Ritux - Joachim Strienz - E-Book

Ritux E-Book

Joachim Strienz

3,8

Beschreibung

Gianni Moretti ist an ME/CFS erkrankt. Dies ist eine grausame Krankheit und sie verändert das Leben radikal. Aber niemand nimmt seine Krankheit wirklich ernst. Er wird alleine gelassen, und er findet zunächst keinerlei Hilfe. Leider ist in vielen Ländern der Erde, auch in Deutschland, diese Erkrankung unbekannt, und die Ärzte sind ratlos Glücklicherweise wurde zufällig ein Medikament zur Behandlung von ME/CFS gefunden. Die Herstellerfirma unternimmt aber nun alles, um eine Behandlung von Gianni Moretti zu verhindern. Sie will ihr gutes Image nicht aufs Spiel setzen, denn ME/CFS gilt in Deutschland immer noch als „umstrittene Krankheit“. Tapara Moretti, seine Frau, und Andreas Steinfeld erleben deshalb ständig gefährliche Situationen. Immer wieder kommen sie in Gefahr. Gelingt es ihnen Gianni Moretti doch noch zu helfen? Ein spannender Thriller mit einem überraschenden Ende.

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Seitenzahl: 307

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für

Mirjam

und

David

Verzeichnis der Personen

Gianni Moretti

Philosoph, an ME/CFS erkrankt

Tapara Moretti

Giannis Frau

Andreas Steinfeld

Freund von Gianni, Arzt

Jutta

Frau von Andreas Steinfeld

Siggi

Freund von Andreas Steinfeld

Peter Hill

Wissenschaftler, ME/CFS-Forscher

Susan Hill

Frau von Peter Hill, Künstlerin

Emil Bühler

Chief Executive Officer (CEO) Youngstar Pharmacy

Alessandro Rodini

Chief Operating Officer (COO) Youngstar Pharmacy

Jean Petit

Chief Security Officer (CSO) Youngstar Pharmacy

John Hooker

Chief Human Resources Officer (CHRO) Youngstar Pharmacy

Beat Brand

Landarzt

Start

Quantenphysik

„Sprechen wir über Quantenphysik? Lieber nicht, denn das ist doch ziemlich verwirrend. Das ist alles viel zu kompliziert. Unser Alltag hat ja gar nichts mit Quantenphysik zu tun. Wir sehen die Auswirkungen der Quantenphysik ja überhaupt nicht. Wenn man sich mit Quantenphysik beschäftigt, dann ist es eines der irritierendsten Dinge, dass die Welt so hartnäckig klassisch ist. Die Quantenphysik liefert alle möglichen aufregenden Vorgänge, nämlich, dass sich Teilchen wie Wellen verhalten, Objekte sich an zwei Orten gleichzeitig befinden oder dass es Überlagerungszustände gibt, die sich eigentlich ausschließen. Aber trotzdem beobachten wir nichts davon in der Welt, in der wir leben. Warum ist das so?

Betrachten wir einen Gegenstand aus unserer Alltagswelt, dann sehen wir ihn in einem bestimmten klassischen Zustand. Er ist an einem bestimmten Ort, er bewegt sich mit einer festgelegten Geschwindigkeit und er hat eine bestimmte Energie. Da ist nichts von Quantenphysik zu sehen. Nur im Labor sind diese Besonderheiten überhaupt nachweisbar. Gleichzeitig sind diese Zustände auch noch hochgradig instabil. Warum die Regeln der Quantenphysik in der normalen Welt nicht sichtbar sind, hat schon viele Wissenschaftler beschäftigt. Es gibt immer noch keine eindeutigen Antworten.

Die meisten Probleme, welche die Quantenphysik aufwirft, drehen sich um die Interpretationen dieser Theorie. Dieses Problem gibt es nur bei der Quantenphysik, denn die klassische Physik braucht keine Interpretation. In der klassischen Physik kann man die Position, die Geschwindigkeit und die Beschleunigung eines Objektes voraussagen und jeder weiß genau, was diese Größen bedeuten und wie man sie messen kann. Theorie und Realität sind unmittelbar und intuitiv miteinander verbunden.

Ganz anders die Quantenphysik. Sie ist nicht annähernd so leicht zugänglich. Wir haben mathematische Gleichungen für diese Theorie, die es möglich machen, Wellenfunktionen zu berechnen und ihr Verhalten vorauszusagen, aber was diese Wellenfunktionen dann wirklich bedeuten, ist nicht sofort klar. Wir brauchen hier eine Interpretation, eine weitere Ebene für die Erklärung, um die Wellenfunktion mit den Eigenschaften in Verbindung zu bringen, die im Experiment auftreten.

Quantenphysik ist aber auch nicht Magie. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Theorie. Auch das Wörtchen „Quanten“ in der Beschreibung eines Phänomens erlaubt es nicht, Energie aus dem Nichts zu erzeugen oder Nachrichten schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zu versenden. Zwar scheinen viele der Vorhersagen der Quantenphysik unserer Alltagsauffassung von der Welt zu widersprechen, doch brechen sie nicht alle Regeln des gesunden Menschenverstandes. Wenn etwas viel zu schön klingt, um wahr zu sein, dann ist es das mit ziemlicher Sicherheit auch nicht.“

Aus einem Buch von Andreas Steinfeld

Medizinische Fakten

„Es ist wichtig, dass immer genügend Energie für die Zellen zur Verfügung steht. Sonst sinkt das Leistungsvermögen der Zelle stark ab. Die Energiegewinnung der Zelle geschieht vor allem in den Mitochondrien. Das sind bestimmte Bereiche innerhalb der Zelle. Die Arbeitsweise dieser Mitochondrien ist sehr kompliziert und endet mit der Bildung von ATP. Der Träger der Energie ist also Adenosintriphosphat (ATP). Es ist ein biologisches Energie-Speicher-Molekül. Die täglich produzierte ATP-Menge entspricht etwa dem Körpergewicht eines Menschen. Das ist ungeheuer viel. Da es ständig verbraucht wird, sehen wir das ATP nicht.

