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Thomas Wilhelm

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Beschreibung

Moralisch gute Entscheidungen sind die Basis konstruktiver und erfolgreicher Zusammenarbeit. Thomas Wilhelm schildert typische Situationen im Job und analysiert diese. Er zeigt, wie Sie in moralisch schwierigen Situationen zu Entscheidungen kommen und konsequent danach handeln, ohne dogmatisch zu sein. Inhalte: - Mit Moral durchs Leben - geht das? - Die Common-Sense-Ethik - Antischadens- und Kooperationsregeln - Ethische Ideale 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressumWidmung1   Moral im Job – geht das?2   Moralische Standpunkte2.1   Interner Aufsichtsrat2.2   Universelle Superregel2.3   Nutzenmaximierung2.4   Ethisches Rechnungswesen2.5   Automatisches Pflichtenheft3   Die Common-Sense-Ethik3.1   Harte und weiche Fakten3.1.1   Wir verfolgen individuelle Lebenspläne3.1.2   Wir sind Gefahren ausgesetzt3.1.3   Wir können kooperieren3.1.4   Einige Menschen stehen uns besonders nahe3.1.5   Wir sind fähig, Gutes zu tun3.1.6   Wir sind fehlbar3.1.7   Wir haben Selbstkontrolle3.1.8   Wir können uns einfühlen3.2   Die moralischen Grundregeln3.2.1   Thomas Hobbes und der Moralvertrag3.2.2   Schutz- und Kooperationsregeln3.2.3   Was moralische Grundregeln leisten müssen3.2.4   Die wichtigsten moralischen Grundregeln3.2.4.1   Schutzregeln3.2.4.2   Kooperationsregeln3.2.5   Globale Gültigkeit4   Schutzregeln4.1   Schmerzvolle Erfahrungen4.1.1   Der moralische Stresstest4.1.2   Muss ich eingreifen?4.1.3   Entscheidungsfragen4.2   Individueller Freiraum4.2.1   Gruppendruck4.2.2   Zum Glück gezwungen4.2.3   Zustimmung erforderlich4.2.4   Privat – kein Zutritt für Unbefugte!4.2.5   Talente entwickeln4.3   Motivierendes Vergnügen4.3.1   Hedonismus oder der Wert eines freudvollen Lebens4.4   Persönliche Verantwortung4.4.1   Der Begriff der Verantwortung4.4.2   Wiedergutmachung4.4.3   Die Rolle von Entschuldigungen5   Die Kooperationsregeln5.1   Bindende Versprechen5.1.1   Und wenn etwas dazwischenkommt?5.1.2   Die Logik des Vertrauens5.2   Große und kleine Lügen5.2.1   Hinters Licht geführt5.2.2   Moralisches Klima im Unternehmen5.2.3   Gängiges Geschäftsgebaren5.3   Faires Spiel5.3.1   Sich an die Regeln halten5.3.2   Einem jeden, was ihm zusteht5.3.3   So gelingen Feedbackgespräche5.3.4   Warum überhaupt moralisch handeln?5.4   Berufliche Pflichten5.4.1   Interessenkonflikte5.4.2   Loyalität und Dankbarkeit5.4.3   Der Fall Petersen6   Ethische Ideale6.1   Mut und Zivilcourage6.1.1   Einsatz ohne moralische Pflicht6.1.2   Whistleblowing6.2   Solidarität und Respekt6.2.1   Die Gesellschaft menschlicher machen6.2.2   Soziale Verantwortung von UnternehmenLiteraturStichwortverzeichnis
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print: ISBN 978-3-648-08120-4 Bestell-Nr. 10141-0001

ePub: ISBN 978-3-648-08121-1 Bestell-Nr. 10141-0100

ePDF: ISBN 978-3-648-08122-8 Bestell-Nr. 10141-0150

Thomas Wilhelm

Richtig entscheiden

1. Auflage 2016

© 2016 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

www.haufe.de

[email protected]

Produktmanagement: Anne Rathgeber

Lektorat: Monika Spinner-Schuch

Satz: kühn & weyh Software GmbH, Satz und Medien, Freiburg

Umschlag: RED GmbH, Krailling

Druck: BELTZ Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe (einschließlich Mikrokopie) sowie der Auswertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen, vorbehalten.

Widmung

Für Keiko

1   Moral im Job – geht das?

Das Richtige tun, die richtige Entscheidung treffen. Wer möchte das nicht? Das Problem dabei: Das „Richtige” ist ein Chamäleon-Wort. Je nach Kontext und Fragestellung kann es unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Das Richtige kann das ökonomisch Richtige sein, also das Richtige im Sinne des optimalen Einsatzes von Ressourcen; es kann das gesellschaftlich Richtige sein, also das Richtige im Sinne des größten Nutzens für die Gesellschaft als Ganzes; es kann das strategisch Richtige sein, also das Richtige im Sinne des optimalen Plans zur Erreichung eines übergeordneten Zieles.[2]

Die Bedeutung von „richtig”, die uns in diesem Buch interessiert, ist das moralisch Richtige. Was ist in ethischer Hinsicht die richtige Handlung? Wie treffe ich die moralisch richtige Entscheidung? Und wie setze ich diese Entscheidung um? Dabei konzentrieren wir uns auf typische Situationen in unserem Berufsleben, auf alltägliche Situationen in unserem Job. Denn im Geschäftsleben begegnen uns allerorten moralische Fragen:

Sind Notlügen im Geschäftsleben manchmal erlaubt?

Wie loyal muss ich meinem Arbeitgeber gegenüber sein?

Darf ich jemanden manipulieren, wenn es einem guten Zweck dient?

Soll ich melden, dass ein Fehler vertuscht wurde, auch wenn dies meine eigene Karriere gefährdet?

Was soll ich tun, wenn ich eine Zusage oder ein Versprechen nicht halten kann?

Darf ich mich einmischen, wenn ich merke, dass etwas falsch läuft?

Was tue ich, wenn mich jemand ausnutzt?

Unter welchen Umständen darf ich ein Geheimnis verraten?

Gibt es spezielle Pflichten unter Arbeitskollegen?

Wie weit geht meine Fürsorgepflicht als Vorgesetzter?

Darf man den Fehler eines Vorgesetzten offen kritisieren?

Soll ich eingreifen, wenn ich sehe, dass ein Kollege gemobbt wird?

Ist es in Ordnung, im Bewerbungsgespräch zu flunkern, wenn man keinen geraden und lückenlosen Lebenslauf hat?

