Riusiava - Aus dem Leben einer Keltin von der schwäbischen Alb - Doris Wechselberger-Pfeifer - E-Book

Riusiava - Aus dem Leben einer Keltin von der schwäbischen Alb E-Book

Doris Wechselberger-Pfeifer

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Beschreibung

Gerade 17 Jahre alt wird Bryanna brutal aus ihrem Leben in Pyrene (Heuneburg) gerissen und auf die schwäbische Alb (Heidengraben) verkauft. Mit dem Schmied Gael, ihrem Herrn hat sie es nicht schlecht getroffen, wäre da nicht diese Nathaira, die Frau des Bruders ihres Herrn. Was hat diese boshafte Frau nur gegen sie? Doch auch Gael hat ein Geheimnis, das Bryanna nicht zur Ruhe kommen lässt. In gefühlvollen und bildstarken Szenen zeichnet die Autorin anhand des Lebens der kräuterkundigen Bryanna den Alltag der späten Eisenzeit nach. Angelehnt an historischen Fakten und der experimentellen Archäologie entführt sie ihre Leser in die Welt der sagenumwobenen Kelten.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
- Glossar-

Riusiava

Die Geschichte einer Keltin

von der schwäbischen Alb

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

© 2025 Doris Wechselberger- Pfeifer Verlag & Druck: epubli - ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Cover- / Rückseitengestaltung Atelier Hanna Jakobi

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Von Doris Wechselberger-Pfeifer sind bisher erschienen:

- Die goldene Feder – ein Märchen

Doris Wechselberger- Pfeifer wurde 1969 in München geboren.

Sie studierte in München Verfahrenstechnik und Wirtschaftsingenieurwesen und schrieb im Alter von 12 Jahren ihren ersten Roman. Begeistert von alten Kulturen reiste sie in den 1990er Jahren kreuz und quer über den Globus, bevor sie 2002 in Grabenstetten, auf der schwäbischen Alb eine neue Heimat fand. Inzwischen mit Mann und Sohn, mit Hühnern und jeder Menge anderem Getier lebt sie seither dort.

Alte Kulturen, vor allem die der Kelten, haben es ihr seit ihrer extensiven Reisen, angetan. Erkenntnisse aus der experimentellen Archäologie faszinieren sie dabei genauso, wie das Stöbern in Museen und alten Archiven. Wo immer sie kann, probiert sie wiederentdeckte Handwerkskünste und beschäftigt sich mit der traditionellen Musik Irlands und Schottlands.

Fachbegriffe (hervorgehoben gedruckt)

werden am Ende des Buches

in einem Glossar erklärt.

Hier befindet sich auch ein kurzer Überblick

der Eisenzeit – der Epoche, in der

›die keltische‹ Kultur ihren Höhepunkt erlebte.

ACHTUNG: Die in diesem Roman beschriebenen Anwendungen von Heilpflanzen verstehen sich keinen falls als Anregung zur Nachahmung. Wenn Sie krank sind oder sich krank fühlen – gehen Sie bitte zum Arzt!

Riusiava-

Die Geschichte einer Keltin

von der schwäbischen Alb

Ein Roman von

Doris Wechselberger-Pfeifer

Prolog

Im letzten Jahrhundert vor der großen Zeitenwende sah sich Mitteleuropa mit enormen Umbrüchen konfrontiert. Immer weiter drang Rom nach Norden vor und suchte Rache für die einst erlittene Schmach, dem Angriff der Senonen unter ihrem Heerführer Brennus drei Jahrhunderte zuvor. Die Niederlage bei Arausio durch den Stammesverband der Kimbern, Teutonen und Ambern war keine Generation her, doch selbst die Schlacht an der Allia, die Belagerung Roms durch die Keltoi, vor mehr als 15 Generationen, schwang in seinem Gedächtnis bis in diese Tage nach. Vor allem aber suchte Rom Land – neues Territorium für neue Provinzen.

Nach den Dekaden der keltischen Völkerwanderung im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr., welche die Stämme bis nach Kleinasien, in den Balkan und hinauf zu den Britischen Inseln geführt hatte, wandelte sich nun die Vorherrschaft der einst mächtigsten Stämme der Antike.

Wenn auch die Flüsse selbst über die Jahrhunderte hinweg ihren Lauf kaum änderten, Handelsrouten, auf denen die Waren aus weit entfernten Gebieten transportiert wurden, mit denen immer auch Innovationen und Fortschritt reisten, taten es. Neue Städte, die ersten Oppida, wurden errichtet, andere, ehemalige Metropolen, wie die Heuneburg hoch über der Donau, verloren an Bedeutung oder versanken ganz im Schatten der Weltgeschichte.

Überall war nun Rom. Unaufhaltsam spann es sein Netz aus Eroberungen, Provinzen und Städtegründungen bis tief in das Herz des Reiches der ewigen Geschlechter hinein – erschütterte damit die alte Welt bis in ihr Mark.

Fast ohnmächtig mussten die Kelten diesen Wandel mitansehen, die Schmach nicht enden wollender Demütigungen ertragen – der Übernahme ihrer ehemals so mächtigen Gemeinschaft durch die Römer!

Kapitel 1

Pyrene, untere Siedlung der Heuneburg, 98 v. Chr.

»Bitte Papa, trink doch! Nur ein wenig noch!«

Bryanna saß auf dem Hocker vor der Bettstatt ihres Vaters und hielt den Becher an seine zitternden Lippen. Sie hatte versucht, ihn sich übergeben zu lassen, doch es war ihr nicht gelungen. Sie konnte nur mutmaßen, was geschehen war. Mutmaßen und warten.

Ihre letzten Kräuter und einen ganzen Löffel Honig hatte sie für seinen Trank aus dem kleinen Fässchen noch zusammengekratzt. Sie hoffte so sehr, die richtigen Pflanzen gewählt zu haben.

So früh am Tag lag die Stube noch im schalen Graublau des morgendlichen Halbdunkels und die Luft war klamm. Quälend langsam fing die frisch angeschürte Glut des Vortags an, heller zu leuchten. Doch gegen die Kälte der Nacht konnten die spärlichen Flämmchen kaum etwas ausrichten.

Sie seufzte leise. Ehe sie das Haus verließ, wollte sie unbedingt, dass der Vater wenigstens ein paar warme Schlucke zu sich nahm.

Távish sah sie eine Weile mit glasigen Augen an, schüttelte dann kaum wahrnehmbar den Kopf und wusste doch, dass er sie nicht halten konnte. Er wusste, was Bryanna vorhatte.

Schwer atmend sank er in die Decken zurück.

Bryanna stellte den Becher auf den Boden, so nah wie möglich an das Bett heran. Voll Sorge betrachtete sie das Gesicht des Vaters. Noch zeigte sich darin der Stolz des Kriegers, der er einst gewesen war, wenngleich sich längst erste Silberfäden in seinen Bart geschlichen hatten. In ein paar Tagen würden seine Augen ihren alten Glanz wieder angenommen haben und die Reihen tiefer Furchen auf seiner Stirn wären gelichtet – das hoffte Bryanna jedenfalls.

Jetzt aber, wie er so dalag, kam er ihr erschreckend alt, elend und ausgezehrt vor. Hatten sie ihn vor ihr gefunden, ihn irgendwo abgefangen? Hatten sie ihm das angetan, oder war er es auch dieses Mal wieder selbst gewesen?

Wie ein hilfloses Kitz hatte er sich unter dem Bettzeug, dass sie auf ihn gepackt hatte, zusammengerollt. Genauso hilflos fühlte sich auch Bryanna in diesem Moment. Wenigstens fantasierte er nicht mehr. Das Fieber war durch die Wickel, die sie ihm die letzten Tage unermüdlich umgelegt hatte, am Ende doch gesunken.

Erst nach vier Tagen hatte sie ihn gefunden. Vier Tage – und das bei diesem Wetter. Sorgen brannten in Bryannas Augen, wenn sie ihn so in sich zusammengefallen unter den Decken liegen sah. Wie mitgenommen er war – und wie übel er roch. Was mochte er nur wieder alles in sich hineingeschüttet haben? An das andere mochte sie gar nicht erst denken.

Obwohl es noch früh am Tag war, fühlte sich Bryanna bereits todmüde. Todmüde, verängstigt und ohne Hoffnung. Trotzdem. Mühsam rappelte sie sich auf und trat an die Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Sie wuchtete einen der großen Steine aus der immer noch spärlichen Glut, wickelte ihn sorgfältig in ein Tuch und schob ihn dem Vater unter die Füße. Als die unerwartete Wärme, die der Stein über Nacht gespeichert hatte, seine Sohlen traf, starrte er sie kurz mit leeren Augen an. Er schaute so erschrocken, dass Bryanna erleichtert war, als er die Lider wieder schloss. Ächzend warf er sich herum, ein rachentiefer Seufzer entwich seinem Mund – dann war er eingeschlafen.

Sollte er sich nur ausruhen, sich erholen und wieder auf die Beine kommen. Sie brauchte ihn doch. Was täte sie denn ohne ihn? Es musste gut gehen, auch dieses Mal. Sie hatte sonst ja niemanden mehr.

Bryanna wollte ihren Vater in diesem Zustand nicht alleine lassen. Und vor allem wollte sich das Haus nicht verlassen. Nicht in diesen Tagen. Aber die anderen warteten auf sie.

