Richter und Narr - Vladimir Jabotinsky - E-Book

Richter und Narr E-Book

Vladimir Jabotinsky

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Beschreibung

An den biblischen Samson aus dem „Buch der Richter“ im Alten Testament angelehnt, beginnt Vladimir Jabotinsky Jahre später sein literarisches Porträt 1919 in Palästina und publiziert es erstmalig 1926 in Paris: aus den vier biblischen Kapiteln erwächst ein vierhundertseitiges Werk im Stil der großen Romane des 19. Jahrhunderts. Im antiken Ambiente, im Spannungsfeld politischer Seilschaften entwickelt sich um Samson – stark, fast unbesiegbar, intelligent – die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im Land zwischen den drei Volksgruppen in Kanaan: Philistern, Israeliten und dem Stamm Dan. Der Konflikt wird mit ungleichen Waffen geführt, da die gebildeten, den anderen Stämmen überlegenen Philistern zwar weniger Muskelkraft, dafür aber umso mehr geistiges Wissen, kultiviertere Umgangsformen sowie auch Eisen besitzen. Samson, dessen biblische Wundertaten auf ein realistisches Maß gekürzt sind – »über Simsons Räubereien und Streiche waren viele Legenden im Umlauf. Die Mehrzahl war erfunden« – steht zwischen zwei Volksgruppen: zum einen durch seine Heirat und zum anderen durch seine eigene Herkunft, die fast bis zum Schluss reine Spekulation ist. Diese Problematik wirft die Frage auf, ob Freundschaft auch über Landesgrenzen hinweg bestehen kann… Samson entscheidet sich am Ende eindeutig und gibt seinen Landsleuten den Rat: »sie sollen Eisen sammeln, sie sollen einen Knig [König] wählen und sie sollen lachen lernen.« Weitere Konflikte liefert die Beziehung des Helden zum weiblichen Geschlecht … Mit einem literarischen Kunstgriff versteht es Jabotinsky meisterlich, die Kluft zur biblischer Vorlage zu meistern: »Wahrheit ist nicht das, was in einer von vielen Nächten geschehen ist. Wahrheit ist das, was für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben wird.« Und im Gedächtnis bleiben wird das meisterliche Werk Jabotinskys, das längst zu einem Klassiker der israelischen Literatur geworden ist.

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Seitenzahl: 528

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Vladimir Jabotinsky

Richter und Narr

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Die Andere Bibliothek und ihre Kometenwerden herausgegeben von Christian Döring

ISBN 978-3-8477-6001-6

© für die deutschsprachige Ausgabe:

AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin www.die-andere-bibliothek.de

Richter und Narr von Jabotinsky, Vladimir ist im Oktober 2013 als Band 2 der »Kometen der Anderen Bibliothek« erschienen.

In gedruckter Form erhältlich unter:

http://www.die-andere-bibliothek.de/Kometen/Richter-und-Narr::636.html

Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt

Covergestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman

Herausgabe: Christian Döring

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

Umsetzung und Vertrieb des E-Book erfolgt über:

Inhaltsübersicht

Impressum

ERSTER TEIL

Statt eines Vorworts

Erstes Kapitel: Ein Tausendsassa

Zweites Kapitel: Der Narr

Drittes Kapitel: Zwei Katzen

Viertes Kapitel: Göttliches

Fünftes Kapitel: Die Zusammenkunft

Sechstes Kapitel: Die Vertraute und die Fremde

Siebtes Kapitel: Bruder Benjamin

Achtes Kapitel: Gespräche

Neuntes Kapitel: Die Ahnentafel der Philister

Zehntes Kapitel: Honig

Elftes Kapitel: Elinoar wird tätig

Zwölftes Kapitel: Im fremden Paradies

ZWEITER TEIL

Dreizehntes Kapitel: Nachbarn ohne Grenze

Vierzehntes Kapitel: Der Zwist

Fünfzehntes Kapitel: In den Tagen der Richter Israels

Sechzehntes Kapitel: Die Formel

Siebzehntes Kapitel: Wie Bergam aus einer heiklen Lage fand

Achtzehntes Kapitel: In der Wüste

Neunzehntes Kapitel: Remidor und Meridor

Zwanzigstes Kapitel: Die Stämme

Einundzwanzigstes Kapitel: Zu Hause und in der Fremde

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Allein

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Ware – weiche und harte

DRITTER TEIL

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die dritte Woche

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Von Notwendigem und Unnötigem

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Der Zahnlose

Siebenundzwanzigstes Kapitel: In voller Größe

Achtundzwanzigstes Kapitel: Der Eselskinnbacken

Neunundzwanzigstes Kapitel: Drei Tränke

Dreißigstes Kapitel: In der Grube

Einunddreißigstes Kapitel: Unter Freunden

Zweiunddreißigstes Kapitel: Manoachs Narbe

Dreiunddreißigstes Kapitel: Zum Abschied

Vierunddreißigstes Kapitel: Das Letzte

DAS BUCH DER RICHTER

Simsons Geburt

Simsons Hochzeit

Simsons Streit mit den Philistern

Simsons Fall und Rache

Anmerkung der Übersetzerin

Anmerkungen

Titel-Information

ERSTER TEIL

Statt eines Vorworts

Hugo schrieb, womöglich völlig zu Recht, in einer Anmerkung zu seinem Stück »Ruy Blas«: »Es versteht sich, dass es in diesem Stück kein einziges Detail gibt – ob es nun das private oder das öffentliche Leben betrifft, Milieu, Heraldik, Ethik, Biographie, Topographie oder Zahlen – kein einziges Detail, das nicht der exakten historischen Wahrheit entspräche. Wenn zum Beispiel der Comte de Camporeal sagt: ›Der Unterhalt des Hofs der Königin kostet 664066 Dukaten im Jahr‹, können Sie da und da [er nennt einen Buchtitel] nachschlagen und werden dort genau diese Zahl finden.«

Ich meinerseits behaupte von der vorliegenden Erzählung aus der Zeit der Richter nichts dergleichen.

Dieses Buch entstand völlig unabhängig von der biblischen Überlieferung und von Fakten oder Mutmaßungen der Archäologie.

V. Jabotinsky

Erstes Kapitel Ein Tausendsassa

Den Weg von Süden her kam ein müder Reisender herab; hinter ihm trottete an einem langen ledernen Zügel ein mit zwei Packsäcken beladener Esel.

Der Mann mochte an die fünfunddreißig Jahre alt sein, er hatte einen kurzen schwarzen Krausbart und lebhafte, verschmitzte vorquellende Augen. Um den Kopf trug er ein schmutziges weißes Tuch, sein ärmelloses braunes Gewand hatte er bis zu den Knien geschürzt, um leichter vorwärts zu kommen, sodass es vorn über dem Gürtel einen herabhängenden Sack bildete, in dem etwas Schweres hin und her schwang, vermutlich sein Proviant. Die ledernen Riemensandalen hatte er, um sie zu schonen, an seinen Gürtel gebunden und lief barfuß. Ein schwerer Mantel, eine Art Decke, ebenfalls braun, lag ordentlich zusammengelegt zwischen den beiden Säcken auf dem Rücken des Esels.

Die Sonne sank bereits, und es war kühl. Die Regenzeit war gerade erst zu Ende gegangen. Das Tal, in das dieser steinige, noch nicht sehr staubige Weg führte, und die Hügel ringsum feierten ihre beste Stunde: Das Grün der Haine und Weinberge war noch nicht grau vom Staub, die Bäche wurden bereits seichter, waren aber noch nicht ausgetrocknet. Die rote Erde war dicht bestellt, im Tal lag eine größere Stadt, und auf dem Weg dorthin standen einzelne, herrschaftlich aussehende Häuser mit Gärten, auch auf den Hügeln waren von weitem die Konturen einiger großer Siedlungen auszumachen.

Der Reisende sagte laut vor sich hin: »Gut leben die Leute hier!«

In seiner Stimme lag kein Neid, obgleich er aus den kargen südlichen Bergen kam. Es lag eher Befriedigung darin, denn er stammte aus einem landlosen Clan, der kein Haus besaß, nie von einem Haus geträumt hatte und dem darum der Neid, dieses Laster des Landmannes, fremd war. Wenn diese Gegend reich war – umso besser für den Fremden.

Bis zum ersten herrschaftlichen Haus waren es noch einige Hundert Schritte, und von dort bis zum Stadttor war es noch dreimal so weit. Das Haus war groß und schön, mit runden Säulen und allerlei Anbauten, dahinter lag eine breite Senke, in der sich nun, nach der Regenzeit, ein kleiner See gebildet hatte. Aus dem Haus traten zwei weibliche Gestalten. Ohne Eile, im Spazierschritt, liefen sie bergauf, dem Reisenden mit dem Esel entgegen. Sie waren ganz in ein Gespräch oder vielleicht einen Streit vertieft, die Kleinere fuchtelte erregt mit den Armen. Nach einer Weile sah der Reisende, dass dies ein schwarzhaariges Mädchen von etwa zwölf Jahren war; die Ältere mit der üppigen roten Mähne mochte drei Jahre älter sein. An den Kleidern, die weit länger waren als die der Frauen seines Stammes oder der kanaanitischen Einheimischen und von anderem Schnitt, erkannte der Reisende, dass die Mädchen aus einer Philisterfamilie stammten. Als sie näher heran waren, kniff er ein Auge zusammen, um die Wolle zu beurteilen, aus der ihre Kleider gemacht waren: Sie war von erster Güte, besonders bei der Älteren.

Einige Schritte vor ihnen blieb er stehen und grüßte höflich: »Guten Tag, ihr Mädchen.«

»Guten Tag«, antwortete die Rothaarige und lächelte sogleich.