Was tue ich, wenn ich das Gefühl habe, ungerecht behandelt zu werden?[3]

Ist es richtig, immer seine ehrliche Meinung zu sagen, auch wenn man dadurch jemanden verletzt?

Soll man unangenehme Nachrichten manchmal besser zurückhalten?

Was tue ich, wenn zwei Pflichten miteinander kollidieren?

Ist Ethik nicht immer relativ?

Warum sollte ich überhaupt moralisch handeln?

Welche Dinge sind wichtig im Leben?

Was bedeutet für mich ein glückliches, gelingendes Leben?

Solche und ähnliche Fragen führen uns mitten hinein in die Ethik. Es sind Fragen, die uns in Beruf und Alltag immer wieder beschäftigen, die uns manchmal auf der Seele liegen und uns den Schlaf rauben. Was den Fragen gemeinsam ist: Sie berühren die legitimen Interessen und Anliegen anderer Personen, aber auch meine eigenen. Und das ist typisch für moralische Fragestellungen.

Mein Anliegen in diesem Buch ist, sich mit all diesen Fragen einmal bewusst auseinanderzusetzen und nach Wegen zu suchen, wie wir zu befriedigenden Antworten gelangen und moralisch gute Entscheidungen treffen können. Ziel ist es dabei nicht, besserwisserisch und mit dem moralischen Zeigefinger Tipps und gute Ratschläge zu geben, wie man sich moralisch richtig zu verhalten hat. Die konkreten Situationen, die beteiligten Parteien und deren Interessen sind zu unterschiedlich, als dass Probleme oder Konflikte durch Patentrezepte gelöst werden könnten.

Ich möchte aufzeigen, wie man in moralisch schwierigen Situationen zu guten Entscheidungen kommen kann, welche Einflussfaktoren man berücksichtigen sollte und wie man, wenn man eine Entscheidung getroffen hat, konsequent handelt. Dazu stelle ich ein Modell moralischer Grundregeln vor, das Sie dabei unterstützen soll, zu differenzierteren moralischen Entscheidungen zu kommen. Ich nenne dieses Modell Common-Sense-Ethik. Es handelt sich letzten Endes um eine Rekonstruktion der moralischen Intuitionen unserer Alltagsmoral.[4]

Warum lohnt es sich für Sie, sich mit ethischen Fragestellungen zu beschäftigen?

Sie können Ihre Entscheidungen auf eine solidere Begründungsbasis stellen und finden geeignetere Handlungsoptionen in ethisch anspruchsvollen Situationen.

Sie werden sicherer in der Bewertung der ethischen Qualität einer Handlung.

Sie gewinnen einen Rahmen für Ihre persönlichen ethischen Ideale, für Ihren persönlichen ethischen Kompass.

Sie können Ihr eigenes Handeln leichter überprüfen.

Sie schärfen Ihre moralischen Intuitionen.

Sie gewinnen begriffliche Klarheit und bewegen sich dadurch sicherer innerhalb Ihrer moralischen Bewertungen. Sie werden Begriffe präziser unterscheiden und steigern damit Ihre Urteilskraft. Das hilft Ihnen dabei, ethisch relevante Situationen angemessener zu interpretieren und damit stabiler in Ihren Entscheidungen zu werden.

Man muss dabei akzeptieren, dass es nicht nur eine Antwort auf eine moralische Frage gibt. Vernünftige Menschen können zu unterschiedlichen Antworten kommen, die gleichermaßen gerechtfertigt sind. Ethik ist keine Mathematik, sie ist keine exakte Wissenschaft. Unsere moralischen Urteile lassen sich nicht auf ein einfaches Erklärungsschema reduzieren. Es erfordert immer einen Blick auf die ganz konkrete Situation, wenn man zu moralisch klaren Entscheidungen gelangen möchte. Die Entwicklung der eigenen Urteilskraft ist dafür die wichtigste Voraussetzung.[5]

Um sichere Urteile bilden zu können, spielen sowohl Vernunftüberlegungen als auch Emotionen eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren kamen viele sozialpsychologische Experimente zu dem Ergebnis, dass Gefühle die Bewertung von Handlungen stark beeinflussen. Daher glauben nun manche Ethikexperten, moralische Fragen seien letztlich nur durch den Zugang zu unseren Emotionen zu lösen. Die Vernunft hat dabei maximal die Funktion, uns Handlungsoptionen vor Augen zu führen. Die moralische Bewertung selbst wird durch unsere Emotionen geleistet. Ich halte es für falsch, Vernunft und Emotion voneinander trennen zu wollen. Beide Aspekte sind wichtig. Ohne kühle Überlegungen und eine rationale Analyse wird man in vielen Situationen eine falsche Entscheidung treffen, und ohne Emotionen wird man möglicherweise gar keine Entscheidung treffen oder Fakten völlig falsch bewerten. Das Ideal ist, beide Fähigkeiten auszubilden und zu pflegen: seine rationale Urteilskraft zu stärken, aber auch die Fähigkeit weiterzuentwickeln, angemessene emotionale Reaktionen zu haben. Das heißt letzten Endes, einen Charakter auszubilden, der eine Balance zwischen Ratio und Emotio widerspiegelt.

Das ist auch der Grund, warum ich Ihnen in diesem Buch viele kleine Geschichten und Fälle schildere. Mit moralischen Fragen beschäftigt man sich am besten, indem man sich in konkrete Situationen hineinzudenken versucht. Ethische Fragen sind immer in komplexen Lebenssituationen verankert. Es handelt sich in der Regel nicht um eindimensionale Entscheidungssituationen. Vielmehr spielen viele Faktoren, auch emotionaler Art, mit hinein. Konkrete Geschichten helfen uns dabei, diese Faktoren besser berücksichtigen zu können und die moralischen Probleme und deren Lösungen leichter zu verstehen. In vielen Fällen ist klar, wie die moralisch richtige Entscheidung aussehen sollte. Die Situation erscheint jedoch vermeintlich unlösbar, wenn man keine Idee hat, was man nun konkret tun kann. Deshalb werde ich in diesem Buch auch immer wieder Hilfestellung bei der Frage anbieten, welche Umsetzung geeignet ist, nachdem man die richtige moralische Lösung erkannt hat. Den Stein der Weisen habe ich dabei gewiss nicht gefunden, ich bin auch kein Moralist, der anderen Menschen erklären könnte, welche die beste Entscheidung ist. Ich möchte Sie jedoch dabei unterstützen, für sich selbst mehr Klarheit in moralischen Fragen zu finden. Zudem möchte ich demonstrieren, dass es bereichernd und lehrreich sein kann, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen und in seinem Leben einen moralischen Standpunkt zu entwickeln.[6]