Etwa 90% der ATP-Produktion erfolgt durch Verbrennung von Sauerstoff, nur 10% der Tagesproduktion entsteht ohne Sauerstoff. Die Bildung von ATP durch Verbrennung ist viel effizienter als die ohne Sauerstoff, weil dadurch viel mehr ATP hergestellt werden kann.

Die Nutzung von Sauerstoff als Betriebsstoff hat aber nicht nur Vorteile. Es fallen dabei nämlich auch reaktive Sauerstoffverbindungen als Abfallprodukte an. Sie werden den freien Radikalen zugeordnet. Diese Substanzen sind sehr reaktionsfreudig. Sie müssen deshalb durch „Radikalenfänger“ entschärft werden, da sie sonst Strukturen der Zelle beschädigen. Dies würde zu Funktionsstörungen oder gar zum Absterben der Zelle führen.

Besonders schwerwiegend ist es, wenn die DNA, die Erbsubstanz, der Mitochondrien geschädigt wird. Dies versucht die Zelle unter allen Umständen zu verhindern. Die DNA der Mitochondrien kann nämlich nicht mehr repariert werden, denn sie stammt ausschließlich von der Mutter des Individuums ab.

Eine Schädigung muss nicht befürchtet werden, wenn die Energiegewinnung ohne Sauerstoff erfolgt. In besonders sensiblen Phasen, etwa bei der Zellteilung, wird deshalb vorübergehend die ATP-Produktion in den Mitochondrien gestoppt.

Die Sache ist aber noch viel komplizierter, weil auch Stickstoffradikale beim Verbrennungsprozess auftreten können. Es entsteht dabei das Gas Stickstoffmonoxid (NO). Es kann mit den Sauerstoffradikalen dann noch gefährlichere Verbindungen wie Peroxynitrit bilden.

Die Zellen sind aber auch durch externe freie Radikale aus Chemikalien, Medikamenten und selbst durch die Nahrung gefährdet. In der modernen Welt ist der Mensch überhaupt immer mehr diesen Stoffen ausgesetzt. Die Entgiftungssysteme werden dadurch immer stärker in Anspruch genommen und arbeiten mit voller Kraft. Sie müssen mehr leisten als bei unseren Großeltern.

Immer müssen ausreichend Elektronen zum Neutralisieren dieser gefährlichen Stoffe zur Verfügung stehen. Ganz im Vordergrund stehen schwefelhaltige Verbindungen wie das Glutathion. Diese Substanz stellt laufend Elektronen bereit, muss danach aber selbst wieder regeneriert werden.

Die Fähigkeit eines Organismus, anfallende Radikale zu beseitigen, bestimmt seine Vitalität.

Ist kein ausreichender Schutz mehr vorhanden, weil etwa kein Glutathion mehr zur Verfügung steht, dann muss die Sauerstoff-Verbrennung in den Mitochondrien abgeschaltet werden. Die Gefahr ist nämlich zu groß, dass weiter Radikale entstehen und dass dann die Zelle tatsächlich irreparabel geschädigt wird.

Jetzt kann nur noch die leistungsschwache und nährstoffintensive Energieproduktion außerhalb der Mitochondrien eingesetzt werden. Herzzellen, Nervenzellen und Muskelzellen brauchen aber besonders viel Energie. Wenn dort die Mitochondrien abgeschaltet werden, macht sich der Leistungsabfall besonders stark bemerkbar. Starke Erschöpfung und Schwäche treten dann auf.

Die Leistungseinbuße ist sehr stark. Der „mitochondriale Turbo“ fehlt an allen Ecken und Enden. Nur noch das allernotwendigste ist dann noch möglich. Differenzierte Zellleistungen finden kaum mehr statt. Es kommt zu unkontrollierten Zellteilungen mit der Gefahr der Entartung und Tumorbildung. Die Zelle bleibt in diesem Zustand gefangen, wenn nicht wieder die ATP-Produktion in den Mitochondrien angeschaltet wird.

Dieser Zustand führt also zu einer Vielzahl von Funktionsstörungen. Die Ursache ist aber immer der Energiemangel.

Ein Symptomenkomplex, bei dem ein Energiemangel im Mittelpunkt steht, hat sich zu einem Krankheitsbild verdichtet, das in der modernen Medizin als ME/CFS bezeichnet wird. Dabei steht im Vordergrund eine lähmende Erschöpfung, die in keinem Verhältnis zur vorausgegangenen Aktivität steht und sich auch durch Ruhe oder Schlaf nicht bessert. Diese Erschöpfung betrifft in besonderem Maß auch die Muskulatur. Nach Bewegung treten Schmerzen auf. Die geistige Belastbarkeit ist ebenfalls deutlich herabgesetzt.

Diese Buchstaben sind Abkürzungen für schwierig auszusprechende Bezeichnungen. Damit muss sich aber niemand herumquälen. Nur so viel: ME heißt Myalgische Enzephalomyelitis und CFS ist die Abkürzung für Chronic Fatigue Syndrom, also Chronisches Erschöpfungssyndrom.