Voll Sorge rückte sie den Hocker dicht an das Bett heran und stellte den Becher mit dem Kräutersud darauf. Dann ging sie zur Feuerstelle zurück, legte einen besonders dicken Eichenprügel auf die Glut und blies das Feuer an – bis sie wiederkam, musste das vorhalten. Vorsorglich drückte sie ein kleines Stück glimmende Kohle tief in den Feuerschwamm, um nicht doch noch am späten Abend Funken für ein neues Feuer schlagen zu müssen. In den feinen Fasern des knochentrockenen Baumpilzes würde die Glut sicher vor sich hin schwelen, ohne aufzulodern. Ihr war bewusst, dass es auch heute wieder spät werden würde, bis sie in die Stube zurückkehrte. Wenn sie zurückkehren würde.

Leise schob sie den starren Vorhang, der die schmalen Fenster gegen die schlimmste Nachtkälte abschirmte, ein wenig zur Seite und sah hinaus.

Der Himmel über der Stadt war genauso grau wie die Trittsteine auf den Wegen, die nur noch knapp aus dem Morast herausragten. Dichter Dunst machte es unmöglich zu sagen, wo der Nebel endete, und die Wolken begannen – ein Schleier, in dem man sich nur zu leicht verlieren konnte. Alles Leuchten war in diesen Tagen aus der Welt gewichen.

Die Zeit in diesem Winter flog für Bryanna viel zu schnell dahin. Die Aufgaben, welche die Tage für sie bereithielten, waren für die wenigen lichten Stunden einfach zu viel. Die Morgen begannen spät, die Dämmerung am Abend, ach, am Nachmittag schon, brach früh über Pyrene herein. Die lange Nacht, die danach folgte, lag schwer auf der Stadt. Wolken versteckten das Sternenlicht. Nach besonders harten Tagen fiel ihr beim Einschlafen das Atmen schwer.

Bryanna schüttete die letzten kümmerlichen Pflanzenreste in kleine Leinensäckchen, die sie sorgfältig zuband und auf einem sauberen Tuch in ihrem Korb verstaute. Die Stoffstreifen, die Ähnel ihr am Vortag zum Auswaschen gegeben hatte, packte sie oben darauf. Sie schlug die überstehenden Enden des Tuches darüber und verschnürte alles sorgfältig. Saoirse war die Erste, die sie heute besuchen wollten.

Vor dem Haus ertönte ein verhaltener Pfiff.

Bryanna warf sich rasch ihr wollenes Tuch um die Schultern, zog die Mitte bis tief in die Stirn, und griff nach dem Korb. Noch einmal drehte sie sich zum Vater um. Er schlief fest und atmete gleichmäßig. Nicht das leiseste Rasseln in seinen Lungen verriet, wie lange er in der Kälte gelegen hatte.

Leise öffnete sie die Türe und trat in die klamme Luft. Sofort legte sich kalte Feuchte auf ihr Gesicht. Der Nebel hielt auch heute die untere Siedlung fest in seinem Griff. Bislang hatte es die Sonne gar nicht erst durch die milchige Suppe geschafft. Der Morgen war an diesem Tag so zögerlich heraufgekrochen, als lohne es nicht, überhaupt hell zu werden.

Kaum hatte sie einen Fuß über die Schwelle gesetzt, kam ihr ihre Hühnerschar hoffnungsvoll entgegen geflattert.

»Ach ihr. Ihr findet auch nichts mehr in diesem ganzen Dreck, gell? Und ich hab’ nicht einmal mehr einen Kanten Brot für euch.«, flüsterte sie.

Drei der älteren Tiere waren seit dem Herbst schon in den Topf gewandert und auch die vier Verbliebenen sahen durch die ewige Nässe wie gerupft aus. Schmutzverkrustet stand ihnen das Gefieder von ihren mageren Körpern. Wochenlang schon hatte keine einzige mehr ein Ei gelegt. Bei der Witterung verwunderte das nicht. Bryanna blickte auf die verbliebenen Hennen. Mehr durfte sie nun nicht mehr schlachten. Wenn es dem Vater aber nicht bald besser ginge, würde sie darum nicht herumkommen.

Sie hoffte, dass sich im Frühjahr zumindest eine der jüngeren Hennen entschließen würde, zu brüten. Sie brauchte dringend Nachwuchs.

Der Hahn stellte sich ihr mit wichtigtuerisch aufgeplustertem Gefieder in den Weg. Mit entschlossenem Blick fixierte er sie, ob nicht doch ein paar Bröckchen für ihn zu holen wären. Bryanna schob ihn unbeeindruckt mit dem Fuß beiseite und hastete den gepflasterten Weg durch den Garten zum Tor, vor dem Ähnel bereits ungeduldig auf sie wartete.

Die Hühner verteilten sich. Sie war noch nicht am Zaun angekommen, da scharrten sie bereits wieder eifrig die Erde von den morastigen Beeten, in denen der geschmolzene Schnee kleine Pfützen hinterlassen hatte. Der Hahn hatte sich in sein Refugium unter der Vorratshütte verzogen. Zum Schutz vor Ratten und Mäusen auf Pfählen hüfthoch über der Erde gebaut, war deren Bodenplatte auch für ihn zu hoch, um sie zu erreichen. Bryanna hatte ihm im Sommer zudem die langen Schwungfedern an einem seiner Flügel gestutzt, da er zu gerne auf den Sims des Kornlagers geflattert war, um dort von dem Getreidevorrat zu fressen. Verdrossen sah er sie nun mit seinen schwarzen Knopfaugen von unten herauf an. Bryanna taten die Tiere leid, die es wie die Menschen, in diesem Winter besonders schwer hatten.

Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, wollte ihn beruhigen, ihm Zuspruch geben, doch das Tier flatterte erschreckt zur Seite. Ihr Blick fiel auf einen der halbrund abgeflachten Steine, die auf die in den Boden gerammten Pfähle, direkt unter dem Boden des Vorratsspeichers geklemmt waren, um das Ungeziefer abzuhalten. Die Feuchtigkeit, der Wechsel von Regen am Tag und Frost in der Nacht, hatte die Steinscheibe bersten lassen. Sie erschrak. Wenn der Stein brechen würde, käme die gesamte Konstruktion ins Wanken und die Hütte könnte umstürzen. Sie musste schnellstens einige Männer aus der Nachbarschaft bitten, ihr bei der Reparatur zu helfen. Doch bei dem Gedanken, an den Türen zu klopfen und um Hilfe zu bitten, schauderte ihr. Zudem: Wer würde öffnen?

»Kommst jetzt? Wir sollten es langsam anpacken! Der Tag ist net endlos. Und: Lass den Kopf unten!«

Ähnel lugte aus ihrer Nische, die sich in den letzten Wochen, in denen Ähnel Bryanna zu Hause abholte, zwischen einem wild wachsenden Holunderbusch und einer Wildrose gebildet hatte über die Mauer in den Garten hinein. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Zwischen ihren Augen hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Sie hatten wirklich viel zu tun an diesem Tag.

»Den Stein hat’s zerissen! Lasst mich gleich schau’n, ob die anderen gut sind.«, wisperte Bryanna.

Ähnel nickte Bryanna ergeben zu. Ihrer Ziehtochter konnte sie nichts abschlagen. So gefährlich ihr Aufenthalt in der einsehbaren Gasse auch war. Und so sehr es eilte.

Bryanna ging um das Vorratshaus herum. Voll Sorge betrachtete sie die Konstruktion. Sie hatte Glück. Die drei anderen Steine waren intakt. Auch die Pfähle, die vor dem Eingraben am unteren Ende schwarz angebrannt worden waren, um sie ein wenig länger vor dem Verrotten zu bewahren, hatten keine einzige weiße Stelle von Pilz oder Fäulnis angesetzt. Zur Sicherheit drückte sie ihren Fingernagel an verschiedenen Stellen hinein. Nirgends drang er tief ein. Das Holz war hart, gab kaum nach. Hier war also alles gut. Und das mit dem geborstenen Stein an der Vorderseite würde der Vater schon irgendwie hinbekommen, wenn es ihm erst besser ginge.

Ähnel pfiff erneut.

Bryanna nahm den Korb fester in die Hand, legte mit der anderen den Ring aus gedrehter Hasel, der den brusthohen Einlass des Besitzes sicherte, zur Seite, atmete tief ein und drückte das hohe Tor auf.

Ähnel ließ es sich nicht nehmen, sie kurz herzlich zu begrüßen.

Vorsichtig sahen die Frauen sich um.

Wenige Schritte auf der engen Gasse, kroch ihnen schon die Nässe durch die dünngelaufenen Sohlen die Waden hinauf. So sehr Bryanna das Leder auch gefettet hatte, war es durch die andauernde Feuchtigkeit und das viele Laufen doch brüchig geworden. Darüber hatte sie viele Tränen vergossen. Nun achtete sie längst nicht mehr auf das ziehende Gefühl, das ihre Beine taub werden ließ. Ihre Gedanken galten in diesem Moment einzig den Menschen, zu denen sie auf dem Weg waren. Immer noch machte es ihr große Angst, die Kranken zu besuchen. Und nun kamen auch noch das Verstecken und die ganze Geheimnistuerei dazu. Doch die Menschen waren auf Ähnels und ihre Fürsorge angewiesen, auf ihr Wissen um die richtigen Kräuter – und auf ihren Zuspruch.

Öfters hatte die alte Kräuterfrau sie inzwischen alleine gehen lassen. War sie bei den schwierigsten Fällen doch dabei, hatte Bryanna dennoch alle Hände voll zu tun, um Ähnel anzureichen, was sie brauchte. Mit den Alleingängen aber, war es nun vorbei und Bryanna darüber sehr dankbar.

