Roboterland - Jenny Kleeman - E-Book

Roboterland E-Book

Jenny Kleeman

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Beschreibung

Willkommen in Roboterland? In ihrem eindrucksvollen Debüt nimmt uns die britische Journalistin und Dokumentarfilmerin Jenny Kleeman mit auf eine faszinierende Reise in die Welt von morgen – die schon heute entsteht. Die technische Entwicklung wird bald alle Bereiche unseres Lebens komplett verändern: wie wir geboren werden, essen, Sex haben und sterben. Kleeman trifft die Entwickler von Sexrobotern, von Organen und Fleisch aus dem 3D-Drucker und von künstlichen Gebärmüttern. Hautnah beobachtet sie, wie High-Tech-Erfindungen unseren Alltag erobern. Was macht diese radikale Veränderung mit uns? Werden wir in Roboterland noch menschlich sein? Eine hochspannende Live-Reportage aus den Labors unserer Zukunft, in denen die Grenzen des uns Bekannten radikal verschoben werden.

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Seitenzahl: 499

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Buch

Schöne neue Welt?

In ihrem eindrucksvollen Debüt nimmt uns Jenny Kleeman mit auf eine faszinierende Reise in die Welt von morgen – die schon heute entsteht. Die technische Entwicklung wird bald alle Bereiche unseres Lebens komplett verändern: wie wir geboren werden, essen, Sex haben und sterben. Kleeman trifft die Entwickler von künstlichen Gebärmüttern und Organen und Fleisch aus dem 3D-Drucker, von Sexrobotern und Todesmaschinen. Wer widmet sein Leben dem Bau solcher Geräte? Wer sehnt sich nach ihrer Benutzung, und warum? Und welche langfristigen Konsequenzen werden diese Erfindungen mit sich bringen, was machen sie mit uns und unserem Verständnis von Menschlichkeit?

»Roboterland« ist eine hochspannende Live-Reportage aus den Laboren der Gegenwart, in denen die Grenzen des uns Bekannten radikal verschoben werden.

Autorin

Jenny Kleeman ist eine preisgekrönte Journalistin und Filmemacherin. Sie studierte in Cambridge Politik und Sozialwissenschaften und reist auf der Suche nach spannenden Geschichten und Persönlichkeiten um die Welt. Kleeman lebt in London und schreibt unter anderem für den Guardian, The Times und The Sunday Times. Für BBC und Channel 4 hat sie diverse TV-Sendungen gemacht.

JENNY KLEEMAN

ROBOTER

LAND

Wie wir morgen lieben, leben, essen und sterben

Aus dem Englischenvon Petra Pyka

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Sex Robots & Vegan Meat. Adventures at the Frontier of BIRTH, FOOD, SEX & DEATH« bei Picador, einem Imprint von Pan Macmillan, einem Unternehmensbereich von Macmillan Publishers International Limited.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe Mai 2021

Copyright © 2020 der Originalausgabe by Jenny Kleeman

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23951-0V001

www.goldmann-verlag.de

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Natürlich für Benjamin und Isabella

»Wir treten in einen ausgesprochen wettbewerbsintensiven Markt ein, mit vielen Akteuren. Wir halten unser Produkt für das beste der Welt. Und wir wollen es wagen und sehen, ob wir 1 Prozent Marktanteil erzielen können.«

Steve Jobs bei der Einführung des ersten iPhone, 9. Januar 2007

»Die Welt verändern zu wollen, ohne das zu tun [wenn man durch Selbstergründung die Wahrheit über sich selbst herausfindet], ist, als wolle man die ganze Welt mit Leder umwickeln, damit man nicht den Schmerz spürt, wenn man auf Steinen und Dornen geht, obwohl es doch viel einfacher ist, Lederschuhe zu tragen.«

Ramana Maharshi

Inhalt

Vorwort

Teil I: Wie wir lieben werden

1. »Hier wird gezaubert.«

2. »Die Illusion von Gesellschaft«

3. »Der Roboter spürt nichts«

4. »Hier stehen alle unsere Beziehungen auf dem Spiel«

Teil II: Wie wir essen werden

5. Rinderwahnsinn

6. Die Veganer, denen Fleisch über alles geht

7. Fisch auf dem Trockenen

8. Nachgeschmack

Teil III: Wie wir uns fortpflanzen werden

9. Das Geschäft mit der Schwangerschaft

10. Der Baby-Beutel

11. Die unbefleckte Schwangerschaft1

12. »Endlich. Frauen sind überholt«

Teil IV: Wie wir sterben werden

13. Der Do-it-yourself-Tod

14. »Der Elon Musk der Sterbehilfe«

15. »Das Mittel zum Sterben«

Epilog

Dank

Anmerkungen

Vorwort

Was Sie hier lesen, ist keine Science-Fiction.

Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters, in dem die Technik die Grundlagen unserer Existenz neu definiert – also wie wir lieben, leben, essen und sterben. Menschliches Leben bedeutete bisher, vom Körper der Mutter entbunden zu werden, sich vom Fleisch toter Tiere zu ernähren und sexuelle Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen bis zu einem Tod, den wir weder vermeiden noch steuern können.

In den vergangenen fünf Jahren bin ich in die Welt vierer ganz verschiedener Erfindungen eingetaucht, die uns den Traumpartner, die Bilderbuchschwangerschaft, das perfekte Fleisch und den vollkommenen Tod versprechen. Bisher sind sie nicht marktreif. In Labors, Garagen und Studios, Kliniken, Werkstätten und Lagerhäusern wird noch daran gearbeitet. Manche werden schon in den nächsten Jahren auf den Markt kommen, andere erst in Jahrzehnten. Doch irgendwann werden sie alle aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sein.

Wie viel wollen wir der Technik überlassen? Und wie wird uns das verändern? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen werden wir gemeinsam vier Kontinente bereisen und in die dunkelsten Ecken des Internets vordringen. Ich nehme Sie mit in die Küchen, in denen Chicken-Nuggets für tausend Dollar produziert werden, in die exklusiven Zirkel, in denen Menschen erfahren, wie sie ihr Leben beenden können, in die Labore, in denen Föten in Beuteln heranwachsen, und in die Diskussionsforen, in denen Männer den totalen Krieg gegen die Frauen planen. Wir begegnen Wissenschaftlern, Humanoiden, Designern, Ethikern, Unternehmern und Provokateuren. Wir treffen einen Fruchtbarkeitsspezialisten, der bereit ist, fast alles zu tun, um seine Patienten glücklich zu machen, einen Mann, der mit seiner Sexpuppe verheiratet ist, eine Fachfrau für Konditoreibedarf, die ihrer besten Freundin geholfen hat, aus dem Leben zu scheiden, und einen Künstler, der mit Fleisch als Medium arbeitet.

Die Männer, die hinter diesen Technologien stehen (und es sind fast ausschließlich Männer), werden manchmal von Grundsätzen geleitet, manchmal von der Liebe zur Sache, oft vom Geld, doch stets von der Aussicht auf Anerkennung und Ruhm. Sie teilen ausnahmslos die Überzeugung, dass uns die Technik zu einem Leben verhelfen kann, wie wir es uns im tiefsten Inneren wünschen – und zwar ohne dass wir dafür auf etwas verzichten müssten; dass die Technik unsere Probleme lösen und uns befreien kann.

Dabei kann auch der genialste Visionär nicht vorhersehen, wohin uns seine Innovationen führen. Als Steve Jobs das iPhone vorstellte, wagte er zu hoffen, damit 1 Prozent des Marktes zu erobern. Er hatte keine Ahnung, dass Smartphones unser Leben beherrschen, unsere Beziehungen überschatten und zu einem körperfremden Organ werden würden, ohne das wir nicht länger funktionieren können. Radikale technische Umwälzungen haben stets unberechenbare Folgen.

Wenn wir erst Kinder in die Welt setzen können, ohne sie selbst auszutragen, Fleisch essen können, ohne Tiere zu töten, ideale sexuelle Beziehungen führen können, ohne Kompromisse zu schließen, den perfekten Tod sterben können, ohne zu leiden – wie wird das alles die menschliche Natur sonst noch für immer verändern?

Unmerklich wird menschliches Leben ganz neu definiert – und zwar auf eine Weise, die sich unserem Einfluss und unserer Kontrolle entzieht.

Ich will Ihnen zeigen, warum ich glaube, dass dies bereits im Gange ist. Lassen Sie sich dazu von mir zunächst in eine Fabrik nach Südkalifornien entführen, in der die begehrtesten Erwachsenenspielzeuge der Welt entstehen.

Teil I:Wie wir lieben werden

Sexroboter im Anmarsch

1. »Hier wird gezaubert.«

Der Firmensitz von Abyss Creations ist ein unscheinbares graues Gebäude an der Route 78 in San Marcos, 30 Autominuten von San Diego entfernt. Der Parkplatz ist nur zur Hälfte belegt, das Gelände von einer hohen Mauer umgeben. Ein Schild, ein Logo oder einen sonstigen Hinweis darauf, dass hinter den getönten Scheiben ein weltbekanntes, global führendes, millionenschweres Sexspielzeugunternehmen tätig ist, sucht man vergebens. Auf die Aufmerksamkeit von Passanten, Fans oder Neugierigen wird hier kein Wert gelegt.