Diese Erkrankung ist eine schwere Herausforderung für die Medizin und die moderne Gesellschaft. Dieser müssen wir uns dennoch stellen. Nur auf diese Weise kommen wir weiter. Wer die Existenz dieser Erkrankung ablehnt oder ihre Erforschung verhindert, nimmt in Kauf, dass ein großer Schaden für Menschen entsteht. Die gesellschaftlichen Folgen sind heute noch nicht absehbar.“

Aus einem Buch von Andreas Steinfeld

Die stille Revolution

„Der Umbruch von der klassischen Physik zur Quantenphysik ist für uns heute Geschichte. Wir akzeptieren die neue Physik mit ihren praktischen Konsequenzen widerspruchslos als Faktum, als abgeschlossene Schulweisheit. Wir hantieren mit ihr nach den vorgegebenen Regeln, ohne ihre erkenntnistheoretischen Hintergründe und das philosophisch Revolutionäre in ihrer Aussage wahrzunehmen.“

Hans-Peter Dürr, Mitarbeiter von Werner Heisenberg, Alternativer Nobelpreises 1987

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 1

Andreas Steinfeld ging nach Hause. Der Tag war anstrengend gewesen. Viele Menschen, die er heute gesehen hatte, waren müde und erschöpft. Warum war das so? Man sah es ihnen nicht unbedingt sofort an. Manchmal aber doch, z. B. an den Augen. Tiefliegend und dunkel umrandet. Die Sprache war etwas monoton, selten ein Lächeln. Manchmal ein Flackern im Gesicht. Sie blickten mich konzentriert an. Kann er mir vielleicht doch helfen? Das stand in ihren Gesichtern geschrieben. Leichte Verunsicherung. Ich spreche ruhig, versuche Sicherheit auszustrahlen. Jetzt ein Lächeln. Vertrauen! Gibt es ein Konzept? Wie wird es aussehen? Man wird sehen. Vorbefunde? Ganze Ordner voll. Ich werde mir alles ansehen. Wann? Bald! Ich verabschiedete mich.

Der Abend war kühl. Ich zog den Kragen hoch. Was gibt es zu essen? Noch Einkaufen? Eigentlich keine Lust! Fleisch? Gerne!

Die Pfanne stand auf dem Herd. Ich hatte Hunger. Wein? Ja, einen Schluck Roten. Nicht zu viel. Das passte! Ich legte die Füße hoch.

Wie hieß das neue Arzneimittel eigentlich? Ich sollte mich endlich auch damit befassen. Immer wieder sprach jemand darüber. Keine Ahnung. Telefon! Ich ging hin. „Komme später, die Sitzung geht länger!“ „Okay Jutta, bis später!“ Noch ein Schluck. Zu viel? Nein!

Wie hieß das neue Medikament?

Rit… ich wusste es nicht mehr so genau. So ähnlich. Dann ein u? Möglicherweise. Also Ritu? Schon möglich! Irgendwo war auch noch ein x. Kann schon sein! Aber wo? Ritux…? Schon besser! Ritux.., ok. Und weiter? Nichts weiter! Auch noch ein Vokal? Rituxo? Nein, so nicht! Eher ein i! Ein i? Ja, ein i! Also Rituxi? Schon besser, aber noch nicht vollständig. Es fehlte noch etwas, eine Endsilbe! Eine Endsilbe? Ja! Immer gab es so seltsame Endungen! „Auf“ oder „ab“? „ab“? Ja genau, „ab“!

Aber das passte noch nicht!

Nein! Es fehlte noch ein Buchstabe. Ja, genau, ein Buchstabe fehlte noch. Ein Konsonant! Genau, aber welcher? Ich kam einfach nicht auf den Namen.

Es blieb beim Ritux. Aber, was bedeutete das? Was sollte das? Wozu war das gut? Wer brauchte das? Ich nicht, aber diese Patienten schon! Ich schloss die Augen. Sollten wir es nicht besser Rituxol oder einfach Ritux nennen? Einfach Ritux!

Das Telefon klingelte erneut. Ja, wirklich, das Telefon klingelte schon wieder. Ich stand auf und nahm den Hörer ab.

„Tapara, hier ist Tapara!“, ertönte eine Frauenstimme. Schweigen. Ich dachte nach. „Bist Du es, Tapara?“ „Ja, ich bin es!“ Stille. Ich dachte nach. Tapara, die Nichte des Ötzi. Wir waren zusammen im Sommer vor zwei Jahren. In den Bergen. Was war das für ein Stress gewesen. Ötzi und sein Volk. Ich war mit Gianni auf einer Hütte. Lange hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Ich hier, sie dort. Sie war bei Gianni, oder? Wahrscheinlich, ich wusste es nicht so genau. Die tägliche Arbeit hatte mich völlig eingenommen. Ich hatte nichts mehr von den beiden gehört. Wie ging es weiter mit ihnen? Ich wusste es nicht!

„Tapara, bist du noch dran?“ fragte ich. „Ja“, sagte sie und ihre Stimme klang klar.

„Was ist los?“

„Es gibt Probleme!“ sagte sie ruhig. Wieder Stille. Ich hörte ihr Atmen. „Ich würde dich gerne besuchen. Ist das ok?“ fragte sie.

Schweigen.

„Klar“, sagte ich. „Du bist immer willkommen! Du alleine, mit oder ohne Gianni?“

„Ich komme ohne Gianni“, sagte sie.

„Also, du alleine? Ohne Gianni?“

„Ja!“ sagte sie.

„Kein Thema! Sag mir, wann du kommst! Wir haben ein Zimmer für dich. Ich informiere Jutta. Es ist ok!“

„Ich bin morgen bei dir“, sagte sie ruhig. “Ich komme mit dem Zug.“ „Gut!“ sagte ich, ich hole dich am Bahnhof ab.“

Sie legte auf. Tapara hier. Ohne Gianni. Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste es nicht. Was würde Jutta dazu sagen? Ich setzte mich wieder hin.

Tapara wollte kommen. Eigentlich lebte sie ja vor langer Zeit. Viele tausend Jahre vor uns. Gianni und ich hatten es erlebt. Es war der Ötzi, der Eismann, den sie gefunden hatten. Tapara war seine Nichte. Sie hatte sich später in Gianni verliebt. Das war ok. Jetzt kam sie wieder.

Das Telefon klingelte erneut. „Hallo!“, meldete ich mich. Die Leitung war still. Nein, ich hörte jemanden atmen. „Hallo!“ wiederholte ich. Stille. Plötzlich knackte es in der Leitung. Dann wieder Stille. Seltsam, was hatte das denn zu bedeuten?

