Rigigeister - Silvia Götschi - E-Book

Rigigeister E-Book

Silvia Götschi

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  • Herausgeber: Cameo
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Auf einer Wanderung auf den Rigi Rotstock stoßen zwei junge Frauen auf eine grausam verbrannte Leiche. Thomas Kramers Ermittlerteam glaubt zunächst an einen Ritualmord, weil ganz in der Nähe eine geheimnisvolle Sekte ihr Unwesen treibt. Alle zwei Wochen treffen sich deren Anhänger auf dem Riedboden oberhalb von Rigi Klösterli und zelebrieren Sonderbares. Menschen fallen von den Bänken, Frauenkörper fliegen durch die Luft – der Sektenguru bleibt jedoch unerkannt. Zur fast selben Zeit verschwindet am Glaubenberg die Tochter eines Archäologen. Seine Frau behauptet, sie sei entführt worden. Ein Zeuge jedoch dementiert dies. Kramer weiß nicht, wem er glauben soll, und leitet unkonventionelle Recherchen ein. Ein Unwetter und ein allzu riskantes Unterfangen bringen Kramer an den Rand einer Katastrophe. Er ermittelt bis nach Interlaken, wo der Fall eine unvorhergesehene Wendung nimmt.

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Seitenzahl: 416

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Silvia Götschi, 1958 in Stans (CH) geboren, zählt heute zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Schweiz. Ihre preisgekrönten Werke erwecken weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse.

Seit ihrer Jugend zählen Schreiben, Fotografieren und Psychologie zu ihren Leidenschaften. Nach der Handelsschule und dem Abschluss der Kaufmännischen Berufsschule arbeitete sie während längerer Zeit in der Hotellerie und Gastronomie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Götschi hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann im Kanton Aargau.

SILVIA

Copyright ©2021 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Bärbel Philipp, Eisenach

Korrektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-906287-99-7

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Für Susanne

Das Leben ist endlich – die Zeit zerrinnt

Die Erinnerung bleibt

Glaube, dem die Tür versagt, steigt als Aberglaub’ ins Fenster. Wenn die Götter ihr verjagt, kommen die Gespenster.

(Emanuel Geibel, 1815–1884)

Prolog

Seit einer Stunde hetzt er sie durch den Wald. Über den ansteigenden, von Gesteinsbrocken bedeckten Waldweg, zwischen Gestrüpp und Baumstämmen hindurch. Sie keucht wie ein verwundetes Wildtier aufwärts. Hustend und spuckend. Den einen Schuh hat sie verloren. Das Kleid ist zerrissen und schmutzig von den Stürzen, vom Sich-wieder-Aufrappeln. Ihre Lungen schmerzen. Sie schmeckt Blut. Sie kann nicht mehr. Mit letzter Anstrengung rettet sie sich hinter einen dicken Baumstamm, versteckt sich. Die Borke gräbt sich in ihren Rücken, während sie den Kopf nach hinten lehnt. Ihre Augen richten sich gen Himmel. Doch da ist nichts als ein undurchdringliches grünes Dach. Der Gesang des Windes, wenn er durch die Blätter fährt. Ihr eigener heftiger Atem.

Noch ist es hell. Doch die Dämmerung macht nicht Halt vor ihrem Elend. Sie lauscht. Jedes Geräusch erschreckt sie von neuem. Jedes Knacken. Das Flattern eines Vogels.

Wenn sie sich jetzt bewegt, ist sie verloren. Trotzdem greift sie nach ihrem Mobiltelefon, das sie in der Jackentasche trägt. Mit zitternden Fingern drückt sie die Tasten. Dass sie keinen Empfang hat, löst in ihr ein krampfhaftes Lachen aus. Sie presst die Hände vor den Mund. Nur keinen Laut von sich geben – er wird sie sonst hören. Der Wald scheint im Moment ihr einziger Verbündeter zu sein. Yusuf hat sie im Stich gelassen. Ihr Freund ist einfach weggelaufen. Vor dem Monster, das hinter ihr her ist.

Sie hört sein Keuchen, als er den Weg heraufkommt. Sie traut sich nicht, hinter dem Stamm hervorzublicken. Die Entfernung zu ihm abzuschätzen. Gehetzt sieht sie sich nach einer weiteren Fluchtmöglichkeit um. Kein Baumstamm in der Nähe ist dick genug, dass sie sich dahinter verstecken könnte. Sie muss hierbleiben, sich seinem Blick entziehen, wenn er diesen Ort erreicht. Fremde Geräusche, die nichts mit dem Wald zu tun haben. Ein knisterndes Schleifen. Sie spürt es. Er ist ganz in ihrer Nähe.

Allmählich kriechen die Schatten über die Baumkronen. Das letzte matte Licht verschwindet in der aufkommenden Dunkelheit. Die Nacht scheint ihre Rettung zu sein. In ihrem dunklen Schlund will sie Schutz suchen. Einzig der Baumstamm trennt sie von dem Unbekannten. Ein letzter verzweifelter Versuch, sich aus seinen sich nähernden Klauen zu befreien. Los. Die Flucht nach vorn. Den Hang hinauf. Weit weg.

Er holt sie ein. Fällt sie von hinten an. Sie stolpert. Er fällt über sie. Er drückt ihren Kopf auf den Boden, ihr Gesicht in die Erde. Sie spuckt und schreit. Feucht und klebrig ist der Waldboden, der sich in ihren Mund drängt. Abgestorbene Tannennadeln, verfilztes Moos – es ist überall.

Wenn sie jetzt nachgibt, ist sie verloren. Sie will nicht sterben.

Er reißt ihr die Bluse vom Leib. Den Stich in den Arm nimmt sie kaum wahr. Plötzlich sind da diese Wärme und ein Kribbeln im Kopf. Und ein schwarzer Schleier, der sich über ihre Augen legt …

Mittwoch, 16.Juli

Irgendetwas fiel vom Himmel – direkt vor ihren Wagen.

«Gott, gütiger, was war das?» Doris Langendorf stieß mit den Füßen instinktiv auf Kupplungs- und Bremspedal. Vollbremsung!

Livia auf dem Beifahrersitz hielt den Atem an, nachdem sie mit dem Kopf ziemlich unsanft zuerst nach vorne geschnellt, dann zurück in die Rückenlehne gepresst worden war. «Mami! Hast du jemanden angefahren?»

Der alte Offroader kam stotternd zum Stehen.

«Da war niemand.» Doris äugte über die Straße, die vor ihnen steil in die Landschaft gebettet war. Auf der linken Seite reichte ein Tannenwald an einen schmalen Streifen getrockneten Grases. Zur Rechten neigte sich karges Gelände ins Tal, übersät von groben Gesteinsbrocken. Doris kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite halb herunter. Ein heißer Wind trug den weit entfernten Klang eines Flugzeugs über die ansonsten stille Gegend.

«Willst du nicht nachsehen?»

«Da war niemand», wiederholte Doris in einem etwas schrofferen Ton. Der Schreck saß in jeder Faser ihres Körpers. Sie sah auf ihre Tochter, welche die Füße auf das Armaturenbrett gestellt hatte.

Livia griff in ihre Tasche, die sie neben sich zwischen Tür und Sitz eingeklemmt hatte. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor. «Der Schatten kam von oben.»

«Unmöglich!» Doris legte ihre Arme auf das Lenkrad und bettete den Kopf darauf.

Livia drückte auf den Tasten des Mobiltelefons herum. «Sonderbar, kein Empfang.» Sie blickte ihre Mutter forschend an. «Seit wann hat man hier keinen Empfang?»

«Keine Ahnung.»

«Soll ich nachsehen?» Wieder Livia, ungeduldig wie immer.

«Was willst du nachsehen?» Doris versuchte, das heftige Flattern in ihrem Inneren in den Griff zu bekommen.

«Ob da jemand unter dem Kühler liegt?»

«Weißt du, wie spät es ist?» Doris schob vergeblich den Ärmel an ihrem linken Arm über das Handgelenk. «O nein, ich habe die Uhr zu Hause liegen gelassen.»

Livia drückte das Gesicht an die Scheibe und schaute hinaus. «Es ist Mitte Juli. Die Sonne steht südwestlich am Zenit. Ich würde sagen, zwischen drei und vier.»