Sie war ein sehr hübsches Mädchen mit grünen Augen und fröhlicher und übermütiger Miene; das Lächeln zauberte Grübchen auf ihre Wangen. Sie blieb stehen, die Jüngere ebenfalls, jedoch widerwillig und mit finster abgewandtem Blick. Auch sie hatte grünliche Augen.

»Was ist das für eine Stadt dort unten?«, fragte der Mann.

»Timna. Bist du ein Händler?«

Das Mädchen zeigte auf die Packsäcke.

»Ja, das auch. Soll ich dir einen Kamm aus Elfenbein zeigen? Oder Amulette? Bunte Gürtel? Salben?«

Er zählte ausführlich seine Waren auf, wobei er jedes Mal sagte, aus welchem Land eine jede stammte; es waren sehr viele Orte, und das jüngere Mädchen knurrte, ohne ihn anzusehen: »Solche Länder gibt es wahrscheinlich gar nicht auf der Welt. Er hat seinen Kram irgendwo am Stadttor gekauft und handelt mit Altwaren, wie all diese Hausierer aus den Bergen. Meine Mutter sagt immer: Ein guter Kaufmann kommt von Ekron her, nicht von Adullam.«

Er wollte etwas erwidern, doch da meldete sich die Ältere, wohl um die Grobheit abzumildern.

»Wir haben kein Geld, guter Mann, und von den Erwachsenen ist niemand da. Das dort ist unser Haus; wenn du willst, komm morgen früh, du musst ja sowieso in Timna übernachten, es ist bald Abend.«

»Danke, du Schöne«, sagte der Händler, »ich werde kommen. Wenn euch etwas gefällt, kauft ihr es, und wenn eure Eltern etwas zu verkaufen haben, kaufe ich es vielleicht. Deine Schwester hat recht: Ich habe allerlei Ware, neue wie alte, sichtbare wie unsichtbare.« Dann zog er am Zügel, um den Esel aus seiner düsteren Nachdenklichkeit aufzuscheuchen, und setzte sachlich hinzu: »Gibt es hier in Timna eine Hure?«

Diese Frage stellte er ohne jede Verlegenheit, obgleich er ein Mann von höflichen Manieren und moralischer Lebensart war. Herbergswirtinnen waren zu jener Zeit Frauen des freien Standes, die beiden Begriffe galten als Synonyme.

Das rothaarige Mädchen antwortete ebenso sachlich: »Ja, aber dazu musst du die ganze Stadt durchqueren, ihr Haus steht am Nordtor. Jeder wird dir den Weg zeigen.«

Die Jüngere murmelte mit verächtlich geschürzten Lippen: »Da braucht er niemanden zu fragen, er wird den Lärm schon auf halbem Weg hören.«

Der Reisende verabschiedete sich und warf im Gehen noch einen Blick auf das widerborstige Mädchen. Es gefiel ihm nicht und hatte wenig Ähnlichkeit mit der Älteren. Die beiden konnten kaum Schwestern sein; allerdings lag auch auf den schwarzen Locken der Jüngeren unter den schrägen Sonnenstrahlen ein rötlicher Schimmer. Sie missfiel ihm sehr, und während er weiterlief und den faulen Esel schalt, flüsterte er eine lange, gewundene Beschwörungsformel gegen den bösen Blick.

Als er Timna erreichte und die Sandalen anzog, ohne die er es unschicklich gefunden hätte, den Boden einer gesitteten Stadt zu betreten, war die Sonne bereits untergegangen und die Straßen waren leer. Er befand sich offenbar in einem reichen Viertel: Es gab hier viele Steinhäuser, und die Düfte, die mit den Rauchschwaden von den hinter niedrigen Umzäunungen und unter Schutzdächern verborgenen Öfen herüberwehten, verrieten, dass fast überall Ziegenfleisch gebraten wurde. Einige Häuser hatten geschnitzte Türen, da und dort hörte er Gesang und den Klang eines Saiteninstruments.

Ein kanaanitischer Sklave, der einen Korb mit getrocknetem Mist zum Heizen auf dem Kopf trug, wies dem Reisenden den Weg zum Haus der Hure. Schon weit vor der Herberge änderte sich das Gesicht der Stadt. Hier lebten die Armen – in Hütten aus in der Sonne gebrannten Lehmziegeln oder in einfachen grauen Lehmkästen; die Bewohner hockten vor den Eingängen und aßen mit den Fingern eine Art Grütze. Es war bereits dunkel geworden, hin und wieder fiel der Schein kümmerlicher Lampen auf grobe und harte Gesichtszüge. Philister waren nicht darunter; die gesamte Stadtarmut – Tagelöhner, Handwerker und Bettler – bestand aus Angehörigen verschiedener einheimischer Stämme. Der Reisende kannte deren Namen, er war oft in den Städten und Dörfern der Jebusiter, Girgasiter und Hiwiter1 unterwegs und konnte sie auf den ersten Blick unterscheiden, und einen Hetiter mit fliehender Stirn oder einen schmallippigen Amoriter erkannte er an der stolzen Haltung schon von weitem. Doch dies hier war bloß ein niederes Gemisch, der kümmerliche Rest von zwanzig Stämmen, bis zur Unkenntlichkeit zerrieben zwischen zwei Mühlsteinen, zwei Eroberervölkern.

Die Herberge befand sich direkt am Tor. Tatsächlich hörte man schon von weitem den Lärm übermäßig lauter Stimmen. Am Zaun drängten sich sämtliche streunenden Hunde der Vorstadt, sie schienen alle gleich, keiner Rasse zugehörig, genau wie ihre Nachbarn, die Menschen. Ohne sich gegenseitig wegzustoßen oder anzuknurren, warteten sie auf den Augenblick, da die Magd ihnen Essensreste hinwerfen würde.

Hinter dem Zaun lag ein großer Hof, von zwei Pechlampen beleuchtet, auf dem Hof stand ein langer Tisch, der einem erwachsenen Mann bis zum Knie reichte, und daran wurde gezecht: An die zwanzig Männer saßen und lagen darum herum, manche auf geflochtenen Matten, andere auf der nackten Erde. Weiter hinten befand sich ein niedriges, breites Lehmhaus, auf der Schwelle stand die Hausherrin und befehligte mit über den ganzen Hof schallender Stimme ihre Dienerschaft. Die Herberge war offensichtlich gut geführt. Die männlichen Bediensteten, zwei breitschultrige Schwarze, bleckten beim Servieren der Speisen fröhlich die Zähne (die Kanaaniter verstanden sich auch damals nicht darauf, bei Tisch nett und freundlich zu bedienen), und die Mädge – zwei Weiße und eine Mulattin – waren von angenehmer Fülligkeit und leicht bekleidet. Die Küche lag am äußersten Ende des Hofes unter einem Vordach, auf der Windseite durch eine niedrige Abschirmung geschützt. Vier halbrunde, unten offene Lehmöfen schickten den Rauch direkt in den Sternenhimmel, ein großes Stück Fleisch briet auf einem flachen Stein direkt über den Kohlen, und einer der beiden Schwarzen wendete es hin und wieder mit einem Stock.

Der Neuankömmling führte seinen Esel vorsichtig von den Zechenden weg und ging zur Wirtin. Wie die beiden Mädchen aus dem Haus vor der Stadt trug auch sie ein langes Kleid mit eng anliegender Taille. Er war zum ersten Mal im Philistäa, doch er wusste, dass man den Frauen des freien Standes hier respektvoll begegnete.

»Guten Tag, Herrin«, sagte er. »Kann ich bei dir zu Abend essen, übernachten und meinen Esel füttern?«

Ohne ihn anzusehen, beendete die Wirtin erst die Beschimpfung eines der beiden Schwarzen, dann musterte sie den Gast im Licht der Pechlampe aufmerksam und antwortete: »Im Haus ist kein Platz mehr, du musst auf dem Hof schlafen. Der Stall ist links hinterm Haus, bring den Esel selbst hin, die Diener sind beschäftigt. Essen kannst du beim Ofen – setz dich nicht an den Tisch, die Männer wollen unter sich bleiben, sie mögen keine Fremden.«

Er schaute zum Tisch. Die Männer waren alle gut gekleidet, ihre Bärte sorgfältig gekämmt, doch waren auch viele bartlose junge Leute darunter. Einige hatten bereits ihre Kappe abgesetzt, die anderen trugen noch die typische Kopfbedeckung der Philister, die aussah wie eine Krone aus gefärbten Federn in einem lammwollenen Mützenrand. Trotz der schlechten Beleuchtung würdigte der neue Gast in Gedanken sofort die Haltbarkeit der Stoffe und die Güte der Speisen auf dem Tisch. Da gab es in breite Streifen geschnittenes Fleisch, frische Kräuter, Fisch – eine besonders rare Speise für den Mann aus den Bergen –, getrocknete Früchte, Kuchen und viel Wein.

»Das sind reiche Herren«, sagte er zur Herbergswirtin. »Ich setze mich ein Stück abseits, aber später, wenn sie recht bei Stimmung sind, würde ich mich gern zu ihnen gesellen. Ich habe in meinem Gepäck Ringe, Geldbeutel, Gürtel, Sandalenriemen und Kleiderverschlüsse, vielleicht braucht jemand auch ein Liebeskraut, direkt aus Movh2, es wirkt so zuverlässig wie Brechwurz und fast ebenso schnell.«

»Ihnen wird kaum der Sinn nach dir stehen. Ich kenne sie: Wenn Tajisch sie freihält, endet es immer entweder mit einer Prügelei oder damit, dass alle einschlafen.«

»Wenn sie sich bis zur Bewusstlosigkeit betrinken, muss bestimmt jemand zur Ader gelassen werden, und wenn sie einander verletzen, brauchen sie Umschläge. Ich habe Medizin dabei, und ich kann schmerzlos Adern öffnen. Außerdem …«

Er sah die Wirtin eindringlich an, sie sah ihn eindringlich an, und sie verstanden einander.