Einen moralischen Standpunkt einzunehmen bedeutet, ethische Überlegungen in seine Entscheidungen und Handlungen einfließen zu lassen und sich im Alltagshandeln von ihnen leiten zu lassen. Es bedeutet, beständig die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen, sich aktiv die Frage zu stellen, ob das, was man tut, ethisch in Ordnung ist. Das führt natürlich zu Spannungen mit unseren ichbezogenen Anliegen. Denn wir stecken nun mal in unserer ganz subjektiven Welterfahrung mit all unseren Wünschen, Sorgen, Ängsten, Hoffnungen und Freuden. Wir sind zwangsläufig parteiisch, was uns und unser Leben betrifft. In erster Linie ist mir wichtig, dass es mir gut geht, dass ich ein erfolgreiches, glückliches Leben führe. Der moralische Standpunkt, der von uns verlangt, einen Schritt zurückzutreten und einen unparteiischen Blick auf die Welt einzunehmen, ist in dieser Hinsicht ein Störenfried und Quertreiber. Er fordert uns auf, vom Blickwinkel des neutralen Beobachters aus mit kühlem Kopf zu entscheiden, was die moralisch beste Handlung ist. Lohnt das überhaupt? Und wenn ja, wozu? Und kann das im Job funktionieren?[7]

Spätestens an dieser Stelle tritt uns der smarte Geschäftsmann entgegen, der uns selbstsicher darüber aufklärt: „Einen moralischen Standpunkt? Den kann man sich leisten, wenn man Profit macht. Ansonsten ist das purer Luxus. Wir stehen im Wettbewerb, es gibt Verdrängungskämpfe. Übrig bleibt, wer sich durchsetzt. Und mit Moral hat sich noch niemand durchgesetzt. Wer anderes behauptet, der verkennt das wahre Geschäftsleben. So ist das nun mal. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Da gibt es keinen Platz für naive Gutmenschen und moralische Weicheier. Um Kosten und Nutzen geht es und um nichts anderes.”[8]

Einwände dieser Art hört man immer wieder, wenn die Frage diskutiert wird, welche Rolle die Moral im Geschäftsleben spielen sollte. Es fühlt sich an wie ein Wirkungstreffer gegen den moralischen Standpunkt. In Wirklichkeit aber unterlaufen unserem Geschäftsmann in seinem Einwand drei Fehler: eine riskante Selbsteinschätzung, eine begriffliche Verwirrung und der Hume’sche Fehlschluss.

Warum handelt es sich hier um eine riskante Selbsteinschätzung? Wer denkt, dass die Moral im Geschäftsleben keinen Platz hat, wird sich unter Umständen zu Handlungen verleiten lassen, die unmoralisch sind, im Glauben, seinem Unternehmen oder seiner Abteilung einen materiellen Vorteil zu verschaffen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die unmoralische Handlung bekannt wird. Die Öffentlichkeit betrachtet unmoralische Handlungen sehr kritisch. Wie schnell verbreitet sich ein Shitstorm und wie schnell ist der gute Ruf dahin! Geschäftspartner können sich zurückziehen, wenn sie das Gefühl haben, dass moralische Normen verletzt werden. Allein aus Klugheitsüberlegungen heraus empfiehlt es sich, nicht unmoralisch zu handeln, sondern sich an ethische Normen zu halten.

Welche begriffliche Verwirrung findet außerdem statt? Bei dem typischen Einwand gegen die Moral wird unterstellt, nur Kosten-Nutzen-Analysen seien Instrumente rationalen Denkens. Aber das ist falsch. Moral und Ethik haben einen sehr rationalen Kern. Moralische Gründe können gute rationale Gründe dafür sein, dass man bestimmte Handlungen durchführt oder unterlässt. Schaden verhindern oder mindern, ein lebenswerteres Miteinander erzielen, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Verlässlichkeit schaffen, Freude gewinnen aus der Freude anderer – all dies können gute und vernünftige Motive für moralisches Handeln sein.[9]

Der dritte Fehler schließlich ist der Hume’sche Fehlschluss. Der schottische Philosoph und Ökonom David Hume hat erkannt, dass sich von bloßen Tatsachenfeststellungen (deskriptiven Beschreibungen) keine Wertaussagen (normativen Aussagen) ableiten lassen. Nur weil etwas der Fall ist, also eine Tatsache darstellt, heißt das nicht, dass es auch so sein sollte. Das bedeutet: Aus der Tatsache, dass im Geschäftsleben moralische Fragen oft bewusst ignoriert werden, folgt nicht, dass dies auch so sein sollte. Unser Geschäftsmann begeht also den Hume’schen Fehlschluss. Und warum sollten Business und Moral nicht zusammenpassen? Wir sind nicht plötzlich in einem moralfreien Raum, nur weil wir ein Konferenzzimmer oder das Firmengelände betreten. Adam Smith, der Urvater jeder Wirtschaftstheorie, war gleichzeitig ein großer Moralphilosoph. Das eine schließt das andere nicht aus.

Eine perfekte Integration des moralischen Standpunkts wird nicht immer gelingen. Es bringt jedoch schon viel, wenn man sich bewusst mit ethischen Fragen auseinandersetzt, da dies Möglichkeiten aufzeigt, wie der moralische Standpunkt ins eigene Leben mit aufgenommen werden kann. Vielleicht werden Sie in der einen oder anderen Lage in Zukunft ein wenig anders entscheiden, vielleicht kommen Sie der Person, die Sie sein möchten, ein Stückchen näher, vielleicht werden Sie manches Mal etwas weniger Unbehagen empfinden, wenn Sie sich für diese oder jene Handlung entschieden haben – ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass es uns bereichert, eine ethische Perspektive einzunehmen.[10]

Zwei Bemerkungen möchte ich zum Schluss dieser Einleitung noch machen:

Wichtig

Erstens: Ich verwende die Begriffe Moral und Ethik beziehungsweise moralisch und ethisch weitgehend gleichbedeutend. Umgangssprachlich wird zwischen ihnen häufig nicht unterschieden und deswegen möchte ich auch in diesem Buch so verfahren.