Doris rang sich ein Schmunzeln ab. Ihre Tochter, keck wie immer. Ein Teenager, dem die Welt gehörte. Liebenswürdig und chaotisch und mit einer begnadeten Fantasie.

«Sorry, meine Uhr ist stehengeblieben.» Livia hob die Schultern.

«Wir sind in Sarnen losgefahren, da war es gerade mal halb drei. Wie spät?»

«Mami, ich habe keinen Empfang auf dem Handy. Ich habe eine defekte Uhr, und wir sitzen tatenlos in einem Auto, unter dem irgendetwas liegt. Ich weiß nur eines: So kommen wir nicht nach Hause. Außerdem habe ich Durst.»

Doris sah sie von der Seite her an. Sie hatte eine hübsche Tochter, eben gerade neunzehn geworden. Hochgewachsen und dünn wie eine Bohnenstange. Das hatte sie von ihrem Vater. Jochen war über eins neunzig. Und ebenso gertenschlank. Mit weizengelben Haaren und blaugrauen Augen – eine Schönheit. Sie dagegen hatte zuhinterst in der Reihe angestanden, als der liebe Gott die Gardemaße verteilte. «Unerträglich, diese Hitze!» Doris stellte die Warnblinker ein. Gebannt starrte sie in den Rückspiegel. Aber auch hinter ihnen wand sich die Straße nur in gähnende Leere. Der Tag war zu heiß. Niemand sonst fuhr über den Pass.

«Warum müssen wir auch in so einem Kaff wie dem Dorf Entlebuch wohnen?» Livia hatte einen Kaugummi aus der Jackentasche gefischt und in den Mund gesteckt. Jetzt schmatzte sie ausgiebig. «Warum nur sind wir in diese Gegend umgezogen. Früher, in Stadtnähe …»

«Halt einfach den Mund.» Doris sah weiterhin in den Spiegel. «Immer hast du etwas zu motzen.»

«Wessen Idee war das eigentlich?» Livia gab nicht auf.

«Livi, bitte …»

«Ich weiß, es ist wegen Dads neuer Stelle. Warum nur muss er solch einen Beruf ausüben? Wenn er wenigstens einen Job in der Karibik bekommen hätte … aber hier? In dieser Einöde? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es früher Völker gegeben hat, die irgendetwas eingebuddelt haben, was Dad nun finden soll. Man sollte die Dinge dort lassen, wo sie sind.»

«Die haben bestimmt nichts mit Absicht eingebuddelt.» Doris rang sich ein Lächeln ab. «Aber solche Fundstätten sind hierzulande rar. Dad kann von Glück reden, dass er damit beauftragt wurde. Zudem verdient er mehr als vorher.»

«Dafür werde ich mehr kosten, wenn ich denn mal weg von zu Hause bin.» Livia kam kurz auf das Gymnasium in Sarnen zu sprechen und auf den Studienplatz in Luzern, was einen Streit zur Folge hatte, der jäh damit endete, dass Livia rief: «Mami, wir müssen etwas unternehmen. Ich vergehe hier. Es fühlt sich an wie in einer Konservendose. Ich wette, es sind bereits fünfzig Grad hier drin.»

Weit hinten, kaum zu erkennen, tauchten plötzlich zwei Lichter auf. Bevor Doris den Wagen erkannte, erfassten sie zwei Scheinwerfer. «Gott sei Dank. Da kommt endlich einer.»

«Ja, echt», bemerkte Livia. «Noch so ein Außerirdischer wie wir. Der fährt mit Volllicht, an einem heiterhellen Tag.» Und noch ehe sich’s Doris versah, hatte sie die Tür geöffnet und war mit einem Satz auf dem Asphalt gelandet. Ein Schwall heißer Luft streifte ihr Gesicht. Der Wagen schien sein Tempo nur wenig zu verringern. Livia winkte wild in dessen Richtung. Mutig schritt sie um den Offroader herum.

Ein schwarzer Wagen fuhr auf sie zu.

* * *

Sie saßen draußen im Garten unter der Laube. Das Thermometer zeigte noch immer vierunddreißig Grad an. Auf dem Tisch stand eine Glaskaraffe mit Fruchtsaft. Ein letzter Rest Eiswürfel schwamm obenauf. Die Markisen waren heruntergelassen und verhinderten den Blick Richtung Pilatus. Die Tanne – einstmals ein leidiges Übel – spendete zusätzlich etwas Schatten. Im Radio sang eine kreolische Gruppe «La Ville Jacmel». Isabelle trug außer einem Bikini nichts – es herrschte Ferienstimmung bei Kramers. Und fast hätte man meinen können, irgendwo in der Karibik am Strand zu sein, so heiß war es … hätte das Knattern von Nachbars Rasenmäher diese Idylle nicht gestört.

«Muss der Meier unbedingt heute sein Gras schneiden?» Isabelle stöhnte und fächelte sich mit einem Briefumschlag Luft ins Gesicht.

Sie wirkte so sehr entspannt, dass Kramer fast neidisch wurde. Seit einiger Zeit war sie wie verwandelt. Ob es an dem neuen Auto lag, das sie sich gekauft hatte? Auch optisch hatte sie sich verändert. Ihre Haare – einstmals jungenhaft kurz – reichten nun bis auf die Schultern und zeichneten ihr Gesicht weich. Sie hatte abgenommen und verzichtete seit neuestem aufs Abendessen. Eigentlich hätte er sich darüber freuen sollen. Seine Frau war wieder Frau geworden mit offenen Sinnen und strahlend wie die Morgensonne. Er blickte sie heute mit ganz anderen Augen an.

«Was ist?»

«Ich hatte schon befürchtet, dass du dich gehen lässt, da du bald fünfzig wirst.»

«Untersteh’ dich.» Sie tat so, als würde sie etwas nach ihm werfen.

«Eine Zeit lang hast du wirklich den Eindruck gemacht, so werden zu wollen wie der Großteil der Schweizer Frauen, die jenseits der fünfzig ihre Attraktivität verlieren und eher Brechreiz auslösen. Sie tragen nur noch Hosen und überweite Pullover und Herrenhaarschnitte. Nein, darauf kann ich definitiv verzichten.»

«Was ist denn in dich gefahren?»

«Nichts. Aber ich denke manchmal, dass man seine Attraktivität behalten kann, auch jenseits der vierzig. Möchtest du noch etwas Fruchtsaft?»

Während Isabelle auf dem verblassten Rattan-Stuhl sitzen blieb, streckte sie ihre Beine von sich. Kramer sah auf ihre Fußnägel, die sie schwarz lackiert hatte. Das letzte Mal hatte er sie vor dreißig Jahren in dieser Aufmachung gesehen. Als sie noch jung und auf eine Art verrucht gewesen waren und sich wie späte Hippies aufgeführt hatten. Oft waren sie auf Kundgebungen dabei gewesen, hatten gegen das Spießertum ihrer Eltern demonstriert und Transparente geschwenkt mit Sprüchen wie Nieder mit den Spießbürgern.

Heute allerdings, fand Kramer, war er genauso spießig geworden. «Ich hole mir eine Apfelschorle aus dem Kühlschrank.» Er ging in die Küche.

«Mir könntest du dann einen gespritzten Weißen machen», rief sie ihm nach.

«Zu viel Alkohol tut dir nicht gut», scherzte er, kam wenig später jedoch mit dem Apfelsaft und dem mit Mineralwasser verdünnten Weißwein zurück.

«Heute könnten wir im Garten schlafen», schlug Isabelle vor, während sie nach dem Glas griff. «Die beiden Liegestühle sind breit genug und die Matratzen fast neu. Du brauchst dir also keine Sorgen darüber zu machen, dass es unbequem sein könnte. Und den Insekten habe ich im Umkreis des Gartensitzplatzes den Garaus gemacht, und zwar mit einem neuartigen Vernichtungsmittel. Es wurde von der Werbung als ‹natürlich› angepriesenen.» Isabelle hob das Weinglas. «Zum Wohl! Auf unsere Nacht im Freien.»

«Wir sind doch keine Teenager mehr», empörte sich Kramer in gespieltem Ernst.

«Nein, das nicht. Aber wir gehen auf ein Alter zu, in dem wir das Kind in uns wiederentdecken sollten.»

