerung des Städtchens. Dort entwickeln sich die beiden »Japaner« ganz anders als die »vier anderen« Brüder, die sie einfach als die »Böhmen« bezeichnen. Sie schließen ihre jüngeren Geschwister völlig aus ihren Spielen aus. Der Bewegungsraum für Richard und Hansi ist sehr weit. Daher haben die beiden immer die Möglichkeit, nach dem Unterricht in der Bibliothek herumzustöbern. Sie stoßen dabei auf Spuren der Interessen ihres Vaters. Ergänzung und Anregung dazu bilden die Büsten bedeutender Persönlichkeiten, die überall im Schloss und im Garten aufgestellt sind. Und sie haben jetzt Möglichkeit, sich in der Bibliothek Unterlagen über diese Kulturdenkmäler herauszusuchen. Dazu gehören Sokrates, Plato, Homer, Marc Aurel, Aristoteles, Michelangelo, Kant, Goethe, Schiller, Schopenhauer, Napoleon u. a.m. Dieses Wissen, das sich Richard dabei emotional und spielerisch erwirbt, wird dann für seinen späteren schulischen Weg und seine Berufsausbildung eine wichtige Rolle spielen. Warum? Er beginnt, zum Vielleser zu werden und lernt in den Stunden, die er in der Bibliothek verbringt, ohne sein Umfeld wahrzunehmen, sich auf eine Sache zu konzentrieren.

Der Vater selbst kümmert sich nur selten um die Kinder. Die Möglichkeiten, mit dem Vater ins Gespräch zu kommen, sind sehr gering. Bei Tisch gilt für die Kinder absolutes Sprechverbot, sodass sie gezwungen sind, den Gesprächen des Vaters mit den häufig wechselnden Gästen beizuwohnen.

Einen wichtigen Ansatzpunkt für die seltenen Gespräche bildete der große Tischglobus im Arbeitszimmer des Vaters. Hier lernt Richard mithilfe seines Vaters oder eines seiner Hauslehrer, zum Teil auch allein, die Welt als Kugel kennen. Der Vater hat Tokio auf dem Globus mit einem kleinen roten Punkt gekennzeichnet, und Richard zieht mit einem feinen roten Faden eine »Linie« über den Globus nach Tokio und zu anderen Städten, in denen sein Vater gearbeitet hat. Er leitet daraus Fragen über die Arbeitswelt seines Vaters ab. Gerade dies wird von den Eltern aktiv unterstützt. Er erhält – genau wie seine Brüder – zu Hause Privatunterricht, dabei ist der Tagesablauf exakt festgelegt. Der Rhythmus lautet: Lernzeit – Freizeit – Lernzeit, und täglich eine zweistündige Wanderung, auch bei Schlechtwetter und Kälte.

Der Vater legt größten Wert auf religiöse Erziehung. In der Folge werden die Lernzeiten in zwei große Felder geteilt. Das geistliche Feld wird zunächst von einer Klosterschwester unterrichtet, die aus dem von den Coudenhove-Kalergis getragenen Ronsperger Borromäerinnen-Kloster stammt, und später durch den Stadtpfarrer koordiniert. Der weltliche Unterrichtsbereich wird von einem österreichischen Hofmeister koordiniert und verantwortlich geführt. Zunächst stehen im Mittelpunkt die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch alle anderen Bereiche, die in den öffentlichen Schulen unterrichtet werden. Zur Kontrolle hierzu kommen jedes Jahr zwei Ronsperger Volksschullehrer in das Schloss und prüfen, ob die Kinder das gesamte Wissen der jeweiligen Altersstufe beherrschen. Dann gibt es die obligatorischen Zeugnisse.

Bereits in dieser Zeit wird, vom spielerischen Lernen weiterführend, aufbauend begonnen, Richards Fremdsprachenkenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Die Mutter spricht Englisch, der Vater Deutsch und Französisch mit ihm. Dann lernt er Ungarisch, das gleichzeitig Amtssprache in der Donaumonarchie ist, Russisch, Türkisch, und von einem muslimischen Albaner lernt er noch Arabisch.

Die Vielfalt der Sprachen, gleichzeitig damit auch das Kennenlernen unterschiedlicher Geschichtsbilder, unterschiedlicher Ansichten und einzelner Nationen über kontinentales Heranwachsen, beginnen sich in eine Richtung zu entwickeln, die sich vom kleinnationalen Denken deutlich unterscheidet.

Der Schritt aus dem häuslichen Lernen hinaus wird durch den Besuch des deutschen Gymnasiums in Pilsen gesetzt. Jetzt, in ein festes Terminregelsystem eingebunden, dazu die Tatsache, dass der Vater mehr Zeit für die beiden Gymnasiasten hat, sowie die regelmäßigen gemeinsamen Essen mit dem Vater, eröffnen für Richard eine neue Phase des Entdeckens der weiten Welt des Vaters, seines Wirkens und seiner Lebensfreude. Das Zuhören bei Gesprächen seines gastfreundlichen Vaters und der Mutter mit Gelehrten, Diplomaten, Geistlichen und privaten Gästen in Bezug zur Weltoffenheit prägen sowohl Richard als auch seine Geschwister sehr stark. Charakteristisch ist dann, dass die Kinder, die Nachkommen einer Asiatin und eines Europäers sind, nicht in nationale Begriffe verstrickt aufwachsen. Ihr Weltbild ist geprägt in Kontinenten wie Europa und Asien, trotzdem fühlen sie sich »ihrer Abstammung nach als echte Europäer, erzogen frei von nationalen Vorurteilen«4.

Wichtig ist, dass Heinrich Coudenhove-Kalergi nach einem Konflikt über alle kleinkarierten Aussagen hinweg klarstellt, dass Hansi Ronsperg erben wird, die Brüder Rolfi und Richard zu gleichen Teilen die ungarische Besitzung Zamutu erhalten sollen. Damit sie mit 18 Jahren die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen, ist es für die beiden notwendig, auch noch Ungarisch zu lernen.