Zweitens: Es ist eine offene Frage, was alles Gegenstand ethischer Überlegungen sein kann. Ich klammere hier ganz bewusst ethische Fragen zu Themen wie Tierschutz, Umweltschutz, Umgang mit unserer Biosphäre oder mit zukünftigen Generationen aus. Ich konzentriere mich vielmehr auf typische Situationen in unserem beruflichen Alltag. Das schließt nicht aus, dass ich manchmal Beispiele bringe, die über den rein beruflichen Kontext hinausgehen.

2   Moralische Standpunkte

Klaus Petersen ist überrascht, dass er noch so spät zum Geschäftsführer, Herrn Bornheim, gerufen wird. Immerhin ist es schon nach 18 Uhr. Es muss um eine dringende Angelegenheit gehen. Als Petersen ins Büro des Geschäftsführers eintritt, steht dieser am Fenster. Mit nachdenklicher Miene dreht Bornheim sich um.[11]

„Bitte, nehmen Sie doch Platz.”

Petersen setzt sich und blickt gespannt in das Gesicht seines Gegenübers. Bornheim sieht müde und überarbeitet aus. Kein Wunder, die letzten Wochen waren ziemlich ereignisreich gewesen. Erst der verlorene Großauftrag in Dubai und dann das Gerücht, dass ein chinesischer Konkurrent das Unternehmen übernehmen wolle. Aber keiner weiß – zumindest unter der Abteilungsleiterebene –, was an der Geschichte dran ist.

„Ich möchte Ihnen etwas Wichtiges mitteilen”, sagt Bornheim geheimnisvoll. „Aber was ich Ihnen sage, muss unter uns bleiben. Kann ich mich darauf verlassen?”

„Natürlich, Herr Bornheim”, erwidert Petersen.

„Gut, es ist sehr wichtig, dass nichts nach außen dringt.”

„Sie können sicher sein, dass ich alles für mich behalten werde.”

Bornheim holt tief Luft. „Wir werden demnächst von Wang Ltd. übernommen. Die Verhandlungen sind so gut wie abgeschlossen.”

„Also doch ...”, murmelt Petersen.

„Wie bitte?”, fragt Bornheim.

„Na ja, es gab schon seit einiger Zeit Gerüchte.”

„Die gab es wohl ... nun gut. Ich habe Sie heute hergerufen, weil diese Übernahme natürlich mit einigen drastischen Veränderungen verbunden sein wird. Einige Abteilungen werden wir vollkommen aufgeben, so zum Beispiel die IT-Abteilung. Andere werden so weitermachen können wie bisher. So auch die Marketingabteilung, für die ja Sie zuständig sind.”

„Warum erzählen Sie mir das alles, Herr Bornheim?”

„Nun ja, in der Vorbereitung der Übernahme müssen einige Transition-Workshops durchgeführt werden. Dazu benötigen wir Unterstützung und da habe ich unter anderem an Sie gedacht.”[12]

„Ach so, ... was passiert dann mit der Abteilung IT von Ralf Müller?”

„Die Abteilung wird – wie gesagt – dichtgemacht und von den Mitarbeitern werden wir uns trennen. In einem Monat, wenn die Verhandlungen ganz abgeschlossen sein werden, müssen wir dann Trennungsgespräche mit den beteiligten Mitarbeitern führen.”

Bornheim erklärt Petersen, wie die nächsten Schritte der Verhandlung ablaufen werden und in welchen Phasen er die Hilfe von Petersen braucht. Dann verabschiedet er ihn.

Als Petersen draußen vor der Tür des Geschäftsführers steht, kann er zunächst keinen klaren Gedanken fassen. Er hat mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Nachricht. Da fällt ihm ein, dass er schleunigst los muss, denn heute ist ja Donnerstag, und donnerstags spielt er immer in einer Freizeitgruppe Volleyball. Von der Firma sind außer ihm noch Sonja Köhler und Ralf Müller dabei. Bei dem Gedanken, gleich Ralf Müller zu treffen, mit dem er sich in den letzten zwei Jahren sehr angefreundet hat, wird ihm ganz flau im Magen. Bornheim weiß nicht, dass Petersen und Müller gute Freunde sind.

Petersen fragt sich, was er jetzt tun soll. Muss er seinen Freund in die Angelegenheit einweihen? Aber andererseits hat er doch versprochen, nichts über das Gespräch zu erzählen. Er kann nicht einfach seine Zusage brechen. Außerdem wäre es wahrscheinlich unklug, die Geschichte Müller zu erzählen. Es käme dann bestimmt heraus, dass er geplaudert hatte, was mit Sicherheit auch für seine Karriere nicht förderlich wäre. Er hätte ja dann das Vertrauen von Bornheim missbraucht. Andererseits, seinen Freund nicht einzuweihen, ist das nicht auch ein Vertrauensbruch? Setzt Petersen dadurch nicht vielleicht seine Freundschaft mit Müller aufs Spiel? Er braucht sich nur in die Lage von Müller zu versetzen, um zu verstehen, wie er selbst reagieren würde, falls ein Freund ihm etwas Wichtiges verheimlichte.[13]

In dieser Lage wäre es für Petersen hilfreich, wenn es ein klares, einfaches Prinzip oder eine Regel gäbe, der er in diesem moralischen Dilemma folgen könnte – eine einfache Regel, die es einem leicht machen würde, die richtige Entscheidung zu treffen. Gibt es in der Ethik eine solche Regel? Oder gibt es eine präzise, alltagstaugliche Theorie, die uns in der Praxis helfen kann, die moralisch richtige Entscheidung zu treffen? Und wenn ja, wie sieht diese ethische Theorie, dieses moralische Modell genau aus?

Was soll ich tun? Wie soll ich handeln? Woran soll ich mich orientieren? Gibt es Maßstäbe oder Prinzipien, von denen ich mich leiten lassen kann? Gibt es eine allgemeine Antwort auf diese Fragen, eine Antwort, die mir als Richtschnur dienen kann, um in allen Situationen die moralisch richtige Entscheidung zu treffen? Gibt es einen moralischen Kompass?

Auf dieses Fragenbündel hätten viele Menschen gern eine klare und präzise Antwort. Und tatsächlich: Antworten gibt es. Aber sie sind so vielfältig und verschieden, dass man schnell die Orientierung verlieren kann. Ich möchte daher im ersten Schritt ein bisschen Ordnung in diese Vielzahl von Antworten bringen und habe die gängigsten klassischen „Kandidaten” zusammengestellt.[14]

Sie lauten:

Folge deinem Gewissen.

Folge der goldenen Regel.

Tu, was dir am meisten nützt: ethischer Egoismus.

Tu, was den meisten Nutzen für die Allgemeinheit hat: Folgenethik.