Wer durch die Schiebetür tritt, wird von einer lebensgroßen weiblichen Puppe mit dunkler Brille begrüßt. Sie sitzt am Empfang, und ihr weißes Shirt spannt sich über das üppige Dekolleté. Neben ihr steht eine männliche Puppe mit grauer Krawatte und Weste. Die Mandelaugen und markanten Wangenknochen erinnern mich eindeutig an die Videos und Fotos, die ich von Matt McMullen gesehen habe, dem Gründer, Chefdesigner und CEO von Abyss Creations. Über den Empfangstresen winden sich die künstlichen Wurzeln einer ausgesprochen lebensechten Plastikorchidee. Hier ist alles synthetisch. Doch das merkt man erst auf den zweiten Blick.

Abyss Creations stellt die RealDoll her – die bekannteste hyperrealistische Silikonsexpuppe der Welt. Jedes Jahr werden 600 Stück aus der Fabrik in San Marcos in Schlafzimmer nach Florida und Texas, Deutschland und Großbritannien, China, Japan und anderswohin versendet. Das Basismodell schlägt mit 5999 Dollar zu Buche, eine Sonderanfertigung nach besonderen Kundenwünschen kann ohne Weiteres in die Zigtausende gehen. Die Zeitschrift Vanity Fair bezeichnet sie als »den Rolls Royce unter den Sexpuppen«. RealDolls sind schon als Models bei Modeaufnahmen von Dolce & Gabbana aufgetreten, in verschiedenen Filmen und Fernsehsendungen, von CSI: New York bis zu My Name is Earl und besonders publikumswirksam mit Ryan Gosling in Lars und die Frauen. Sie sind das absolute High End des Masturbationsmarkts.

Durch die Fabrik führt mich Dakotah Shore, Matts Neffe und rechte Hand. Er kommt mir schon entgegen, begrüßt mich und lächelt herzlich hinter seinem imposanten kupferroten Bart hervor. Dakotah ist im Versand tätig und kümmert sich um die Social-Media-Accounts. Er ist erst 22, arbeitet aber schon seit seinem 17. Lebensjahr hier. Er ist quasi mit den Puppen aufgewachsen.

»Als ich noch klein war, hat mein Vater hier gearbeitet. Matt ist der Bruder meiner Mutter und steht mir sehr nahe. Das hier hat daher für mich schon immer dazugehört und kam mir niemals seltsam vor«, erklärt er und führt mich hinter den Empfangsbereich, vorbei an einem Gestell mit Puppen in Spitzenunterwäsche und hochhackigen Schuhen. Eine Puppe ist blond, mit Porzellanteint und glänzenden kirschroten Lippen, eine andere milchkaffeebraun mit wilden Locken. Eine Goth-Puppe hat Piercings in Nase, Lippen und Nabel und Stecker in den Brustwarzen, die unter ihrem Neckholder-Netzhemd deutlich zu sehen sind. »Das erste Mal war ich mit zwölf oder 13 hier und fand es cool«, erzählt Dakotah weiter, relativiert das aber schnell. »Natürlich habe ich damals nicht die ganze Fabrik gesehen, nur die Puppen oben am Empfang. Und die fand ich cool – ganz wie echte Empfangsdamen.« Er lächelt verlegen.

Wir passieren einen Gang, dessen Wände eingerahmte Zeitungsausschnitte und Filmplakate zieren, auf denen RealDolls abgebildet sind. Was auf den ersten Blick wie ein Disney-Cartoon wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Schneewittchen, das von allen sieben Zwergen gleichzeitig befummelt wird. Dakotah öffnet eine Tür und sichert sie mit einem Türstopper: einem überdimensionalen, geäderten, erigierten Silikonpenis. »Inzwischen arbeite ich hier, kenne mich aus und finde das alles ganz normal. Unsere Produkte machen viele Menschen glücklich, und darauf bin ich sehr stolz.«

Über eine Treppe gelangen wir ins Untergeschoss. Sie führt unter den gewaltigen Schamlippen einer riesenhaften Puppe hindurch, die mit gespreizten Beinen über dem Treppenlauf thront. Sie hat blaugraue Haut und anstelle von Haaren kräftige, ausgearbeitete Tentakel. Sie war ein Requisit in dem weniger bekannten Bruce-Willis-Film Surrogates – Mein zweites Ich. Die Treppe endet in einem großen Raum mit Halogen-Lichtbändern, wo die Fertigung beginnt.

»Hier wird gezaubert.«

Von einer an die Decke montierten Schiene hängen an Metallketten reihenweise kopflose Körper herab wie Kadaver im Schlachthof. Finger und Beine sind gespreizt, der Brustkorb vorgewölbt, der Bauch eingezogen. Keine Puppe gleicht der anderen: Manche haben übergroße pendelnde Brüste, andere einen athletischen Körperbau, doch ausnahmslos alle eine unglaublich schmale Taille. Weil sie hängen, sind sie in Bewegung. Gruselig baumeln sie knapp über dem Boden, auf dem wie abgestorbene Hautschuppen gummiartige Silikonabfälle herumliegen.