Der Vater, wohl wissend um die Bedeutung der Völker- und Sprachenvielfalt, hat trotz seines diplomatischen Dienstes noch Zeit genug zum Publizieren und veröffentlicht unter anderem auch die »Politische Studie über Österreich-Ungarn«. Darin setzt er sich mit einer Reichsreform auseinander und schlägt ein föderalistisches System vor, in dem die Slawen Österreichs volle Gleichberechtigung erhalten. Daraus, folgert er weiter, werde durch diese Dreiheit in der Donaumonarchie ein friedliches Modell entstehen. Und als nächsten Schritt folgert er weiter, dass Österreich-Ungarn in den großen imperialistischen Auseinandersetzungen um neue Kolonien einen Ruhepol bilden sollte, und dass damit zwischen Slawen und Deutschtum, Deutschland und Russland, Österreich mit Wien eine Brücke bilden sollte.

Am 14. Mai 1906, Richard ist gerade elfeinhalb Jahre alt, stirbt – für alle ganz überraschend – sein Vater. Gerade zu jenem Zeitpunkt, als der junge Richard die Leistung und Bedeutung des Vaters als Persönlichkeit erkennen und schätzen lernt, und sich auch mit ihm zu identifizieren beginnt. Die Bildung und Energie sowie Lebenseinstellung des Vaters beginnen auf ihn zu wirken. Trotzdem bricht für Richard und die ganze Familie eine Welt zusammen.5

Nach dem Tod Heinrichs wird Mitsuko, seine Witwe, zu seiner Universalerbin und zum Vormund für die sieben Kinder bestimmt. Ihr, die bislang freiwillig vom Berufsleben vollkommen abgekoppelt lebte und sich nur kulturell betätigte, fällt nun die Aufgabe zu, den Kampf um das Erbe aufzunehmen. Mithilfe hervorragender Anwälte und öffentlicher Persönlichkeiten sowie durch ihr starkes Auftreten gelingt es ihr, trotz Neidern und Beleidigungen, vom Vormundschaftsrichter das Vertrauen ausgesprochen zu bekommen.

Daraufhin kann sie ohne Wenn und Aber die Vormundschaft und alle damit verbundenen Bereiche übernehmen. Dabei geht sie so vor, dass auch die anderen Coudenhoves nicht das Gefühl haben, überrollt zu werden.

Der ständige Kampf um richtige Vormundschaft, die ökonomische Frage und die Verpflichtung zur Ausbildung der Kinder haben zur Konsequenz, dass Mitsuko eine seelisch-psychische Metamorphose durchmacht. Aus der bislang ruhigen, ausgeglichenen Frau wird eine unruhige, gelegentlich zänkische Frau, der es vor allem um die Sicherheit der Zukunft für die Kinder geht. Rund zwanzig Jahre später, als das jüngste Kind volljährig wird, zieht sie sich aus allem zurück und lebt fortan in ihrer Villa in Mödling.

Das Theresianum

Der Leitgedanke für das Theresianum als eine Vorgabe Maria Theresias lautete: »In diesem Haus gibt es nur zwei Arten von Protektion: Charakter und Leistung sowie Pflichterfüllung aus innerer Überzeugung.« Dieser hat bis in die Gegenwart seine Gültigkeit.

Mitsuko erkennt nach dem Tod ihres Mannes sehr bald, dass für die heranwachsenden Brüder Hansi, Dicky und Rolfi ihre moralische Erziehung nicht ausreichend ist und der Weg zu neuen Ausbildungsformen notwendig wird. Zunächst öffnet sie die bisher für die Kinder geschlossene Hausbibliothek. Das erscheint ihr bald zu wenig. Daraufhin wird das Dreierteam zunächst auf ein Jahr nach Brixen in das öffentliche Augustinergymnasium geschickt. Da Mutter Mitsuko schon nach kurzer Zeit erkennt, dass für die Zukunft der drei Jugendlichen das gemütliche Brixen nicht die ideale Stätte ist, trifft sie die Entscheidung, diese in Österreichs führende Erziehungsanstalt, das Theresianum, zu senden.

In den Jahren ab 1906 bis 1914 ist das Theresianum die Bildungsanstalt mit stärkster, inhaltlich breit angelegter, staatspolitischer Wirkung. Die durchschnittliche Schülerzahl in dieser Zeit liegt bei 300. Die Zöglinge kommen aus allen Teilen des habsburgischen Vielvölkerstaats. Das Völkergemisch umfasste: Deutsche, Ungarn, Polen, Tschechen, Italiener, Kroaten und Slowenen. Von außerhalb der Monarchie kommen russische, ukrainische, türkische, indische, ägyptische, persische Schüler. Die heranwachsenden »Jungtheresianer« sprechen zum Großteil unterschiedliche Sprachen und haben unterschiedliche sozio-kulturelle und ökonomische Hintergründe. Das gemeinsame, über nationale Grenzen hinweg gesteckte Ziel ist, die Söhne des Adels und der Diplomatie zu hohen Staatsbeamten, Offizieren, Diplomaten zu erziehen. Rund zwei Drittel erhalten einen Platz durch die theresianische Stiftung und damit Erleichterungen. Wesentlich also ist, dass jeder Lehrer, gleichgültig aus welchem Winkel der Donaumonarchie stammend, die Möglichkeit hat, begabte und fleißige Kinder, auch aus niedrigsten und ärmsten Gesellschaftsschichten kommend, über regionale Stellen für die Aufnahme ans Theresianum, mit Freiplatz, vorzuschlagen. Dem wird nach einem bestimmten Verfahren Rechnung getragen. Diese Methode, möglichst vielen die Chance zu geben, eine qualifizierte Ausbildung zu erhalten, hat bis in die Gegenwart ihre Gültigkeit. Mit Schulanfang im September 1908 beginnen die drei Coudenhoves, jeweils ihrem Alter entsprechend, im Theresianum. Der Jüngste, mit dem Vornahmen Gerolf, tritt in die vierte, Richard in die fünfte, der Älteste, Johannes, in die sechste Klasse ein. Die Jahrgangsgröße beträgt rund 45 Zöglinge.