«Das scheint bei dir offensichtlich bereits der Fall zu sein. Wie war das noch mit diesem Kurs für Frauen um die fünfzig? Gehst du da noch hin?»

Isabelle lachte schelmisch. «Das ist kein Kurs. Dort treffen sich Frauen jeden Alters. Wir üben uns in der Rückkehr zur Natur. Wir wollen dem Fortschritt und der Hektik entgegenwirken. Im Moment mit keltischen Liedern. Die Frauen jener Epoche sind unsere Vorfahrinnen. In unserem Inneren ist zum Glück noch etwas zurückgeblieben, das wir nun beleben wollen. Die Ur-Frau, die Erdverbundene, die Fruchtbare.» Sie sah ihn mit verklärtem Blick an.

«Die Fruchtbare? Aha, interessant.»

«Es gibt auch eine geistige Fruchtbarkeit», belehrte Isabelle ihn.

«Und um das zu erfahren, triffst du dich mit diesen Frauen?»

«Sei nicht albern.» Sie schüttelte den Kopf.

«Du meinst, da würde auch ich noch etwas finden?» Kramer näherte sein Gesicht ihrem. Was war bloß in seine Frau gefahren?

«Mach dich nicht lustig über mich.» Isabelle stieß ihn zurück. «Seit ich mich mit den Frauen treffe, fühle ich wieder Leben in mir. Zudem ist es ein Ausgleich zu meinem Beruf.»

«Offensichtlich.»

Das entfernte Summen eines Mobiltelefons riss Kramer aus seinen Gedanken und führte ihn ins Wohnzimmer. Er war froh, der Fortsetzung des Gesprächs mit Isabelle entfliehen zu können. Wenn sie über ihre neu entdeckte Erdverbundenheit philosophierte, war er ihr ausgeliefert – ohne Gegenargumente. Um ihr Paroli zu bieten, hätte er sich mit diesem Thema zuerst auseinandersetzen müssen. Schleppenden Schrittes ging er ins Haus. Er suchte nach dem Mobiltelefon, fand es auf dem Sideboard und drückte die grüne Taste.

«Bartolini hier, störe ich?»

«Blöde Frage, natürlich störst du. Du störst immer, wenn ich meinen freien Tag habe.»

«Das tut mir leid. Ich wollte dich nur kurz informieren.»

Kramer erreichte den Sessel beim Cheminée. Erschöpft ließ er sich hineinfallen. Die Hitze lähmte seinen Körper. Jede Bewegung trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er hatte erst noch die Luftfeuchtigkeit gemessen. Sie war tropisch.

«Wir haben eine Meldung von unseren Kollegen aus Schüpfheim. Sie wurden um vier Uhr auf den Glaubenberg gerufen.»

«Ein Unfall? Das ist Sache der dortigen Polizei.» Kramer fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er schwitzte so stark, dass es unangenehm war.

«Sie konnten es mir nicht konkret sagen. Allem Anschein nach hat eine Frau mit ihrem Offroader etwas überfahren.»

«Ein Tier?»

«Man hat nichts gefunden. Sonderbar allerdings ist das, was danach geschah. Die Frau behauptet, man habe ihre Tochter entführt, als sie auf Hilfe gewartet hätten. Sie wurde zudem verletzt.»

«Eine Entführung am helllichten Tag?»

«Es ist etwas komplizierter. Die Jüngere habe sich aus dem Staub gemacht. Das zumindest sagt der Mann, der als Erster vor Ort eintraf.»

War Bartolini jetzt von allen guten Geistern verlassen? Kramer vermochte nicht, seine Beschreibung nachzuvollziehen. «Noch einmal von vorne … Was ist jetzt Fakt?»

«Die Mutter ist sich sicher, dass ihre Tochter ins Auto gezerrt wurde. Zudem hat sie die Entführer gesehen.»

«Gibt es Forderungen?»

«Nein, bis jetzt gibt’s keine Forderungen. Das Ganze ist keine vier Stunden her. Die Frau war im Krankenhaus, konnte es aber wieder verlassen. Sie ist auf dem Weg hierher.»

«Und was sagen die Kollegen aus Schüpfheim?»

«Sie meinten, dass wir zuständig seien, rein kriminaltechnisch …»

«Das wäre aber Sache des Fahndungsdienstes. Muss ich davon ausgehen, dass sie sich um die Arbeit drücken? Sie haben also der Frau geglaubt?»

«So wie es aussieht: ja. Zudem besteht der Vater des Mädchens darauf, mit uns zu sprechen. Ich erwarte das Ehepaar in einer Stunde.»

Kramer seufzte. «Das volle Programm also?»

«Das volle Programm«, bestätigte Bartolini.

In Kramers Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er schätzte ab, was Isabelle dazu sagen würde. Sie hatten sich auf einen schönen Abend in ihrer Wohlfühloase gefreut. Andererseits ahnte er, wie sehr Bartolini überfordert war. «Ich werde vor Ort sein.«

«Musst du nicht. Das ist mein Job. Aber ich wollte es dich wissen lassen.»

Kramer sah auf die Terrasse. Die Idee mit dem Liegestuhl behagte ihm nicht. Was würden seine Nachbarn denken, wenn er sein Bett unter dem Sternenhimmel aufschlug? «Ich werde dabei sein.» Dann legte er auf.

«Was gibt’s?» Isabelle mühte sich aus dem Sessel. «Mord und Totschlag?»

«Ich weiß es nicht konkret. Bartolini hat mich angerufen. Es schien, als hätte er wenig Ahnung von dem, was wirklich passiert ist. Es ist besser, ich fahre nach Luzern.»

«Das ist aber nicht dein Ernst.»

«Tut mir leid. Seit dem letzten Fall hat sich alles ein wenig geändert.»

«Dann wird es wohl nichts mit unserer Nacht im Freien.» Isabelle war enttäuscht.

«Ich mache dir einen Gegenvorschlag. Sobald es Winter wird, werde ich mit dir vor dem Cheminée schlafen, auf dem Bärenfell, versprochen.»

* * *

Luzern am Abend. Die Stadt stöhnte unter der Hitze. Kramer fuhr beim Kupferhammer auf die Luzernerstrasse. Die Scheiben seines alten Golfs hatte er heruntergekurbelt. Schwüle Luft wehte ihm entgegen. Er erinnerte sich an den Sommer 2003, als er das letzte Mal einen solchen Hitzejuli erlebt hatte, der auch nachts kaum Abkühlung brachte.

Die Straßen hatten sich geleert. Die Ampeln blinkten gelb. Über dem Turm der Pauluskirche bäumte sich der Himmel bleischwer noch einmal auf, eher er sich mit der blauen Stunde versöhnte.

Kramer fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Mit seinen Gedanken war er bei Isabelle. Jetzt waren sie seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, und noch nie hatte er sie über längere Zeit dermaßen fröhlich erlebt. Im Gegenteil: Nachdem er sie mit einer kurzen Affäre hintergangen hatte, war sie nicht sehr gut auf ihn zu sprechen gewesen. Ihre Rache hatte kommen müssen und war subtil ausgefallen. Das hatte ihm zwar ihre Liebe zu ihm bewiesen, doch auch eine ungewöhnliche Seite an ihr offenbart. Seit dem Frühling war sie wie ein ausgewechselter Handschuh. Und jetzt noch dies: Sie traf sich mit sonderbaren Frauen, die keltische Rituale zelebrierten. Inwieweit sie selbst involviert war, wusste Kramer nicht. Aber dass dieser Verein, oder was immer es war, seine Frau veränderte, stand außer Zweifel. War sie zu wenig ausgelastet? Sie hatte einen Halbtagsjob bei einer Bank. Kramer ging davon aus, dass dies genügte, zumal sie den Haushalt ja noch führen musste. Seit Stefan nicht mehr bei ihnen lebte, gab es eindeutig weniger Wäsche. Und kochen musste sie nur selten. Hatte sie Probleme mit dem Alter? Warum müssen Frauen irgendwelchen Klubs oder Vereinen beitreten, wenn sie älter werden? Künstliche Arbeitsbeschaffung oder Frustrationsabbau? Immerhin war sie nicht auf die Idee gekommen, zu schreiben und sich Schriftstellerin zu nennen.