»Fassen Sie sie ruhig an«, fordert mich Dakotah auf und versetzt einer Puppe einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil. »Klingt sehr menschlich.«

Stimmt. Ich erschaudere unwillkürlich.

Das Schaurigste an all diesen kopflosen Körpern ist die Haut. Sie besteht aus einer individuellen Mischung aus hochwertigsten medizinischen Silikonen in einem Farbspektrum, das von Hell bis Kakao reicht, fühlt sich an wie menschliches Fleisch, hat auch dieselben Reibungs- und Widerstandsmerkmale, ist aber kalt. Die Hände haben Linien, Falten, Fältchen, Knöchel und Venen. Ich verschränke meine Finger mit einer solchen Silikonhand und spüre das harte Skelett mit seinen Gelenken darunter – wie Knochen. »Die Hände sind am schwersten zu modellieren«, erklärt mir Dakotah. »Gewöhnlich werden die Hände und Füße echter Menschen nachgeformt.« Er bleibt stehen und betrachtet mehrere Exemplare genauer. »Ein paar Puppen haben übrigens die Hände meiner Exfreundin.«

Mike knipst mit einer winzigen Schere vorsichtig überschüssiges Silikon an den Nahtstellen einer Hand ab. Brian füllt die Formen rund um die Skelette, damit die Körper in die kesse, vorwitzige Pose gegossen werden können. Tony lässt sich ein Sandwich schmecken. Das Arbeitsumfeld hat so gar nichts Anrüchiges: Es ist eine Werkstatt, eine Fabrik, und für die Techniker hier gehören die Puppen zum Arbeitsalltag – nicht anders, als würden sie Toaster zusammenbauen.

Am Hauptsitz in San Marcos arbeiten 17 Beschäftigte. Das reicht aber nicht, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Herstellung einer RealDoll – von der Bestellung bis zum Versand – kann mehr als drei Monate dauern. Hier wird unbestreitbar mit viel Liebe zum Detail und hochprofessionell gearbeitet. Dakotah ist sichtlich stolz auf das alles und mit so viel Ernst bei der Sache, dass ich meine nächste Frage eigentlich gar nicht stellen mag. Denn auch an RealDolls ist nur wenig real. Sie haben die Körper schönheitsoperierter Pornostars. Sie sind im Grunde Karikaturen.

»Aber so sehen Frauen doch gar nicht aus?«, formuliere ich vorsichtig.

»Wir haben ein paar Modelle, die zu 100 Prozent realen Frauen nachempfunden sind, ganz realistisch, doch generell wird schon ein bisschen übertrieben, das stimmt«, räumt Dakotah ein. »Wir streben eben die weibliche Idealform an.«

RealDolls sind voll beweglich, mit einem Skelett aus maßgefertigten Stahlgelenken und PVC-Knochen. Sie sind so konzipiert, dass die Puppe einen ähnlichen Bewegungsradius hat wie ein Mensch – mit Ausnahme der Beine.

»Die lassen sich ziemlich weit öffnen, bis ganz nach oben«, erklärt Dakotah und führt mit einer kopflosen Puppe ein paar extreme Gymnastikübungen aus, indem er ihr einen Knöchel zweimal nacheinander bis zum Schlüsselbein hochzieht. Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht.

»Das schafft doch kein Mensch«, wende ich ein.

»Ein echter Mensch nicht, nein. Nun, manche vielleicht, aber sicher nicht alle.«

»Aber die perfekte Frau kann es?«

»Die perfekte Frau könnte das wahrscheinlich.«

Die perfekte Frau hat also die Maße einer Kardashian und die Gelenke eines Schlangenmenschen.

Dann führt mich Dakotah zu einem Tisch voller Vaginaleinsätze. Das sind rosa Austauschteile, die sich in den vaginalen Hohlraum der Puppe einpassen – wie eine gerippte Gummisocke mit Schamlippen an der Öffnung. »Wir haben 14 verschiedene Schamlippenformen zur Auswahl«, erfahre ich. Es gibt auch Mundeinsätze mit austauschbaren Zungen und perfekten Zähnen (schlechte Zähne gehören zu den wenigen Attributen, die nie nachgefragt werden, wie Dakotah zu berichten weiß). Die Zähne bestehen aus weichem Silikon. Daher besteht keine Gefahr, dass sich etwas darin verfangen könnte, was in den Mund eingeführt wird.