Richard ist daran gewöhnt, frei zu leben, zu lernen, sich seine Freizeit selbst einzuteilen, und in welcher Form auch immer, selbst zu entscheiden; so hat er von Anfang an mit der straffen theresianischen Ordnung Probleme. Ihm fällt es schwer, sich auf den für ihn engen Raum des Zusammenlebens mit Altersgenossen zu beschränken. Sprachliche Probleme gibt es für ihn keine, aber es erscheint ihm die Internierung und die vorgefertigte feste Tagesordnung als eine Festungshaft, als eine Schule für Selbstbeherrschung und Erlangung der Disziplin für ein freies Leben danach. Also für die Möglichkeit, wenn einmal die Matura geschafft ist, ein freies Leben zu haben.

Natürliche Spannungsmomente ergeben sich aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hierarchien. Auf der einen Seite Adelssöhne, auf der anderen Seite zum Teil verachtete, kleinbürgerliche Präfekte, die sich um die Ordnung der Zöglinge kümmern müssen.

Die wahre Erziehung in dieser Bildungsanstalt wurde manchmal, über indirekte Anregung, durch die Zöglinge selbst besorgt. Sie wurden zusammengefasst in einer Kamerate-Arbeitsgemeinschaft in einer Jahrgangsklasse. Dort herrschte ein sehr strenger Ehrenkodex, das heißt, gegenseitige Hilfsbereitschaft, geprägt durch Ehrlichkeit und Anständigkeit der Gesinnung. Diese Erziehung mit indirekter Führung, und damit verbunden, hoher Selbstverantwortung jedes Einzelnen für die Gruppe, verlangte großes gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz unterschiedlichen Führungsverhaltens der Kameraden untereinander. In dieser Eliteschule lernt Richard, auf das Zusammenleben unterschiedlicher Persönlichkeiten und Charaktere zu achten, sowie Menschenkenntnis und auch härteste Kritik zu ertragen. Er lernt aber auch, strategisch zu denken, zu handeln und sein Ziel zu verfolgen.

Auch wenn er sich hinter den Mauern des Theresianums, ebenso wie in der Wiener Gesellschaft, nicht wohlfühlt, erkennt er die Notwendigkeit des Lernens und nimmt sich in vielen Fällen zurück, zumal er den Vorstellungen einer Lebensweise von Standesdünkel und nationalem Denken ablehnend gegenübersteht. Widersprechen will er nicht, und zustimmen kann er nicht. Eine Situation, die manchen seiner Kommilitonen Probleme bereitete.6

Die Themenbereiche der Lernfelder umfassten Latein und Griechisch als einen Block. Dieses Feld hatte Richard, wie es später dargestellt wird, sehr gerne und er beschäftigte sich weit über die schulischen Anforderungen hinaus mit diesen Sprachen. Weiters wird Ungarisch obligatorisch für jene Zöglinge aus der ungarischen Reichshälfte eingebracht, dann folgen fakultative Auswahlmöglichkeiten für Französisch, Italienisch, Englisch, Böhmisch, Slowenisch, Serbokroatisch und Rumänisch.

Er war es gewohnt, von Erwachsenen umgeben zu sein, mit ihnen zu lernen, ihnen zuzuhören, zu argumentieren, zu diskutieren und das zu lesen, was ihn wirklich interessierte.

Richards Interessen lagen durchwegs im philosophischen Bereich und im Unterrichtsfach der Philosophie, »Philosophische Propädeutik«, ab der 7. Klasse. Er beginnt bereits im zweiten Jahr an der Theresianischen Akademie, philosophische Bücher zu lesen. Auswahl dafür hatte er in der großen Bibliothek. Er sammelt auf Zettelchen seine Notizen, belegt auch das Zusatzfach Stenografie Ende der 6. Klasse. Spätestens in der 7. Klasse ist er von der Philosophie so beeindruckt, dass er Überlegungen anstellt, eine Publikation herauszugeben, und er beginnt tatsächlich daran zu arbeiten. Er setzt sich mit Heraklit, Nietzsche, Platon usw. auseinander. Seine verpflichtenden Lernfelder sind durch Wahlpflichtfächer und zusätzliche Freifächer zu besetzen. Dabei interessieren ihn Sportarten wie Schwimmen und Fechten überhaupt nicht. Jedoch haben für ihn gesellschaftliche Fragen und Aktivitäten sowie der Besuch des Burgtheaters einen hohen Stellenwert. Diese Freigänge erschließen für ihn jedes Mal eine neue Welt des Theaters, daraus schöpft er Kraft für sein internes Privatissimum im Theresianum. Jetzt beginnt er wieder, was er als Kind begonnen und dann unterbrochen hat, nämlich Geige zu spielen, und er spielt sehr oft.

Seine Latein- und Griechischkenntnisse reichen auf die vorschulische Zeit zurück. Dies ist für ihn nun ein Vorteil, denn jetzt kann er darauf aufbauen, sodass er seine erste Redeübung – einen Kurzvortrag zu einem selbst gewählten Thema – vor der Klasse halten kann und Frage und Antwort, Stellungnahme sowie Kritik souverän beherrscht. Er spricht über Marc Aurel, den Philosophen auf dem Kaiserthron, auch Friedenskaiser genannt, dessen Hauptwerk in griechischer Sprache »Wege zu sich selbst«, und die Errichtung einer Ehrensäule – der Markussäule –, die als Kennzeichen für die Zukunft auf ihn wirkt. In dieser Redeübung zeigt sich schon ein Interessenschwerpunkt für die Zukunft. Kurz darauf beginnt er die Schriften Senecas in lateinischer Sprache zu lesen, die Unterlagen findet er in der gut besetzten Bibliothek des Theresianums. Gerade das breit angelegte Werk Senecas pendelt zwischen philosophischen Essays, moralischen Aussagen, Hinzufügungen des sittlichen Lebens zur allgemeinen Menschenwürde, bis hin zu den Sklaven. Hieraus liest er die ersten Anzeichen für eine neue Zeit, die später zusammengefasst in seiner Publikation Niederschlag finden.