Tu, was deine Pflicht ist.

2.1   Interner Aufsichtsrat

Eine naheliegende Antwort auf die Frage, wie man handeln soll, besteht in dem Verweis auf das Gewissen. Wenn du herausfinden möchtest, was das moralisch Richtige ist, dann höre einfach auf deine innere Stimme. Sie wird dir sagen – wenn du nur richtig zuhörst –, was du zu tun hast. Unser Gewissen, eine Art innerer, mentaler Behälter, birgt alle unsere akzeptierten Handlungsnormen und unsere Vorstellungen davon, was richtig oder falsch ist. Unser Gewissen ist daher die erste und uns nächste moralische Instanz, die wir in schwierigen moralischen Situationen befragen können – gewissermaßen der kostengünstigste ethische Berater.

Petersen aus unserem Beispiel könnte also einfach auf sein Gewissen hören, um zur richtigen Entscheidung zu gelangen. Das Gewissen wird ihm die richtige Antwort liefern.

Die Lösung, das eigene Gewissen zu befragen und auf dessen Antwort zu hören, klingt vernünftig. Denn in der Tat drückt uns ein schlechtes Gewissen, wenn wir etwas tun, was moralisch nicht richtig ist. Ein schlechtes Gewissen oder Gewissensbisse sind ein Signal, dass wir etwas getan haben, was wir nicht hätten tun sollen. Wir haben vielleicht zu einer Ausrede gegriffen, um ein Versprechen nicht halten zu müssen; wir hätten vielleicht jemandem helfen sollen, haben uns aber mehr um unsere eigenen Interessen gekümmert. Umgekehrt gilt: Ein gutes Gewissen zu haben bedeutet, das moralisch Richtige getan zu haben und mit seiner Handlungsweise zufrieden und im Reinen zu sein.[15]

Leider sind jedoch die Ratschläge des Gewissens mit Vorsicht zu genießen. Das Hauptproblem liegt darin, dass das Gewissen uns täuschen kann. Unsere innere Stimme kann uns falsche Dinge einflüstern und uns in eine verkehrte Richtung oder sogar in die Irre führen. Die Grundfrage an das Gewissen lautet nämlich: Wie können wir sicher sein, dass das, was uns unser Gewissen rät, wirklich richtig ist? Die bloße Tatsache, dass die moralische Handlungsempfehlung aus unserem Gewissen stammt, bürgt noch nicht für Qualität. Wir brauchen eine zusätzliche unabhängige Qualitätskontrolle. Doch wie könnte diese aussehen?

Sich auf das Gewissen zu verlassen ist, als ob man ungeprüft den Inhalt einer Kiste kaufen würde, auf der „Made in Germany” steht. „Made in Germany” mag zwar ein Qualitätssiegel sein, es garantiert aber nicht in jedem Fall ein einwandfreies Produkt. Mit dem „Handeln by Gewissen” verhält es sich ähnlich. Die Bezugnahme auf das Gewissen kann zwar zum moralisch Richtigen führen, muss aber nicht. Beispiele aus der Geschichte, in denen Personen mit Berufung auf ihr Gewissen Gräueltaten begingen, sind schnell aufgezählt. Erich Kästner wird das Zitat zugeschrieben: „Das Gewissen ist fähig, Unrecht für Recht zu halten, Inquisition für Gott wohlgefällig und Mord für politisch wertvoll. Das Gewissen ist um 180 Grad drehbar.”[16]

Meistens erhält man auf diesen Einwand die Antwort, dass diese Personen nicht dem wahren Gewissen gefolgt sind. Denn das wahre und gute Gewissen wird uns nie etwas Falsches eingeben. Wenn es also gewissermaßen gute und schlechte Gewissen gibt – so wie es gute und schlechte Äpfel gibt –, wie unterscheidet man sie voneinander?

Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, landet man letzten Endes bei der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Gewissensinhalten. Das heißt, die Qualität der Gewissensinhalte ist ausschlaggebend dafür, ob eine Handlung oder Entscheidung moralisch zulässig ist. Die Berufung auf das Gewissen als Quelle für moralisch richtiges Handeln bringt uns keinen Schritt weiter. Das Gewissen, als Summe unserer Wertvorstellungen, ist bereits durch unsere Erziehung und Weltanschauungen geprägt, es enthält nicht einfach moralisch korrekte Lehrsätze, die wir mit genügend innerer Konzentration zutage fördern könnten.

Und tatsächlich ist Petersen aus unserem Beispiel durch sein Gewissen hin- und hergerissen. Denn zum einen rät ihm sein Gewissen, dass er seinem Freund nichts verheimlichen sollte, vor allem keine derart wichtige Sache, die einen massiven Einfluss auf das Leben seines Freundes haben wird. Zum anderen rät es ihm davon ab, ein Versprechen zu brechen. Denn ein gegebenes Versprechen bricht man nicht so einfach, vor allem nicht in einer derart wichtigen Sache, die einen massiven Einfluss auf die Geschicke des Unternehmens haben kann. Wie es Petersen auch dreht und wendet, mit Rekurs auf sein Gewissen ist dem Dilemma nicht zu entkommen. Vielmehr wird der Konflikt innerhalb seines Gewissens ausgetragen.[17]

Ein weiteres Problem bei der Berufung auf das Gewissen besteht darin, dass dieses Verfahren leicht zu einem „Diskussionsstopper” werden kann. Bei allen moralischen Streitfragen könnte der Bezug auf das eigene Gewissen jeder Diskussion ein Ende setzen. Ich beziehe mich darauf, was mir mein Gewissen sagt. Doch auch mein Gesprächspartner verweist auf seine Gewissensentscheidung. Gewissen steht gegen Gewissen. Raum für Diskussionen und den Austausch von Argumenten kann es dann nicht mehr geben. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns gegenseitig mitzuteilen, was uns unsere jeweiligen Gewissen vorschreiben. Das ist eine unbefriedigende Situation.