Jutta kam nach Hause. „Ich bin so hungrig!“ Ein Käsebrot und ein Glas Bier waren zur Stelle. „Tapara kommt!“ sagte ich. „Wer?“ „Tapara, ohne Gianni“ „Eine Freundin von Dir?“ „Nein, ganz anders! Vor zwei Jahren in den Bergen, bei Gianni.“ Ich erzählte ihr kurz die Geschichte über Ötzi und sein Volk. Sie hatte sie inzwischen wohl wieder vergessen.

„Das trifft sich gut. Morgen kommt ja auch Emelia. Sie soll das Gästezimmer vorbereiten und alles in Ordnung bringen“, meinte sie etwas ungerührt.

Tapara hier! Es blinkte an meinem Handy und ich schaute nach. Eine SMS von Tapara! „Der Zug kommt um 08:00 Uhr am Morgen an. Freue mich!“

Wir gingen zu Bett.

Ich träumte von Tapara. Es war an dem Tag nach dem Überfall auf unsere Berghütte durch Ötzis Leute als ich sie zum ersten Mal sah. Was war das damals für eine Nacht gewesen. Sie wollten alle in unsere Hütte und rannten gegen die Türe an. Wir hatten später den Schrank davor gestellt und hofften, dass die Türe standhielt. Aber sie waren sehr raffiniert und hatten vorher ein Loch in die Türe gebohrt, so dass ein Pfeil durchpasste. Und der ging nahe an meinem Kopf vorbei. Was ich nicht wusste, war, dass Gianni von früher noch eine Pistole und Munition besaß. Er schoss nur einmal, und dann waren alle geflüchtet.

Aber später mussten wir weitere Überfälle aushalten und dann nahmen sie uns auch noch gefangen. Als Geisel! Als Berater für den Schamanen! Egal, wir waren trotzdem Gefangene gewesen. Am Tag nach dem ersten Überfall gingen wir langsam runter zum See. Wir hatten beide große Angst und es war mutig, was wir taten. Dann standen sie plötzlich da, Tapara und ihr Vater Sagomare. Skurril sahen sie mit ihren Ledermänteln mit den großen Kapuzen aus. Und erst die Lederhosen! Aber sie waren freundlich zu uns. Sie servierten uns Tee und es geschah uns nichts. Gianni lud sie dann ein, auch uns zu besuchen. Sie kamen tatsächlich und tranken Espresso mit uns.

Aber irgendwann befürchteten sie doch, dass wir fliehen könnten und nahmen uns deshalb gefangen. Wir sollten helfen, den Ötzi, Sagomares Bruder Ritomare, wieder zu ihnen zu bringen, um ihn ehrenvoll bestatten zu können. Dann der Krieg mit den Cibolla, dem Nachbarvolk, das plötzlich angriff und die Schmelzöfen für die Kupfergewinnung für sich erobern wollte. Gianni hatte die Lösung. Und dann kam Ritomare zurück und konnte endlich feierlich beerdigt werden. Wir waren frei und Tapara ging mit Gianni.

Plötzlich war ich wach. Jutta schlief noch ruhig. Ich dagegen war ziemlich unruhig. Was war los mit Tapara? Es gab Probleme. Sie kam ohne Gianni. Es ging um etwas Wichtiges. Wurde sie etwa bedroht? Irgendwann schlief ich dann doch wieder ein. Vor 5000 Jahren hatten die gelebt. Wie sind die bloß zurechtgekommen ohne unsere Technik? Und die Kälte in den Bergen, der viele Schnee? Sie hatten damals Probleme in der Familie. Einer ist eben immer unzufrieden. Diesmal war es der Ötzi selbst. Ständig unzufrieden mit seiner Lebenssituation rebellierte er heftig. Es kam zum Streit. Er fing an, die Familie zu bestehlen, dann der Entschluss, den Kupfertransport über die Alpen umzuleiten und den Gewinn selbst einzustecken. Hatte er nicht gewusst, dass der Transport scharf bewacht wurde? Bewaffnete Krieger mit Beilen, Lanzen, Pfeil und Bogen sicherten damals die kostbare Fracht. Sie nahmen keine Rücksicht auf ihn.

Ein Pfeil tötete ihn, dann noch der Schlag auf den Kopf und er starb hoch oben auf dem Pass. Es war Mai, aber es schneite nochmals heftig und dann lag viel Schnee auf ihm.

Niemand fand ihn mehr, der Gletscher hatte ihn verschluckt.

Jetzt nach 5000 Jahren zog sich der Gletscher wieder zurück und er taute auf. Ritomare kam so wieder zum Vorschein. Und dann ab ins Museum. Er war zum Star geworden. Alle sprachen vom Ötzi, aber eigentlich hieß er ja Ritomare. Die Familie trauerte trotzdem um ihn. Aber sie blieben versteckt in den Bergen. Sie mussten bleiben, bis Ritomare richtig beerdigt worden war. Leider war er gesichert und bewacht im Museum. Wer sollte ihn dort herausholen? Dann kamen wir, Gianni und ich, und die Hoffnung stieg wieder.

Der Wecker klingelte! Es war Samstag, und ich hätte eigentlich länger schlafen können.

Kapitel 2

Tapara hatte den Nachtzug genommen. Sie hatte allein im Abteil gesessen und das Licht ausgemacht. Auf dem Gang waren immer wieder Leute vorbeigegangen, die zu ihr hereingesehen hatten. „Ich glaube, ich stehe hier unter Beobachtung“, hatte sie zu sich schließlich gesagt und sich auf die Fensterseite gedreht.

Sie schaute in die Dunkelheit, die am Zug vorbeiraste. Sie legte den Kopf in den Nacken. Es war nach Mitternacht und die Ankunft war um 08:00 angekündigt worden. Ihr Instinkt verriet ihr, dass ihr jemand gefolgt war, sie wusste nur nicht, wer es war. „Wäre das wichtig zu wissen und warum?“ fragte sie sich.

Sie erhob sich, sie musste Gewissheit haben. In ihrem Hosenanzug wirkte sie schlank und sportlich. Die braunen Haare bewegten sich hin und her und ihr Teint war hell.