In dieses Bild fällt auch seine Begeisterung für das Schachspiel, mit dem strategisches Denken trainiert werden kann. Damit konfrontiert er das im Theresianum herrschende, internationale Geistes- und Bildungsprofil mit Außeneinflüssen der multikulturellen und multinationalen Entwicklung in Wien. In kleinen Schritten setzt er sich kontinuierlich mit Fragen der Zukunft der Tschechen, Trotzkis Überlegungen zur Beendigung des Zarenreiches oder Theodor Herzls zionistischer Bewegung auseinander.

Ebenso stark, oder sogar stärker, beginnt sich die allgemeine politische Situation in der Donaumonarchie durch das Anwachsen und größer werdende Spektrum der politischen Parteien, wie der Christlich-Sozialen, Großdeutschen und Sozialdemokratischen Bewegung, auf das Gesamtgefüge und die Entwicklung des Habsburgerreichs bemerkbar zu machen. Kennzeichen sind das Herauskristallisieren von nationalen Strömungen, die Herausforderung, dass die slawischen Mitbürger ihre Sprache ebenfalls als Amtssprache bekommen und das missglückte Experiment mit den Balkankriegen. Letztlich treten etwa durch Houston Stewart Chamberlain und Friedrich Wichtl nazistische Rassentheorien auf, die dann unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs eine Basis für die Hitler-Bewegung bieten.

Richard erfährt von den verschiedenen Strömungen jetzt noch wenig. Er findet unter den Zöglingen keine Gesprächspartner. Auch geht ihm durch den Verkauf von Ronsperg diese so vertraute Sommerurlaubsstätte verloren und der Rückzug auf das neue, kleine Schlösschen in Stockau (heute Pivoň, Tschechische Republik) eröffnet ihm zwar eine Region mit Wald, Teichen und vielen Wanderwegen, trotzdem kann er sich emotional von Ronsperg nicht lösen. Als 15- bis 16-Jähriger beginnt er noch in der Schule, in der 7. Klasse, ohne auf die anderen Fächer Rücksicht zu nehmen, zu schreiben und konzentriert sich ganz darauf.

Das dabei entstandene Büchlein erscheint unter dem Titel »Objektivität als Grundprinzip der Moral«. Mit dieser Broschüre setzt er noch jenen Emanzipationsschritt in Bezug auf Politik und Philosophie, der für seinen Vater Gültigkeit hat. Sein Verständnis hat zu lauten: von der Philosophie zur Politik; von der Erkenntnis zur Entscheidung. Damit reiht sich der junge Mann in die Reihe um Alfred Hermann Fried und dessen Nachfolger als eine Persönlichkeit ein, die dann in Zukunft unter dem Titel Paneuropa den Aufbau eines friedlichen Europa anstrebt, in dem anstelle von Krieg und Misstrauen, Neid und Verträgen der Weg zur Gemeinsamkeit steht.

Die Konzentration, mit der er sein erstes Werk vollendet, kostet Richard ein Schuljahr, sodass er die 7. Klasse nachholen muss und erst gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder am 7. Juli 1913 die Theresianische Akademie mit der Matura abschließt. Und er hat schon sehr genaue Überlegungen für die Zukunft.

Alle hatten erwartet, dass Richard, dessen Ausbildung auf den späteren höheren Dienst im diplomatischen Bereich ausgerichtet gewesen war, direkt in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Richard aber erklärt kurz und bündig, dass er Journalist werde. Damit ist der Konflikt mit der Mutter vorprogrammiert.

Studium und Lebensentscheidung

Sein verstorbener Vater und seine Mutter hatten fest daran geglaubt, dass Richard ein Studium ergreifen werde, nach dessen Ende er eine diplomatische Laufbahn einschlagen würde. Er jedoch will Philosophie studieren. Und bereits drei Monate nach Schulabschluss beginnt er als 18-Jähriger mit dem Studium der Philosophie und Geschichte der modernen Zeit.

Das Studium bereitet ihm Freude und Erholung, obwohl er daneben viel Zeit für das Lesen der Weltgeschichte und Dramen aufwendet. Außerdem ist er ein begeisterter Theaterbesucher.

Er schließt in kürzest möglicher Zeit sein Studium ab. Davon hält ihn auch das Kennenlernen der Schauspielerin Ida Roland nicht ab. Das Bindeglied ist seine Mutter. Auch lässt er sich nicht – wie andere Studenten – in Auseinandersetzungen über Kriegs- und Kriegsschuldfragen während des Weltkriegs ein. Er wird wegen seiner Krankheit, die man ihm nicht ansieht, vom Kriegsdienst befreit und legt keinen Wert darauf, darüber zu sprechen.

Das Volkstheater – Ausgangspunkt für eine private Lebensentscheidung

Noch während RCKs erstem Studiensemester kommt es im Herbst 1913 zu einem Zusammentreffen im Salon seines Bruders Hans mit der erst seit Kurzem in Wien befindlichen, aber sofort zu einer Spitzenschauspielerin avancierten Ida Roland7: Nach der Theateraufführung, in der sie als Natascha in einer Dramatisierung nach Dostojewskis Roman »Der Idiot« zu sehen ist – sie erreicht durch ihren Beitrag riesige Betroffenheit im Publikum, und erhält nach der Vorstellung stürmischen Applaus –, lernen sie einander kennen. Denn RCK ist, da sein Bruder verhindert ist, Tischnachbar von Ida Roland. Und der sonst schweigsame RCK ist hier sehr gesprächig. Seine Mutter und die junge Diva laden ihn ein, mit zur Volkstheater-Redoute, dem Höhepunkt des Wiener Faschings, zu kommen. Von da an folgen tägliche Treffen, und sie beschließen, trotz aller Widerstände zu heiraten.