Kramer fuhr über die Obergrundstrasse, vorbei an herrschaftlichen Häusern und wuchtigen Bäumen, und erreichte den Pilatusplatz. Ein paar Straßenzüge weiter gelangte er zum Gebäude der Kripo. Er parkte, just in dem Moment, als Marion Bühler über die Treppe kam. Ihre sonst wilden Locken klebten ob der Hitze auf ihrer Stirn. Sie winkte ihm zu. Er verließ den Wagen.

Sie war in Eile. «Ich gehe denn mal ins Lido.»

«Was willst du denn im Lido?» Kramer war zerstreut. «Um diese Zeit?»

«Ja, baden, was denn sonst?» Marion schüttelte den Kopf. «Nachtbaden.»

«Nacktbaden?»

«Schuft.» Sie lachte und ging davon, während Kramer ihr noch lange hinterherschaute.

Wann war er das letzte Mal im Lido gewesen? Es war schon eine Ewigkeit her. Damals hatte er sich in Badehose und nacktem Oberkörper noch zeigen können. Seit er die Vierzig überschritten hatte, kämpfte er gegen ein paar Speckrollen, die mal verschwanden, dann wieder auftauchten – sehr zu seinem Leidwesen. Seine guten Vorsätze, sich dreimal pro Woche im Fitnesscenter abzumühen, waren irgendwann im Sand verlaufen. Es mangelte ihm einfach an Zeit. Schließlich musste er Prioritäten setzen.

Das Gebäude der Kantonspolizei lag im Dunkeln. Nur beim Eingang und auf dem dritten Stockwerk brannte Licht. Kramer betrat den Aufzug und fuhr hoch. Langsam glitt die Lifttür auf. Leer war der Flur, die Stille ungewohnt. Kramer ging zu Bartolinis Büro. Nach einem kurzen Klopfen trat er ein.

Die Eltern des Entführungsopfers waren bereits anwesend. Ein ungleiches Paar. Er war fast zwei Köpfe größer als sie. Sie dagegen schien die Differenz in der Breite wettzumachen. Ihre linke Gesichtshälfte bedeckte ein Klebeverband, ihr linker Arm war bandagiert. Der Mann war blond wie ein Finne, sie dagegen braun – schweizerischer Durchschnitt. Das registrierte Kramer, während er sich vorstellte.

«Gut, dass Sie gekommen sind», ereiferte sich der Mann. «Jochen Langendorf. Das hier ist meine Frau Doris.»

«Was ist denn geschehen?» Kramer setzte sich an den Tisch dem Ehepaar gegenüber.

Langendorf sah Bartolini an, als hoffte er auf dessen Unterstützung. «Wir haben es Ihrem Kollegen bereits erklärt.»

«Ich würde es gerne auch noch einmal hören.» Kramer nahm einen Schreibstift zur Hand. «Was genau ist vorgefallen?» Ein fragender Blick zu Bartolini. Von allen Beamten der Kripo war Armando Bartolini derjenige, der Kramer am nächsten stand. Der heißblütige Schweizer mit italienischen Wurzeln hatte sein Temperament mittlerweile etwas gezügelt. Seit seine Freundin Zwillinge erwartete, spekulierte er auf einen besser bezahlten Job.

«Meine Frau fuhr um circa halb vier von Sarnen her über den Glaubenberg Richtung Entlebuch», berichtete Langendorf. «Wir wohnen dort seit ein paar Wochen in einem Bauernhaus. Knapp vor der Passhöhe glaubte sie, etwas überfahren zu haben, und bremste ab.»

«Und? Haben Sie etwas überfahren?», unterbrach Kramer und wandte sich an die Frau. Ihre Haltung signalisierte Unsicherheit. Es konnte aber auch eine unterschwellige Wut auf ihren Mann sein, der sie offensichtlich bevormundete.

«Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht mehr. Es ging ja alles so schnell. Ich erinnere mich nur daran, dass ein dunkler Wagen auf uns zu preschte. Ich konnte mich nur noch auf die Seite werfen, sonst hätte er mich überfahren.»

«Und Ihre Tochter? Wo stand sie?»

«Meine Tochter?» Doris Langendorfs Stimme überschlug sich jetzt. «Man hat sie entführt!»

«Haben Sie gesehen, wer sie entführt hat? Wie viele Personen waren denn zugegen?»

In Jochen Langendorf kam Bewegung. «Sie sehen ja, dass es meiner Frau nicht gut geht. Aber sie hat beobachtet, dass unsere Tochter in den Wagen gezerrt wurde. Sie selbst lag da bereits auf dem Boden.»

Kramer wandte sich an Bartolini. «Können wir uns mal draußen unter vier Augen unterhalten?»

Die Männer gingen vor die Tür. Gähnende Leere im Korridor. Die Lichter waren gelöscht.

«Was hältst du davon?», fragte Kramer, dem das Ehepaar seltsam erschien.

«Schwer zu sagen. Langendorf ist das Sprachrohr seiner Frau. Entweder hat sie keine eigene Meinung, oder sie steht ziemlich unter seinem Scheffel.»

«Sie vermissen ihre Tochter …»

«Diese Tochter ist volljährig.»

«Ist der Zeuge noch im Haus?»

«Ja, er wartet in meinem Büro. Beeler ist bei ihm. Er möchte aber auch bald Feierabend machen.»

«Das interessiert mich nicht. Welchen Eindruck macht er auf dich?»

«Der Zeuge? Einen seriösen. Er ist der Inhaber der Druckerei Aschwanden in Sarnen, Albin Aschwanden. Er war auf dem Weg zu einem Kunden.»

«Dann möchte ich den Namen des Kunden haben.»

Bartolini sah sich um. «Habe ich schon gecheckt. Eine Firma in Schüpfheim. Hanspeter Dummermuth ist sein Name. Aschwanden hatte tatsächlich ein Treffen mit ihm, etwas später als abgemacht. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass er Erste Hilfe leisten muss.»

«Ich überlasse ihn dir. Aber ich möchte, dass du ein Protokoll aufnimmst, wenn du es nicht schon getan hast. Und vor allem will ich die Zeit wissen, wann er die beiden Frauen dort oben angetroffen hat. Irgendetwas scheint hier nämlich nicht zu stimmen.»

«Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch.»

Sie kehrten zurück ins Vernehmungszimmer.

«Glaubst du mir etwa nicht?» Doris Langendorf riss Kramer aus seinen Gedanken, als sie ihrem Mann diese Frage stellte.

Kramer setzte sich dem Ehepaar gegenüber wieder an den Tisch. «Bitte schildern Sie mir detailgetreu, was sich auf dem Glaubenberg zugetragen hat, nachdem Sie Ihren Wagen gestoppt hatten.»

Doris Langendorf sah ihren Mann an, als wartete sie darauf, dass er ihr grünes Licht zum Sprechen gab. «Ich meinte, etwas überfahren zu haben. Darum hielt ich an. Es war kurz vor der Passhöhe.»

«Haben Sie nachgesehen?»

«Nein, zuerst nicht …»

«Sie müssen wissen, dass Doris etwas ängstlich ist, seit sie überfallen wurde», rechtfertigte Langendorf das Verhalten seiner Frau. «Das liegt allerdings ein paar Jahre zurück. Aber sie ist noch immer traumatisiert.»

Kramer nickte verständnisvoll. «Ist Ihre Tochter ausgestiegen?»

«Erst als das Auto auf uns zufuhr, sind wir ausgestiegen. Wir rechneten damit, dass wir Hilfe bekommen.»

«Was geschah dann?»

«Der Wagen fuhr direkt auf mich zu. Ich musste mich zur Seite werfen, sonst wäre ich überfahren worden. Dabei muss ich mich verletzt haben. Dann ging alles sehr schnell. Zwei Männer sprangen aus einem dunklen Wagen. Der eine lief auf meine Tochter zu, der andere hielt mich fest. Dabei lag ich bereits auf dem Boden. Der Typ hatte Mundgeruch. Dann zerrten sie Livia auf den Rücksitz ihres Wagens. Noch bevor ich etwas unternehmen konnte, fuhr das Auto davon. Ich habe erst später gemerkt, dass ich aus einer Wunde am Kopf blutete.»