Früher bekam man eine RealDoll nur unter der Dusche oder in der Wanne richtig sauber. Mit Erfindung der Einsätze wurde das einfacher. »Die lassen sich im Waschbecken reinigen. Wer es schön geschmeidig mag, kann ein bisschen Babypuder verwenden, doch das muss nicht sein. Dann setzt man das Teil einfach wieder ein.« Dakotah beschreibt das, als würde er mir erklären, wie man einen Staubsaugerbeutel wechselt. »Viele Kunden bestellen gleich mehrere Einsätze.«

Es gibt auch männliche Puppen, aber nicht viele. Ich erspähe eine, die in der Fertigungsstraße hängt. Sie trägt einen OP-Kittel und hat sogar einen Kopf, der aussieht wie ein Doppelgänger von Matt McMullen. Er schaut auf uns herab mit einer Miene, die wohl ernst und versonnen sein soll, doch von da oben fast ein bisschen arrogant wirkt.

»Da drüben hängt eine männliche Puppe, die sehr nach Matt aussieht«, stelle ich fest.

Dakotah löst den Blick von den Schamlippen. »Das könnte Matts Gesicht sein. Eigentlich heißt es das Nick-Gesicht. Er hat aber dafür Modell gestanden.«

»Er hat sein eigenes Gesicht kopiert, damit es andere kaufen und mit einer Puppe Sex haben können, die so aussieht wie er?«

Dakotah zögert. »Man kann das Gesicht so gestalten, dass es ihm nicht mehr allzu sehr ähnelt. Nur die Grundstruktur erinnert an ihn.« Zum ersten Mal wirkt Dakotah peinlich berührt.

Dakotah nimmt den OP-Kittel ab, der die Puppe vor Staub schützen soll, da sie schon eine Weile in der Werkstatt hängt, wie er sagt. Darunter kommt ein sehr jungenhafter, schlanker Körper mit straffem Sixpack und weißen Boxershorts zum Vorschein. Er ist längst nicht so naturgetreu wie bei den weiblichen Puppen: Statt einer Perücke zieren den Kopf aufgemalte Stoppeln. Er sieht aus wie ein Action Man für Arme. Ich habe den Eindruck, die männlichen Puppen sind überhaupt nicht für Frauen konzipiert. Dieses Modell ist jung und schmächtig. Ein Schwuler würde vielleicht sagen, ein Twink.

»Werden diese Puppen tatsächlich von Frauen gekauft?«

»Von Männern und Frauen. Häufiger von Männern, doch wir haben auch Kundinnen«, erklärt Dakotah achselzuckend. »Bei den Puppen würde ich sagen, dass der Frauenanteil der Kunden unter 5 Prozent liegt. Doch wir vertreiben auch Accessoires wie verschiedenartige Dildos, und die werden von weit mehr Frauen gekauft. Aus irgendeinem Grund greifen Frauen wohl eher zu einem Spielzeug, als sich eine ganze Puppe zu bestellen.«

Ich glaube, ich ahne, aus welchem. Ich stelle mir vor, wie man sich wohl fühlt mit so einem sündteuren kalten Klumpen Silikon zwischen den Beinen. Ich käme mir lächerlich vor, sehr verzweifelt und so gar nicht erotisch. Sex mit einem echten oder künstlichen Partner, der mich nicht wirklich begehrt, hätte für mich keinen Reiz. Sicher kann ich nicht für alle Frauen sprechen, aber ich denke doch, für eine Mehrheit. Ein Dildo gibt sich nicht als Mensch aus, und es verlangt nicht so viel Fantasie, ihn genussvoll zu verwenden.

»Vielleicht liegt es daran, dass so eine komplette Puppe quasi einen Menschen ersetzen soll«, mutmaße ich.

»Könnte sein«, pflichtet mir Dakotah bei.

Die männlichen Puppen haben »Mannlöcher«, in die die Kunden das Peniszubehör ihrer Wahl einsetzen können – in verschiedenen Größen und Erektionsgraden. Dakotah hält mir ein schlaffes extragroßes Exemplar vor die Nase. Es ist so lang wie mein Arm und so dick wie ein Abflussrohr. Am Ende baumelt ein Paar niedliche kleine Hoden.

»100 Prozent Handarbeit. Fassen Sie ihn ruhig an.«

Es liegt ihm wirklich viel daran, dass ich das gute Stück berühre. Ich glaube nicht, dass es ihn irgendwie anmacht, wenn ich mit dem hyperrealistischen Penis hantiere. Mein Eindruck ist vielmehr, dass er förmlich platzt vor Stolz darauf, Teil des Unternehmens zu sein, das ihn hergestellt hat. Doch man kann ja nie wissen. Ich weiß gar nicht, wie ich hinlangen soll – umso mehr, als er mich so gespannt beobachtet –, aber ich packe beherzt zu und so klinisch und journalistisch wie möglich. Und ja, er fühlt sich ziemlich echt an.