Ähnel lief langsam. Bryanna sah, dass sie leicht hinkte. So sehr es sie auch eilte, schlich sie stoisch der Kälte trotzend, hinter der alten Hagetusse den aufgeweichten Weg entlang. Obwohl die Sonne bald den höchsten Stand des Tages erreichte, waren die schmalen Gassen wie leergefegt. In den Gärten rund um die Höfe der Nachbarschaft, sah man kein einziges Gesicht. Zu dieser Jahreszeit blieben die Menschen in ihren Hütten. Wie die Füchse im Bau, warteten sie dicht gedrängt auf bessere Zeiten. Doch Bryanna wusste, dass der Schein trügte. Zweimal schon, war sie ihnen so knapp entwischt, dass sie den Aussatz an ihren Hälsen hatte sehen können.

Die Frauen sprachen nicht miteinander. Sie beeilten sich. An jeder Ecke, jeder freieren Stelle hielten sie dennoch kurz inne. Angespannt lugten sie um jede Hausecke. Bryanna horchte in den Nebel hinein, wartete, bis Ähnel wortlos das Zeichen gab.

»Weiter!«

Sie hatten eine ganze Weile zu laufen, ehe sie in den Teil der Siedlung kamen, in dem die Behausungen noch dreckiger, noch ärmlicher wie ihre eigenen waren. Kot und Unrat lagen zuhauf in den schmalen Durchgängen. Niemanden schien es zu kümmern.

Nur wenige der Häuser hier, waren als Fachwerk gebaut. Den meisten sah man an, dass sie jemand aus den schiefsten Spaltbohlen und anderem mehr oder weniger Brauchbaren hastig zusammengezimmert hatte, ohne wirklich etwas davon zu verstehen.

Dort, im ärmsten Teil Pyrenes wohnte Saoirse mit ihrer vielköpfigen Kinderschar – in einer Welt, die aus nichts als Dreck und schmalen, dunklen Gassen zu bestehen schien. Die Gebäude standen so eng, dass man nachts nur selten den Mond und am Tag kaum einen Sonnenstrahl zu sehen bekam. In den feuchten Gängen, wo sich das ganze Jahr kaum die Wärme hin verirrte, taute es tagsüber erst gar nicht. Der Frost der Nacht lag als glitzernde Sterne auf brackigen Schlammtümpeln. Bei jedem Schritt knirschte es unter Bryannas Füssen, so sehr sie sich auch bemühte, die hohl übereinander liegenden Eisschichten zu meiden und auf festen Grund zu treten.

Heerscharen von Raben waren in die Siedlung eingefallen. Auf jedem zweiten der tief herabgezogenen Dächer hockten die Todesvögel und krächzten ihnen auffordernd nach. Ihr hohler Ruf klang nach Verlust und Endgültigkeit. Ähnel zischte den Vögeln halblaut Verwünschungen zu, doch sie rührten sich nicht. Erschrocken zog Bryanna Ähnel am Ärmel, um sie zur Ruhe zu mahnen. Eine plötzlich aufgeschreckte Schar hätte die beiden Frauen womöglich doch noch verraten.

Pyrene bewegte sich unaufhaltsam auf etwas zu, dass auf kein gutes Ende hoffen ließ.

Bryanna hielt den Korb in beiden Händen fest vor ihrer Brust und versuchte so viele Finger wie möglich unter den Saum ihres Tuches zu schieben. Trotz ihrer Angst und dem langen, dichtgewalkten Stoff fror sie. Der Weg bis ganz nach oben zu Saoirse, ihrer ersten Patientin war lang. Es begann zu nieseln und bald wusste Bryanna nicht mehr, ob es nur der feine Regen war, der ihr über die Wangen lief.

Die Temperaturen waren für diese Jahreszeit viel zu mild. Es regnete nahezu täglich, Schnee gab es kaum. Der hätte eine dämmende Schicht gegen die Kälte der Nacht, um die Hütten gebildet. Doch jede Flocke, die es doch bis zum Boden hinunter schaffte, taute augenblicklich. So drang die Feuchtigkeit durch die nachlässig aufeinandergepassten Stämme und Bretter in die Gebäude hinein. Unentwegt waren die Frauen und Kinder dabei, Moos in die Spalten zu stopfen, um wenigstens die ärgste Kälte draußen zu halten.

Gehwege und selbst die gepflasterten Plätze hatten sich in eiskalte Morastseen verwandelt. Darüber hatte sich die gefährlich dünne Eisschicht gebildet. Zu dünn, um einen Menschen zu tragen. Die Gassen in diesem Teil der Siedlung waren davon auffallend stark betroffen. Deshalb hatten die Männer flache Findlinge vom Fluss herauf geschleppt, und als Tritte in den gefrorenen Schlamm gesetzt.

Aufmerksam balancierte Bryanna von Stein zu Stein. Immer wieder gaben Blöcke nach, wenn sie auch nur ein wenig außermittig auf sie trat. Einige waren dazu gefährlich glatt. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie abrutschten und sich die Füße verstauchen. Bryanna konzentrierte sich ganz auf ihren Weg. Der Dreck kroch ihr die Knöchel hinauf und quoll schmerzend kalt von den Füßen aufwärts. Der Saum ihres Rockes klatschte bei jedem Schritt schwer um ihre Beine. Sie kamen nur langsam voran.

Das Haus, in dem Saoirse mit ihrer Familie wohnte, klebte wie ein Wespennest an der Rückseite der Stadtmauer. Sie trennte die untere Siedlung von der Oberburg. Die Kinder hatten die Kräuterfrauen die Gasse heraufkommen sehen und öffneten ihnen erwartungsvoll die baufällige Türe.

Als sie über die Schwelle traten – froh, es unbehelligt bis hierher geschafft zu haben – raubte die Luft im Inneren Bryanna beinahe den Atem. Beißender Rauch schlug ihr von der offenen Feuerstelle entgegen, stach in ihre Lungen. Bei dieser Witterung war das Holz kaum trocken zu bekommen und rußte furchtbar. Zudem drängten sich viel zu viele Menschen in dem einzigen Raum der winzigen Hütte. Um Brennmaterial zu sparen, rückte man eben zusammen. Niemand wagte, die Türe zu öffnen – kam so doch die Kälte herein.

Für die fiebrige Erkältung der Mutter war der Rauch fatal. Aus dem trockenen Husten, der so viele Menschen in diesen Tagen quälte, entwickelte sich im Handumdrehen eine Lungenentzündung. Dem hatten weder die geschwächten Körper noch Bryannas letzte Kräuter etwas entgegenzusetzen. Und die Mutter wurde dringend gebraucht. Bryanna hatte irgendwann aufgehört, zu zählen, wie viele hungrige Mäuler sich um den Tisch drängten. Sieben mussten es inzwischen sein. Oder noch mehr?

Bryanna spürte, dass der Tod in der Luft hing.

Der Vater war nicht im Haus, also überzeugte Ähnel die Älteste, den Kessel tiefer zu setzen. Sie selbst versuchte, dem nahezu erloschenen Feuer mit ein paar dünnen Scheitern neues Leben einzuhauchen.

Als es aus dem Kessel letztlich doch noch zu dampfen begann, half Bryanna der schwerkranken Frau, sich aufzurichten. Ähnel hieß der Tochter, eine Schüssel mit dem heißen Wasser zu füllen und stellte sie der Mutter auf die Decke über ihren Oberschenkeln. Dahinein hatte sie ein Säckchen, gefüllt mit trockenem Thymian, Spitzwegerich und Wiesensalbei aus Bryannas Korb gelegt, das seine Aromen nun als dunkelgrüne Schwaden in das Wasser abgab. Ein Tuch über dem Kopf und die Schultern der Mutter wies den Dampf des heilenden Sudes den Weg zu deren Bronchien.

»Setz’ dich zu ihr und halt sie!«, wies Ähnel Bryanna leise an. Bryanna schauderte, doch ließ sie sich folgsam auf die Bettkante sinken und griff nach der Hand der Kranken.

»Schnauf’ nur tief ein und aus. Ganz langsam. Komm, versuch’ es!«, ermunterte sie die Mutter, der schon das Sitzen schwerfiel. Saoirse lächelte Bryanna unter dem Tuch durch ihre dunklen Augenringe dankbar an, bevor ein tief aus den Lungen heraufsteigender Hustenanfall ihr das Gesicht schmerzhaft verzog.

Bryanna musste sich abwenden. Saoirse sollte ihre Hoffnungslosigkeit nicht sehen. Die Aromen der Heilkräuter lösten den Schleim in den Bronchien der Kranken vielleicht ein wenig, so dass Saoirse das Atmen für eine Weile leichter fallen würde. Dennoch – was sie hier taten, war im Grunde sinnlos. Die Mutter würde den nächsten Neumond nicht erleben. Sieben Kinder zählte Bryanna aus den Augenwinkeln, die gerade mit großen Augen ihr Tun verfolgten. Sie alle würden zu Halbwaisen werden.