Er sagte halblaut: »Ein Betrunkener lässt mitunter dies und jenes fallen. Einen Armreif, eine Kette, einen Geldbeutel …«

»Sie haben alle ein gutes Gedächtnis«, erwiderte die Wirtin, »und wenn sie ausgeschlafen haben, werden sie das ganze Haus durchsuchen.«

»Vor Mittag wird niemand erwachen, und ich breche stets im Morgengrauen auf. Sollen sie doch ruhig bei dir suchen. Was werden sie da schon finden, außer, sagen wir, einem bunten Tuch, das du bei mir, sagen wir, gekauft hast? Mich aber werden sie nicht einholen.«

»Du bist ein kluger Mann«, sagte die Wirtin, »und ein Tausendsassa. Kaufmann, Heilkundiger und … Schnapper.«

»Ich beherrsche noch viele andere Künste, Herrin, weit wichtigere. Ich kenne Beschwörungsformeln, ich kann vor dem Opferaltar tanzen – auf jede Weise, wie die Kanaaniter, wie die Israeliten und nach dem Brauch der Wüstenvölker; wenn nötig, erlerne ich an einem Tag auch eure Rituale. Ich kann schreiben – auf Schädelknochen, auf Ziegenhaut und auf Papyrus –, ich kann die Kinder eines reichen Hauses in der Buchkunst unterrichten, in Gebeten jedweden Glaubens, im Flötenspiel, im Spiel auf der Leier …«

»Du ähnelst dem Aussehen nach unseren Nachbarn vom Stamme Dan«, sagte die Herbergswirtin, »aber einen solchen Daniter habe ich noch nie gesehen. Unsere Nachbarn aus Zora sind ungehobelte Kerle, noch viel dümmer als die Kanaaniter, du aber scheinst geradewegs aus Ägypten zu kommen. Wer bist du? Woher stammst du?«

»Ich bin in der Tat mit dem Stamm der Daniter verwandt, aber aus einem anderen Geschlecht. Ich bin ein Levit und stamme aus Mamre bei Hebron, wo der Opferaltar der Waldgöttin Aschera steht – hast du mal von ihr gehört? Eine große Göttin. Wir selbst haben ja einen anderen Glauben, aber das tut nichts zur Sache.«

»Ein Levit? Von einem solchen Land habe ich noch nie gehört.«

»Wir haben kein Land. Wir leben überall, die ganze Erde ist unser. Der Bruder meiner Mutter ist ein großer Priester in der Hauptstadt der Jebusiter im Gebirge, ein anderer Verwandter ist der oberste Chorsänger in Dor, am Tempel des dortigen Gottes, ein dritter ist zu euch nach Jaffa gegangen, um Arbeit zu suchen, und hat sie dort wohl auch gefunden. Auch ich bin eigentlich auf der Suche nach einem Heiligtum. Aber unterwegs muss ich mich ja irgendwie ernähren.«

»Churru!«, rief die Wirtin.

Einer der beiden Schwarzen trat zu ihr.

»Führ den Esel in den Stall und gib ihm Kleie, das Gepäck nimm ab und lass hier.«

»Semer!«

Eine der Mägde kam herbeigelaufen. Der Levit wandte den Blick ab, um ihre mangelhafte Bekleidung nicht zu sehen.

»Breite für den Gast eine recht weiche Strohmatte aus und gib ihm Wein und Hammelfleisch vom Tisch.«

Dann sagte sie: »Sagtest du etwas von einem Tuch? Zeig her.«

Zweites Kapitel Der Narr

Der Levit aß gesetzt und ohne Hast, betrachtete dabei die Zechenden und lauschte ihren Gesprächen. Daraus entnahm er, dass nicht alle Ortsansässige waren. Einige kamen aus Geser, andere aus Ekron, einer sogar aus Aschdod – ihn hatte es offenbar in Geschäften nach Timna verschlagen, und er war zum Gelage mitgenommen worden, die Übrigen aber hatten sich wohl seit Tagen darauf gefreut. Den Anlass dazu erfuhr der Reisende bald aus den scherzhaften Wortgefechten. Die Gesellschaft wurde freigehalten von einem gewissen Tajisch3 (komische Namen haben sie, dachte der Levit), der mit dem Recht des Gastgebers am lautesten lärmte; seine Stimme war von ungewöhnlicher Kraft, ein tiefer Bass, sein Gesicht aber war nicht zu erkennen, es war von den Tischnachbarn verdeckt, nur hin und wieder sah der Levit die glänzenden Federn seiner großen Philisterkappe schillern. Tajisch hielt die anderen frei, weil er eine Wette verloren hatte. Soweit der Levit verstand, war es darum gegangen, dass Tajisch, auf einen Stab gestützt, über einen Bach oder einen See springen wollte, und zwar beim höchsten Wasserstand – aber er hatte es nicht bis zum Ufer geschafft, sondern war vor aller Augen ins Wasser gefallen. Die meisten Scherze drehten sich um die Frage, ob er inzwischen wieder trocken sei. Die Scherze waren, wie meist bei Gelagen, nicht sonderlich geistreich, belustigten die fröhliche Runde aber sehr. Tajisch war kein bisschen gekränkt, lachte schallend und ließ großzügig auftischen, wobei er die Mägde unentwegt antrieb.

Allmählich richtete sich die Redekunst der fröhlichen Bande auf ein anderes Thema, nämlich wie viel Silber das Gelage wohl kosten würde.

»Achtur!«, rief einer der Gäste, »befühl mal seinen Geldbeutel. Nicht dass wir am Ende zusammenlegen müssen – wir aus Ekron besitzen nicht den kleinsten Silberling!«

Dieser Gast sorgte ständig für Heiterkeit, weil er das Fleisch mit einem Eisenschwert schnitt. Die Männer aus Ekron waren der langen Reise wegen bewaffnet, hatten ihre Kurzschwerter der Bequemlichkeit halber aber längst abgelegt.

Achtur saß rechts von Tajisch, ihn konnte der Levit gut sehen: Er war ein recht eitler, schöner junger Mann; Stirn und Nase bildeten eine gerade Linie ohne Höcker oder Dellen. Er tat, als wöge er unterm Tisch etwas ungemein Schweres, und verkündete ernst: »Keine Angst. Die Hälfte aller Weinberge von Zora klingt in seinem Sack!«

Allgemeines Gelächter, in dem der dröhnende Bass von Tajisch alle übertönte.

»Der Frevler hat seinen Vater ausgeraubt!«

»Er hat die Stadtkasse geplündert!«

»Wenn ich etwas geplündert habe«, röhrte der Gastgeber, »dann nicht die Weinberge, nicht den Vater und nicht den Schatz, an den ihr denkt.«

»Wen dann?«

Jemand rief: »In Jaffa ist kürzlich eine ägyptische Flotte eingetroffen, sie sollten in Sidon Holz holen, aber auf offener See haben ihnen Piraten sämtliche Säcke mit Gold geraubt. Waren das vielleicht deine Leute, Tajisch?«

Ein anderer wandte ein: »Seine Gefährten nennen sich nicht ›Haie‹, sondern ›Schakale‹, sie arbeiten an Land.«

»Mein Freund«, sagte ein Dritter, »war das vielleicht dein Werk – jene Karawane aus Midian4, die kürzlich ohne Kamele und ohne Kleider in Gaza ankam?«

Tajisch schien sehr geschmeichelt, dass er in so hohem Ruf stand, wehrte aber ab.

»So weit sind meine Schakale noch nicht gekommen«, johlte er.

»Woher dann dein Reichtum?«

»Ratet!« Er richtete sich plötzlich auf, hob eine Hand und rief: »Hier mein Rätsel: Zwanzig Gastgeber und ein einziger Gast. Wer ist das?«

Ein Mann aus Aschdod, etwas älter als die Übrigen und weniger betrunken, sagte: »Ich weiß es. Unser Gastgeber bewirtet uns für das Geld, das er uns die letzten Male beim Spiel abgenommen hat.«

Das gefiel den Philistern ungemein, fast alle klatschten beifällig in die Hände. Sie liebten gelungene Streiche, sogar, wenn sie ihnen selbst gespielt wurden. Zwei Dutzend betrunkene Stimmen redeten wild durcheinander und erinnerten an frühere Wetten, die das heutige Oberhaupt der Tafel gewonnen oder verloren hatte. Dieser Tajisch war offenbar ein großer Spieler vor dem Herrn, zudem mit außerordentlicher Phantasie begabt. Die Wetten waren erstaunlich vielfältig, von einem Becher Honig, den er kopfüber an einem Ast hängend leeren musste, bis hin zu einem Wettlauf mit einem Pferd, das einem der Gäste aus Ekron gehörte.