Kramer stutzte. «Bisher war die Rede von einem Mann.»

«Ja, ja, aber der kam dann später. Das heißt, unmittelbar nachdem der dunkle Wagen weggefahren war.»

«Haben Sie das Nummernschild erkannt? Die Automarke?»

«Nein, keine Nummer. Aber der Wagen, so glaube ich, hätte ein schwarzer Audi sein können … oder ein Škoda.»

«Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?»

«Livias Handy hatte keinen Empfang. Das ist noch nie vorgekommen.»

«Hm …» Kramer wusste nicht, was er damit anfangen sollte. «Was haben Sie dann gemacht?»

«Ich?» Doris Langendorf blickte ins Leere. «Nichts. Der Mann benachrichtigte die Polizei, nachdem ich ihm erzählt hatte, was geschehen war. Er war sehr hilfsbereit.»

«Womit?»

«Wie bitte? Was, womit?» Doris Langendorfs Augen zuckten zwischen Kramer und ihrem Mann hin und her.

«Womit hat er angerufen?»

«Mit seinem Handy.»

«Demzufolge funktionierte die Verbindung einwandfrei», folgerte Kramer.

«So, wie es aussieht …» Doris Langendorf stützte ihren Kopf resigniert auf die Hände.

Kramer griff nach dem Telefon. Es war kurz nach zehn. Er wählte Elsbeths Privatnummer.

«Rotenfluh.» Elsbeth war die gute Seele der Abteilung und Kramers Rückgrat. Sie erledigte so ziemlich alles, was von den anderen gern liegen gelassen wurde, räumte dort auf, wo Not am Mann war, und erwies sich sogar als perfekte Zuhörerin, wenn es außerhalb der Dienstzeit Probleme gab. Kurz: Elsbeth war so etwas wie die Mutter der Abteilung.

«Entschuldige die späte Störung. Hast du den Computer in Betrieb?»

«Hm … hm.» Elsbeth sprach mit vollem Mund. Eine nicht mehr wegzudenkende Gewohnheit von ihr.

Kramer wusste, dass sie gerade einen Apfelkrapfen verspeiste. «Such mal nach einem Bericht über eine Störung im Mobilfunknetz von heute Nachmittag im Gebiet Sarnen, Glaubenberg und Entlebuch. Wenn du nichts findest, ruf bitte den Telefonanbieter an und erkundige dich nach Zwischenfällen.»

«Heute noch?»

«Gern.» Kramer legte auf und widmete sich wieder seinem Gegenüber.

«Was heißt das konkret?» Langendorf reckte den Hals. «Glauben Sie meiner Frau etwa nicht?»

Kramer hielt es für keine gute Idee, über seinen Verdacht zu sprechen. Doris Langendorfs Aussage kam ihm suspekt vor. Sie widersprach sich selbst und schien ziemlich durcheinander zu sein.

Langendorf musste seine Skepsis bemerkt haben, denn er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. «Hören Sie, Herr Kramer. Man hat meine Tochter entführt. Wenn Sie nicht Dampf machen, wende ich mich an Ihren Vorgesetzten.»

«Nur mit der Ruhe. Haben Sie ein Bild von Ihrer Tochter?»

Doris Langendorf öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr das Portemonnaie. Sie legte ein Foto auf den Tisch. «Das ist Livia.»

Kramer blickte auf das Bild einer bildhübschen jungen Frau mit seidig-glatten blonden Haaren und blauen Augen – das weibliche Abbild ihres Vaters. «Kann ich das behalten?»

«Wenn es der Sache dient.» Langendorf räusperte sich.

Kramer legte das Bild in ein Mäppchen. Er nahm sich vor, es an den Fahndungsdienst weiterzuleiten. Nach dem letzten Fall hütete er sich davor, mit einer Vermisstenmeldung zuzuwarten. Hätte er bei seinem letzten Fall früher gehandelt, hätte er vielleicht ein Drama vermeiden können. Er wischte den Gedanken beiseite und machte mit den Fragen weiter. Es war schon spät. «Ich brauche die genauen Angaben über Ihre Tochter. Alter, Größe, ihre Vorlieben …»

«Warum ihre Vorlieben?» Doris Langendorf streckte ihren Rücken.

Langendorf wies seine Frau zurecht. «Doris, hier geht es um etwas anderes. Lass mich das machen.» Er wandte sich an Kramer. «Ihr Name ist Livia, sie ist neunzehn und besuchte bis zu den Sommerferien in Sarnen das Gymnasium. Im Herbst wird sie an der Universität in Luzern mit dem Studium für Geschichte und Germanistik beginnen. Sie ist zudem eine sehr eigenwillige junge Frau.»

Kramer stenografierte, weil er das noch in der Schule gelernt hatte und nie aus der Übung gekommen war. «Also mit einer guten Portion Selbstbewusstsein.»

«Ja, sie ist sehr selbstbewusst», bestätigte Langendorf.

Kramer zog die Brauen hoch. «Größe?»

«Eins fünfundsiebzig, sechzig Kilogramm schwer.»

«Nimmt Ihre Tochter Drogen?»

«Was? Nein! Was soll das?» Langendorf funkelte ihn verärgert an. «Wir haben sie dazu erzogen, ein anständiger Mensch zu sein.»

Kramer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Nimmt Ihre Frau irgendwelche Medikamente?» Dass er Doris Langendorf nicht persönlich angesprochen hatte, merkte er erst, als es schon zu spät war.

«Aha, ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Herr … Sie glauben, meine Frau wäre im Delirium gewesen, sie hätte Gespenster gesehen …»

«Wir leiden zurzeit unter einer gnadenlosen Hitze. So wäre es möglich, dass …» Weiter kam Kramer nicht.

«Jetzt gehen Sie entschieden zu weit. Meine Frau war voll zurechnungsfähig. Und Medikamente nimmt sie nicht. Was soll diese unpassende Bemerkung?»

«Jochen, lass es gut sein.» Doris Langendorf fuhr sich mit dem Handrücken über das verbundene Auge. «Ich nehme tatsächlich Medikamente ein, wegen der Migräne, du weißt schon.»

«Aber das ist nicht relevant», fuhr Langendorf seine Frau aufgebracht an. Dann stritten sie sich, dass die Fetzen flogen. Und sie debattierten über Angelegenheiten, die nicht in dieses Büro gehörten.

Kramer ermaß, dass er so nicht weiterkam. Da das Ehepaar ungleicher Meinung war und Bartolinis Amtszimmer offensichtlich als Austragungsort ihrer unschönen Dialoge missbrauchen wollte, entschied er, das Gespräch hier zu beenden. «Ich muss Sie bitten, morgen Vormittag bei meiner Kollegin Lucille Mathieu vorbeizugehen. Die genaue Zeit wird Ihnen noch mitgeteilt. Für den Moment habe ich alles, was ich brauche. Ich werde zusehen, ob ich noch heute eine Vermisstenmeldung auslösen kann.» Er überreichte dem Ehepaar seine Karte. «Frau Mathieu wird Sie selbst kontaktieren.»

Nachdem Kramer und Bartolini die beiden zum Ausgang gebracht und sich verabschiedet hatten, kehrten sie in dessen Büro zurück. Hinter einer Vitrine sah Kramer einen Mann sitzen. «Ist er das?»

«Albin Aschwanden», bestätigte Bartolini.

Kurz trafen sich Kramers Blicke mit denen Aschwandens. Der Mann wirkte in seinem dunklen Anzug, dem weißen Hemd und der Krawatte wirklich sehr seriös.

Kramer klopfte Bartolini auf die Schultern. «Der hat vielleicht Stil. Anzug mit Krawatte – bei dieser Hitze. Weißt du was? Ich mache mich dann mal auf den Nachhauseweg.»

* * *

«Kann ich meinen Weston ausziehen?»

«Ja, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich habe mich auch schon gewundert. Wir vergehen hier vor Hitze und Sie …»

«Reine Gewohnheit», fuhr Aschwanden Bartolini ins Wort. Er erhob sich, streifte sich das Sakko ab und legte es über die Stuhllehne. Aschwanden war ein schmächtiger Mann. Fad, hätte Bartolini ihn beschrieben, hätte man ihn nach dem äußeren Erscheinungsbild des Zeugen gefragt. Sein Gesicht war blass, seine Haarfarbe irgendetwas zwischen Hellbraun und Blond, nicht wirklich definierbar. Eine Nickelbrille älteren Modells rundete seine Konturlosigkeit ab.