2.2   Universelle Superregel

Vielleicht ist die Alternative leichter zu finden als gedacht. Wenn es auf die inhaltliche Qualität der Handlungsnormen ankommt, dann steht uns eine mächtige Regel zur Verfügung, die sogenannte goldene Regel. Diese Regel tritt in verschiedenen Varianten auf:

Achtung

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.[18]

Die goldene Regel spielt eine wichtige Rolle in vielen Religionen und Weisheitslehren der Menschheit:

um 500 v. Chr.: „Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an.” - Analekten des Konfuzius XII, 2[8], XV, 23[9], Konfuzianismus

5. Jahrhundert v. Chr.: „Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten.” - Sokrates, griechischer Philosoph

4. Jahrhundert v. Chr.: „Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde.” - Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius Vii, A, 4, Hinduismus

1. Jahrhundert: „Alles nun, was ihr wollt, daß die Menschen euch tun, das tut ihnen ebenso.” - Bibel, Matthäus 7, 12; Lukas 6, 31, Christentum

2. Jahrhundert: „Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar.” - Talmud, Shabbat 31a, Judentum

7. Jahrhundert: „Der vorzügliche Glaube ist, das, was du für dich wünschst, auch den anderen zu wünschen, und das, was du dir nicht wünschst, den anderen auch nicht zu wünschen.” – Hadit-Sammlung des Ahmad ibn Hanbal, Islam

Die goldene Regel baut auf einer wichtigen Einsicht der Ethik auf: Um die Interessen anderer Menschen angemessen zu berücksichtigen, sollte man versuchen, sich in die anderen Personen hineinzuversetzen, um dann aus deren Perspektive zu beurteilen, welche Handlungen man sich selbst wünschen würde. Die goldene Regel ist eine Einladung, die eigene parteiische Perspektive zu verlassen und einen übergeordneten Standpunkt einzunehmen. Insofern verkörpert die goldene Regel ein ganz entscheidendes Prinzip der ethischen Haltung und des moralischen Standpunkts.[19]

Die Existenz der goldenen Regel ermöglicht nun folgenden Ratschlag: Gehorche der goldenen Regel und du wirst in jeder nur möglichen moralischen Entscheidungssituation wissen, was zu tun ist. Diese Regel ist einfach und offenbar leicht zu befolgen. Und sie scheint uns die richtigen Ergebnisse hinsichtlich unserer moralischen Intuitionen zu liefern:

Ich möchte nicht bestohlen werden, also sollte ich auch andere nicht bestehlen.

Ich möchte nicht belogen werden, also sollte ich auch andere nicht belügen.

Ich möchte nicht, dass man mir gegenüber Gewalt anwendet, also sollte auch ich keine Gewalt anwenden.

Ich möchte nicht, dass mein Freund etwas vor mir verheimlicht, also sollte ich auch nichts vor ihm verheimlichen.

In unserem obigen Beispiel folgt somit, dass Petersen seinem Freund von dem Gespräch mit seinem Chef berichten sollte. Doch halt! Auf der anderen Seite möchte ich auch nicht, dass etwas, das ich jemandem im Vertrauen gesagt habe, an andere Personen weitererzählt wird. Das bedeutet aber, nach der goldenen Regel dürfte ich meinem Freund nichts von dem Gespräch erzählen. Wieder drehen wir uns im Kreis. Die Regel hilft mir nicht dabei, eine Entscheidung zu treffen.

Bei einigem Nachdenken über diese ethische Superregel findet man noch ein paar andere Probleme und Haken. Stellen Sie sich vor, Peter hat einen Freund, der in Not geraten ist und der sich daher von ihm Geld leihen möchte. Peter selbst ist ein sehr stolzer Mensch, er würde nie einen seiner Freunde um Geld bitten, wenn er finanzielle Hilfe bräuchte. Er würde also nicht wollen, dass ihm einer seiner Freunde aus der Patsche hilft. Wenn Peter nun unserer Superregel folgt, hieße das nun, dass auch er seinem Freund nicht helfen sollte.[20]

Ein anderes Beispiel: Max ist völlig gleichgültig, wie andere Menschen ihn behandeln. Heißt das nun nach der goldenen Regel, dass es ihm egal sein kann, wie er andere behandelt? Das deckt sich nicht mit unseren moralischen Intuitionen. Oder betrachten wir Sonja: Sie möchte gern in ihrem Job speziell protegiert werden. Bedeutet das für sie, dass auch sie andere Personen unterstützen sollte? Auch hier würden wir wahrscheinlich nicht zustimmen.

Alle diese Gegenbeispiele zeigen, dass unsere goldene Regel offensichtlich nicht ganz zuverlässig ist. Das Hauptproblem liegt darin, dass das moralische Handeln von den subjektiven Präferenzen der Menschen abhängig gemacht wird. Und diese Präferenzen mögen in vielen Fällen vernünftig oder harmlos sein, aber manchmal eben nicht. Die goldene Regel trifft einen wichtigen Kern vieler unserer moralischen Bewertungen, deshalb ist sie nützlich. Aber sie kann eben auch in die Irre führen. Und deshalb kann man sich nicht ganz auf sie verlassen.

2.3   Nutzenmaximierung

Die goldene Regel war für Petersen keine entscheidende Hilfe und auch das Gewissen hat sich nicht als Ausweg erwiesen. Da stellt sich die Frage: Geht unsere Suche möglicherweise in die falsche Richtung?[21]

Wir sollten vielleicht eher von der wahren Natur des Menschen ausgehen – so wie sie Thomas Hobbes gesehen hat. Nach seiner Theorie ist der Mensch von Natur aus Egoist, das heißt, er stellt stets seinen Eigennutz in den Vordergrund. Ethik und Moral sind nichts anderes als dekoratives Beiwerk für die angeblichen „Gutmenschen”, die letztendlich auch nur aus egoistischen Motiven handeln.

Dass Menschen entgegen ihrer wahren egoistischen Natur moralisch handeln, liegt nur daran, dass sie Angst vor Sanktionen haben. Wer keine Strafe befürchten muss, der wird sich auch nicht aufgefordert fühlen, besonders moralisch zu sein. Schon der griechische Philosoph Platon hat das erkannt, als er die Geschichte des Schafhirten Gyges erzählte.