Wenn sie nur mehr Kräuter gesammelt hätte im letzten Sommer! Ähnel hatte es ihr angegeben, doch dann war alles anders gekommen. Was sie zu sammeln hatte, musste die Alte ihr noch viel zu oft sagen. Ihr, Bryanna, fehlte noch so viel Wissen, die Erfahrung beim Umgang mit den vielen verschiedenen Gebrechen. Dann war der Vater immer mehr dem Met und dem Bier verfallen und sie hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, ihm ein jedes Mal wieder auf die Beine zu helfen und gleichzeitig für das Nötigste in den Mund zu sorgen. Für ausgedehnte Kräuterwanderungen war da kaum Zeit geblieben und die Ähnel selbst war im letzten Frühjahr plötzlich zu schwach dafür geworden.

Wie gerne hätte sie vom Druiden gelernt. Sie kannten die wirkungsvollsten Methoden! Doch das heilige Wissen der Männer stand den Frauen nicht zu. Ihnen blieben nur die Kenntnisse von Mutter Erde. Natürlich hatte Ähnel unter der Hand von einigen der Druidengeheimnisse erfahren, doch würde sie es nie wagen, sie schon jetzt an Bryanna weiterzugeben, oder sie – etwa Eichensud oder gar getrocknete Mistelbeeren – bei ihrem eigenen Tun einzusetzen. Das stand einer einfachen Kräuterfrau nicht zu.

Doch für diese Gedanken war nun kein Platz. Ähnel drängte zum Aufbruch. Bryanna wäre es lieber gewesen, die Kinder nicht sich selbst überlassen zu müssen. Mit dreckigen Gesichtern und verkrusteten Nasen saßen die Kleinsten in ihren dünnen, abgetragenen Hemdchen da und verfolgten neugierig jeden ihrer Handgriffe. Ihre Haare waren alle raspelkurz – wahrscheinlich hatte eines im Herbst Läuse ins Haus geschleppt und über die gesamte Familie verteilt. Oder sie waren geschoren worden, um das im Süden so begehrte helle Haar der Kelten an fahrende Händler zu verkaufen, um damit die schmale Haushaltskasse ein wenig aufzubessern.

Ähnel hieß die Ältesten an, die Mutter zu stützen, solange sie den Kopf über die Schüssel beugte. Bryanna legte zwei weitere Säckchen auf den wackeligen Tisch und erklärte dem Mädchen, den Sud am nächsten Tag noch einmal zu erwärmen, bis er wieder tüchtig dampfte. Nach dem Dampfbad sollte sie ihm der Mutter zum Trinken geben, wenn ihr danach wäre.

»Den Tag drauf machst ihr das Selbe dann mit dem neuen Säckerl. So wie ich’s g’macht hab. Hast gut zug’schaut?«

Ähnel schaute das Mädchen ernst an.

Das Mädchen nickte müde, kaum wahrnehmbar. Ihr Blick verlor sich irgendwo zwischen Ähnels Gesicht und der Wand dahinter.

»Wenn die Mutter mag, kann sie auch heut’ schon von dem Tee trinken. Möglichst heiss, versteh’st? Und lasst sie bloss ruh’n. Sie muss im Bett bleiben. Haltet sie so warm, wie’s nur geht. Legt sich am besten immer einer zu ihr. Und wenn der Vater kommt und was zum Essen bringt, dann soll sie als Erste essen. Dann wird’s schon wieder.«

Bryanna nickte dem blassen Mädchen aufmunternd zu und stemmte sich von dem Bettgestell, auf dem die Fiebernde kauerte, nach oben. Das Mädchen rührte sich nicht. Sie hielt den Rand der Schüssel mit weißen Knöcheln und starrte weiter geradeaus auf die Wand hinter dem Bett. Die Mutter berührte sie nicht. Bryanna legte ihren Arm um die schmale Schulter der ältesten Tochter und drückte sie an sich. Sie wusste, welche Last schon jetzt auf dem Mädchen lag. Und wenn die Mutter starb, fiel deren Rolle ganz auf sie. So eine Menge Mäuler zu stopfen und kaum Geld im Haus! Welchem Gewerke der Vater nachging, ob er sich überhaupt ordentlich um seine Familie kümmerte, wusste sie nicht. Sie kannte die Leute im Grunde kaum.

Das Mädchen zeigte weiterhin keine Regung. Bryanna war sich nicht sicher, ob sie sich alles gemerkt hatte, was Ähnel ihr angewiesen hatte – ob sie überhaupt zugehört hatte. Sie beschloss, in ein paar Tagen noch einmal bei ihnen vorbeizuschauen.

Ähnel stand schon an der Türe. Bryanna griff nach ihrem Korb und wandte sich dem Gehen zu. Sie fühlte förmlich, wie sich die bittenden Blicke der Kinder in ihren Rücken bohrten. Als sie in ihre hilflosen, verweinten Augen sah, traf es sie bis ins Herz.

Wieso nur hatten sie keine mächtigeren Kräuter? Warum vermochten sie kaum mehr einem der Kranken zu helfen? Wie oft in diesen Tagen, kämpfte sie mit sich, den letzten Rest Mut, den sie noch in sich hatte, nicht auch noch zu verlieren.

Schnell verließen sie das Haus.

Aus dem Nebel vor der Türe trat unvermittelt eine gebeugte Gestalt. Die Frauen erstarrten. Bryanna zog unwillkürlich die Luft durch die Zähne. Dann erkannte sie den Vater der Kinder, der zwei Eichhörnchen, die er an den Hinterbeinen zusammengebunden hatte, in der Faust hielt. Erleichtert atmete sie aus.

»Und Ähnel? Was meinst? Wie schaut’s aus?«

Hoffnungsvoll sah der Mann sie an. Ähnel griff Bryanna an den Oberarm, die Aufforderung, dass sie sich um den Vater zu kümmern hatte, lernen sollte, mit diesen Situationen zurechtzukommen. Sie selbst hinkte dem Tor zu.

Bryanna fiel das Sprechen schwer. Mit gesenktem Kopf stand sie vor dem Gatten der Sterbenden und betrachtete angestrengt die Fußspitzen ihrer abgetragenen Schuhe.

»Machst ihr eine warme Suppe d’raus«, murmelte sie und deutete auf die beiden mageren Tierchen in seinen Händen.

»Und lasst ihr Ruh’. Sie muss sich ausruh’n. Verstehst? Behalt’ nur den Mut, dieser Elendswinter geht bald zu End’.«

Sie kämpfte darum, ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen.

Das Gesicht abgewandt, setzte sie an, Ähnel hinterherzukommen. Die Tränen, die ihr in den Augen standen, sollte er nicht sehen. Dem Vater die Wahrheit über seine Frau zu sagen, brachte sie nicht übers Herz. Vielleicht geschah ein Wunder und die Mutter überlebte. Und wenn nicht, sollte er wenigstens ein bisschen länger die Hoffnung darauf haben.

Jackel hielt sie zurück.

»Dank Dir, Bryanna.« Der Mann schüttelte ihr zögerlich die Hand. »Was bin ich denn schuldig?«

»Schon recht, Jackel. Des passt schon. Viel konnt’ ma ja nicht tun. Bringst halt mal eine Ente oder eine Gans, wenn’sd im Frühjahr Jagen gehst. Jetzt sorg’ erst mal für dei’ Frau.«

Mit einem erleichterten Nicken verabschiedete sich Jackel von ihr. Mit schweren Schritten schlurfte er ins Haus. Bryanna sah ihm nach. War ihm bewusst, wie es um seine Frau stand?

Sie nahm einen tiefen Atemzug. Nach der stickigen Luft in der Hütte tat die Frische gut.

»Wenn’s wärmer wird, bringt sie nach draußen!«, rief sie Jackel nach. Aber der war bereits im Haus verschwunden.

Bryanna ging die wenigen Schritte durch den Vorgarten zu Ähnel zurück auf die Gasse. Für einen Moment blieb sie stehen und lehnte sich an die brüchige Umzäunung. Die Luft in die Leere in ihrem Innersten zu saugen, bereitete ihr Mühe.

»Ich weiß, es ist net leicht. Aber die Leut’ brauchen uns!«

Ähnel sah sie aufmunternd an, doch ein Blick reichte schon lange nicht mehr.

Ein schmaler Sonnenstrahl, der Einzige, der an diesem Morgen einen Spalt durch die grauen Wolken gefunden hatte, fiel wenige Schritte vor ihnen auf den Weg. Durch ihre schweren Gedanken hindurch, nahm Bryanna das kleine Licht wahr und augenblicklich fühlte sich die Bürde, die auf ihren Schultern und ihrem Herzen lastete, ein klein bisschen weniger erdrückend an.

»Hab Dank Brigid«, flüsterte sie und schloss die Augen. Der kleine Fingerzeig ihrer Göttin, der Gruß des neu erblühenden Jahreskreises, weckte Hoffnung in ihr. Wie so oft in diesem Winter waren es die Gebete an Brigid, die sie emporhoben, heraus aus dem Unheil und dem ganzen Schmutz, in dem sie sich befand. Die Gebete waren es, die sie für einen, wenn auch noch so kurzen Moment dorthin trugen, wo sie hatte sein sollen – wo ihr Wollen war. Und: Sie gaben ihr das Bewusstsein für das, was längst um sie herum geschah.

Ja, es war bereits zu sehen – wenn der Nebel sich lichtete und man sich aufmerksam umsah, mit offenen Augen durch die Gärten und Höfe ging: Das Frühjahr trieb den Elendswinter dem Ende zu.

Der monotone Rhythmus des schmelzenden Wassers, das überall um sie herum von den Dächern tropfte, zog sie aus ihren Gedanken, mahnte, ihr Tagwerk fortzusetzen.