«Gut, dann wollen wir beginnen.» Bartolini setzte sich hinters Pult und startete den Computer. «Sie arbeiten also in Sarnen.»

«Ich wohne auch dort.»

Bartolini öffnete eine Worddatei und beschriftete einen neuen Ordner. «Ich brauche Ihre genaue Wohn- und Geschäftsadresse.»

Aschwanden teilte ihm das Gewünschte mit.

«Können Sie mir noch einmal genau beschreiben, was für eine Situation Sie unterhalb der Passhöhe am Glaubenberg angetroffen haben?»

Der Gefragte legte seine Arme auf den Tisch. Seine Hände schienen manikürt. Ein leichter Glanz lag auf den Nägeln, was zum Rest seines Erscheinungsbildes nicht ganz passen wollte. «Es war zwischen halb vier und vier Uhr, als ich auf die Passhöhe zufuhr. Mitten auf der Straße stand ein Wagen. Ich bremste sofort ab und sah gerade noch, wie eine junge Frau sich Richtung Hang entfernte. Irgendwann verschwand sie im Dickicht. Büsche und Bäume wachsen dort sehr dicht.»

«Wie haben Sie reagiert?»

«Ich stieg aus. Ich sah eine Frau am Boden liegen. Sie hatte eine Kopfwunde, und ihr eines Auge war geschwollen.»

«Hatten Sie den Eindruck, dass sie einen Unfall hatte?»

«Zuerst dachte ich das. Aber ihr Wagen war unversehrt. Es sah eher danach aus, als hätte die Frau einen Kampf hinter sich. Vielleicht hat die Jüngere sie geschlagen …»

«Welchen Eindruck vermittelte Ihnen die verletzte Frau? War sie ansprechbar?»

«Ja, das war sie. Aber sie schien mir etwas durch den Wind.»

«Was haben Sie als Nächstes getan?»

«Ich rief die Polizei in Schüpfheim an.»

«Mit Ihrem Natel?»

«Selbstverständlich.»

«Haben Sie per Zufall eine Störung registriert?»

«Nein, überhaupt nicht.» Aschwanden runzelte die Stirn. «Warum fragen Sie?»

Bartolini erwiderte nichts darauf. «Sind Sie dann weggefahren?»

«Nein, ich hielt es für angebracht, bei der Frau zu bleiben, bis die Polizei eintraf.»

Bartolini tippte die Antwort ein, während er die nächste Frage stellte. «Haben Sie auch einen Krankenwagen bestellt?»

«Nein, das wiederum schien mir dann doch etwas übertrieben.»

«Warum?»

«Weil die Frau ja nicht schwer verletzt war. Zudem wollte sie das nicht. Es war ihr schon unangenehm, als ich ihr sagte, dass ich die Polizei rufen würde.»

«Ich werde das Protokoll jetzt ausdrucken.» Bartolini schloss ab, nachdem er den Text noch einmal gelesen und auf Fehler geprüft hatte. Er speicherte die Datei im Ordner ab und gab den Druckbefehl. Er entnahm dem Drucker zwei Papierbögen, legte sie auf den Tisch und bat Aschwanden, das Protokoll genau durchzulesen. «Wenn Sie damit einverstanden sind und nichts mehr zu ergänzen haben, unterschreiben Sie bitte.»

Aschwanden verließ die Kantonspolizei um halb elf. Bis Mitternacht arbeitete Bartolini an seinem Tagesbericht. Er verglich die beiden Aussagen miteinander.

Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können.

Donnerstag, 17.Juli

Diese Stille. Diese absolute Stille. Nicht das leiseste Geräusch. Selbst der Wind hatte ausgesetzt. Es war, als hielte die Welt den Atem an. Noch schimmerte der Himmel in zarten Orangetönen. Die sanften Hügel der Rigi zeichneten sich wie Scherenschnitte vor ihm ab. Dahinter die Berner Alpen.

Dann stieg die Sonne unter dem schweigenden Applaus der beiden Schwestern auf. Immer schneller schien sie sich aus dem Morgenglast zu heben. Ihr gleißendes Licht schmerzte in den Augen.

«Nicht hinsehen. Nein, du sollst nicht hinsehen», mahnte Melinda, das ältere der beiden Mädchen. Um ihr pausbäckiges Gesicht kringelten sich weizengelbe Locken. Kirschschwarze Augen glommen vor Entzücken. «Wenn du den dunklen Punkt in der Mitte fixierst, kannst du erblinden. Dann wirst du die Schönheit unserer Natur nie mehr betrachten können.»

«Es ist ein Gedicht. Poesie am frühen Morgen.» Lisa, blond und zierlich, umarmte ihre Schwester. «Goethe hat schon hier gestanden – und Mendelssohn, der große Komponist. Und schau, wie golden die Hügel dort unten wirken, und der Vierwaldstättersee sieht aus wie flüssiges Blei.» Sie drehte sich überschwänglich einmal um sich selbst. Melinda packte sie an den Händen und wirbelte sie im Kreis herum. Dann fielen sie sich wieder in die Arme. «Wir haben Ferien. Ist das nicht schön?»

Lisa löste sich aus der Umarmung. Wenn es um Theatralik ging, standen sich die beiden Schwestern in nichts nach. Doch irgendwie waren sie im falschen Zeitalter geboren. Erfreuten sich ihre Freunde an der modernen Unterhaltungselektronik oder hingen in den Discos ab, zog es die Mädchen in die Natur hinaus – in die Wälder, an Seen, Bäche und in die Berge. Aber das hatten sie von ihren Eltern. Diese lebten in dritter Generation im Muotatal und bewirtschafteten Weidland und Ackerbau.

«Weißt du, was ich hier vermisse?», fragte Lisa auf einmal.

«Warum denn so betrübt?» Melinda sah ihre Schwester an. Im Licht der aufgehenden Sonne schimmerte Lisas Gesicht wie das einer Göttin. Aber sie wirkte irgendwie auch zerbrechlich. Ihre kleine Schwester, die die dritte Sekundarschule abgeschlossen hatte und nach den Ferien eine Lehre als Polygrafin antreten würde. «Was ist?»

«Es fiel mir schon gestern auf, als wir im Rigi Kulm eingecheckt haben.»

«Was denn, was?» Melinda wurde immer ungeduldiger. Sie mochte es nicht, wenn ihre Schwester sie hinhielt, manchmal Andeutungen von irgendetwas machte und es dann nicht zu Ende erzählte.

«Früher, als wir mit Mum und Dad hier waren, da wimmelte es von ihnen auf der Terrassenbrüstung.» Lisa ließ ihre Schwester zappeln. «Kommst du nicht drauf, was ich meine?»

«Nun hab dich nicht so. Was fehlt denn hier? In dieser Idylle?»

«Die Vögel.»

«Die Vögel von Hitchcock?» Melinda kicherte.

«Ich meine wirklich die Vögel. Amsel, Drossel, Fink und Star … die Dohlen zum Beispiel. Gestern waren sie nicht da. Und siehst du heute welche?»

«Und die ganze Vogelschar …» Melinda ließ ihre Blicke schweifen. «Nein, keine. Stimmt. Vielleicht sind sie in den Norden geflogen. Vielleicht schwitzen Vögel ja auch.» Sie kicherte wieder.

«Das ist doch sonderbar.» Lisa griff nach ihrem Rucksack, den sie in der Morgendämmerung ins Gras gelegt hatte, und schulterte ihn. «Aber komm, wir wandern jetzt nach Rigi Kaltbad und frühstücken dort.»

Gemeinsam nahmen sie den Weg Richtung Rigi Staffel unter die Füße. Der asphaltierte Weg hatte oben ein ziemliches Gefälle. Auf der Westseite fiel ein steiler Hang ab Richtung Seebodenalp. Er war nur gerade mit einem Lattenzaun abgegrenzt. «Von hier aus kann man sicher mit dem Gleitschirm runter …»

«Sie starten weiter unten auf dem Weg zum Känzeli», stellte Melinda richtig.