Nun, da Tajisch sich aufgerichtet hatte, konnte der Levit ihn genauer betrachten. Er war neugierig auf ihn, seit sein stutzerhafter Tischnachbar Achtur Zora erwähnt hatte. Diesen Namen kannte er: Die Stadt war vor langer Zeit vom Stamme Dan eingenommen worden, das hatte die Herbergswirtin vor einer Stunde bestätigt. Der Levit kniff erneut ein Auge zusammen – das taten die Angehörigen seines Stammes, wenn sie etwas eingehend betrachten wollten. Tajisch hatte breite Schultern und eine mächtige Brust, schien aber noch sehr jung, denn sein Bart spross erst spärlich. Gekleidet war er genau wie die anderen; die in den Nacken geschobene Kappe entblößte eine nicht sehr hohe, aber breite Stirn. Seine Nüstern bebten und weiteten sich beim Lachen, auf seinen Jünglingswangen bildeten sich Grübchen – der Levit musste an das rothaarige Mädchen denken. Der Mund des jungen Zechers war wohl nicht sehr groß, aber er öffnete ihn unentwegt weit, wenn er aus voller Kehle lachte, und zeigte dabei weiße, ebenmäßige Zähne; sein Kinn war quadratisch, vorgereckt und schwer, der Hals ein wenig zu mächtig für sein Alter. Den Gesichtszügen nach konnte er alles sein, Daniter ebenso gut wie Philister, doch seine Kleider, seine Manieren und sein Benehmen sprachen eindeutig dafür, dass er, wenngleich er irgendwie mit den Weingärten von Zora zu tun haben mochte, ein Bruder der Übrigen in der Runde war; zudem hatte der Levit, ein erfahrener Mann, in seinem Stamm noch nie jemanden mit einem so seltsamen Namen getroffen, überdies hatte er in seinem strengen und sorgengeplagten Volk noch nie einen Narren gesehen.

Er ist Philister, entschied der Levit endgültig.

Inzwischen war der breitschultrige Philister so recht in Fahrt gekommen. Er führte unentwegt scherzhafte Reden, und bei diesen Späßen schüttelte der Levit in seiner Ecke den Kopf und die Mädge kreischten und schlugen die Hände vors Gesicht, obgleich sie ihre Schamhaftigkeit auf wenigstens drei andere Arten weit überzeugender hätten bekunden können. Er zeigte Kunststückchen: Er schluckte Ringe und förderte sie unterm Gürtel seines Tischnachbarn wieder zutage, er wühlte im angegrauten Bart des Gastes aus Aschdod und fischte einen Käfer hervor, dann stopfte er sich einen ganzen Ring getrockneter Feigen in den Mund, schloss ihn fest, trennte die einzelnen Feigen heraus, indem er nur Gaumen und Zunge bewegte, und schluckte sie einzeln hinunter, was alle mit großem Staunen verfolgten, wonach er die unberührte Masse wieder aus dem Mund nahm und den Hunden vorwarf. Dann kniete er sich hin (er war sehr groß, in der Taille jedoch schmal wie ein junges Mädchen), griff sich drei Tonschalen, warf alle gleichzeitig in die Luft und fing eine mit dem Kopf auf, die zweite mit der ausgestreckten Hand, die dritte mit einer Hand hinterm Rücken. Schließlich, als die Gäste vom Lachen schon ganz erschöpft waren und nur noch Geheul von sich gaben, unterhielt er sie mit einer vielstimmigen Tierversammlung, die einen König wählen will. Die Täuschung war vollkommen. Ein Ochse brüllte, ein Panther knurrte, eine Hyäne kicherte heiser näselnd, ein Esel schrie, ein Kamel grunzte böse, Schafe blökten, und das alles in so raschem Wechsel, als stritten die Tiere tatsächlich wild durcheinander; schließlich meckerte ein alter Ziegenbock triumphierend und anhaltend, besiegte damit das Stimmengewirr, und alle erkannten, dass er zum König gewählt worden war. Die Gäste weinten vor Lachen und fuchtelten entkräftet mit den Armen; die beiden Schwarzen wälzten sich am Boden, die Wirtin und die drei Mägde hatten Lachkrämpfe, und selbst der Levit, obgleich er sich seiner Stellung bewusst war und lärmende Fröhlichkeit eigentlich überhaupt missbilligte, konnte sich eines beifälligen Ausrufs nicht enthalten.

Das hörte Tajisch, schaute in die halbdunkle Ecke unter dem Küchenvordach und rief der Hausherrin zu: »Dergeto! Wer ist der Reisende dort?«

Sie trat an den Tisch.

»Ein Kaufmann, ein ehrbarer Herr. Er kommt aus den Bergen, ist aber ganz anders – beredt wie ein Priester aus Ekron … Lasst das!« Sie schlug mit beiden Händen gleichzeitig auf die Köpfe zweier Liegender, zwischen denen sie stand und die ihr offenbar in einer der Zeit und dem Ort nicht angemessenen Weise ihre Aufmerksamkeit erwiesen hatten.

»Sag dem Kaufmann, er soll herkommen«, befahl Tajisch. »He, Reisender! Komm an meinen Tisch. Semer, gib ihm gebratenen Fisch und einen sauberen Pokal, dafür soll er uns berichten, was los ist auf der Welt.«

Der Levit riss sich rasch das speckige Tuch vom Kopf, strich sein Haar glatt und ging zum Tisch, wobei er sich respektvoll nach drei Seiten verbeugte. Er war an die Gesellschaft von Andersstämmigen gewöhnt; Philister hatte er zwar noch nie getroffen, doch auch vor ihnen fürchtete er sich nicht. Seit vielen Jahren schon herrschte Frieden im Süden von Kanaan. Die Kriege mit den einheimischen Stämmen waren im Osten wie im Westen längst beendet; die unterworfenen Völker hatten sich in ihr Schicksal gefügt, die nicht unterworfenen wurden nicht angerührt, und beide Eroberer, Israel und Kaftor5, respektierten vorerst die Grenze, die ihre jeweiligen Einflusssphären markierte. Die Generationen währende unablässige Folge von Kriegen hatte alle erschöpft, die einen wie die anderen und die Dritten; sie alle gönnten sich eine lange Atempause, und niemand – außer Räubern – hinderte jemanden, unbehelligt von einem Gebiet ins andere zu wechseln.

»Ich bin Machbannai Ben-Schuni aus der Sippe des Kehat, des Ältesten im Stamme Levi«, stellte sich der Levit höflich vor, doch niemand hörte ihm zu; das Gelage hatte jenen Punkt erreicht, da es am Tisch kein gemeinsames Gespräch mehr gibt und die Zechenden nur noch mit ihrem jeweiligen Tischnachbarn trinken, reden, sich küssen oder streiten. Tajisch schob, offenbar ohne die geringste Anstrengung, seinen stumpf vor sich hin stierenden linken Tischnachbarn ein Stück beiseite und wies auf den frei gewordenen Platz. Der Levit setzte sich, tunkte die Finger in eine Schale mit Wasser, murmelte halblaut eine Beschwörung (er hatte lange keinen Fisch gegessen, eigentlich noch nie) und widmete sich dem Essen; doch es war eine schwierige Speise, mit Haut und Gräten, und sie schmeckte ungewohnt, darum erklärte er bald, er sei nicht hungrig, und trank etwas Wein, den er mit Wasser mischte.

»Woher kommst du?«, fragte ihn Tajisch mit leicht stolpernder Zunge. Hinter seiner breiten Schulter blickte auch der schöne Achtur, die Ellbogen vornehm aufgestützt, auf den neuen Gast; seine linke Hand ruhte leicht und lässig auf der behaarten Pranke von Tajisch – offenbar waren sie enge Freunde. Die Übrigen scherten sich nicht um sie.

»Ich komme gerade aus Jebus«, antwortete Machbannai Ben-Schuni, »aber auf Umwegen, über Bethlehem; den geraden Weg nach Kirjat-Jearim zu nehmen habe ich nicht gewagt. Die Jebusiter wollen keine Straße ins Tal anlegen, sie haben Angst, auf den Pfaden aber kann man sich leicht verirren, zudem sind sie voller wilder Tiere, und auch die Menschen dort sind nicht besser.«

»Jebus?«, fragte Achtur. »Wo die Einheimischen6einen Ziegenbock anbeten?«

»Ganz recht«, antwortete Machbannai, »sie nennen die Stadt Jeruschalajim. Sie ist nicht groß, aber wunderschön«, fuhr er fort. »Alle Häuser sind aus rosarotem Stein, nirgendwo sieht man Lehmhütten. Die Stadt liegt auf einem Felsen und ist von einer Mauer umgeben, so dick! Gut leben die Menschen dort: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sind aber reicher als alle anderen. Geht eine Frau die Straße entlang, hört man ihre Ketten und Armreifen weithin klirren.«

»Welches Gewerbe betreiben sie?«, fragte Tajisch.

»Sie haben zwei Gewerbe. Wohl dreimal im Jahr gehen sie hinunter nach Kikkar, zum Jordan und zum Salzmeer; sie plündern die Dörfer der Kanaaniter, rauben Karawanen aus und lauern nachts den Booten der Moabiter Kaufleute auf. Doch weitere drei Mal im Jahr plündern sie die umliegenden Völker noch einfacher: Diese kommen selbst zu ihnen und lassen sich scheren, in Massen, zu Tausenden.«

»Warum?«

»Zum Beten. Auf einem Platz mitten in der Stadt steht ein großer steinerner Tempel; es heißt, er stehe seit Urzeiten dort, die Riesen hätten ihn gebaut, noch vor der Zeit, da die kanaanitischen Stämme herkamen. Sämtliche Nomadenvölker des Südens und der Wüste gehen dorthin und beten um gute Weideplätze und um Zuwachs für ihre Herden. Tag und Nacht dienen Priester im Tempel, die ganze Stadt ist voll von ihnen – oh, das sind Diebe! Der oberste Priester ist übrigens mein Onkel, darum war ich auch in Jebus, ich wollte eine Stelle am Tempel; in unserer Sippe sind wir von klein auf mit Ritualen, Musik und Tanz vertraut. Aber heute ist es offenbar nicht mehr so wie in vergangenen Tagen, da ein Verwandter noch für einen Verwandten eintrat. Der alte Gauner hat mich nicht einmal vorgelassen, ich sollte am nächsten Tag wiederkommen, und am nächsten Tag gab mir sein Torhüter eine Tafel mit einer Inschrift.