Sie hangelten sich die rutschige Gasse zurück zum Markt. Bryanna hatte Ähnel untergehakt und half ihr über die rutschigen Steine. Am Rande des Marktplatzes in eine Nische gedrängt, blieben sie lange stehen, beobachteten jeden Winkel, jeden der verwaisten Stände. Alles blieb ruhig. Fast schien es ihnen, die Einzigen auf der Welt zu sein. Und doch wussten die beiden Frauen, dass es alles andere als das war. Wie viele unsichtbare Augen mochten Bryanna in diesem Moment beobachten, überlegen, ob sie die eine wäre?

Die Frauen warteten lange, hielten sich dann eng im Schutz von Hauswänden und Palisaden, bevor sie hastig den Platz an der schmalsten Stelle überquerten und sich rasch nach Osten in die Gassen des Viertels der Weber und Walker drückten.

»Weißt was, Bryanna. Die Radha, die besuchst jetzt selber. Des schaffst schon. Ich hab’ derweil’ was anders zu tun und danach treffen wir uns wieder hier. Aber bleib net z’lang.«

Ähnel nickte Bryanna aufmunternd zu und die nickte, wenn auch deutlich weniger zuversichtlich, zurück. Sollten sie sich wirklich trennen?

Radha wartete bereits sehnsüchtig auf ihren Besuch und den Teller Gemüsebrühe, den Bryanna ganz unten in ihrem Korb, in einer Deckelkanne für sie mitgebracht hatte. Die alte Näherin war an sich nicht leidend, hatte außer Bryanna und Ähnel aber niemanden mehr, der nach ihr sah. Seit ihr Augenlicht nahezu erloschen war, fiel es Radha zunehmend schwerer, für sich selbst zu sorgen. Ähnel wollte deshalb seit Wochen mit Oidche, dem Weber, drei Häuser weiter, reden. Dessen Ehefrau hatten sie im letzten Sommer dem Hügel übergeben. Auch er war jetzt allein.

Radha und Oidche – die beiden Kräuterfrauen fanden das eine ganz ausgezeichnete Idee.

Bryanna stellte den Krug mit der Brühe direkt in den Rest Glut der gemauerten Kochstelle, legte Holz nach und blies das Feuer an. Bis die Suppe warm genug war, setzte sie sich zu Radha ans Bett.

»Und Radha, wie geht’s Dir heut’?«

Die Alte blickte ihre Besucherin mit trüben Linsen freudig an, nahm Bryannas Arm und streichelte ihn liebevoll. Radhas Hände fühlten sich rau und schwielig an, doch Bryanna genoss die Berührung ihrer knotigen Finger, schöpfte neue Kraft daraus. Eine tiefe, seit vielen Jahren bestehende Freundschaft verband die beiden Frauen. Auch ohne sie sehen zu können, bemerkte Radha Bryannas Kummer sofort.

»Bist ein gutes Kind, Bryanna. Das warst schon immer. Wie s’d für alle sorgst. Grad jetzt. Obwohlst dich doch wegen mir nicht selbst in Gefahr sollst bringen. Nur damit ich meinen Teller Suppe krieg’. Des ist es doch nicht wert! Selbst die mutigsten Männer ham sich verkrochen, wie die Marder. Aber du Mädl, du kommst. Jeden Tag. Du brav’s Kind. Was täten wir nur alle ohne di’?«

Radha klopfte ihr liebevoll auf den Unterarm und Bryanna spürte die Knochen durch die ledern gewordene Haut. Sie beugte sich zu ihr und nahm die alte Näherin fest in die Arme.

»Dann tät’s halt eine andere. Wenn schon.«

Bryanna ließ die betagte Frau lange nicht los. In den Armen der alten Näherin durfte sie das hilflose Kind sein, als das sie sich in letzter Zeit so oft fühlte.

Schließlich richtete sie sich auf und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Gedankenverloren spielte sie mit ihren Gürtelbändern. Radha sah zwar kaum mehr etwas, doch der Ton in Bryannas Stimme war ihr nicht entgangen.

»Was plagt dich Ännchen? Du hörst dich gar net gut an. Magst es mir nicht erzähl’n?«

Bryanna war erleichtert, dass Radha fragte. Den ganzen Winter über hatte sie so vielen geholfen, für sich aber kaum jemanden gehabt, bei dem sie sich hätte aussprechen können. Selbst Ähnel war in letzter Zeit zu sehr in ihren eigenen Gedanken. Radha vertraute sie. Schließlich hatte sie sie schon als kleines Kind, als die Mutter noch lebte, gekannt. Bryanna konnte sich daran aber nicht mehr erinnern.

Damals hatten sich die Männer scharenweise nach der hübschen Näherin umgesehen. Keiner vermochte ihrer Anmut zu widerstehen. Ein Ahnen davon ging auch heute noch von ihr aus, lag in ihren halbblinden Augen.

»Ach Radha. Der Winter is’ so arg und grad ist’s mir, als möcht’ er gar nimmer enden.«

Der kleine Sonnenstrahl vorhin – Brigids frühlingshafter Pfeil – hatte Bryanna kurz ermutigt, doch die Last der Verantwortung wog einfach zu schwer.

»Alles versucht hab’ n wir. Sogar nochmal ’naus zu den Bauern ist die Gudrùn und hat wieder bettelt um ein bisserl Gerste und ein paar Rüben. Weißt no’? Der letzte Sommer war ja so gar nicht recht fürs Korn und die Linsen. Anfangs ham die Großkopferten noch reichlich geb’n. So viel war’s, dass ich der Gudrùn hab’ tragen helfen müssen. Ja, so viel ist’s zuerst g’wesen.«

Bryannas Worte erstarben. Sie rang nach Luft. Und mit sich. Radha hielt still die Hand der Verzweifelten. Sie erinnerte sich gut daran, was Bryanna ihr erzählt hatte. Wie sich die beiden Freundinnen abgemüht hatten. Sie hatten getan, wozu andere anscheinend nicht im Stande gewesen waren.

Gudrùn hatte die scheue Bryanna lange dazu überreden müssen. Doch dann war sie doch mitgegangen. Gudrùn hatte genau gewusst, wie sehr es ihrer Freundin widerstrebte, an die Türen zu klopfen. Sie selbst hatte kein Problem damit. Doch die Bauern kannten Bryanna. Fast in jedem Hof war sie schon mit der Ähnel gewesen, um Kranke zu versorgen. Gudrùn brauchte Bryanna für ihr Vorhaben. Und Bryanna wollte ihre Freundin nicht enttäuschen.

Mehr als einmal hatten die Frauen sich überwunden und waren zu den Höfen der Großbauern vor der Stadt marschiert, hatten um Essen und Holz gebeten. Warm war es in den Stuben gewesen und nach Gesottenem und Speck hatte es gerochen, hatte ihr Bryanna damals erzählt. Und wie sehr sie das ärgerte. Denn nicht für sich waren die Almosen gewesen, sondern für die Halbverhungerten der unteren Siedlung, mit ihren vielköpfigen Familien. Bald jeder zweite Haushalt saß schon vor Imbolc vor leeren Schüsseln.

So leise und verhalten, dass Radha es kaum hören konnte, erzählte Bryanna weiter. Die Berührung der Alten gab ihr Mut.

»Der Winter will einfach nicht enden Radha. Wie die Fliegen sterben’s uns weg. Der alte Wagenschmied oben und die Kleine vom Wirt. Die ganzen Kinder. Das g’samte Leben hättens’ doch noch vor sich g’habt. Und der Ähnel, der geht’s auch net gut. Oft hat’s mich jetzt allein losg’schickt. Aber was weiß ich schon? Die Ähnel – die hätt’ es alles so viel besser g’macht als ich. Die hätt’ ihnen allen helfen können.«

Bryanna wischte sich über die Augen.

Ähnel war eine angesehene Hagetusse vom unteren Plateau – eine Kundige der Heilkräfte der Pflanzen. Sie hatte sich der kleinen Bryanna damals angenommen, in der Zeit, als die Mutter gestorben war und der Vater seelisch und im Alltag allein mit den beiden Kindern überfordert. Ähnel war Bryannas Halt gewesen.

Die alte Kräuterfrau hatte keine eigene Familie. Umso mehr hatte sie sich gefreut, wenn die kleine Bryanna zu ihr kam und ihr Plappermäulchen nicht stillstand. Zuhause war die Stimmung so gedrückt gewesen, dass sich das Mädchen den Mund dort nicht aufmachen getraut hatte. Daheim beim Vater war Bryanna kein fröhliches Kind gewesen. Der frühe Tod der Mutter hatte sie ernst werden lassen und als dann noch der Bruder verschwand und sie allein mit dem Vater zurückblieb, war auch die letzte kindliche Unbefangenheit aus ihrem Gesicht gewichen.

Aber bei der Ähnel, da hat sie plappern dürfen. Da hatte sie nicht still auf der Bank sitzen müssen, weil der Vater sie sonst böse angeschaut hätte. Bei ihr hatte sie singen und sich im Kreis drehen dürfen, so lange bis sie umfiel. Dort störte das niemanden. Und zu entdecken gab es bei der fülligen Frau mit den roten Locken, die ihr wild nach allen Seiten abstanden, auch immer etwas.