Lisas Augen weiteten sich. «Das würde mich auch mal reizen. Fliegen wie ein Vogel. Ohne Motorenlärm … nur der Himmel und ich …»

«Du würdest dir vor Angst in die Hose machen.» Melinda hängte sich bei Lisa ein.

Lachend marschierten die beiden Mädchen den Berg hinunter. Die Hänge leuchteten. Wie ineinandergeschlungene Körper lagen sie im Morgenlicht. Weit unten die Farben des Tals und am Horizont die Kette der Zentralschweizer Alpen. Übermütig sprangen die Mädchen über die Schottersteine entlang des Bahntrassees oder balancierten auf den Schienen.

Dunststreifen umhüllten die vom Nachttau geküssten Bäume. Ein würziger Geruch lag in der Luft. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

«Die Rigi gehört uns ganz allein», freute sich Melinda.

«Freu dich nicht zu früh», sagte Lisa. «In eineinhalb Stunden wird es hier von Touris nur so wimmeln. Um sieben kommt die Bahn von Vitznau auf der Staffelhöhe an. Die Leute wandern dann hoch bis auf Kulm. Wenn du sie umgehen möchtest, müssen wir uns beeilen.»

Auch Rigi Staffel schien noch zu schlafen. Verträumt lag das alte Hotel Felchlin im morgendlichen Frieden, Zeugnis der Blüte einer längst vergessenen Zeit. Ein Haus mit Schindeln, in der Sonne leuchtend. Ein Stück Nostalgie in dieser Bergwelt, in der das Moderne seinen Platz schon längst eingenommen hatte.

Hinter dem Hotel Rigis Berggenuss erreichten sie eine Stange mit Wegweisern.

«Und, was meinst du?», fragte Melinda. «Wollen wir auf den Rotstock?» Sie las die Ausschilderung: «Es sind nur gerade zehn Minuten von hier aus.»

«Und wie kommen wir zum Kaltbad?»

«Auf der anderen Seite vielleicht. Wir werden ja sehen. Gehen wir?»

«Ja, klar. Wer ist zuerst oben?» Lisa lief los. Mit ihren siebzehn Jahren platzte sie fast vor Energie. Die zwei Jahre ältere Melinda dagegen war die Gemütlichere und auch gewichtsmäßig im Nachteil.

Lisa hatte den Weg bereits verlassen und kletterte den Hang hinauf. «Komm, von da oben kannst du sicher bis nach Paris sehen.»

Melinda sah ihr nach. «Das ist gemein. Warte auf mich, bitte.»

«Das kommt vom Schokoladeessen. Du keuchst wie eine Dampflok.» Lisa ging rückwärts, während sie ihre Schwester antrieb.

Der Morgen gehörte ihnen. Die Sonne wärmte ihre Rücken. Ferien. So fühlten sich Ferien an. Es war Melindas Vorschlag gewesen, die ersten beiden Wochen in den Schweizer Bergen zu wandern. Die Zeit spielte dabei keine Rolle. Nachdem sie den Pilatus bereits ausgekundschaftet hatten, stand in den nächsten Tagen die Rigi auf dem Programm. Sie waren am Tag zuvor auf Kulm eingetroffen, von wo aus sie ihre Tour gestartet hatten. In zwei Tagen wollten sie auf den Wildspitz. Später vielleicht noch auf den Säntis.

Als Melinda das Felsplateau oberhalb der Staffelhöhe auf dem Rotstock erreichte, saß Lisa bereits auf einem schmalen Flecken Gras.

«Warst du schon einmal hier?» Lisa zog ihre Wanderschuhe aus. «Wir könnten ein wenig rasten. Was meinst du?»

Die Aussicht war überwältigend. Unter ihnen lagen die Felsen und der grüne Tann in den sanft geschwungenen Hügeln wie ineinander verschmolzene Liebende. Weiter unten ein Teil des Vierwaldstättersees, ländliche Gemeinden wie Farbkleckse über die Wiesen verteilt und die Agglomerationen der Stadt Luzern mit ihren Fabriken und Wohntürmen.

«Ich dachte, du wolltest frühstücken.»

Lisa gluckste. «Es ist erst halb sechs. Und wir haben alle Zeit der …»

Melindas plötzlicher Schrei ging ihr durch Mark und Bein.

Lisa sprang auf. «Was hast du denn? War das jetzt der Morgenruf?»

«Da!» Melinda war stehen geblieben und streckte ihren rechten Arm aus. «Dort drüben auf dem Felsen. Siehst du das?»

«Was soll dort sein?» Sie drehte sich um und folgte dem Blick ihrer Schwester. «Was?» Doch dann erstarrte auch Lisa.

* * *

Der Anruf erreichte Kramer um zwanzig nach sechs. Im Halbschlaf griff er nach seinem Mobiltelefon. Isabelle schlief neben ihm wie in Narkose.

«Kramer.» Er räusperte den Kloß im Hals weg.

Bartolini meldete sich. «Grazie a Dio! Bin ich froh, erreiche ich dich.»

Kramer setzte sich auf die Bettkante. Der Schweiß rann ihm über die Brust. Er warf Isabelle einen Blick zu. Sie lag hüllenlos da. Das Laken hatte sie bis ans Fußende gestrampelt. Die Luft im Zimmer war heiß und drückend. «Hast du Sehnsucht nach mir?» Kramer ging davon aus, dass Bartolini noch lange im Büro gewesen war und ihm das jetzt mitteilen wollte.

«Wir haben eine unschöne Leiche auf der Rigi.»

Kramer fuhr es in alle Knochen. «Wo genau?»

«Auf dem Rotstock. Das heißt, etwas unterhalb. Zwischen den beiden Gebetsstationen.»

«Ist das nicht auf Schwyzer Boden?»

«Ich glaube nicht. Vielleicht ist es ein Grenzfall. Aber Louis Camenzind vom Stützpunkt Schwyz behauptet, das Gebiet gehöre zum Kanton Luzern.»

«Wann hast du ihn denn gesprochen?»

«Er hat uns benachrichtigt, weil die Notrufzentrale zuerst an ihn gelangte.»

«Die wollen sich nur wieder vor der Arbeit drücken, die Schwyzer.» Kramer schlurfte ins Badezimmer. Nein, nach Arbeiten war ihm nicht zumute. Sein Schädel brummte, nachdem er sich in der Nacht einen letzten Schlummertrunk mit Isabelle genehmigt hatte. Dann hatte sie ihm eine Massage verpasst wie in den besten Zeiten ihrer Ehe. Es war spät geworden. Oder früh. «Wo bist du jetzt?»

«Bereits auf dem Weg nach oben. Du musst von Vitznau aus fahren. Die Luftseilbahn bleibt heute aufgrund eines Defekts geschlossen. Ich habe die Techniker bereits aufgeboten.»

«Und Dr.Lohmeyer?»

«Auch den.» Dann legte Bartolini auf.

Kramer stellte sich unter die Dusche und ließ einen Schauer kalten Wassers über seinen erhitzten Körper fahren.

Auf der Rigi! Wann war er zum letzten Mal dort gewesen? Vom Wohnzimmerfenster aus konnte er sie knapp sehen. Über der Rigi ging im Sommer die Sonne auf. Früher war er öfters mal zum Skilaufen oben gewesen, später zum Wandern – immer auf der Luzerner Seite. Seit er bei der Kripo die Stelle als Ermittlungschef innehatte, war er froh, wenn er überhaupt mal in die freie Natur kam. Isabelle meinte zwar, dass er mit dieser Einstellung heillos übertreibe. «Du gehst ja auch ab und zu ins Fitnessstudio», hatte sie gesagt. «Sport im Freien wäre aber gesünder.» Von seinem Versäumnis hatte sie noch nichts erfahren. Es wäre Anlass genug gewesen, ihn deswegen zu provozieren.

In der Küche machte er sich einen Espresso, trank ihn stehend, während er mit akrobatischem Geschick in die Hose schlüpfte. Das Hemd knöpfte er sich auf dem Weg in die Garage zu. Ein kurzer Blick auf die von Feuchtigkeit grau gefärbte Wand erinnerte ihn daran, dass er in den letzten Jahren einiges versäumt hatte, was die Instandhaltung seines Hauses betraf. Vielleicht würde er das auf die Zeit nach seiner Pensionierung verschieben müssen. Aber das dauerte noch siebzehn Jahre.