›Nimm das mit‹, sagte er, und sag deiner Familie: Das hat der Ehrwürdige gesagt.‹

Auf der Tafel aber stand (ich kann lesen):

Nähm’ ich zu mir meine Brüder

wie einst Josef, Rahels Sohn,

endete die Sache wieder

wie am Nile damals schon.«

Die Zuhörer lachten.

»Ein kluger Mann, dein Onkel«, sagte Achtur.

Dass Dan und die übrigen Stämme einst aus Ägypten vertrieben7 worden waren, wusste ganz Kanaan, ebenso, dass die Philister übers Meer aus Kaftor gekommen waren.

»Also ging ich wieder fort«, fuhr Machbannai fort. »Zum Abschied besichtigte ich ihr Heiligtum. Mitten im Tempel ragt ein Felsen auf, darin ist ein Loch, darunter ein leerer Brunnen; über diesem Loch opfern sie Ziegen, Schafe und Kinder (nicht die eigenen, sondern jene, die fromme Menschen aus der Wüste ihnen bringen), und dann trinkt ihr Gott bis zum nächsten Feiertag aus diesem Brunnen. Der Gott selbst ist aus rotem Stein, er sieht tatsächlich aus wie ein Ziegenbock, nur zweimal so groß, und sein richtiger Name ist Zion, das heißt Herr der Wüste8, doch das Volk spricht seinen Namen nicht aus, um ihn nicht zu erzürnen, also nennen sie ihn Asasel oder einfach Bock – ha-Tajisch. Übrigens, Herr: Gibt es bei den Philistern nicht auch so einen Gott, trägst du deinen Namen vielleicht ihm zu Ehren?«

Beide lachten erneut, diesmal so ansteckend, dass sich auch die anderen nach ihnen umdrehten und mit trübem Blick und schwerer Zunge fragten, was los sei. Kurz darauf war der ganze Tisch in Aufruhr, einige klatschten sich auf den Kopf, andere schlugen mit der Faust auf den Tisch, die Nächsten stöhnten – Machbannais Frage belustigte sie offenbar sehr.

»Das ist kein Name, das ist ein Spitzname«, sagte Tajisch schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augen, »und ich bin auch kein Philister, ich gehöre zum Stamme Dan.«

»Ziegenbock nennen wir ihn, weil er so zottelig ist!«, erklärte Achtur und riss seinem Tischnachbarn flink die Kappe vom Kopf. Eine Mähne dunkelblonder, ungemein dichter und feiner Haare fiel diesem auf Stirn, Ohren und über den Nacken bis auf die Schultern. Ihre Enden waren anderthalb Handbreit zu sieben festen Zöpfen geflochten, jeder so dick wie ein Daumen.

Der Levit erblasste und rückte ein Stück ab.

»Du bist also ein Nasiräer9?«, fragte er halblaut. »Und das hier?« Er zeigte auf den Pokal vor Tajisch und auf den auf dem Tisch verschütteten Wein. Er war ernsthaft erschüttert. Wie die Gottheit hieß, in deren Namen ein Brauch vollzogen wurde, hielt er für unwichtig, aber ein Brauch war ein Brauch, dagegen durfte nicht verstoßen werden.

Tajisch aber war anderer Meinung. Laut und fröhlich erwiderte er: »In Zora bin ich ein Nasiräer, im Lande Ephraim auch, hier aber bin ich nicht ich. Im Hain ein Ölbaum, auf dem Felde Weizen – alles hat seinen Ort.«

Dann leerte er seinen Pokal, wozu Achtur sanft in die weißen Hände klatschte.

»Das ist Sünde, Herr«, beharrte der Levit.

Plötzlich veränderte sich Tajischs Miene, die trunkenen Augen blickten streng und böse, die Mundwinkel zogen sich zusammen, die Nüstern spannten sich; er beugte sich zum Ohr des Leviten und sagte deutlich: »Ein jegliches hat seine Zeit, Wachsein hat seine Zeit, und Schlafen hat seine Zeit. Dort bin ich wach, hier träume ich, und im Schlaf gilt kein Gesetz. Trink und schweig!«

Er wandte sich ab und begann ein Spiel mit dem Mann, der ihm gegenübersaß und noch nicht völlig betrunken war. Es war der Ekroniter, der das Fleisch mit dem Schwert geschnitten hatte. Das Spiel, so alt wie das Mittelmeer, war ganz einfach und zugleich unglaublich schwierig: Beide Spieler ließen gleichzeitig die linke Faust auf den Tisch fallen, wobei sie einige Finger austreckten; im selben Augenblick, nicht früher und nicht später, musste derjenige, der mit dem Raten dran war, die Zahl der insgesamt ausgestreckten Finger nennen.

An verschiedenen Enden des Tisches spielten diejenigen, die ihre Hände noch in der Gewalt hatten, andere Spiele: ein einfaches Würfelspiel um gerade und ungerade oder etwas in der Art unserer Kartenspiele mit Steinen in vier verschiedenen Farben. Ringe, Armreifen und Anhänger – das Kleingeld der Philister – wechselten die Besitzer, manchmal unter Flüchen, manchmal nach einem Streit und einem Schiedsspruch durch betrunkene Tischnachbarn.

Der Levit schaute zur Wirtin, ihre Blicke trafen sich. Inzwischen hatten die Mägde bereits einen Korb mit abgenagten Knochen zu den Hunden hinausgebracht, und jenseits des Zauns begann ein Geheul und Gejaule beim Teilen der Beute.

Allein die Stimme des Daniters brüllte alle Augenblicke: »Sechs! Vier! Zehn!« Er schaute nicht auf die Hand, sondern in die Augen seines Mitspielers und nannte fast immer die richtige Zahl.

Plötzlich schlug er dem Ekroniter vor: »Machen wir eine Wette? Wir spielen mit vier Händen, und ich muss dreimal hintereinander richtig raten.«

»Abgemacht«, sagte der Ekroniter. »Und der Einsatz?«

»Ganz einfach: Alles, was ich verlange, und wenn ich verliere, alles, was du verlangst.«

»Abgemacht«, sagte der Ekroniter.

Schiedsrichter wurden bestimmt: Achtur auf Seiten des Daniters, der Gast aus Aschdod auf Seiten des Ekroniters. Tajisch hob die Fäuste, sein Gegner ebenso, dann schauten sie sich durchdringend an, als wollten sie einander hypnotisieren. Gleichzeitig ließen sie die Fäuste auf den Tisch krachen, und bevor sie aufschlugen, dröhnte Tajisch: »Vierzehn!«

Die Schiedsrichter zählten. Tajisch hatte alle Finger der Linken ausgestreckt und einen der Rechten, der Ekroniter hatte beide Daumen eingezogen und vier Finger jeder Hand ausgestreckt. Seine Finger zuckten leicht.

Wieder hoben beide die Fäuste. Alle am Tisch, bis auf die Schlafenden, blickten jetzt auf sie. Der Levit schaute mit vor Aufregung ganz trockener Kehle und mit weit aufgerissenen Augen von einem zum anderen. Beide Spieler waren sehr blass; die Augen des Ekroniters drückten äußerste Anspannung aus, die von Tajisch schienen noch tiefer unter die Brauen gerutscht und blickten darunter hervor, als zielte er auf etwas oder als setzte er zum Sprung an. Plötzlich wusste der Levit, als hätte ihm das jemand eingeflüstert, was der Daniter gleich ausrufen würde.

Bumm! Vier Fäuste krachten auf den Tisch, und Tajisch sagte gelassen und leise: »Keiner!«

Genauso war es, beide Fäuste waren geballt.

Beim dritten Mal war die Spannung geringer, alle hielten die Sache für entschieden. Der Ekroniter zwinkerte und schüttelte heftig den Kopf, als wollte er etwas abschütteln; die Augen des Daniters richteten einen Befehl an den Mann aus dem alten, aber unbeschnittenen Volk – oder lasen womöglich nur in seinem schlichten Gehirn.

»Elf!«

Tajisch hatte einen Finger ausgestreckt, sein Gegenspieler alle zehn. Der Ekroniter zog ein buntes Seidentuch aus seinem Gewand hervor und wischte sich ausgiebig Stirn, Ohren und Nacken, dann fragte er: »Was habe ich verloren?«

»Dein Schwert«, antwortete Tajisch.

Der Lärm an allen Enden des Tisches, der eben eingesetzt hatte, brach ab. Die übrigen Ekroniter rückten instinktiv näher an den Verlierer heran. Er schien verwirrt.

»Das ist unmöglich«, sagte er leise. »Verlange, was du willst, Simson, nur das nicht – du weißt doch …«

Wieder blähte der Daniter die Nüstern.

»Ich will nichts wissen. Du hast verloren.«

Der alte Schiedsrichter aus Aschdod mischte sich ein.

»Unserem Freund aus Zora ist zweifellos bekannt, dass nach dem Gesetz der Fünf Städte niemandem aus seinem Stamm Eisen in die Hand gegeben werden darf. Das wäre Hochverrat; darauf steht die Todesstrafe.«

Das alles wusste Simson sehr gut, noch besser aber wusste er, dass es in sämtlichen Gebieten der zwölf Stämme keine einzige Waffe aus Eisen gab; und er hatte viel getrunken. Er erhob sich langsam; die Männer aus Ekron und Geser tasteten mit unsicheren Händen hinter sich – zum Glück hatte die erfahrene Herbergswirtin einem Diener längst befohlen, die Schwerter wegzuräumen. Auch Achtur stand auf, legte seinem Freund die Hand auf die Schulter und sagte mit tiefer Bruststimme herzlich, aber nicht einschmeichelnd: »Simson, sie sind deine Gäste … und ihr alle seid unsere Gäste hier in Timna.«

Tajisch senkte finster den Kopf.