Ähnel hielt nichts von Gebräuchen oder den Sitten der Alten. Was man zu tun oder zu lassen hatte? Das war der Alleinstehenden einerlei. Sie hatte Bryanna bei der Hand gepackt und war mit ihr hinaus in die Wiesen gerannt, dass ihnen die Röcke bis zu den Hüften hinauf flogen. Gemeinsam stibitzten sie Äpfel von den Bäumen der Großbauern oder fuhren mit den Fingern durch den Rahm, wenn die Milch von Ähnels beiden Ziegen lang genug gestanden hatte. So tief, dass man die Spuren noch lange darin sehen konnte. Zuhause hätte es für so ein Benehmen Schläge gegeben.

Bei jedem ihrer Besuche in Bryannas Kindertagen hatte Ähnel eine neue Geschichte für sie gehabt. Kaum hatte die Hagetusse zu erzählen begonnen, da saß der kleine Wildfang artig auf einem Stuhl und lauschte mit offenem Mündchen den Abenteuern der Ahnen und ihren Göttern. Das Mädchen lernte von ihr alles über ihre Vorfahren, von den Wanderungen der großen Stämme, über die Sagenwelt ihres Volkes und vor allem über die Heilkraft der Pflanzen.

Ähnel führte sie in die Geheimnisse der Kräuter ein. Bryanna empfand von Anfang an eine ungeheuere Leidenschaft für die verborgene Kraft der Pflanzen und deren Wirkung auf den Körper. Bald erkannte sie die verwertbaren Blätter und taugenden Stängel am Weg, lernte, wie man deren Kraft nutzbar machte und durch geschicktes Kombinieren die Wirkung noch verstärkte. Sie erfuhr, für was man die Auszüge in saurem Essig und wann besser im kochenden Wasser ansetzte. Ähnel zeigte ihr, wie man die holzigen Triebe mit der Sichel schnitt, den Umgang mit den Kesseln, um heilenden Wein zu sintern. Sie rieb mit ihr Salben und Pasten. Sie wusste, zu welcher Tageszeit man welche Pflanze sammeln durfte, ob man sie brach, oder schnitt und dass nach Litha, dem Mittsommer, die Sonnenkräuter dem unsichtbaren Volk gehörten.

Bryanna zeigte von Anfang an die seltene Gabe, auch ohne Ähnels vorherige Anleitung, nur anhand von Form, Wuchs und dem Standort eines Krautes zu wissen, wofür es zu verwenden wäre. Ähnel bemerkte diese Begabung früh an dem kleinen Mädchen und stärkte sie in dieser außergewöhnlichen Fähigkeit. Auf ihren Wanderungen gab sie ihr fremdes Kraut in die Hand, und ließ sie raten, wofür es einzusetzen wäre.

Angestrengt presste die kleine Bryanna dann die Lippen aufeinander und sah sich aufmerksam um. Sie drehte die Pflanze in ihren Händchen, besah sie sich genau. Sie schnupperte daran, hielt sie gegen das Licht. Sie zerrieb ein Blättchen davon vorsichtig zwischen den Fingern und roch. Dann legte sie den Kopf schief, kniff ein Auge zusammen und sah zu Ähnel hinauf, die über den Ernst, der sich im Gesicht der Kleinen zeigte, ein jedes Mal schmunzeln musste.

Dann zählte Bryanna auf, wofür sie das Kraut verwenden würde. Ob sie es als Tee bei Bronchitis aufgießen oder zu einer breiigen Auflage gegen Verbrennungen und offene Wunden zerstoßen würde. Mit ihrem Fazit lag sie erstaunlich oft richtig.

Vor zwei Sommern waren die roten Haare der resoluten Frau plötzlich weiß und Ähnel schlagartig alt geworden. Seitdem musste Bryanna viele ihrer Aufgaben übernehmen. Trotz ihrer Begabung fühlte sie sich oft überfordert.

Viel Zeit zum Lernen war ihr nicht gegönnt gewesen. Die Bewohner der Siedlung nahmen sie nur zögerlich als neue Kräuterfrau an. Anfangs hatte es viel von Ähnels Überzeugung gebraucht, dass Bryanna alleine bei ihnen vorsprechen durfte. Ähnel hatte sie davor nur selten mit zu den Kranken genommen. Die meisten kannten die stille, junge Frau kaum. Bryanna musste sich bei jedem von ihnen von Neuem bemühen. Erst in letzter Zeit begleitete Ähnel sie wieder.

Anfangs fiel Bryanna der Umgang mit den Leidenden daher schwer. Die Arbeit mit den Kräutern ging ihr bedeutend leichter von der Hand. Die Fragen der Leute, was sie da plagte, konnte sie selten sicher beantworten, viele der Symptome waren ihr noch immer gänzlich fremd. Abend für Abend musste sie nach all der Arbeit bei der Ähnel danach fragen.

Der enge Kontakt mit den Fremden, sie zu berühren und sich nach ihren oft blamablen Gebrechen zu erkundigen, war ihr peinlich. Doch diese Arbeit brachte das dringend nötige Geld für den Haushalt ein. So beugte sie sich schließlich der Aufgabe und tat, worin ihr Schicksal zu bestehen schien.

Nach und nach gewöhnte sie sich an die Leute, die Ausdünstungen und Geräusche der Krankheiten, lernte, wie sie auf ihre Fragen antworten konnte, damit die Patienten beruhigt waren, auch wenn sie selbst nicht wirklich weiterwusste.

Und die Leute gewöhnten sich an sie.

»Ännchen, verlang nicht zu viel von dir. Das tut nicht gut.« sagte Radha und richtete sich auf. »Du bist noch so jung. Taranis ist stärker als wir und manchmal holt er sich eben einen vor der Zeit. Denk an meinen Mann damals. Da kann man nichts machen. Dann muss man lernen, es anzunehmen.«

Sie strich Bryanna über den Rücken.

»Was nutzt denn dann das ganze Plagen und Schinden, wenn’s am End’ doch nicht tut? Weißt, manchmal, am Morgen, wenn’s grad noch so kalt und dunkel ist im Haus, da lieg’ ich oft noch ein Weilchen. Einfach so, obwohl es längst Zeit wär zum Aufsteh’n. Aber ich kann mich dann net rühr’n, weil ich einfach nimma weiterweiss. Ich wünscht’ mir manchmal, die Sonne würd’ dann einfach nimma aufgeh’n, damit keiner mehr kommt und schon wieder was von mir verlangt.«

Bryanna seufzte und rappelte sich auf.

»Und weil des Bettzeug so schön warm is’.« Radha zwinkerte ihr schelmisch zu.

Die Suppe war inzwischen warm geworden. Bryanna wickelte sich ein Tuch gegen die Hitze um die Hand und griff nach dem Henkel.

Als sie mit dem Krug von der Feuerstelle zurückkam, saß Radha auf der Bettkante und hatte die Decke wie einen Mantel um sich geschlungen. Bryanna reichte ihr Löffel um Löffel an, wartete dazwischen, damit die fast Zahnlose genug Zeit zum Schlürfen und Schlucken hatte.

»Aber am End’ stehst allerweil dann doch wieder auf. Und nur darauf kommt ’s an. Ännchen, du machst es gut. Lern’ Nachsicht mit dir zu haben. Modron hat auch dir nur zwei Händ’ geben. Und die nimmst doch eh so fleißig her. Und kochen kannst! Graupen mit Schwammerl. Das schmeckt scho’ wieder so gut. Glaub mir, das Frühjahr steht vor der Tür’. Ich spür’s schon in meine alten Knochen!«

Schweigend aß Radha weiter. Bei jedem Löffel, den Bryanna ihr in den schmalen Mund schob, schmatzte die Alte genüsslich.

Nach dem Essen blieb Bryanna noch etwas bei Radha und die beiden Frauen unterhielten sich. Dann packte sie die Alte fest in ihre Decken, legte Holz nach und verließ die Hütte.

Ähnel wartete bereits ungeduldig auf sie.

Sie mussten sich sputen, um noch bei Tageslicht zu Cellach zu kommen. Beim Holzmachen hatte sich der Mann ins Bein gehackt. Seit dem letzten Vollmond wusch Bryanna ihm deshalb täglich die Wunde aus und verband sie. Wie hatte sie gebangt, etwas bei einer so schweren Verletzung falsch zu machen. Mittlerweile heilte sie aber gut ab. Cellach war ein starker Mann – er würde es schaffen. Trotzdem fand sie es besser, wenn Ähnel sich sein Bein doch noch einmal selbst anschauen würde und neue Verbände anlegte. Zu viele hatten sie den Winter ins Grab gehen sehen – da wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.

Der Besuch bei ihm war kurz. Wie sie gehofft hatte, war die Wunde fast vollständig geschlossen. Cellach hatte ihr für ihre Hilfe einen Sack mit gut sechs doppelte Handvoll Emmer gegeben. Der war ihr in diesen Tagen wertvoller als ein ganzer Berg Potin oder gar ein Silberling. Aus dem Getreide würde sie die nächsten Tage Eintopf für den Vater und sich kochen. Einen Kräftigen, mit Speck und Rüben dazu. Das würde ihn schnell wieder auf die Beine bringen.

Erst mit der Abenddämmerung kam sie zum Hof zurück. Müde und doch froh, wieder zu Hause zu sein, drückte sie das Tor auf. Die Hühner waren nirgends zu sehen. Zu dieser Stunde saßen sie längst auf ihrem Schlafplatz, irgendwo sicher versteckt vor den Füchsen und Ratten, auf einem höheren Balken unter dem tief herabgezogenen Dach des Wohnhauses.