Den Koffer ließ sie zurück, sie nahm nur ihre Umhängetasche mit. Lautlos schob sie die Abteiltüre zur Seite und trat auf den Gang hinaus. Dort war nur wenig Licht. Langsam ging sie nach vorne. Die Abteile, an denen sie vorbeikam, waren jetzt alle dunkel. Die Leute schliefen wahrscheinlich.

Sie erreichte nun die Toilettentür, die plötzlich vor ihr vehement aufsprang. Sie bewegte sich zur Seite in den Raum zwischen den beiden Wagen. Dann sah sie es. Ein Mann mit einer Pistole in der Hand kam durch die Türe gerade auf sie zu. Er bewegte sich langsam vorwärts. Das hätte sie nicht erwartet, dass jemand im Zug eine Pistole auf sie richtete. Würde er auf sie schießen? Sie musste ihm zuvor kommen.

Sofort reagierte sie und ergriff seinen rechten Arm und schlug von oben gegen den Unterarm. Er ächzte vor Schmerzen und ließ die Pistole auf den Boden fallen. Ehe er reagieren konnte ergriff sie die Waffe und richtete sie auf ihn.

„Sie tun mir weh“, sprach der Mann sie an. „Was wollen Sie überhaupt von mir?“

„Das wollte ich Sie gerade auch fragen“, sagte sie in einem ruhigen Ton. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen, ich kenne Sie nicht“, antwortete er und hielt noch immer seinen Arm. Bei dem Schlag hatte es ein Knackgeräusch gegeben, so dass sie annahm, dass der Arm erstmal nicht mehr zu gebrauchen war.

Sie musste jetzt schnell handeln, denn möglicherweise hatte er einen Komplizen. Sie packte rasch seinen schmerzhaften Arm, hielt die Pistole auf seine Brust und drückte ihn zurück in die Toilette. Mit dem rechten Knie schlug sie gegen seinen Unterleib und er brach stöhnend zusammen. Sie zog ihm die Krawatte über den Kopf und fesselte seine Hände. Rasch wickelte sie Toilettenpapier ab und stopfte es in seinen Mund. Er stöhnte weiter. Sie drehte an dem Türschloss, zog die Türe mit einer raschen Handbewegung zu, und der Mann war in der Toilette eingeschlossen.

Jetzt hatte Sie für ein paar Minuten Ruhe. Wer war dieser Kerl? Sie ging zurück zu ihrem Abteil, holte ihren Koffer und ging zu den vorderen Wagen. Dort gab es wieder hell erleuchtete Abteile und sie schob die Türe auf. Zwei junge Frauen schauten sie an.

„Ist hier noch frei?“ fragte sie. „Ja, gerne“, antwortete eine von beiden. Und sie nahm Platz. Sie musste vorsichtig sein. Würden die Angreifer jetzt bald kommen?

Der Zug raste durch die Nacht. Sie war müde. Aber sie durfte jetzt nicht einschlafen. Die Frauen unterhielten sich weiter. Sie schaute zur Türe. Nichts bewegte sich, niemand lief auf dem Gang. Fast wäre sie doch eingeschlafen. Doch dann stand ein Mann an der Türe und blickte ins Abteil, aber er ging wieder weiter. Sie hatte ja noch die Waffe in ihrer Tasche, fiel ihr wieder ein. Es war eine Glock 9 mm.

Langsam verringerte der Zug seine Fahrt. Die nächste Haltestelle stand bevor. Hier musste sie raus aus dem Zug. Das war ihr klar. Jetzt aber nicht gleich aufstehen. Erst ganz kurz bevor der Zug wieder losfuhr. Sie wartete ab. Der Zug hielt. Langsam straffte sie ihre Muskeln. Rasch sprang sie auf. Ergriff ihren Koffer. Sie stürmte zur Zugtüre und sprang auf den Bahnsteig. Die Türen schlossen sich sofort hinter ihr, der Schaffner pfiff und der Zug fuhr wieder an.

Niemand war ihr gefolgt.

Sie stellte sich hinter eine Säule und ließ den Zug passieren. War doch jemand mit ihr ausgestiegen? Sie sah allerdings keinen Menschen, der ihr verdächtig erschien und sie setzte sich erstmals auf eine Bank, um sich etwas auszuruhen. Sie wollte zu Andreas Steinfeld. Sie musste mit ihm sprechen. Wann kam der nächste Zug? Sie ging zum Schalter und erfuhr, dass bereits schon in 50 Minuten der nächste ICE hier halten würde.

Das beruhigte sie. Sie musste wachsam sein. Vielleicht bestand ja immer noch eine Gefahr für sie.

Im Bahnhofsrestaurant war sie sicher, also ging sie dorthin. Hier war wenig los, aber das lag an der Uhrzeit. Es war ja mitten in der Nacht. Sie setzte sich an einen freien Tisch und der Ober kam sofort. Nachdem sie einen Salat bestellt hatte, nahm sie ihr Handy und checkte Nachrichten.

Es gab keine.

Sie schaute sich um. Es gab hier keine verdächtigen Personen. Sie atmete tief durch. Der Salat kam, sie aß eigentlich viel zu schnell und stand rechtzeitig wieder am Bahngleis, als der nächste Zug hielt.

Rasch stieg sie ein. Alle Abteile waren voll. Sie ging weiter nach hinten. In einem Abteil waren noch zwei Plätze frei.

Sie ging hinein, nickte kurz den Anwesenden zu und nahm Platz, nachdem sie den Koffer in die Ablage gehoben hatte.

Sie schaute sich um. Ihr gegenüber saß ein bärtiger Mann mit einer Mütze und starrte in ein Buch. Er hatte bei ihrem Eintreten nur kurz aufgeschaut und war dann wieder in seinem Buch versunken. Neben ihm saßen Frauen. Eine Ältere und eine jüngere. Mutter und Tochter und er ist der Vater, dachte Tapara.