»Wenn du willst, gebe ich dir …«, begann der Verlierer, doch der Daniter unterbrach ihn.

»Ich will nichts.«

In dem peinlichen Schweigen hörte man nur die Hunde um die Essensreste streiten. Plötzlich lachte Tajisch laut auf, setzte sich wieder und rief dröhnend: »Wir werden uns doch wohl nicht auch anbellen? Frieden!«

Er machte eine leichte Drehung zum Zaun hin, und auf einmal antworteten vom Hof her vier Hunde auf das Gekläff der Meute draußen: ein Großer, Grimmiger, zwei Welpen – der eine beleidigt, der andere frech und übermütig –, und ein Vierter, der nicht bellte, sondern nur knackend kaute, schmatzte und sich verschluckte. Das alles war Tajisch. Nach diesem Konzert erhob er sich unter allgemeinem Gelächter, in dem diesmal sowohl aufrichtige Erleichterung wie auch das Bemühen um Besänftigung mitschwangen, verließ den Tisch und winkte Machbannai zu sich.

»Levit«, sagte er, »was ich dir sagen wollte: Wenn du Arbeit in einem Heiligtum suchst, komm morgen zu meiner Mutter nach Zora. Sie hat einen ganzen Raum voller Götzenbilder. Kannst du auch zu unserem Jahwe beten?«

»Natürlich, außerdem sind die Gebete ja die gleichen.«

»Frag in Zora nach dem Haus von Hazlelponi, das kann dir jeder zeigen.«

»Danke, Sohn des Hazlelponi …«

Simson lächelte.

»Sohn des Manoach«, verbesserte er. »Hazlelponi ist meine Mutter, mein Vater heißt Manoach, aber wenn du in Zora nach dem Haus von Manoach fragst, wird der Gefragte eine Weile überlegen und dann ausrufen: Ach ja, der Mann von Hazlelponi!«

Drittes Kapitel Zwei Katzen

Vor Sonnenaufgang bepackte Machbannai Ben-Schuni nach einer geheimen und befriedigenden geschäftlichen Unterredung mit Frau Dergeto seinen Esel und brach durch das nahe gelegene Nordtor auf nach Zora. Von einem Besuch im Haus der beiden Schwestern vom Vortag sah er ab, denn er musste die Stadtgrenzen rasch verlassen, zudem war der Abstecher nach Timna für ihn auch so äußerst einträglich gewesen. Bevor er ging, warf er einen Blick in den Herbergsraum. Beim Schein der Nachtlampe schnarchten dort die auswärtigen Gäste, die Ortsansässigen waren, sich gegenseitig stützend, längst nach Hause gegangen – bis auf jene, die bei den Mägden geblieben waren, deren Kammern im Nebengebäude lagen. Die Herrin selbst, mit Geschäftlichem befasst, hatte diese ihr ebenfalls angetragene Liebenswürdigkeit ausgeschlagen.

Etwas später verließ Simson auf leisen Sohlen die Herberge. In der rechten Hand trug er etwas Längliches, in einen Umhang Gewickeltes, in der Linken die Federkappe. Auf dem Hof legte er beides ab, verscheuchte einen Mückenschwarm, steckte den Kopf und die Arme bis zum Ellbogen in einen Tonkübel mit Wasser, wedelte dann lange mit den Armen und schüttelte seine Mähne, um sich zu trocknen. Danach legte er seine sieben Zöpfe sorgfältig auf den Kopf und stülpte die Kappe darüber, schaute sich um, wickelte den Umhang auf, nahm ein ekronitisches Kurzschwert heraus, schob es unter seinen Gürtel, schnürte diesen recht fest, wickelte sich in den Umhang und trat lautlos auf die Straße. Er ging am Nordtor vorbei in Richtung Südtor, auf demselben Weg, den am Vortag der Levit gekommen war. Sogar in der Vorstadt der Kanaaniter schlief noch alles, nur dort, wo bereits die Philisterhäuser begannen, regten sich in einem niedrigen, höhlenartigen Gemäuer einige Gestalten und entfachten ein Feuer. Simson kannte Timna und wusste, was das für eine Höhle war: Es war der Hort der philistäischen Macht, welchen die Kanaaniter nicht mehr, Dan und die anderen elf Stämme noch nicht besaßen – die Schmiede. Unwillkürlich ordnete Simson die Falten seines Umhangs über seiner linken Seite, um das darunter verborgene Diebesgut zu tarnen.

Die Sonne kam heraus, als er das Südtor erreichte. Der Morgen war frisch und schön. Habichte keckerten unter den Gesimsen des alten Torturms, Lerchen stiegen eine nach der anderen in den Himmel auf, als würden sie an Seilen hinaufgezogen, und ihre Träller schallten in den Ohren. Rote und violette Blumen, mit schwerem Tau bedeckt, glitzerten und funkelten beiderseits des ausgetretenen Weges. Simson lief zügig bergan, ohne sich nach den Vorstadthäusern umzublicken, wo sich auch die Sklaven noch nicht regten, tadelte in Gedanken nur die faule Lebensart der Philister – in Zora mahlte zu dieser Stunde schon jede Mühle. Als er das letzte Haus erreicht hatte, lachte er lautlos auf. Dort, gleich hinter jenen Bäumen, lag der See, den er mit dem Stab nicht hatte überspringen können. Die Erinnerung daran, wie er in den schlammigen Grund eingesunken war, belustigte ihn noch immer. Als er den See erreichte, richtete er den Blick in die Ferne, auf eine niedrige säulengesäumte Vortreppe, doch dort war niemand und konnte so früh auch noch niemand sein – das wusste er.

Plötzlich rief jemand seinen Namen, eine junge weibliche Stimme. Er blieb stehen und schaute zum See. Darin badete ein Mädchen, ihr Haar war schwarz, nicht rot, obgleich es in der Sonne kupferrot schimmerte. Simson verzog das Gesicht und setzte eine kalte, versteinerte Miene auf. Das Mädchen erhob sich, jetzt reichte ihr das Wasser nur bis zu den Knien. Das ärgerte Simson. Er kannte ihre Streiche, aber das ging zu weit. Eine Frau war auch mit zwölf Jahren eine Frau; nackt vor einem Mann zu stehen war selbst bei den Philistern ungehörig, ja selbst bei den Kanaanitern. Simson war verlegen, doch genau das bezweckte die verfluchte kleine Teufelin, und diese Befriedigung wollte er ihr nicht gönnen. Darum wandte er sich nicht ab und senkte nicht den Blick, sondern mimte Gleichgültigkeit und schaute mit gelangweilter Miene über sie hinweg.

»Wohin so früh, Simson, noch dazu nach einem Gelage?«, fragte sie laut und herausfordernd.

Mit der klassischen Geste einer Frau, die sich so recht zeigen will, hob sie beide Arme und wrang ihr Haar hinter dem Kopf aus; dabei beugte sie sich nach vorn, die Brüste vor-, das Becken nach hinten gereckt. Sie war sehr schön, doch ihre schlanke Gestalt stimmte Simson nicht milder.

Kleine Schlange, dachte er bei sich und antwortete ihr: »Ich habe auf dem Berg etwas zu erledigen. Bin sehr in Eile.«

»Semadar schläft noch. Aber ich komme immer bei Sonnenaufgang her und bade, solange der See noch nicht ausgetrocknet ist. Hast du schon gefrühstückt? Möchtest du etwas Ziegenmilch? Warte einen Augenblick, ich wickle mich in mein Laken und komme mit dir – mein Kleid ist im Haus.«

Simson zuckte die Achseln und antwortete: »Keine Zeit, ich habe es eilig. Leb wohl.«

Er drehte sich um und ging rasch weiter.

Sie schickte ihm ein melodisches Lachen hinterher und rief: »Es gibt offenbar Dinge, die der mächtige Tajisch fürchtet!«

Ohne sich umzudrehen, erwiderte er: »Es gibt einfach Dinge, die ihn nicht reizen.«

Dennoch hatte die Begegnung ihn erregt. Er ertappte sich bei dem Gedanken: Und wenn es Semadar gewesen wäre?, und errötete heftig. Doch die Ältere würde so etwas niemals tun. Wie alle Philistermädchen, die er kannte, war Semadar viel unbefangener, als es in Zora üblich war, doch das ergab sich bei ihr ganz zwanglos, aus ihrer lebhaften Natürlichkeit und heiteren Sinnesart, und darum überschritt sie nie eine gewisse Grenze. Anders die Jüngere: Sie verfolgte stets eine Absicht, meist eine lasterhafte, wie heute, und tat alles, um Aufmerksamkeit zu erheischen; sonst hätte Simson ein solch unreifes Zicklein gar nicht beachtet. Wie hieß sie noch? Elinoar, wenn er nicht irrte – offenbar hatte ihre Mutter, eine Awiterin, auf einem kanaanitischen Namen bestanden. Simson hatte diese Mutter einmal gesehen und mochte sie nicht. Die Awiter standen auf der untersten Stufe der einheimischen Stämme, man kannte sie nur im Süden von Philistäa, nirgendwo sonst in Kanaan, und bei den Philistern waren sie Wasserträger und Holzhacker. Auch Elinoars Mutter war eher eine Art Wirtschafterin denn eine Ehefrau. Die eigentliche Ehefrau war Semadars Mutter, eine vornehme Philisterin, sie führte das Haus.