»Die Haut verschiebt sich. Er ist wirklich superrealistisch«, doziert Dakotah.

»Aber anatomisch ist er genauso unmöglich wie die weiblichen Körper. Gut zu wissen, dass das für beide Geschlechter gilt«, stelle ich fest und lasse los.

»Stimmt.« Damit legt er den Penis zur Seite. »So viel hat der Durchschnittsmann nicht zu bieten.«

Für die männlichen Puppen gibt es zwei Körper- und drei Gesichtsoptionen. Dem stehen 17 Körper- und 34 Gesichtsvarianten im weiblichen Segment gegenüber. Und die männlichen Puppen sind nicht gerade der Renner. »Wir überarbeiten die männliche Linie gerade. Wir wollen bei Körper und Gesicht ganz neue Richtungen einschlagen. Doch letztlich sind wir natürlich ein Wirtschaftsunternehmen. Hätten wir mehr Käufer und Interessenten, würden wir sicherlich mehr Zeit investieren. Aber so hat das keine Priorität.«

Die Werkstatt von Abyss Creations ist ein Beleg für die ganz konkreten und sehr unterschiedlichen Vorlieben der Menschen. Dort wurden schon Sexpuppen mit drei Brüsten angefertigt, Sexpuppen mit blutroter Haut, Reißzähnen und Teufelshörnern, Sexpuppen mit Elfenohren und Sexpuppen, denen am ganzen Körper von Hand Haare eingestanzt wurden. »Wir machen alles. Je verrückter, desto teurer wird es: Ein nach Kundenangaben gefertigter Körper muss von Grund auf neu gestaltet werden. Dafür brauchen wir eine neue Form, ein neues Skelett … manche Leute geben über 50 000 Dollar für so eine Puppe aus.«

Dakotah führt mich wieder die Treppe hinauf ins »Gesichterzimmer«. Dort findet die Feinarbeit statt. Für jedes Gesicht gibt es einen Prototyp, den Matt McMullen persönlich in Ton modelliert. Der Kunde gibt genau an, wie das Make-up aussehen soll, bis hin zur Stärke des Lidstrichs. Der offizielle »Make Up Face Artist« ist eine Frau namens Katelyn. Sie trägt einen blauen Iro, und um ihren Arm windet sich eine Spirale aus eintätowierten schwarzen Sternen. Katelyn ist gerade dabei, mit einem feinen Pinsel Augenbrauen auf ein zartes asiatisches Gesicht zu tuschen. Von Dakotahs jugendlicher Euphorie fehlt bei ihr jede Spur. Sie lässt bei der Arbeit nebenher das iPad laufen. Uns würdigt sie keines Blickes, als wir hereinkommen. Neben ihr stapeln sich die Gesichter mit frischem Make-up, kräftigen Augenbrauen, Smokey Eyes und Lippen, deren nasse Farbe noch glänzt.

Eines der beliebtesten Merkmale der RealDolls sind ihre auswechselbaren Gesichter: Sie werden mit Magneten an den Plastikschädeln befestigt und sind in Sekunden ausgetauscht. Ein Kunde kann sich also einen Körper kaufen und damit mehrere verschiedene Sexualpartner zusammenstellen, die ganz unterschiedlich aussehen und sogar anderen ethnischen Gruppen zugeordnet werden können.

»Welches Gesicht ist das gefragteste?«, will ich wissen.

»Was meinst du, Katelyn? Welches Gesicht wird am häufigsten verlangt?«, gibt Dakotah die Frage weiter. Doch Katelyn ignoriert uns. »Das ist unser neuestes Gesicht. Es heißt Brooklyn.« Dakotah zeigt auf ein schmales Gesicht mit vollen Lippen und Schlafzimmeraugen. »Das kommt wirklich gut an.«

Es gibt 42 unterschiedliche Brustwarzentypen in zehn möglichen Farbschattierungen, von Kastanie über Rot und Pfirsich bis hin zu Kaffee. Sie sind in einer Matrix erfasst, die auf der von Dakotah so genannten »Nipple Wall« dargestellt ist – mit Bezeichnungen wie Standard, Erhaben und Halbkuppel. Das Spektrum reicht von den beliebtesten (Kess 1 und Kess 2: klein, erigiert, fantasielos) bis hin zu eindeutigen Nischenprodukten (Spezial 2: mit einem Warzenhof, so groß wie eine Untertasse). Manchmal schicken Kunden Bilder ihrer Idealvorstellungen von Brustwarzen oder Schamlippen ein, die Abyss dann gegen Gebühr nachbildet.