Der Schäfer Gyges

Gyges war ein Schäfer, der dem Herrscher von Lydia diente. Eines Tages gab es einen furchtbaren Sturm und ein Erdbeben spaltete die Erde und bildete einen Krater in der Gegend, wo Gyges normalerweise seine Herde hütete. Als er das große Loch sah, war Gyges sehr erstaunt und stieg hinein. Und zusätzlich zu anderen Wundern, von denen nichts berichtet wird, sah er ein hohles, bronzenes Pferd. Dieses Pferd war mit Fenstern versehen und als er durch diese hineinschaute, sah er eine Leiche, die größer als ein gewöhnlicher Mensch zu sein schien und nichts außer einem goldenen Ring an ihrem Finger trug. Gyges zog den Ring ab und stieg damit aus dem Krater heraus.[22]

Gyges trug den Ring zu dem monatlichen Treffen, das stattfand, um dem König den Stand der Schafherde mitzuteilen. Als er mit den anderen zusammensaß, traf es sich, dass er die Fassung des Rings nach der Innenseite der Hand hin umdrehte. Als er dies tat, wurde er plötzlich unsichtbar für alle, die um ihn saßen, und sie sprachen so miteinander, als wäre er weggegangen. Er war darüber verwundert und fasste den Ring wieder an, um die Fassung wieder nach außen zu drehen, und so wurde er wieder sichtbar. Er experimentierte mit dem Ring, um zu testen, ob er wirklich diese Kraft besaß – und dem war so. Sobald er die Fassung nach innen drehte, wurde er unsichtbar; wenn er sie nach außen drehte, wurde er wieder sichtbar. Als er das erkannte, ließ er sich sofort zum Boten wählen, der den König über den Stand der Herde in Kenntnis zu setzen hatte. Als er am Königshof ankam, verführte er dann aber die Frau des Königs, tötete den König und setzte sich selbst die Königskrone auf das Haupt.

Nehmen wir einmal an, es gäbe zwei von diesen Ringen, einen, der von einer moralisch guten Person, und einen anderen, der von einer moralisch schlechten Person getragen wird. Dann wären beide Personen unsichtbar und niemand könnte die moralisch gute Person von der moralisch schlechten Person unterscheiden. Dann würde keiner so gut sein und auf dem moralischen Pfad bleiben und vom Hab und Gut anderer Leute ablassen. Wenn er stehlen könnte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, erwischt zu werden, würde er doch nicht auf dem moralischen Pfad bleiben. Ebenso wenig, wenn er in Häuser anderer Leute einbrechen könnte, ohne dass es irgendjemand bemerken würde, und alle möglichen anderen Dinge tun könnte, die eine Person zu einem Gott unter Menschen macht. Die Handlungen der ehemals guten Person wären doch nicht anders als die der moralisch schlechten Person; beide würden denselben Weg gehen. Dies ist ein Beweis dafür, dass niemand wirklich moralisch gut sein will; diejenigen unter uns, die moralisch gute Dinge tun, handeln nur so, um von anderen gepriesen zu werden und um sich keine Sorgen machen zu müssen, von anderen auf frischer Tat ertappt zu werden. (Platon, Staat II, 359c–360c)[23]

Diesem pessimistischen Menschenbild möchte man entgegenhalten: Aber schau dich doch nur um, viele Menschen handeln völlig uneigennützig. Sie sind nicht engherzig nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, sondern sie handeln oftmals altruistisch. Hätte sonst Vorstand X seinen Rücktritt erklärt und die Verantwortung für das Fehlverhalten einiger seiner Mitarbeiter übernommen? Würden sonst so viele Geld spenden für vollkommen fremde Menschen, die in Not geraten sind? Würden sonst so viele Mitbürger ihre Freizeit opfern, um den ankommenden Flüchtlingen einen herzlichen Empfang zu bereiten?

Hierauf erwidert der Egoist: Der Rücktritt des Vorstands ist ganz klar mit eigennützigen Motiven zu erklären. Er hat erkannt, dass jeder weitere Verbleib in seinem Amt nur noch mehr Schaden vor allem für sein Ansehen und seinen Ruf bedeutet hätte. Und dass Menschen spenden oder andere unterstützen, liegt darin begründet, dass sie sich dadurch ein gutes Gefühl verschaffen. Dieses spezielle Gefühl ist der eigentliche Grund ihrer Handlungen.[24]

An dieser Stelle jedoch macht der psychologische Egoist einen gedanklichen Fehler. Er verwechselt den Inhalt eines Motivs mit seinen Begleiterscheinungen. Wenn ich möchte, dass den Erdbebenopfern geholfen wird, und wenn ich glaube, dass meine Spende einen Beitrag dazu liefern kann, so ist dies mein altruistisches Motiv und der entscheidende Beweggrund für meine Handlung. Dass ich mich danach gut fühle, ist eine angenehme Begleiterscheinung, aber diese Begleiterscheinung war nicht das Ziel meiner Handlung. Außerdem ignoriert der Egoist einfach die empirische Tatsache, dass es altruistische Handlungen gibt, dass Menschen dabei helfen wollen, nicht nur die eigenen, sondern auch fremde Interessen zu verwirklichen.

Der psychologische Egoismus scheint falsch zu sein. Denn er widerspricht unseren Erfahrungen. Das heißt jedoch nicht, dass die Position des Egoisten ganz aufgegeben werden muss. Der Egoist kann nämlich einräumen: Okay, vielleicht war mein Menschenbild zu pessimistisch und vielleicht gibt es Menschen, die altruistisch handeln. Das heißt aber nicht, dass man so handeln sollte. Der kluge und rationale Mensch wird sich folgende Maxime als Leitlinie setzen: Handle stets so, dass du deinen persönlichen Nutzen maximierst. Das ist die Position des ethischen Egoismus. Wobei der Nutzen, den man zu maximieren versucht, auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann:[25]

Am besten sollte ich das tun, wovon ich mit gutem Grund glaube, dass es mir nutzt.

Am besten sollte ich das tun, was in meinem (langfristigen) Interesse liegt.

Am besten sollte ich das tun, was mir Vergnügen bereitet.

Am besten sollte ich das tun, was ich am meisten möchte und wünsche.

Der ethische Egoismus geht davon aus, dass seine Position am besten zur psychischen Struktur des Menschen passt. In erster Linie, wenn auch vielleicht nicht immer, denken wir an unser eigenes Interesse. Mit dieser Strategie der persönlichen Nutzenmaximierung fährt man daher im Leben am besten. In unserem Beispiel von oben sollte Petersen also überlegen, welche der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen den meisten Nutzen bietet. Möglicherweise kommt er dabei zu dem Schluss, dass er seinem Freund von dem Gespräch mit seinem Chef nichts erzählen sollte, da dies seiner eigenen Karriere im Unternehmen schaden könnte, wenn am Ende herauskäme, dass er den Inhalt des Gesprächs mit seinem Chef ausgeplaudert hat. Ein schlechtes Gewissen muss er dabei nicht haben, da jeder kluge Mensch, gemäß dem ethischen Egoismus, in seiner Position genauso handeln sollte.