Sie hatte sich in die Mitte gesetzt. Links von ihr war der Platz noch frei, rechts saß eine stark geschminkte Frau, die sie anlächelte und dann wieder in ihr Handy schaute. Tapara fühlte sich zunächst sicher, aber irgendwie stimmte hier doch etwas nicht, aber sie wusste nicht was.

Ihr Gehirn begann zu rasen. Sollte sie gleich wieder aufstehen und gehen? Sie entschied sich zunächst fürs Bleiben. Aber sie musste wachsam sein. Plötzlich erhob sich der Mann, der ihr gegenüber saß. Er öffnete die Abteiltüre und trat auf den Gang hinaus.

Er blickte nach links und dann nach rechts. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Jetzt wusste sie es. Es war doch eine Falle. Sie musste hier wieder raus. Jetzt kam die Durchsage, dass in wenigen Minuten schon der nächste Bahnhof erreicht werde. Also so schnell wie möglich hier wieder hier heraus! Sie blickte in die Runde. Alles war unverändert. Es war nichts passiert. Das war ein guter Moment.

Jetzt musste sie gehen. Sie stand auf. Ganz langsam. Dann holte sie ihren Koffer aus der Ablage und öffnete die Schiebetüre. Kein Mensch war auf dem Gang zu sehen. Es war wie im letzten Zug. Langsam ging sie nach vorne. Immer noch war niemand zu sehen. Die Toilettentür! Aber sie öffnete sich diesmal nicht.

Sie ging weiter. Sie spürte, wie der Zug abbremste. Die nächste Station war jetzt ganz nahe. Sie stand vor der Wagentüre und weitere Menschen mit Koffern kamen hinzu. Der Zug wurde immer langsamer und hielt schließlich an. Sie konnte aussteigen.

Jetzt war sie in Sicherheit.

Langsam verliefen sich die Leute. Wieder war sie ziemlich alleine auf dem Bahnsteig. Wie würde es weiter gehen? Sie stand und wartete. Sollte sie jetzt Andreas anrufen? Oder auf den nächsten Zug warten?

Sie schaute auf den Fahrplan. Diesmal würde es nicht so lange dauern, bis der nächste Zug kam. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte nicht so lange auf dem Bahnsteig ausharren. Sie musste hier weg, Aber wohin? Vielleicht ein Stück mit dem Taxi fahren? An den Bahnhöfen gab es doch immer einen Taxistand.

Sie schaute sich um. Wahrscheinlich musste sie durch die Fußgängerunterführung zum Ausgang. Sie nahm ihren Koffer, hängte die Tasche über die Schulter und ging in Richtung Unterführung. Zunächst die Treppe hinunter. Auf halber Höhe sah sie das Schild, das nach rechts zeigte und auf dem „Ausgang“ stand. Sie ging in diese Richtung.

Irgendwo in der Ferne hörte sie Schritte, die lauter wurden. Es waren harte Aufschläge wie bei Pumps. Plötzlich war sie hellwach. Etwa zehn Meter weiter gab es den nächsten Aufgang zu einem Gleis. Dort stellte sie sich hinter die Ecke. Die Umhängetasche legte sie auf den Koffer. Sie musste jetzt agieren, nicht reagieren. Etwas in ihr sagte, dass es nun gefährlich für sie würde. Alle Muskeln waren angespannt, als sie sich an die Wand drängte. Sie hörte die Schritte immer näher kommen. Eine Waffe wäre jetzt nützlich. Die Pistole! Sie hielt sie jetzt in der rechten Hand. Jetzt würde sie gleich sehen, wer sie verfolgte. Blitzschnell trat sie vor. Es waren zwei Personen. Die Schritte der zweiten Person hatte sie nicht gehört. Sie schaute in die Gesichter und war überrascht.

Beide Personen hatte sie schon einmal gesehen. Es waren zwei Personen aus dem letzten Zugabteil. Die geschminkte Frau mit dem Handy neben ihr, und der Mann gegenüber, der in einem Buch gelesen und dann das Abteil plötzlich verlassen hatte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Jetzt sah sie auch, dass der Mann einen Gegenstand in der rechten Hand hielt, und es war tatsächlich auch eine Pistole. Schon wieder eine Waffe! Sie reagierte sofort.

Jetzt ging es ganz schnell!

Tapara wirbelte aus ihrem Versteck hervor, packte mit der linken Hand den rechten Arm mit der Pistole und drückte ihn nach oben. Mit der rechten Hand schlug sie gegen seinen Kehle und gleichzeitig trat sie mit dem Fuß gegen seine linke Kniescheibe.

Grunzend ging er zu Boden und ließ die Pistole auf den Boden fallen. Die Frau war starr vor Schreck. Tapara nahm die Pistole und richtete sie auf beide. Jetzt machte es keinen Sinn mehr zum Taxistand zu gehen. Sie hörte, wie über ihr ein Zug in den Bahnhof einfuhr. Sie dreht sich blitzschnell um, schnappte ihren Koffer und rannte wieder hoch zum Bahnsteig. Die Schaffner ließ sie gerade noch einsteigen, bevor der Zug wieder anfuhr.

Das war jetzt schon der dritte Zug. Wer waren die Auftraggeber dieser Leute? Für wen arbeiteten die überhaupt? Hatte das alles mit ihrem Auftrag zu tun? Sie musste zu Andreas Steinfeld. Der konnte ihr das sicher sagen. Sie lief den Gang entlang und kam ins Bord-Restaurant. Hier sollte sie bleiben. Hier war sie bestimmt sicher. Sie nahm Platz. Den Koffer stellte sie auf die Seite. Sie hatte jetzt auch wirklich Hunger. Sie bestellte Kaffee und ein Sandwich. Später blickte sie aus dem Fenster. Der Zug war schnell. Lichter flitzten am Fenster entlang. Wann würde sie ankommen? Erstmal würde sie hier sitzenbleiben und ihre Umgebung beobachten. Ihr Puls ging schnell. Das Essen kam, sie aß langsam und es passierte weiter nichts.