Am nächsten Morgen war Bryanna früh wach. Als sie die Schüssel, in der sie dem Vater am Abend Brei gebracht hatte, vom Tisch nahm, war die Dämmerung gerade erst dabei, dem ersten Tageslicht Platz zu machen.

Der Vater war also aufgestanden. Der Getreidebrei hatte ihm geschmeckt, er hatte dann aber doch nur ein paar Löffel davon genommen. Den Rest hatte sie gegessen. Jetzt schlief der Vater. Bryanna sah es erleichtert. Er kam ihr heute schon viel rosiger vor.

»Ich schau nachher dann auf die Wiesen, zum Wald hin, Vater.«, flüsterte sie nahe an seinem Ohr, »Es sollt’ heut’ nicht zu lang’ werden. Am Nachmittag bin ich wieder zurück. Kei’ Sorg Vater, ich pass schon auf mich auf und heller ist’s heut’ eh.«

Sie zog ihm die Decken bis zum Hals hinauf und stellte einen Krug frisches Wasser auf den Schemel neben seinem Bett. Der Vater öffnete die Lider ein wenig, murmelte etwas Unverständliches und schlief augenblicklich wieder ein. Bryanna strich ihm über die breite Schulter, schmiegte sich kurz an ihn. Der Vater war zäh – das hatte er oft genug bewiesen. Er würde es schon schaffen.

Sie nahm ihren Korb auf und stellte ihn auf den Tisch. Sorgfältig drückte sie ein Stück Stoff zwischen die groben Staken. Einmal gefaltet schloss das Tuch die Lücken zwischen dem losen Geflecht. Bryanna traute sich nicht, auf einen großen Fund zu hoffen. Ein paar Stängelchen wenn sie finden würde, das wäre schon was. Und die wollte sie durch die weitmaschigen Staken des Korbes nicht gleich wieder verlieren.

»Nimmst was’d findst!«, hatte ihr die Ähnel eingebläut. »Die Leut brauchen die Hoffnung – und wir des Geld!«

Ihr Schultertuch fest um sich gewickelt, nahm sie den Korb und verließ das Haus. Die Sonne hatte es heute wirklich geschafft. Es war ein guter Tag. Bryannas Angst schwand. Dennoch war sie auf der Hut. Der kürzeste Weg zum Waldrand führte über die oberen Weiden. Also wandte sie sich in Richtung des westlichen Durchlasses – direkt der zerfallenen Stadtmauer zu.

Das Haus hatte ihnen der einstige Stadthalter für die Kriegsdienste des Vaters überlassen. Zwei dunkle, enge Räume, ein schmaler Garten, die Hühner. Damit hatten sie ein halbwegs sicheres, wenn auch bescheidenes Auskommen. Mit ihren Einkünften als Kräuterfrau und Vaters Schnitzereien hie und da – in den besseren Jahren reichte das für sie beide gut aus.

Das einfache Haus aus dicken Holzbalken mit dem bis tief herab reichenden Dach, in dem sie mit ihrem Vater wohnte, lag auf dem tiefer gelegenen der beiden Plateaus, außerhalb des letzten vollständig intakten Schutzwalls Pyrenes. Die Bewohner hier unten waren bei einem Überfall deutlich weniger geschützt als die Familie des alten Clans. Die thronte in ihren sauberen Fachwerkhäusern auf dem höchsten Plateau etliche Meter über ihnen, dicht gedrängt rund um die Oberburg. Die Bauten dort sahen gegenüber den einfachen Holzhütten des Unterdorfs beeindruckend aus, obwohl auch sie, wie die restlichen Bewohner der Stadt, nun mehr und mehr verarmten.

Dennoch schien die obere Stadtmauer seit unzähligen Generationen, als sei sie eben erst errichtet worden. Nach jedem Ansturm, jedem Feuer, hatten die damaligen Clans mit Nachdruck dafür gesorgt, sie umgehend auszubessern oder wieder neu aufzubauen. In dieser Zeit gab es nirgendwo ein vergleichbares Gebäude. Doch das ahnten die Bewohner Pyrenes natürlich nicht.

Von der Schutzmauer der Unterstadt dagegen war fast nichts mehr erhalten. Nur einzelne Steinhaufen ließen erahnen, dass sich auch hier einst ein imposantes Bauwerk befunden hatte. Aus den letzten der größeren, mehr oder weniger intakten Abschnitte ragten die ungebrannten Lehmziegel heraus und immer noch konnte man Reste des rot-weiß bemalten Putzes erkennen. Die ehemalige Mauer rings um das gesamte Pyrene herum war Abschreckung wie Schutz gleichermaßen gewesen. Schon von Weitem hatte jeder diese Darstellung von Macht und Überlegenheit erblickt. Das Bauwerk hatte unmissverständlich gezeigt, wer hier lebte – und dass mit ihm nicht zu Spaßen war! Pyrene hatte weit über ihre Grenzen das Sagen über sämtliche angrenzende Weiler, den Fluss und den Allmenden gehabt. Damals.

Längere unbeschädigte Mauerbereiche gab es um das Unterdorf nun nur noch an wenigen Stellen und die nutzten bei einem Ansturm nichts. Kaum ein Abschnitt war nach den Bränden ausgebessert worden und wenn, waren aus der Not dann lediglich Holzbalken und gestampfte Erde verwendet worden, und nicht mit den wehrhafteren Lehmziegeln gemauert. Derartige Reparaturen verfielen bereits nach dem ersten Winter wieder.

Das untere Plateau lag daher nach Nord-Westen vollkommen ungeschützt in der weiten Ebene, die sich auf der dem Fluss abgewandten Seite bis zur fernen Alb hin erstreckte. Der nächstgelegene Zufluchtsort, eine Schanze, war weit entfernt außerhalb der Stadt – für die Bewohner bei einem Überfall kaum rechtzeitig erreichbar. Anderer Schutz vor Eindringlingen war in Stadtnähe nicht gegeben.

Dafür hatten die einfachen Höfe des unteren Plateaus mehr Platz um die Wohnhäuser herum. So konnten die ärmeren Familien Gärten anlegen und sich durch Gemüseanbau und Kleinviehhaltung überwiegend selbst versorgen. Die hölzernen Höfe standen auch weniger dicht gedrängt als die aus Flechtwerk und Lehmputz errichteten Clan- Häuser hinter der Festungsmauer der Oberburg. Der Wind konnte ungehinderter um die Gebäude streichen und die schlechten Gerüche mit sich nehmen. Die Luft im Unterdorf war leichter zu atmen, ohne den Rauch aus unzähligen Schornsteinen der Schmieden und dem Gestank der Fäkalien, die sich bei längerer Trockenheit in den Abflussgräben der hohen Herren in der Oberburg sammelten.

Zweimal sei der furchtbare Feuerdrache gekommen, erzählten sich die Alten noch heute und hätte mit seinem Atem für Vernichtung und Tod gesorgt. Unzählige hätte er damals mit sich genommen.

Als kleines Mädchen hatte sich Bryanna schrecklich vor diesem Drachen gefürchtet. Nächtelang hatte sie ängstlich in die Dunkelheit gehorcht, ob er zurückkäme.

Inzwischen wusste sie, dass sich die Alten mit diesen Geschichten an zwei Feuersbrünste erinnerten, die ein jeder mehr als die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten.

Nach den Bränden waren Seuchen ausgebrochen. Die Bevölkerungszahl war durch diese Unglücke so stark dezimiert worden, dass die notwendigen Wiederaufbauarbeiten an der unteren Stadtmauer nicht mehr ausgeführt werden konnten.

Nun wohnten nur noch wenige Menschen in Pyrene und von den einst vier Clans war ein einziger übriggeblieben. Die meisten der Leute hatten sich auf das Umland oder bedeutendere Siedlungen verteilt. In den äußeren Gebieten standen die Anwesen der Viereckschanzen Fußstunden weit auseinander, ein jedes hatte einen eigenen Brunnen, es gab guten Boden und der Himmel dort war das ganze Jahr über klar. Viele Bauern und geschickte Handwerker fanden in den benachbarten Dörfern ein angenehmeres Auskommen als in dem schmutzigen Gedränge hinter den Stadtmauern. Mit der Landflucht des größten Teils der Bevölkerung hatte Pyrene ihre frühere Bedeutung endgültig verloren.

Ungesehen lief Bryanna an den Mauerresten entlang, bis sie die Stelle erreichte, durch die sie ohne Probleme auf die dahinterliegenden Weideflächen gelangen konnte. Nach dem verregneten Winter war die Wiese kaum noch auszumachen. Die Halme des letzten Sommers waren umgebrochen und verfault. Es sah nicht gerade erfolgversprechend aus, als sie dem Waldrand zu stapfte, aber irgendetwas musste sie schließlich tun. Sie sah sich oft um, doch niemand war zu sehen.

Ihr gestriger Besuch bei Saoirse, die Hoffnungslosigkeit, in der sie die Familie zurücklassen hatten müssen, rieb an Bryannas Nerven. Die Ohnmacht, die sie bei der Erinnerung daran überkam, wandelte sich mit jedem ihrer Schritte mehr und mehr in heiße Wut. Mit aller Kraft hieb sie ihre Füße in die schlammige Erde, um eine kurze Anhöhe hinaufzugelangen. Wieder und wieder rutschten die glatten Ledersohlen auf dem Morast weg und rissen Bryanna auf die Knie.