Er setzte sich in seinen alten Golf und machte sich auf den Weg nach Luzern.

Die kürzeste Verbindung führte über Küssnacht den See entlang nach Greppen. Noch war der Morgen jung, und die Farben der Landschaft leuchteten frisch. Über dem See lag ein zarter Dunst. Ein frühes Schiff hinterließ lautlos seine Spur. Weggis umfuhr er, indem er die Straße durch die beiden Tunnel nahm. Radio Pilatus dröhnte ihn mit Musik zu. Like a Virgin von Madonna, wieder einmal. Ein Stück aus ihrer gemeinsamen Zeit auf der Tanzbühne. Isabelle und er – war schon lange her. Manchmal sehnte er sich zurück in diese unbeschwerte Zeit. Da war es selbstverständlich gewesen, wenn sie mehrmals am Tag übereinander herfielen und sich liebten. Manchmal beneidete er den jungen Mann, der er einmal gewesen war. Er war älter geworden, vielleicht auch komplizierter. In vielfacher Hinsicht war sein Kopf ihm im Weg. Die Unbeschwertheit der Jugend war einem analytischen Blick gewichen, der ihn dazu zwang, jede Gegebenheit akribisch auszuleuchten – auch die Beziehung zu Isabelle.

Spontaneität war ein Fremdwort geworden und Planung das Maß aller Dinge. Vielleicht musste er sich Isabelles Vorschlag mit der Nacht im Freien noch einmal überlegen. Was sollte ihn daran hindern, ein wenig von der Jugendzeit zurückzuerobern?

Aber er war auch müde geworden. Manchmal hatte er das Gefühl, überfordert zu sein, geistig nicht mehr fit genug. Dann dachte er daran, einfach einmal auszusteigen. Ein Jahr, zwei Jahre. Der Arbeit den Rücken zuzuwenden. Den Kopf zu befreien von all den Dingen, die ihn schwer machten.

Der See zur Rechten glitzerte, als hätte jemand Diamanten auf ihm ausgeschüttet. Kramer passierte das Hotel Lützelau. Von Gehölz und Kraut überwucherte Felsbrocken, die irgendeinmal zu Urzeiten von der Rigi zu Tale gekracht waren, zeichneten etwas Wildes in die Landschaft. Nach der Kurve dann der imposante Anblick des Parkhotels Vitznau. Es erstrahlte in gewohnter Eleganz. Ein Märchenhotel mit Türmchen und Bögen und dem Flair eines vergangenen Zeitalters, wo alles ein wenig langsamer und sinnlicher gewesen war. Kramer hatte das Hotel noch nie von innen gesehen. Dort kehrte nur die noble Gesellschaft ein; er betrachtete die teuren Wagen auf dem Vorplatz, die frisch gewaschenen und mit Glanz lackierten Statussymbole der High Society.

Wie anders präsentierte sich ihm Vitznau.

Verschlafen und jungfräulich lag es an den Gestaden des Vierwaldstättersees. Mit zum Teil noch alten Häusern, aus denen der Geruch der Vergangenheit strömte. Mit nostalgischen Läden entlang der Hauptstraße, mit hübschen Cafés und Terrassen, mit Kisten rot blühender Geranien üppig verziert. Einer Kirche, deren Glockenklang an früher erinnerte, an Sonntage voller Lebensfreude, als sich die Leute auf dem Dorfplatz trafen und später im Restaurant am See. Vitznau am Fuß der Rigi, wo die Zeit stillzustehen schien.

Kramer erreichte den Parkplatz bei der Talstation der Rigi-Bahn. Die Station – auch sie Zeugin eines vergangenen Zeitalters – erstreckte sich vom Platz vor der Schiffsanlegestelle bis zum Tunnel, über den die Hauptstraße führte.

Viertel nach sieben. Gerade noch rechtzeitig stieg Kramer in den hintersten Wagon der Vitznau-Rigi-Bahn. Er fand einen letzten leeren Platz in der Führerkabine. Der Zugbegleiter, ein junger Mann mit Vollbart, grüßte ihn freundlich. «Glück gehabt! Eine Minute später, und Sie hätten eine Stunde auf den nächsten Zug warten müssen. Ihr Ticket, bitte.»

Kramer zückte seine Dienstmarke.

Der Zugbegleiter nickte. «Aha, der Kommissar! Ihre Kollegen sind schon oben», sagte er. «Ist tatsächlich jemand ermordet worden? Auf der Rigi? Das wäre ja eine Katastrophe. Wir leben von den Touristen. Die werden bestimmt nicht mehr so zahlreich erscheinen wie bis anhin, wenn die erfahren, was heute geschehen ist. Schauen Sie, dass Sie den Mörder schnell finden. Und jetzt Ihr Ticket, bitte.»

«Ich gehe nicht freiwillig dorthin.» Kramer verzog seinen Mund zu einem Lächeln. Er hätte gern erfahren, woher der junge Mann das wusste. «Und den Wagen lasse ich im Parkverbot stehen. Dienstlich.»

«Ja, wenn das so ist. Gegen die Staatsgewalt kann man sich nicht wehren.» Der Mann kratzte sich lachend am Bart. Offenbar war ihm die Tragweite der Ereignisse nicht bewusst.

Die Bahn setzte sich in Bewegung, während sich Kramer in den Sitz fallen ließ. Die Hitze machte ihm bereits wieder zu schaffen. Hinter und neben ihm drängten sich die Touristen. Das Bahnabteil war erfüllt von fremden Sprachen und Gerüchen und Erwartungen. Fotoapparate klickten, als der Zug keine zehn Meter gefahren war: Die Asiaten fanden bereits im Tunnelausgang vor der ersten Steigung ein Motiv. Danach wurde nur noch fotografiert.

Die rote Zugskomposition fuhr in beachtlichem Tempo den Steilhang hoch. Vorbei an Felsen und Wiesen und dem Wald. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie an vielen Höhenmetern gewonnen. Zur linken Seite schimmerte der Vierwaldstättersee in leuchtendem Blau. In der Ferne die beiden Nasen und dazwischen Beckenried am anderen Ufer. Weiter oben die Klewenalp und der Brisen im Hintergrund. Bei der ersten Häusergruppe hielt die Bahn kurz an. Der Bahnführer legte Briefe und Zeitungen in den Briefkasten am Wegrand. Von Wind und Wetter zerzauste Bäume und Sträucher säumten die Gleise. Weiter unten ein Haus aus dem vorletzten Jahrhundert. Es wirkte nicht sehr einladend, war aber bewohnt. An einer Leine hingen Babykleider. Die Alternativszene hat sich wohl bis hierher ausgedehnt, ging es Kramer durch den Kopf.

Auf der Strecke bis Kaltbad kreuzten sie eine leere Bahn, die in Vitznau die nächste Ladung Touristen abholen würde. Die Rigi war Anziehungspunkt für Jung und Alt, für Dichter und Künstler.

Für Krethi und Plethi.

Der Mensch als ewig Stürmender der Gipfel.

Rigi Kaltbad erwachte. Von früher war nichts mehr geblieben. Nachdem das ehrwürdige Grandhotel im Jahr 1961 ein Raub der Flammen geworden war, versuchte man vergebens, von der einstigen Idylle etwas zurückzugewinnen. Die Noblesse von damals war verschwunden. Nüchterne Bauten und eine Ruine prägten die Gegend.

Die ersten Wanderer waren mit Stöcken unterwegs – ein Trend, der die guten alten Wanderstöcke vertrieben hatte. Wer etwas auf sich hielt, kaufte sich die abgeänderten Skistöcke mit Handschlaufen. Der Mensch musste sich ja an etwas festhalten – auch im übertragenen Sinn. Kramer schaute ihnen nach, während er sitzen blieb. Links und rechts leuchteten satte Wiesen, auf denen Rinder grasten. Ein Berner Sennenhund folgte kläffend einem Radfahrer, der sich den Weg hochkämpfte. Auf Staffelhöhe stiegen Wanderer zu, die im Hotel Edelweiss übernachtet hatten. Der Zug fuhr an der schattigen Felsenseite weiter. Nördlich davon eröffnete sich ein atemberaubender Blick hinunter nach Küssnacht.