Einmal kam eine junge Frau ins Abteil, aber sie nahm keine Notiz von ihr. Später gesellte sich dann noch ein Mann hinzu, beide unterhielten sich lebhaft. Sie fühlte sich hier sicher. Der Zug fuhr und fuhr. Er hielt noch an zwei weiteren Bahnhöfen an. Sie konnte allerdings nicht sehen, ob weitere Fahrgäste hinzukamen.

Sie dachte an ihre Heimat. An Gianni und an ihren Vater Sagomare. Warum war sie eigentlich hier? Auf dem Weg zu Andreas? Sie hatten sich damals verabschiedet. Sie war mit Gianni gegangen. Sie hatten eine gute Zeit. Und jetzt?

Sie hatte ein Medikament bei sich. Ritux hatten sie ihr gesagt, sei der Name. Es war das Anti-CD20-Serum. Jetzt war sie auf dem Weg zu Andreas Steinfeld. Sie blickte wieder aus dem Fenster. In der Ferne sah sie einen hellen Streifen am Horizont. Der neue Tag begann. Bald war sie am Ziel. Andreas Steinfeld würde sie abholen. Dann war sie in Sicherheit. Das Medikament war wichtig. Es half den Menschen, die an ME/CFS erkrankt waren. Es gab Studien aus Norwegen. Das war bemerkenswert. Man hatte ihr das Medikament anvertraut. Sie sollte es nach Deutschland bringen.

Alle waren jetzt hinter ihr her. Das hätte sie so nicht gedacht. Und auch mit Waffengewalt. Sie musste sich nun beruhigen. Sie sollte sich jetzt entspannen. Bald war sie am Ziel. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Teetasse. Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster.

„Tapara Moretti?“ Neben ihrem Tisch stand plötzlich ein Mann.

Für einen Moment war sie in Panik und wusste nicht, ob sie nach der Pistole greifen sollte, die immer noch in ihrer Tasche lag. Aber der Mann schien sie im Moment nicht zu bedrohen.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten nahm er gegenüber von ihr am Tisch Platz.

Sie sagte weiterhin nichts.

„Ich bin beauftragt worden, mit ihnen zu sprechen“, sagte er in ruhigem Ton. „Ich bin Chief Security Officer bei Youngstar Pharmacy und heiße Jean Petit. Wir haben Ritux entwickelt und wollen es weiterhin einsetzen. Nicht aber bei dieser Erkrankung, für die Sie das Medikament beschafft haben. Das wollen wir nicht. Das haben unsere Vorstände so festgelegt. Ich hoffe, Sie verstehen das.“

Sie sagte immer noch nichts. Was hätte sie auch sagen sollen. Sie konnte es nicht verstehen. Dass es ein Medikament gab, das Menschen gesund machen konnte, das aber aus wirtschaftlichen oder aus politischen Gründen nicht dafür freigegeben wurde.

Deshalb hatte sie sich auch bereit erklärt, es nach Deutschland zu bringen. Jean Petit schaute sie freundlich an. Was wollte er konkret? Sollte sie ihm das Medikament jetzt übergeben? Sie würde es nicht tun!

Sie entschloss sich, ihn zu fragen.

„Was wünschen Sie von mir?“ fragte sie und schaute ihm direkt ins Gesicht.

„Bitte beenden Sie jetzt Ihre Mission!“, sagte er in ruhigem Ton.

Sie schwieg.

„Sie begeben sich dadurch nur in Gefahr, das wollen wir nicht, wirklich nicht.“

Wie sollte sie reagieren? Sollte sie jetzt aufstehen?

Nein, hier sitzenbleiben war die beste Lösung! Hier konnten sie ihr nichts anhaben. Hier war sie in Sicherheit.

Sie blieb also sitzen. Als der Ober am Tisch vorbeikam, bestellte sie erneut einen Kaffee. Sie lächelte Jean Petit freundlich an.

„Wissen Sie, dass Sie uns große Probleme machen“, begann er erneut.

„Warum?“ fragte sie so unschuldig wie möglich.

„Weil Sie sich nicht an die Regeln halten, die wir vorgeben. Das ist unser Recht. Wir sind die Besitzer dieses Medikamentes. Sie können das nicht verhindern!“

Sie ließ ihn einfach reden. Sollte er doch. Sie war hier in Sicherheit, wenn auch unter Beobachtung.

Langsam trank sie ihren Kaffee und wartete ab, wie es weitergehen sollte. Unermüdlich fuhr der Zug Kilometer um Kilometer weiter. Draußen wurde es immer heller.

Sie schaute auf die Uhr. In einer Stunde würde der Zug seinen Zielbahnhof erreichen. Das konnte sie schaffen. Das Bordrestaurant füllte sich jetzt immer mehr. Das konnte ihr nützen.

Plötzlich fing Jean Petit wieder zu sprechen an.

„Wer steht hinter Ihnen, wer ist ihr Auftraggeber?“

„Es ist eine international agierende humanitäre Organisation. Sie hat mich unterstützt. Durch sie bekam ich das Medikament. Sie trauten mir zu, diesen Einsatz erfolgreich abzuschließen. Aber eigentlich geht es um meinen Mann. Er ist schwer erkrankt, und ich bin in der Lage, ihm zu helfen.“

Wieder trat eine Pause ein.

Nichts geschah.

Sie saßen sich gegenüber. Sie musste jetzt damit rechnen, dass weitere Personen an den Tisch kamen und sie zum Aufgeben bewegen wollten.

Was würde sie dann tun?

Alle dachten sicherlich, dass das Medikament in ihrem Koffer lag, aber das war natürlich nicht so. Sie trug es an ihrem Körper. Dort war es nicht so leicht zu finden. Aber es geschah zunächst nichts.

Der Zug fuhr und fuhr. Gleichmäßig polterten die Gleisschwellen. Eine gewisse Monotonie stellte sich ein. Die Zeit zerrann.

Jean Petit stand schließlich auf.

Er deutete eine Verbeugung an und ging aus dem Speisewagen.