Ohne das Umfeld im Geringsten zu informieren, heiraten die beiden, er ist 19 Jahre, noch nicht großjährig, und sie 33 Jahre alt. Die Trauung 1914 wird zunächst nur kirchlich in München vollzogen, die standesamtliche erfolgt erst nach Kriegsende.

Die Ehe führt zunächst zu einem vorübergehenden Bruch RCKs mit seiner Familie. Und der Wiener Tratsch mit seinem »Bussi-Bussi-Publikum« hat wieder einmal einen Skandal. Mit fragwürdigen Prognosen und Spott beladen, werden die beiden ausgerichtet. Auch sein späterer Freund, der Journalist Ernst Lothar von der »Neuen Freien Presse«, den er als Freimaurer erkennen wird, ist zunächst sehr skeptisch.8

Später wird die Ehe dann als vorbildlich und als ein Aufeinandertreffen, als ein »faszinierender Beweis Genialer, die wechselweise die Flamme der Liebe und das Feuer des Erschaffens schützt« bezeichnet.9

Und beide treten den Beweis ihrer Zusammengehörigkeit an. Ida ist ganz nach Wien übersiedelt.

Allen Unkenrufen zum Trotz entwickelt sich die Ehe sehr gut, auch wenn gelegentlich kurze berufliche Trennungen notwendig sind, entsteht eine Partnerschaft auf Lebenszeit. Für RCK, der in kürzester Zeit sein Studium abgeschlossen hat, eröffnet sich durch die Ehe mit Ida eine völlig neue Welt. Er trifft auf Künstler, Dichter, Schauspieler, Wissenschaftler und Personen unterschiedlicher Weltanschauungen. Erst nach Kriegsende werden Ida und RCK mit Hilfe des Erzbischofs von Salzburg und der Unterstützung entsprechender Regierungsstellen getraut.

Auch wenn die Interessenfelder weit auseinanderklaffen, hat RCK in seinem Ringen um die Paneuropabewegung in Ida eine stets bereite, aktive Helferin und Mitstreiterin. Wichtig für RCK ist, dass sie in Zukunft seine wichtigste Stütze werden wird.

Auch die Ereignisse um die Folgen des Ersten Weltkriegs und das Auseinanderbrechen der europäischen Länder können den Zusammenhalt der beiden nicht ändern.

Längst ist die übernationale und viele Völker umfassende österreichisch-ungarische Monarchie ein Gegensatz in sich, andere Kennzeichen sind die schon weit überholten Normen, das überholte Wirtschaftssystem Ungarn gegenüber, aber auch gegenüber anderen Nationen. Das brennende Problem ist überall das Eisenbahnwesen. Dazu kommt noch, dass sich seit dem Ausgleich Österreichs mit Ungarn der stark protestantisch geprägte ungarische Adel in vielen Punkten durchsetzte, sodass Kaiser Franz Josef der ungarischen Reichshälfte das Recht auf freie, allgemeine Wahlen für Männer gewähren musste, noch vor den Männern in Österreich. Dazu kommt noch, dass den Slawen eine formale Gleichstellung zugesichert wurde, aber in der Realität immer noch Unterdrückung herrschte. Diese politische Ungleichheit eröffnete ein weites Feld des Widerstands gegen habsburgische Würdenträger und öffnete damit der russischen Zielpolitik die Türen.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs standen der Adel und die Kirche ohnehin fest hinter dem Kaiser. Aber große Teile der Bevölkerung verhielten sich passiv. Über alle damals möglichen Medien, von der Presse bis zur Volksbildung, wurde der Krieg als ein Abenteuer hingestellt, ein Krieg, in dem man von Freunden, von Vater und Mutter mit Freuden verabschiedet wird und dann reich an lustigen Geschichten, zum Erzählen nach wenigen Tagen zurück nach Hause kommt. Für die Einen war der Erste Weltkrieg ein Spiel, aus dem Lehnsessel beobachtend, für die Anderen ging es ums nackte Überleben. Und während sich RCK am 31. August 1914 Stockau befindet und den Krieg, trotz des schrecklichen Mordens, als etwas Vorübergehendes beschreibt und eine Tendenz des aggressiven Nationalbewusstseins beobachtet, wird in Wien der erste Rücktransport von Schwerverletzten öffentlich präsentiert.

Statt den Vorschlägen einer Gruppe am 28. August, dem Jahrestag des Haager Friedensappells, an den internationalen Schiedsgerichtshof zu folgen, drängen sich am 5. September Schaulustige bei dem demonstrativen Spektakel der Transporte Schwerstverwundeter auf der Ringstraße, drängt die Menge ganz dicht an die Verwundeten heran, um ein Foto zu machen oder berichten zu können, was sie alles gesehen und gehört haben.

Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried und zwei seiner Freunde sind, ob des demonstrativen Spektakels für die Zuschauer bzw. über Frauen, die aus den Kaffeehausgärten Kusshändchen schicken und den Schwerverwundeten winken, dabei bequem bei einer Wiener Jause mit Kaffee und Kuchen sitzen und sich zum Leid dieser Menschen spöttisch lustig geben, schockiert.10

Und hier gibt es so etwas wie einen Gleichklang der Geschichte: Der eine, RCK, ist noch in Stockau und der andere, Fried, bereits in der Schweiz. Erst Ende 1918 soll der Punkt kommen, wo sie einander kennenlernen. RCK, seit 1916 Doktor der Philosophie, beginnt sich jetzt für den Krieg und die Folgen zu interessieren, beginnt Vorträge zu halten und setzt sich mit dem Friedensprogramm des US-Präsidenten Wilson auseinander. Fried hat sich schon seit längerer Zeit mit Wilsons Programm beschäftigt und ist enttäuscht, dass dieser Mann, dem 1920 den Friedensnobelpreis zugesprochen werden wird, ihn nicht persönlich übernehmen kann. Fried schreibt an den Präsidenten und gratuliert ihm dann 1921 zu dieser Auszeichnung. Sein Ziel ist es, Wilson persönlich kennenzulernen, doch Fried stirbt, bevor es zu einem Treffen kommt.