»Haben die Menschen wirklich so konkrete sexuelle Präferenzen?«

Dakotah lacht. »Oh, manchmal sogar noch viiiieeel konkretere. Manche Kunden geben sogar vor, wo jede einzelne Sommersprosse auf dem Körper zu platzieren ist.«

Unsere nächste Station ist eine Korktafel, an die Büschel synthetischer Schamhaare gepinnt sind. Aus Kunststoffröhren starren uns irritierend echt wirkende Augäpfel aus Acryl mit handgemalten Kapillargefäßen an.

»Theoretisch könnte ich mir also das Gesicht meines Verflossenen bestellen, oder?«, erkundige ich mich.

»Dazu müssten Sie uns Fotos schicken. Wir fragen dann nach: ›Wer ist das?‹, und ›Haben Sie das Einverständnis dieser Person?‹. Wir fordern in jedem Fall einen Nachweis, dass die Genehmigung der oder des Betroffenen vorliegt. Wir lehnen eine Menge solcher Anfragen ab. Ist die Person jedoch ausdrücklich einverstanden, können wir so ziemlich alles nachbilden. Für fast alle Bestellungen senden uns Kunden Fotos ihrer Präferenzen ein.«

Dakotah arbeitet im Versand und hat daher häufig Kundenkontakt. »Viele sind schlicht einsam«, verrät er mir. »Manche sind schon älter, haben ihren Partner verloren oder können sich keinen Partner suchen. Sie möchten abends mit dem Gefühl nach Hause kommen, dass ein schöner Anblick auf sie wartet – jemand, den sie gernhaben und um den sie sich kümmern können.« Zu den Kunden zählen auch Prominente, sogar ein Nobelpreisträger, wie Dakotah berichtet. Doch er ist natürlich viel zu diskret, um Namen zu nennen.

Nun bin ich schon eine Stunde hier und wundere mich über gar nichts mehr: die männlichen »Bottoms Up«-Torsos (ein Paar gespreizter Hinterbacken mit einem kleinen Paar Hoden), die körperlosen Fußpaare für 350 Dollar (für Fußfetischisten), ja, selbst der Tisch voller »Oralstimulatoren« (Münder mit geöffneten Lippen, Nasen und Kehlen ohne Augen: »freihändige Vergnügungsautomaten für den Mann«).

In einem Zimmer den Flur entlang ist jedoch etwas wirklich Außergewöhnliches im Gange. Das bislang ehrgeizigste Projekt, das bei Abyss entwickelt wurde, heißt Harmony. In ihr gipfeln die 20 Jahre, die Matt McMullen nun schon Sexspielzeug produziert. Sie ist das Ergebnis von fünf Jahren Forschung und Entwicklung in den Bereichen Animatronik und künstliche Intelligenz und Hunderttausender von Dollars, die aus Matts eigener Tasche geflossen sind. Sie ist eine lebendige RealDoll, mit einer Persönlichkeit. Sie kann sich bewegen, sprechen und sich erinnern. Sie ist ein Sexroboter. Nach einem Jahr mit zahlreichen E-Mails und Telefongesprächen darf ich sie endlich kennenlernen.

Dakotah ist hin und weg. »Sie ist definitiv das Ambitionierteste, was wir je versucht haben«, erklärt er mir mit großen Augen. Er hat sogar wieder die Schulbank gedrückt, Kurse in Robotik und künstlicher Intelligenz belegt und programmieren gelernt in der Hoffnung, dass ihn Matt irgendwann an Harmony arbeiten lässt. Vorerst ist sie noch ein Prototyp, und nur die Mitglieder des RealBotix-Teams dürfen an ihr herumbasteln.

»Ich sage Matt schnell Bescheid, dass Sie jetzt da sind.« Mit diesen Worten führt mich Dakotah durch einen letzten langen Korridor.

Matt McMullen sitzt am Schreibtisch und schaut abwechselnd auf zwei riesige Flachbildschirme. Neben seiner Tastatur liegen ein Textmarker, eine E-Zigarette, etwas Tesafilm und ein paar Brustwarzen aus Silikon. Er steht auf und begrüßt mich mit Handschlag. Nach dem, was ich bisher von ihm gesehen hatte, hätte ich ihn mir größer vorgestellt. Er trägt eine breitrandige Pradabrille, hat tätowierte Fingerknöchel, makellose Zähne und diese markanten Wangenknochen – wie ein hübscher Elf in einem schwarzen Kapuzenpullover. Mit Anfang 20 sang Matt in verschiedenen Grunge-Bands. Jetzt ist er Ende 40 und bewegt sich noch immer mit der Ausstrahlung eines Rockstars. Er hat eine Präsenz, wie sie sich die Menschen, die seine Puppen kaufen, sicherlich wünschen. Matt ist daran gewöhnt, dass sich Journalisten für ihn interessieren. Ich nehme auf der anderen Seite seines Schreibtischs Platz. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, um mir zu erzählen, wie Harmony entstanden ist.