Wenn sie, um sich gegen eventuelle Verfolger abzusichern und um ein wenig zu Atem zu kommen, zur Stadtmauer zurückblickte, loderte das Bild des selbstsüchtigen Stadtfürsten in seiner gemütlichen Zuflucht im Oberdorf vor ihren inneren Augen auf. Seine Aufgabe wäre es, den Bewohnern in der Not beizustehen! Doch gerade in diesen harten Zeiten hatte er sich ihnen kein einziges Mal gezeigt. Die Familie seines Clans saß lieber behaglich im Oberdorf und beweinte ihre Belanglosigkeit, in die sie die Geschichte dieser Tage geworfen hatte. Der Vater hatte sich mehr als einmal über ihre Selbstsucht entrüstet und nun, hier draußen, wo niemand sie sah, brannte die auch in ihr.

Endlich auf der Anhöhe angekommen, strich Bryanna alle paar Schritte das welke Gras mit einem Fuß auseinander. Sie hoffte, unter dem Moder brauchbare Kräuter zu finden. Das Gras stand so hoch, weil es kaum Rinder oder Schafe, nicht einmal viele Ziegen mehr in Pyrene gab, die es den Sommer über abgefressen hätten.

In den letzten Wochen war sie oft hier oben gewesen. Immer wenn das Wetter und ihre Patienten es zugelassen hatten, war sie zu den frostnassen Weiden gelaufen und hatte die kläglichen Reste heilender Pflanzen aus der harten Erde geschnitten. Hier heraußen vermutete sie keiner. Hier war sie für ein paar Momente frei und ohne Angst vor ihnen.

Mehr als ein paar verwelkte Blättchen Spitzwegerich und eine Handvoll Stängel erfrorenen Dost lagen aber schon lange nicht mehr in ihrem Korb, wenn sie in der Abenddämmerung den Rückweg, mehr rutschend als gehend, antrat.

Inzwischen achtete sie nicht mehr darauf, welche Kräuter es waren, nahm einfach irgendwelche Pflanzen mit, um den Kranken wenigstens einen Becher gefärbten Sud einflößen zu können. War sie schon nicht in der Lage wirklich zu helfen, versuchte sie zumindest etwas Zuversicht zu schenken – die sollte nicht auch noch auf den schlammigen Wiesen verfaulen.

Bryanna kämpfte so sehr darum, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie war die Tochter von Távish, dem großen Krieger. Mit dem Mut einer aufrechten Kämpferin hatte sie auch in schwierigsten, oft aussichtslosen Zeiten ihren Weg weiterzugehen.

Wenn sie sich dabei nur nicht auch noch wie eine Lügnerin vorgekommen wäre. Bryanna fühlte sich alles andere, als sich die Tochter eines Kriegers zu fühlen hatte.

Heute hielt sie vor allem nach Spitzwegerich und Schafgarbe Ausschau. Ein Auszug auf Brandwunden aufgetragen, half den offenen Flächen unter den Blasen, sich schneller zu schließen. Davon könnte sie reichlich gebrauchen.

Wie viele Verbrennungen und Verbrühungen hatten die beiden Kräuterfrauen seit der letzten Tag-und Nachtgleiche ausgewaschen, wenn wieder eines der durchgefrorenen Kinder nach Wärme suchend, der Feuerstelle zu nahegekommen war? Explodierte in dem Moment eines der nassen Scheite oder ein Kessel mit siedender Suppe fiel um, war das Unglück schon geschehen.

Nur wenig konnten sie dann noch ausrichten. Hielten die Familien die Wunden nicht selbst sauber, fand der Brand schnell einen Nährboden, breitete sich aus und raffte einen weiteren der geschwächten Körper dahin.

Auch Thymian und wilden Oregano brauchte sie dringend. Die aufgeblähten Bäuche der Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung am faulenden Getreide vergriffen, es kaum kochten, weil es am Holz fehlte, hatten mit Würmern und anderen Parasiten zu kämpfen. Den unweigerlich dann folgenden Durchfall überstand so gut wie niemand. Ähnels eindringliche Warnungen vor dem Getreide standen dem Hunger der Familien entgegen. Nach all den darben Monaten siegte der nur zu oft über die Vernunft.

Sie lief bis zum Waldrand hinüber. Vielleicht trieben im Schutz der Büsche bereits wieder ein paar der Pflanzen aus. Es war allein die Hoffnung, die sie dort hinüberzog, denn sie wusste, dass es noch längst nicht die Zeit dafür war.

Bryanna hängte ihren Korb an einen kahlen Zweig einer Hasel. Tief nach vorne über gebeugt ging sie Schritt um Schritt den Hainsaum entlang. Kein noch so unbedeutendes Pflänzchen durfte sie übersehen. Ein paar der modernden Blattrosetten des Spitzwegerichs zeigten tatsächlich bereits Spuren neuen Lebens. Mit klammen Fingern um ihr Messer lockerte sie mühsam die Erde und zog die Kräuter mit möglichst langer Wurzel heraus. Die würde sie auskochen.

Als sie ein paar Brombeerblätter des letzten Herbsts aus dem dichten Dornengestrüpp pflücken wollte, riss sie sich die Haut am Unterarm auf. Den Schmerz spürte sie kaum. Ihre Wut auf den Stadtfürsten kochte noch immer heiß in ihr und diese Wut war bedeutend stärker als das bisschen Brennen der unbedeutenden Schrammen.

Zudem tat ihr der Rücken vom gebeugten Graben weh. Immer öfter musste sie sich aufrichten und den Nacken und ihre Schultern dehnen.

Erschöpft legte sie den Kopf in den Nacken. Ihr Blick wanderte hinauf zu dem saphirblauen Himmel, an dem heute nur einzelne Wolken träge dahinzogen. Sie sah hinaus auf die Ebene, die sich wie eine wollene Decke vor ihr ausbreitete. Die Sicht reichte weit über die flachen Hügel der Alb bis hinüber zum unendlichen Horizont. Wie es dort wohl zu leben war?

Unter ihr lagen die Weiler der Herrenhöfe der reichen Umlandbauern. Aus ihren Schornsteinen drang heller Rauch. Ihre Feuer brannten den ganzen Tag. Dort gab es auch jetzt noch genug trockenes Brennholz.

Die Großbauern hatten ein weit opulenteres Leben als die Städter. Wurden die Vorräte allgemein knapp, merkten das zuerst die Stadtbewohner von Pyrene. Die Stände auf dem Marktplatz waren dann schnell verwaist.

Sonst kamen im Sommer die Umlandbauern regelmäßig auf den Markt der Stadt und boten ihre Waren an. Die Abgaben für das Marktrecht waren gering und die Stadtbewohner dankbar für das zusätzliche Angebot, das ihnen neben dem kargen Ertrag ihrer Gärten ihr Auskommen sicherte. So waren die Preise für beide Seiten akzeptabel.

Allein, ohne die Ergänzung an Nahrungsmitteln der umliegenden Bauern, hätten es die Pyrener nicht geschafft.

Vor den Anwesen knatterten die hauseigenen Feldzeichen im Wind, wenn sie, nach dem vielen Regen auch ein wenig ausgefranst aussahen. Die Höfe waren gegen jegliche Angreifer gut gerüstet, waren sie es doch gewohnt, Haus und Familie hier draußen selbständig zu verteidigen. Einige hatten ihren Besitz schließlich erst in einem derartigen Kampf erworben. So igelten sie sich nun hinter den hohen Palisadenzäunen und Viereckschanzen bangend ein und träumten von Festgelagen, an denen wenig Brot, doch reichlich Fleisch und Bier, oft auch Wein von edlem Bronzegeschirr aus fernen Landen gereicht wurde.

Bryanna erinnerte sich, wie es in den Stuben nach Speck und gebratenen Eiern gerochen hatte, während die Städter längst vor dünner Gemüsebrühe hockten. Auf den meisten Höfen hatte es mehr als genug, aber bereits bei ihrem zweiten Besuch wurden ihnen die erbetenen Almosen verwehrt. Trotz rauchender Schornsteine ging auch hier die Angst um, dieser Winter würde niemals enden. Da war man sich selbst der Nächste.

Leute sah Bryanna von ihrem erhöhten Standpunkt aus wenige rund um die Gehöfte. Viele von ihnen hatten aus Sorge die meisten ihrer Sklaven verkauft und den Viehbestand reduziert, um die Verbliebenen durch den Hungerwinter zu bringen.

Vor vielen Generationen war die Situation der Stadt eine gänzlich andere gewesen. Damals war Pyrene eine der mächtigsten Siedlungen weit und breit.

Ja, damals waren die Stadtmauern und Häuser, die der Kernsiedlung, wie auch derer, die im Schatten der Macht lebten, solide gezimmert und sorgfältig verputzt. Früher, zur Blütezeit der Stadt, endete der schiffbare Teil der Doavv erst einen langen Fußmarsch oberhalb von Pyrene. Viele der einfacheren Bewohner verdienten sich mit dem Ziehen der Lastkähne ein ordentliches Zubrot und auch die Zollabgaben der Händler trieben genug Münzen in die Stadtkasse. Geld war ausreichend vorhanden, um sich den Bedürftigen anzunehmen.

Nach den Bränden und Seuchen waren dieser Teil des Flusses und die einstige Furt stromabwärts langsam verlandet. Für größere Handelsschiffe gab es bald kein Durchkommen mehr. Inzwischen blieben auch die kleineren Händler mit ihren flachen Stocherkähnen der Stadt fern. Durch die Kriege mit Rom war das goldene Zeitalter Pyrenes