RCK hat sich zu dieser Zeit seine eigenen Vorstellungen von Wilson herausgearbeitet und leitet für sich ab: »Endlich schien mir der Krieg sinnvoll, als ein Kampf zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen den europäischen Idealen des Nationalismus und dem amerikanischen Ideal der Völkerversöhnung. Denn Wilsons 14 Punkte versprachen einen wahren und gerechten Frieden: ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen, ohne Geheimdiplomatie, ohne nationale Unterdrückung, ohne koloniale Ausbeutung. Ein Frieden der Abrüstung, des Freihandels, der Freiheit und der Versöhnung.«11

Die Sichtweise Frieds ist eine ähnliche und groß ist auch seine Enttäuschung, als Wilson, in den europäischen, traditionellen Ränkespielen unerfahren, schließlich resigniert. Fried geht sogar so weit, dass er öffentlich gegen den Versailler Frieden wettert und massiv gegen die Politik Clemenceaus auftritt.12

1919 lädt dann der Freimaurer Fried den Freimaurer Wladimir Misar und einen jungen Mann ein, mit ihm zum 9. Deutschen Pazifisten-Kongress am Freitag, dem 1. Oktober 1920, nach Braunschweig zu fahren. Frieds Ziel ist es, auf diesem Kongress die Aufgabe der Friedensbewegung nach dem Krieg in die Richtung zu führen, dass diese geschlossen gegen nationalistische, zerstörerische Kräfte an einem neuen Aufbau Europas effektvoll arbeiten kann. Fried kommt bereits im Vorfeld der Veranstaltung mit nationalistischen jungen Demonstranten in schwere Bedrängnis, sodass er seinen Vortrag auf dem Kongress nicht halten kann. Die Sozialdemokraten organisieren spontan eine Veranstaltung in einer Art Gemeindehalle und es kommen über 1000 Personen zu dieser Veranstaltung.

Fried fällt positiv auf, dass der junge Mann in seiner Begleitung schnell Kontakte gefunden hat und während des ganzen Aufenthalts Gespräche führt. Dabei kommt diesem jungen Mann namens Richard Coudenhove-Kalergi seine Mehrsprachigkeit zu Hilfe.

Fried muss auch zur Kenntnis nehmen, dass der junge Mann, der mit nach Braunschweig gekommen ist, auf bestem Wege ist, einen neuen Ansatz zum Frieden in Europa im Sinne einer künftigen Friedenszone der »Vereinigten Staaten von Europa« zu entwickeln. Dieser junge Mann gehört einer ganz anderen Generation an, gekennzeichnet durch eine gute Ausbildung, mehrsprachig, gewandt, konsequent. Sein Wunsch ist es, diesen jungen Mann für die Mitgliedschaft bei den Freimaurern zu gewinnen. Dieses Ziel kann er wegen seines frühen Todes nicht erreichen. Aber andere Brüder haben Stellvertreterfunktion übernommen.

RCK, der als junger Mann in die Arbeitswelt einsteigt, hat nicht den ganzen Ballast, die Schwere der Donaumonarchie mit all den inneren und äußeren Spannungen erlebt. Aber er hat in einer neuen Welt, die jetzt weitgehend demokratisch, republikanisch, sozialistisch und pazifistisch orientiert ist, ganz andere Probleme und Wünsche für ein gesellschaftspolitisches Neuland vor sich. Für diese Welt will er arbeiten.13 Vor ihm liegt ein durch die Friedensverträge stark aufgesplittertes Europa, der Balkan zersplittert, der Aufbruch des Nationalismus und mit der Gründung der Sowjetunion ein politisches Gefüge, das bislang aus europäischer Sicht unvorstellbar war.

Fried, der als Mitarbeiter der »Neuen Zürcher Zeitung« bereits Ende 1916 aufgrund seiner Beobachtungen des Kriegsverlaufs die politischen Spielchen einzelner Staaten erkannt hat, lässt seine Überlegungen in Ruhe ausreifen und kommt zu dem Ergebnis: Der Erste Weltkrieg ist nur das Vorspiel eines Zweiten Weltkriegs, als dessen Folge alle Staaten erschöpft sein werden, und erst dann kann die Knospe des Friedens aufbrechen und nur mit Hilfe der USA ein neues Europa als Friedenszone der »Vereinigten Staaten von Europa« entstehen. Und RCK sagt: Europas Weltherrschaft ist für immer verloren, nationale Eifersüchteleien und Nationalsozialisten bedrohen Europa und die Weltordnung. Die wichtigste Aufgabe der Jugend ist es, dieser Gefahr entgegenzutreten und für die »Vereinigten Staaten von Europa« zu kämpfen. Nur wenige Jahre nach Kriegsende ersetzt er den Begriff durch einen ähnlichen, nämlich »Paneuropa«, das ein wirtschaftlicher Partner in einer neuen Gemeinschaft der Vielfalt werden soll. Damit hat RCK bereits als rund 24-Jähriger sein Lebensziel festgelegt – und für dieses hat er ständig, trotz aller Widerstände, gekämpft.