* * *

Simson hatte den Weg und selbst die Trampelpfade längst verlassen; die Hügel in dieser Gegend waren zwar nicht hoch, aber steil und mit Dornbüschen bewachsen. Auf der flachen Kuppe angekommen, schaute er sich um: Linker Hand, zweihundert Schritt entfernt, war ein steiler Hang, darüber erhob sich ein einsamer Feigenbaum, den ein Blitz versengt hatte. »Dort«, murmelte er. Er legte Kappe und Umhang ab, holte das Schwert unterm Gürtel hervor, drehte es zum ersten Mal in den Händen hin und her und zog schließlich die Klinge aus der bunt bemalten Holzscheide. Er schwang das ihm wenig vertraute Spielzeug mehrmals unsicher und unbeholfen durch die Luft, schaute zur Sonne, dachte: Es ist noch viel Zeit, und schlug, das Schwert in der Hand, den Weg zum Hang ein, darauf bedacht, den geräuschvoll federnden und raschelnden Schlehenzweigen auszuweichen.

Unten lag ein tiefes, enges Tal, das eine Ende mündete in eine Schlucht, das andere war von einer Wand begrenzt, und hier, unter den brüchigen Sandsteinfelsen, befand sich der Eingang einer Höhle. Etwa dreißig Schritt davon entfernt lag unter einem Baum das Skelett eines Zickleins, das offenbar erst kürzlich abgenagt worden war, doch nicht restlos: Kopf und Hals waren noch unberührt, und vom Hals führte ein Strick zum Baum. Simson nickte beifällig und traf letzte Vorbereitungen. Er löste seinen nun fast leeren Geldbeutel vom Gürtel und legte ihn unter das Gebüsch, besann sich aber und nahm ein kleines Säckchen heraus. Er hielt sich die Nase zu und überprüfte vorsichtig den Inhalt, ein feingemahlenes dunkles Pulver. Er band die Enden des Säckchens sorgfältig zusammen und steckte es unter seinen Gürtel. Dann schlich er zu einem großen Stein, der ihm fast bis zur Schulter reichte und auf halbem Wege zwischen dem Baum und der Höhle lag, stützte sich mit der Linken leicht darauf ab, sprang mit einer für seine Größe erstaunlichen Behändigkeit darauf, landete in der Hocke, richtete sich rasch auf und brüllte aus voller Kehle, sodass ein donnerndes Echo ertönte: »Komm heraus!«

Es kam niemand aus der Höhle, doch in der Stille spürte Simson durch das Summen der Insekten, die das Zicklein umschwirrten, klar und deutlich die lautlose Anwesenheit eines Tieres. Er meinte sogar, durch die Gerüche feuchten Grases, getrockneten Blutes, beginnender Verwesung und der feuchten Dunkelheit der Höhle einen dünnen Strahl von heißem Raubkatzenschweiß wahrzunehmen. Er legte das Schwert von der Rechten in die Linke und schleuderte einen großen Stein in die Höhle – aus der Tiefe drang gedämpftes Knurren, aber das war alles.

»Komm heraus, sonst räuchere ich dich aus!«, donnerte Simson.

Da erblickte er in dem schwarzen Höhlenloch zwei leuchtende, schräge grünliche Schlitze. Genau in die Mitte zwischen diesen schleuderte er einen zweiten Stein; ein wütendes, heiseres Gebrüll ertönte, und plötzlich stand auf dem schmalen Felsvorsprung vor der Höhle ein Panther.10 Lange schauten sie einander schweigend an; der Panther versuchte, mit der Zunge die aufgeplatzte Stelle über der Nase zu erreichen, und peitschte sich mit dem langen Schwanz die Schultern. Er war graubraun mit sehr kleinen schwarzen Flecken, die am Ansatz der Hinterpfoten beinahe vollständig ineinanderflossen; die Läufe waren fast grau, die Krallen schienen länger als menschliche Finger. Sich noch immer leckend, bewegte der Panther sacht den Kopf auf dem ausgestreckten Hals hin und her, ließ den Menschen dabei aber nicht aus den Augen. Er knurrte nicht mehr, doch allein sein nun deutlich hörbares Schnurren klang wie entferntes Donnergrollen.

»Dummkopf«, sagte Simson zu ihm, »das Zicklein habe ich doch hier angebunden!«

Der Panther zog eine Grimasse, das Maul zwei Handbreit geöffnet, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.

Simson fuhr fort: »Gestern Abend habe ich es hergebracht und angebunden, als du nicht da warst. Damit du satt bist und dich nicht zu früh trollst. Dummkopf!«

Der Panther ließ ein tiefes, kehliges Knurren hören. Die Bassstimme dieses Menschen behagte ihm nicht, aber er war satt und vernünftig.

Simson schwang das Schwert; die Luft pfiff bedrohlich unter seinen Hieben.

»Ich will Bartscherer werden, ich muss mich mit dieser Klinge üben, und an dir will ich sie zum ersten Mal erproben! Spring!«

Plötzlich drehte der Panther den Kopf zur Seite; er hatte die Krallen eingezogen, und Simson sah am Spiel der Muskeln unter seiner Haut, dass er sich einfach aus dem Staub machen wollte.

»Du willst weglaufen?«, knurrte er, warf das Schwert fort und griff nach einem Stein. Doch bevor dieser sein Ziel erreichte, hatte die Raubkatze die Herausforderung bereits angenommen, brüllte auf, glitt vom Felsvorsprung und war im nächsten Moment, fast ohne den Boden zu berühren, auf Simsons Felsen. Simson konnte gerade noch das Schwert aufheben; mit aller Kraft tat er einen Hieb von oben nach unten, dem aufgerissenen roten Rachen entgegen, doch er war unerfahren in dieser Kunst – der Panther warf sich mit dem ganzen Körper zur Seite, und der Hieb traf nur seine Schulter, weit tiefer als beabsichtigt und seitlich, nur mit der Spitze und nur mit halber Kraft. Aber es war der Hieb eines starken Mannes; der Panther jaulte auf, glitt von dem großen Stein auf die Erde und blieb dort liegen, den Kopf erhoben und immerfort knurrend; Simson sah, dass er erneut zum Sprung ansetzte.

»Dieses Spielzeug taugt nichts«, sagte er mit angewiderter Miene zum Panther. »Ich mache es lieber auf die alte Art!«

Damit schleuderte er die Waffe weit fort und duckte sich zum Sprung. Augenblicklich bäumte sich der Panther auf und hob beide Pranken, im selben Augenblick riss Simson sein Säckchen unterm Gürtel hervor und schüttete dem Tier behände das Pulver in die Augen. Scharfer Senfgeruch breitete sich aus; der Panther heulte auf und schlug blind mit beiden Pranken zu, doch Simson flog hoch über seinen Kopf, drehte sich in der Luft, damit er den Panther vor sich hatte, berührte nur flüchtig den Boden und sprang der Raubkatze auf den Rücken. Der Rest war Gewohnheit und einfach, da das Schwert ihn nun nicht mehr behinderte. Er schob beide Arme unter die Achseln der Katze und verschränkte sie in deren Nacken; die Beine schob er zwischen ihre Hinterläufe, die er zwischen seine Kniekehlen presste, und winkelte sie an. Doch obgleich er flink und gewandt handelte, schaffte er das nicht auf Anhieb; der Panther schlug mit dem linken Vorderlauf nach hinten aus, Simson konnte ihn nur knapp über der krallenbewehrten Pranke abfangen und musste seinen Arm lange vorsichtig drehen, um ihn unter die Achsel des Panthers zu schieben; dann schleuderte er gedankenschnell den Arm auf den Nacken des Tieres und verschlang die Finger beider Hände fest miteinander. Seine Beine hatte es schlimmer erwischt, der Panther hatte ihm den linken Fuß aufgerissen. Nun rollten sie beide über den Boden und niesten, knurrten und heulten, wobei kaum auszumachen war, welche Stimme wem gehörte; doch der Panther konnte bereits nichts mehr tun, er schlug nur hilflos mit den Krallen ins Leere und schleuderte Erdfontänen nach allen Seiten. Er hatte nun merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Kätzchen, dem man eine Klapper an den Schwanz gebunden hat. Sein Brüllen war bald nicht mehr wütend, sondern Schmerzgeheul: Simson hob die Ellbogen, indem er die verschlungenen Hände immer tiefer in den Rücken des Panthers bohrte, und brach ihm so die Vorderläufe. Es dauerte lange, bis schließlich das typische Knacken der Gelenke ertönte, und der Panther heulte auf wie jedes große Tier im letzten Schmerz, ohne Unterschied der Art. Die Vorderläufe baumelten nun schlaff herunter, wie angenäht; die Raubkatze erhob sich noch einmal auf die Hinterläufe und warf sich auf den Rücken, um den Teufel zu zerquetschen, der rittlings auf ihr saß; doch Simsons Finger pressten ihr schon die Kehle zusammen. Bald verstummten Brüllen und Geheul, man hörte nur noch das Röcheln des erstickenden Tieres, das drohende Schnaufen des Mannes, der fest die Zähne zusammenbiss, und die gleichmäßigen, dumpfen Schläge des langen Schwanzes.

Als Simson fertig war, stand er auf, tastete seine zerkratzte Wade ab und ging humpelnd Schwert und Geldbeutel holen. Das Schwert fand er im Gebüsch, legte es auf seine ausgestreckten Hände und ging damit zurück zu dem Panther, wobei er die glänzende, gravierte Klinge mit verächtlich geschürzter Unterlippe betrachtete.

Er teilte dem Panther seine Meinung mit: »Der Diebstahl hat sich nicht gelohnt, ich gebe es ohne Bedauern zurück.«

Die Sonne stand schon recht hoch.