Wenn wir alle ethische Egoisten wären, stellt sich natürlich die Frage: Würden wir dann nicht in einem Zustand ständiger Konflikte und destruktiver Auseinandersetzungen leben – ganz nach dem Motto von Thomas Hobbes „Homo homini lupus est” (Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen)? Darauf wird der ethische Egoist antworten: „Dieses Schreckensszenario folgt keineswegs. Wir Egoisten sind ja klug. Natürlich sind wir an einer vernünftigen, friedlichen Kooperation mit anderen Menschen interessiert. Das nützt uns letzten Endes mehr, als wenn wir uns permanent anfeinden würden. Der Spieltheoretiker Robert Axelrod hat in einem interessanten Experiment bereits herausgearbeitet, dass Kooperation – unter der Annahme, dass man längerfristig miteinander zu tun hat – die erfolgreichste Strategie darstellt. Deswegen haben wir auch ein Interesse daran, dass Konflikte, sofern sie auftauchen, so friedlich wie möglich gelöst werden.”[26]

Die Antwort zeigt, dass der ethische Egoist durchaus vernünftig handeln und eher Dinge unternehmen wird, die auf lange Sicht in seinem Interesse liegen.

Das Hauptproblem des ethischen Egoismus wird durch eine ganz andere Frage aufgedeckt, nämlich: Warum sollte ich in meinen Handlungen nicht auch fremde Interessen berücksichtigen? Anders ausgedrückt: Warum sollte ich eigentlich nicht altruistisch handeln? Warum sollte ich in erster Linie meinen eigenen Interessen Vorrang einräumen und nicht fremden Interessen? Wenn meine Interessen befriedigt werden sollten, warum nicht auch die anderer Menschen? Anders gefragt: Gibt es einen Grund, warum man egoistisch handeln sollte?

Der ethische Egoist übersieht, dass wir gute Gründe haben können, fremde Interessen verwirklichen zu helfen. Stellen wir uns beispielsweise vor, ich bin gerade mit dem Auto auf dem Weg in die Berge, um an meinem freien Tag eine kleine Wanderung zu unternehmen. Plötzlich winkt jemand aufgeregt am Straßenrand. Ich bleibe stehen und stelle fest, dass ein Paar eine Panne hat und mit seinem Auto liegen geblieben ist. Die Frau ist hochschwanger und will ins Krankenhaus, weil die Wehen eingesetzt haben. In dieser Situation habe ich durchaus einen guten rationalen Grund (hier: Ein Mensch braucht Hilfe), meine Fahrt zu unterbrechen und die Frau ins Krankenhaus zu fahren.[27]

Der Egoist ist an keiner Ethik, so wie wir sie verstehen, interessiert, einer Ethik, welche die Interessen anderer berücksichtigt. Deshalb wird es auch Situationen geben, die für uns moralisch wichtig sind, in denen sich der ethische Egoist aber moralisch unverantwortlich verhalten würde. Denken wir nur – wie gerade eben – an die moralische Pflicht, jemandem, der in Not geraten ist, zu helfen, wenn wir erstens in der Lage sind zu helfen und zweitens die Hilfe für uns kein unzumutbares Risiko darstellt. Diese Fälle stellen für den ethischen Egoisten ein Problem dar, da durch die Hilfe zumindest kein primärer Nutzen für ihn entsteht.

Genau das, was die oben beschriebene goldene Regel zu erfassen versucht, die Perspektive der Mitmenschen, ignoriert der ethische Egoist. Andere Menschen spielen für ihn nur insofern eine Rolle, als er einen persönlichen Nutzen aus ihnen ziehen kann. Ihn interessieren nur die Folgen, die für ihn selbst entstehen. Richtig an der Position des ethischen Egoisten ist, dass wir natürlich tatsächlich häufig Entscheidungen treffen, die wir an unseren Eigeninteressen ausrichten – und das in ganz legitimer Weise. Falsch an seiner Position ist, dass der persönliche Nutzen der einzige rationale Grund für unsere Handlungen ist.[28]

2.4   Ethisches Rechnungswesen

Für jedes Moralsystem, abgesehen vom ethischen Egoismus, ist es ein zentrales Merkmal, anderen Menschen Gutes zu tun, ihre Interessen und Wünsche einzubeziehen und auf sie Rücksicht zu nehmen. Auf besonders markante Art und Weise tut dies die sogenannte Folgenethik.

Auf die Fragen „Was soll ich tun? Welchen moralischen Normen soll ich folgen?” wird der Folgenethiker antworten: „Handle stets so, dass durch deine Handlungen für dich und deine Mitmenschen immer das Maximum an positiven Folgen entsteht.”

Die moralische Qualität einer Handlung bemisst sich gemäß der Folgenethik nach der Menge des erzeugten Glücks beziehungsweise der Menge der bewirkten positiven Folgen. Um die moralisch richtige Handlung zu wählen, muss man überlegen, bei welcher Handlung die besten Folgen herausspringen. Es gilt also, einen Blick in die Zukunft zu werfen und die Konsequenzen abzuschätzen. Ziel ist es, konkretes Glück zu erreichen und Unglück zu verhindern. Die klassische Theorie der Folgenethik schlechthin ist der sogenannte Utilitarismus. Der Gründer dieser Theorie war Jeremy Bentham. Die Grundidee ist, dass ich bei der Antwort auf die Frage, was ich tun soll, eine Rechenaufgabe zu lösen habe, nämlich die Berechnung der Glücksfolgen[29]

für mich,

für meine Familie,

für meine Freunde und Bekannten,

für alle anderen Menschen.

Dabei sind anders als im Egoismus alle Personen gleichwertig zu behandeln. Niemand wird bevorzugt: „Jeder zählt gleich viel.” Nach dem Verständnis der Folgenethiker ist das Wesen der Ethik ihre Unparteilichkeit. Alle in Frage stehenden Handlungen und Entscheidungen müssen aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters ausgeführt werden. Ausschlaggebendes Kriterium ist dabei allein die Gesamtmenge an Glück (Zufriedenheit, Wohlbefinden), die man erzeugt, gewissermaßen das Netto-Glücks-Produkt (NGP). Wenn man zwischen zwei Handlungen wählen kann, ist stets jene vorzuziehen, die am Ende im Saldo die höchste Glückssumme aufweist. In der folgenden kleinen Rechnung müsste ich mich somit für Handlung B entscheiden, obwohl Handlung A für mich persönlich die positiveren Folgen hätte.

Berechnung der Glückssumme
FolgenHandlung AHandlung Bfür mich+5+3für meinen Kollegen–30gesamt+2+3

Tab. 1: Berechnung der Glückssumme