Aus der Sicht von RCK entstand der Erste Weltkrieg durch den Zusammenprall des europäischen Nationalismus mit der übernationalen Habsburger-Monarchie.14 Jetzt geht es ihm darum, den Rückstau aus dem Ersten Weltkrieg zu überwinden und gleichzeitig auf den »Neuen Geist Europas« hinzuarbeiten.

Vieles, was in der Folge für RCKs Ausbildung, für seinen Weg zu einem Europäer mitbestimmend geworden ist, hat ihm sein Vater weitergegeben, der darauf geachtet hat, dass das Hochhalten jener Werte, die dem Vater wichtig waren, konsequent auf den jungen RCK Einfluss nimmt. Dieser wiederum hat diesen Wertekatalog den neuen Verhältnissen angepasst, und für sich als eine seiner Richtlinien wie lebenslange Bildungsbereitschaft, Verlässlichkeit, konsequentes und zielbewusstes Auftreten zum Vorsatz gemacht.

Alfred Hermann Fried und Richard Coudenhove-Kalergi

Bereits während des 1. Weltkriegs setzt sich RCK immer wieder mit den Kriegsfolgen auseinander, und er hat bereits das Kriegstagebuch des Friedensnobelpreisträgers Alfred Hermann Fried gelesen. Fried, 29 Jahre älter als RCK, ist auf den jungen Mann aufmerksam geworden. Ein wichtiges Verbindungsglied besteht in der Denkungsart und in den Überlegungen im Sinne des Gleichklangs der Geschichte. Eine oder mehrere Personen setzen sich mit einer Frage auseinander, ohne sich zu kennen – und kommen zum gleichen Ergebnis. So auch hier. Fried nimmt Ende 1918 mit RCK Kontakt auf, der zunächst nur zögerlich verläuft. Beide jedoch beginnen, sich mit dem 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson und mit dessen Friedensappell zu beschäftigen.

Sie greifen unabhängig voneinander Wilsons Ideen auf. Das 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson ist für den 24-jährigen RCK der Angelpunkt der politischen Aktivierung und der Grundstock seiner künftigen Interessenlage, von der er auch später nicht abrückt. Für Fried sind die 14 Punkte ein echter Schritt in die Zukunft Europas, denn er sieht Wilsons Plan über die territoriale Nachkriegsordnung Europas auf Basis der Selbstbestimmungsrechte der Völker als einen Schritt zur Abrüstung und zum Stopp der Aufrüstungsspirale, außerdem zum Aufbau des Freihandels, der Völkerversöhnung sowie der Neugestaltung von Europa auf der Grundlage der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Damit will er für eine künftige Staatenentwicklung als »Vereinigte Staaten von Europa« die Grundzüge gestalten.

Die Friedenskonferenz in Frankreich – auch als Friedensdiktat bezeichnet – folgt nicht zur Gänze dem Vorschlag Wilsons, sondern dem Willen Frankreichs und Großbritanniens, und ist in der Folge durch Revanche gekennzeichnet.

Versailles für Deutschland und St. Germain für Österreich ist für Fried, der später anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1921 an Wilson schreibt, eine Katastrophe, was er schon 1917 auf Basis seiner Studien vorhergesehen hatte. Für ihn wird eine neue Zeit junger Staaten als demokratische Republiken beginnen, aber aufgrund des Auseinanderklaffens in Nationen und »Natiönchen« wird es noch zu einem zweiten Krieg, einem Weltkrieg kommen, an dessen Ende alle Staaten voll erschöpft sind. Erst jetzt zeigt sich, dass aus der Not heraus ein Entwicklungsprozess entsteht, der politisch in Richtung »Vereinigte Staaten von Europa« führen wird. Dessen Umsetzung wird allerdings nur mit Hilfe vorausdenkender Persönlichkeiten möglich sein.

Im Folgenden die Position RCKs, kurz und prägnant nach Ziegerhofer-Prettenthaler herausgearbeitet und zusammengefasst.15 Sie schreibt hierzu: »Coudenhove sah im Versailler Vertrag keinen Anschluss an die europäische Entwicklung, sondern vielmehr die Grundlage für eine weitere ›paneuropäische‹ Entwicklung. Die darin erfolgte Grenzziehung empfand er als ›ungerecht‹, da ihre Festlegung nach dem Motto ›wo Recht versagt, setzt sich die Macht durch‹ durchgesetzt worden war. Allerdings vertrat er die Meinung, der territoriale Status der Friedensverträge sei aufrechtzuerhalten, weil ein Rütteln an den Friedensverträgen, und somit an den neuen Grenzen Europas, einen weiteren Krieg zur Folge hätte: ›Wer an die Grenzen rührt – rührt an den Frieden Europas.‹«16

Die Unversöhnlichkeit, die aus dem Versailler Vertrag herausfließt, ist für ihn jenes Grundübel, das Europa in eine Katastrophe führen wird. Trotzdem sucht er nach einem Weg, der vielleicht aus diesem Dilemma herausführen kann. Eine Chance hierzu erkennt er im wirtschaftlichen Bereich, durch den Abbau der europäischen Zollgrenzen, und daraus folgend den Aufbau eines europäischen Wirtschaftsraumes. Dieser soll, und damit liegt er auf einer Linie mit A. H. Fried, zur Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland führen und damit soll die Basis für die »Vereinigten Staaten von Europa« geschaffen werden.

Allerdings legt er sich gedanklich darauf fest, dass seit der Russischen Revolution 1917 eine neue Gefahr, das Heranwachsen der »Roten Gefahr« besteht und es zum Aufbruch einer neuen gesellschaftlichen Kraft durch den Bolschewismus und Kommunismus kommen wird. Denn er folgert, dass sich, von der Sowjetunion ausgehend, in Europa von Ost nach West kommunistische Parteien bilden werden. Infolgedessen, so RCK, hochpolitisch ausgedrückt, wird der Schatten eines Zweiten Weltkriegs sichtbar, dem es gilt, durch die junge Generation Europas entgegenzutreten.17 Jahre später wird er dann auf eine zweite, von ihm lange unterschätzte Gefahr mit fürchterlichen Folgen stoßen, den Nationalsozialismus.