Niemand folgte ihm. Sie war wieder alleine. Der Zug fuhr weiter. Monoton rumpelte der Wagen. Sie nahm ihre Tasse wieder zur Hand und trank kleine Schlucke. Der Ober brachte ein Sandwich an den Nebentisch. Er unterhielt sich leise mit dem Gast. Tapara blickte umher. Nichts Auffälliges war zu sehen. Also blieb sie sitzen. Die Zeit arbeitete für sie. Bald hatte sie ihr Ziel erreicht. Dann war sie sicher.

Und dann war sie endlich am Ziel.

Langsam fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Wegen der vielen Baustellen musste er sich auf den Gleisen entlangschlängeln.

Der Zug wurde immer langsamer und kam schließlich mit einem quietschenden Geräusch zum Stehen.

Tapara saß immer noch im Speisewagen. Jetzt musste sie aufstehen und aus dem Zug gehen. Langsam erhob sie sich und nahm ihre Tasche. Der Koffer stand noch neben ihr. Irgendwie war sie jetzt doch müde.

Ihre rechte Hand schmerzte etwas. Die Wagentüre stand offen. Sie konnte hinaus. Es war hell. Auf dem Bahnsteig standen viele Menschen mit unzähligen Gepäckstücken. Sie stieg die Stufen hinab. Das Licht blendete etwas.

Sie drehte sich um und lies den Blick den Bahnsteig entlangstreifen.

Wo war Andreas? Sie sah ihn nicht!

Kapitel 3

Psi (Ψ) ist das mathematische Zeichen der Wellenfunktion. Es handelt sich hier um eine Wahrscheinlichkeitswelle. Die Entdeckung dieser Wellenfunktion ist verbunden mit dem österreichischen Physiker Erwin Schrödinger. Das Quadrat der Wellenfunktion bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Ort das Teilchen zu finden. Diese Gleichung ist für die Quantenphysik so bedeutend wie Newtons Bewegungsgesetze für die klassische Physik.

Albert Einstein war Schrödingers Fürsprecher. Erwin Schrödinger floh vor dem Zweiten Weltkrieg nach Irland, seine Großmutter war Britin und er sprach fließend Englisch. Sein Leben war ungewöhnlich. Auch das Experiment mit der Katze. Es ist Schrödingers Katze. Es ist das bekannteste Beispiel, wie die Quantentheorie jeder Intuition widerspricht. Es ist ein Gedankenexperiment von 1935. Eine Katze sitzt in einer Kiste. Sie ist vollständig verschlossen. Sie kann durch einen radioaktiven Stoff in der Kiste getötet werden. Niemand weiß, ob es schon geschehen ist, denn keiner kann in die Kiste hineinsehen. Erst wenn die Kiste geöffnet wird, herrscht Klarheit. Leben und Tod überlagern sich. Diese Situation können wir uns nicht vorstellen. In unserer Welt gibt es normalerweise so etwas nicht.

Und Werner Heisenberg?

Er hat die nächste grundlegende Eigenschaft der Quantenphysik gefunden. Die „Unschärferelation“. Es ist unmöglich zeitgleich mit exakter Genauigkeit bestimmte Kombinationen von physikalischen Eigenschaften eines Teilchens zu messen.

Zum Beispiel Ort und Impuls. Wenn eine Messgröße, also z. B. der Ort mit hoher Genauigkeit gemessen werden kann, dann ist es unmöglich, die andere Messgröße genau anzugeben, in diesem Fall der Impuls oder die Geschwindigkeit. In unserem Alltag spielt dies aber keine Rolle. Wir merken es nicht. Dieses Phänomen kann nur bei Teilchen beobachtet werden.

Aber es ist die Erklärung, warum wir Naturphänomene aus geringer Entfernung nur ungenau messen können. Es ist eine elementare Eigenschaft der Natur und kein Fehler der Messanordnung.

Das dritte Gesetz:

Der Kollaps! Der Kollaps der Wellenfunktion. Es ist wieder Schrödingers Wellenfunktion. Die Wellenfunktion fasst ja alle Faktoren des Ereignisses zusammen. Sie kann allerdings nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für einen bestimmten Zustand des Systems angeben. Die Messung ergibt dann allerdings nur eine einzige Antwort. Dieser Vorgang heißt Kollaps der Wellenfunktion. Das war der philosophische Schock. Der Betrachter beeinflusst also das Objekt. Ist der Kollaps eine reine mathematische Formalität oder ein realer physikalischer Prozess? Die tatsächliche Zustandsform kann also bis zu ihrer Messung nicht eindeutig bestimmt werden.

Und was bedeutet Dekohärenz? In der mikroskopischen Welt gelten Quantengesetze und in der alltäglichen Welt der Autos und Möbelstücke, Bäume und Häuser wird jedoch die klassische Physik angewandt. Wie werden Quanten klassisch? Wohin verschwinden sie? Sie werden neutralisiert durch Wechselwirkungen zwischen den Quanten und ihrer Umwelt. Das ist Dekohärenz.

Tapara stand immer noch auf dem Bahnsteig. Den Koffer hielt sie fest in der Hand. Dann sah sie Andreas in der Ferne. Er winkte und beschleunigte seine Schritte. Sie umarmten sich. Er drückte sie ganz fest an sich. Irgendwie war ihm das plötzlich sehr wichtig. Dann ließ er sie wieder los. Sie holte tief Luft.

„Ich bin froh, bei dir zu sein“, sagte sie und seufzte. Er nahm das Gepäck, legte seinen Arm um sie und sie gingen zum Ausgang des Bahnhofes.

„Wir nehmen ein Taxi“, sagte er und ging zum ersten Wagen. Den Koffer hob er in den Kofferraum und Tapara und Andreas setzten sich dann auf den Rücksitz.

Andreas nahm ihre Hand und streichelte sie leicht. Sie drehte sich mehrmals um und blickte aus dem Rückfenster. Kein verdächtiges Fahrzeug folgte ihnen.