»Es ist spät«, sagte Simson zum Panther. »Ich würde ja dein Fell mitnehmen, aber ich habe keine Zeit – die Trunkenbolde werden bald erwachen.«

Er lief denselben Weg zurück und las unterwegs Umhang, Kappe und hölzerne Scheide wieder auf. Bald erreichte er erneut den See – dort war niemand; er ging kurz bis zu den Knien ins Wasser, um seine Wunden zu kühlen, und eilte dann weiter. In den Philisterhäusern waren die Sklaven bereits tätig; in der Schmiede wurde gehämmert, und die Bälge ächzten; in der Vorstadt herrschte der alltägliche Lärm des Armenviertels, und durch alle Straßen streunten Hunde. Vor dem Tor der Herberge traf Simson den schwarzen Diener, gab ihm das Schwert und sagte: »Gib dieses nutzlose Ding Hanosch aus Ekron und schlag ihm in meinem Namen eine neue Wette vor: Ich will mit ihm einen Zweikampf austragen – er mit dem Schwert, ich mit bloßen Händen, und ich werde ihm die Ohren abreißen.«

Der Schwarze grinste fröhlich, und Simson nahm, trällernd wie eine Lerche, den Weg nach Zora.

Viertes Kapitel Göttliches

Hazlelponi erwies sich als eine stattliche Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, die sich recht gut gehalten hatte: Nach heutigen Maßstäben sah sie nicht älter aus als fünfzig. Ihr Haus stand am Rande von Zora, ein Stück abseits, direkt am Weg hinunter ins Tal – genauer: nicht das Haus, sondern das Anwesen mit allerlei Nebengebäuden. Auf dem Hof liefen an die zehn Bedienstete herum, männliche wie weibliche; als der Levit an der Schwelle stehen blieb, ohrfeigte die Herrin einen Sklaven – nicht so, wie Frauen sich schlagen, sondern mit aller Wucht, und man sah und hörte, dass dies den kräftigen Kanaaniter ziemlich beeindruckte. Machbannai ebenfalls. Er wartete ab, bis sie fertig war, und trat erst dann zu ihr, räusperte sich höflich, stellte sich vor, berief sich auf Simson (»Ich habe deinen frommen Sohn bei einer ehrbaren Familie jenseits des Tals getroffen, Herrin.«) und trug ihr sein Anliegen vor. Hazlelponi musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß, betrachtete auch den Esel, wobei sie dessen Traglast mit den Augen nicht nur zu wiegen, sondern gleichsam auszupacken schien. Das alles tat sie aus reiner Hausfrauengewohnheit, denn an der Rede des Fremden erkannte sie sogleich, dass er ein gebildeter Mann war, sich also nicht grundlos als Levit ausgab. Nach zwei, drei Fragen führte sie ihn zum Heiligtum.

Unter einem Vordach, auf sauber gefegtem Boden, standen Götzen unterschiedlicher Größe auf steinernen Podesten; der größte nicht größer als ein dreijähriges Kind, aber auch ganz kleine Figuren. Ein Archäologe unserer Zeit würde für eine halbe Stunde in diesem Tempel sein halbes Leben geben. Die Daniter, ihrer Natur nach Umherziehende und Sammler, streunten durch das ganze Land, viele von ihnen dienten als Seeleute in Jaffa und Dor, und sie hielten es offenbar für ihre Pflicht, Manoachs Frau, der angesehensten Dame der Hauptstadt, von jeder Reise etwas Göttliches mitzubringen, sodass die Sammlung in ihrem Heiligtum den Glauben von ganz Kanaan, dem Jordanland, der Wüste, des Libanon, der Mittelmeerküste und der ägäischen Inseln spiegelte. Da gab es gehörnte Astarten11, Astarten mit Tauben, nackte Astarten – doch mit einem übergeworfenen Gewand –, eine Göttin mit einem Kreuz in der Hand, eine andere mit einem gelockten Bart, einen kleinen Gott mit Fischschwanz, zwei, drei Götzen mit Ziegenbeinen, spitzen Ohren und Hörnern, ein Kalb mit abgeblätterter Vergoldung und einem Türkis auf der Stirn, einen dicken sitzenden Mann mit großem nacktem Bauch und gewaltigen Kiefern im übergroßen Kopf, ein kunstvoll gearbeitetes Mädchen aus Elfenbein mit offenem Haar und Flügeln, einen scheußlichen Affen, dessen Nabelschnur in die Erde wuchs, einen Götzen mit Falkenkopf, einen Götzen, der auf einem Bein stand, mit einem Schwanz in Gestalt eines Blutegels, Drachen und Schlangen, ein zottiger Halbmensch mit Schuppen, ohne Augen im Gesicht, aber mit einem riesigen Auge auf der Brust, zwei nackte männliche Schönheiten – offensichtlich von einem Seevolk stammend – mit anstandshalber vorgebundenem wollenem Schurz, kleine Menschenfiguren mit einem Mückenstachel im Mund. Auf einem besonderen Podest, das mit Seidentüchern und Pantherfellen bedeckt war, standen die Hausgötter, die plumpe Arbeit eines Kanaaniters, sieben an der Zahl: zwei Männer und zwei Frauen aus rotem Ton, zwei weitere Männer und eine Frau aus Stein; einer der steinernen Männer trug eine Art prall gefüllten Sack auf dem Kopf, der bis auf den Rücken hinunterhing – er sollte offenbar die Mähne eines Nasiräers darstellen. Auf demselben Podest thronte direkt in der Mitte eine vergoldete kleine Säule, die einem erwachsenen Mann bis zum Knie reichen mochte, mit einem abgerundeten Konus oben; in den Scheitel des Konus war eine recht große Perle eingearbeitet, und auf der Vorderseite der Säule hing eine Kette aus verschiedenfarbigen Steinen. Der Levit berührte die Kette gottesfürchtig mit zwei Fingern, um die er den Saum seines Umhangs gewickelt hatte, und murmelte eine lange Beschwörungsformel.

Sie einigten sich rasch: über Lohn, Kost und Logis für den Leviten sowie über die Anzahl der Lämmer, Zicklein und Tauben für die Opferung dreimal im Jahr; darüber, dass Opfer nur Jahwe dargebracht werden sollten, vor der goldenen Säule, während die übrigen Gottheiten sich mit Gebeten begnügen mussten; dass das Fleisch der Opfertiere als Einkommen des Priesters gelten sollte, die Häute aber zurück an die Herrin gingen. Neben dem Altardienst verpflichtete sich der Levit, Buch zu führen über alle Ereignisse, die das Haus Manoach betrafen, besonders Manoachs Sohn.

Hazlelponi war offensichtlich sehr stolz auf ihren Sohn, doch in ihrer Schilderung hatte er wenig gemein mit dem Simson in Timna vom Vortag. Ihr Sohn sei ein schweigsamer, bedächtiger Jüngling, er lächle nie, höchstens, wenn er seinem Vater begegne, den er sehr liebe und schätze, wenngleich dieser ihm nicht einmal bis zur Achsel reiche. Zu arbeiten gezieme sich für Simson nicht; von den jungen Leuten beiderlei Geschlechts in der Nachbarschaft halte er sich fern, er verbringe seine Zeit entweder allein im Tal, wo er beim Brunnen im Sand liege, oder abends am Stadttor, wo er den Reden der Alten lausche. Oft verlasse er die Stadt ganz, wohin, sage er nicht, kündige aber immer an, wann er wiederkommen werde, und sei immer pünktlich zurück, manchmal offenkundig von der Jagd, dann bringe er einen Hirsch oder das Fell eines wilden Tieres mit. Er esse viel, trinke aber natürlich nichts als Milch und Wasser. Er sei ein guter, bescheidener, gottesfürchtiger Jüngling, alle Frauen von Zora beneideten seine Mutter, alle Mädchen bewunderten ihn, doch keine wage, ihn anzusprechen. Allerdings sei er als Kind schwierig gewesen. Er sei ein schrecklicher Raufbold gewesen, jeden Tag seien heulende Nachbarinnen angelaufen gekommen, Daniterinnen oder Kanaaniterinnen, um sich über seine Taten zu beklagen, an der Hand (mitunter auch auf dem Arm) einen Sohn mit einem blaugeschlagenen Auge, eingeschlagener Nase, ausgeschlagenen Zähnen, ausgerenkten Armen oder Beinen. Sie, Hazlelponi, habe versucht, ihn dafür auszupeitschen (Manoach sei dafür ungeeignet), doch eines Tages, als er zehn Jahre alt war, habe er ihr seelenruhig die Peitsche aus der Hand genommen, seine Mutter gepackt, sie ins Zimmer getragen und dort aufs Bett gelegt, ohne ein Wort zu sagen – er habe sie nur eindringlich angesehen und ihr mit diesem Blick den Wunsch ausgetrieben, Einfluss auf sein Verhalten zu nehmen. Nach diesem Vorfall habe er allerdings seine Abenteuer in Zora eingestellt und begonnen, sich von zu Hause zu entfernen. Die Eltern hätten bald erfahren, dass er sich nun mit den Philisterknaben in den Siedlungen an der Straße nach Timna angefreundet habe und sie schonungslos verprügle: doch die Philisterkinder seien anders, sie ertrügen ihre blauen Flecke gelassen, nähmen nichts übel und schickten nicht ihre Mütter, um sich zu beschweren, was für die Familie weit angenehmer gewesen sei; allerdings sei der Knabe von diesen Expeditionen mitunter humpelnd oder mit roten Beulen auf der Stirn nach Hause gekommen. Merkwürdigerweise – die Philister seien eben ein sonderbarer Stamm – hätten diese Prügeleien seine Freundschaft mit deren jungen Leuten nur gefestigt, und heute sei Simson mit den besten Häusern in Timna und sogar in Geser eng befreundet.