Nun, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, findet er in A. H. Fried einen Partner. Beide gehen, obwohl zwischen ihnen ein Generationensprung liegt, in der Ausgangslage ganz und unerschütterlich ein kurzes Stück gemeinsamen Weges.

Für Fried bedeutet dieser junge Mann eine Friedenshoffnung mit Weitblick und genügend Ausdauer und Durchsetzungskraft, das große Friedensprojekt Europa mit dem Zeitgeist und den starken gesellschaftlichen Veränderungen fortzusetzen. Für RCK ist Fried, trotz seiner Verdienste in Österreich 1919, obwohl er österreichischer Staatsbürger ist, ein unwillkommener Heimkehrer, der nur als Helfer und Mitgestalter der großen amerikanischen Hilfsaktion für Österreich in Österreich toleriert ist.

Alfred Hermann Fried ist aktiver Freimaurer, Vortragender bei allen internationalen und nationalen Friedenskongressen, und er erregt auf Friedenskongressen durch seine Aussage: »Europa ist schon längst keine Angelegenheit eines einzelnen Staates mehr« Aufsehen und heftige Kritik. Von den Freimaurern und den internationalen Freimaurerlogen wird er stark beachtet, und in der österreichischen »Bruderkette« werden Friedensfragen, die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die Friedenszone Europa, die »Vereinigten Staaten von Europa«, seit 1909 von ihm aufgebracht. Diese Themen werden vielfach übernommen und bilden immer wieder wichtige Schwerpunkte (bis 1938 und dann zwischen 1945 und 1952) der freimaurerischen Bildungsarbeit.

Der Freimaurer Richard Coudenhove-Kalergi

Kurz vor Jahresende 1919 lädt Fried den Großsekretär Misar und einen für diesen unbekannten Mann ein, mit ihm einen Friedenskongress in Deutschland zu besuchen. Er hat diesen selbstbewussten Mann, der sehr auf seinen Freiraum achtet und selbstständig agiert, schätzen gelernt. Auch hat Fried schon längst die Absicht, RCK für die Freimaurer als wichtigen Träger der Zukunft, der Europafrage und des Friedens zu gewinnen. Auch ist Fried bewusst, dass dieser junge Mann einen sehr großen Freiheitsraum und eine hohe Entscheidungsebene für sich beanspruchen wird. Schon während Frieds Emigration hat sich abgezeichnet, dass er an einer schweren Krankheit leidet, die immer wieder ausbricht, so auch 1919 und verstärkt 1920. Mutmaßlich, allerdings unbestätigt – mündlich überliefert –, will er als Bürge den noch sehr jungen RCK an die Freimaurer heranführen.

Fried lernt, wie erwähnt, RCK in Zusammenhang des 14-Punkte-Programms für den Frieden von US-Präsident Wilson kennen.

Wesentlich hierbei ist, dass Fried seit langem Mitarbeiter und Vertrauter von Heinrich Glücksmann, Herausgeber des »Zirkel«, dem Organ der in Österreich bis zum Ersten Weltkrieg verbotenen Freimaurer-Zeitschrift, und nachher Herausgeber der »Wiener Freimaurerzeitung«, ist. Glücksmann hat seit 1908 in immer größerem Umfang Arbeiten an Fried übertragen. Der Grund ist einfach der, dass Glücksmann als Regisseur, Dichter und Bühnengestalter am »Deutschen Volkstheater« in Wien wirkt. Hier ist RCKs Frau Ida Roland als Schauspielerin engagiert. Später wird sie auch eine führende Rolle im Ensemble des Burgtheaters spielen. Die Coudenhoves haben Glücksmann schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg kennengelernt.

A. H. Fried hat sowohl über den masonischen als auch im privaten Bereich engen Kontakt mit Heinrich Glücksmann. Letzterer ist es dann, der für das Gewinnen RCKs für die Bruderkette entscheidend wird. Dazu kommt noch, dass Fried als Vielleser auch die Zeitschrift »Die Weltbühne« kennt. Er verfolgt Ida Rolands Arbeit sehr genau.

In Österreich sind zu dieser Zeit die Freimaurer verboten, in Ungarn erlaubt. Daher wird von den österreichischen Freimaurern ein System entwickelt, in dem sie in Wien ab 1868 nicht als Freimaurerlogen auftreten, sondern als nichtpolitische, selbstständige Vereine wirken, die in über 80 Gruppierungen sozial tätig sind.18 Die älteste Loge heißt »Humanitas«. Sie arbeitet zunächst in der ungarischen Hälfte in Lajtaszentmiklós (heute Neudörfl) bei Wiener Neustadt. Später zieht sie, wie die anderen Logen, nach Bratislava. Seinen Sitz hat der nicht-politische Verein »Humanitas« in der Wiener Dorotheergasse.

Dies ist nur ein Beispiel für die ambivalente Politik der Habsburgermonarchie: Einerseits sind die Freimaurer unerwünscht, gleichzeitig werden sie ob ihrer breit angelegten Sozialarbeit benötigt.

Jetzt geht es Fried darum, RCK einzuladen, ein Bruder der österreichischen Bruderkette zu werden. Der Stuhlmeister, sowie der Großmeister namens Dr. Richard Schlesinger, sind zu informieren, dass Bruder Alfred Hermann Fried im Mai 1921 verstorben und ein Bürge für den jungen Kandidaten zu finden ist. Erst jetzt kann der richtige Schritt der sogenannten Suche begonnen werden. Der Prozess der Auffindung, die Bereitschaft, einen Mann mit gutem Ruf anzusprechen und gleichzeitig die Voraussetzungen zu überprüfen, wie dessen Ansuchen weiterlaufen soll. Diese Phase dauert im Schnitt 8-12 Monate.