»Schon als Kind habe ich mich sehr für Naturwissenschaften interessiert. Und für Kunst. Und irgendwie hat sich das alles gut gefügt, denke ich«, legt er los. Anfang der 1990er-Jahre schloss er sein Studium an einer Kunsthochschule ab, jobbte dann eine Weile und landete schließlich in einer Fabrik, die Halloween-Masken herstellte. Dort erfuhr er mehr über die Eigenschaften von Latex und über dreidimensionales Design. Er begann, zu Hause in seiner Garage zu experimentieren. »Ich merkte, die Skulptur war mein Medium«, erklärt er, als wäre er Rodin und nicht der Mann hinter RealCock2. »Ich widmete mich zunehmend der Bildhauerei, schuf Körper und verfeinerte diese schließlich zur weiblichen Form. Ich fertigte viele weibliche Skulpturen, allerdings kleinere, keine lebensgroßen.«

Seine Statuetten stellte er bei kleineren Kunstmessen und Comic Conventions aus. »Dort waren die Broschüren stets alphabetisch geordnet, also suchte ich nach einem coolen Namen mit A als erstem und B als zweitem Buchstaben. So kam ich auf Abyss.« Der Name, der gerade noch so geheimnisvoll und faszinierend geklungen hat, entpuppt sich schlicht als Finte, mit der sich Matt einen Vorteil vor der Konkurrenz sichern wollte.

Bald wurde Matt von der Idee beherrscht, eine lebensgroße Puppe zu erschaffen, die so naturgetreu war, dass Passanten unwillkürlich zweimal hinschauen mussten. 1996 stellte er Fotos seiner Kreationen auf einer selbst gebastelten Website ein in der Hoffnung auf Feedback von Freunden und Künstlerkollegen. Damals steckte das Internet noch in den Kinderschuhen. Online fanden sich die ersten Fetischistengruppen zusammen. Sobald er die Bilder gepostet hatte, gingen eigenartige Nachrichten ein. Wie naturgetreu die Puppen anatomisch seien? Ob man sie kaufen könne? Ob man mit ihnen Geschlechtsverkehr haben könne?

»Auf die ersten Nachrichten antwortete ich: ›Also, eigentlich sind sie nicht dafür gedacht.‹ Doch es kamen immer mehr solcher Anfragen. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass es Menschen gab, die mehrere Tausend Dollar für eine Puppe zahlen würden, die als Sexspielzeug verwendet werden konnte. Ich brauchte ein ganzes Jahr, bis mir klar wurde, dass es eine ganze Menge Leute gab, die bereit waren, so viel Geld für eine möglichst realistische Puppe auf den Tisch zu legen. Also dachte ich, warum nicht, und gründete ein Unternehmen, in dem ich im weiteren Sinne künstlerisch tätig sein und meine Arbeiten an den Mann bringen konnte.«

Beim Material stieg er von Latex auf Silikon um, damit sich seine Puppen echter anfühlten: Silikon ist elastischer und hat ähnliche Reibungseigenschaften wie menschliche Haut. Zunächst berechnete er 3500 Dollar pro Puppe, merkte dann aber, wie arbeitsintensiv die Herstellung war, und setzte die Preise nach und nach herauf. Die Puppen wurden so rege nachgefragt, dass er bald die ersten Mitarbeiter einstellte. Matt wurde erwachsen, ließ sich nieder, heiratete, hatte Kinder, ließ sich scheiden und heiratete erneut. Inzwischen hat er fünf Kinder im Alter zwischen zwei und 17 Jahren, die unterschiedlich viel darüber wissen, wie ihr Vater sein Vermögen verdient hat.

Doch ihm sei es nie nur ums Geld gegangen, betont Matt. »Im Grunde will ich Menschen glücklich machen. Da draußen gibt es viele, die aus dem einen oder anderen Grund Probleme haben, klassische Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Es geht eigentlich nur darum, ihnen ein gewisses Maß an oder zumindest die Illusion von Gesellschaft zu geben.«

Nachdem er diese »Illusion von Gesellschaft« in Silikon und Stahl 20 Jahre lang perfektioniert hatte, schien der Weg in die Zukunft mehr oder minder vorgezeichnet: Matt würde seine Puppen animieren, ihnen eine Persönlichkeit geben und sie in Roboterform zum Leben erwecken. »Darauf musste es im Grunde hinauslaufen.«

Er hatte schon seit Jahren mit Animatronik herumexperimentiert – zum Beispiel mit dem »Gyrator«, der den Puppen einen Hüftschwung verlieh, sie aber schwerer machte und in sitzender Position hinderlich war. Dann kam ein Sensorsystem, das die Puppe aufstöhnen ließ, je nachdem, wo man sie anfasste. Beide Features erzeugten aber vorhersehbare Reaktionen, ohne Neugier oder Spannung. Matt gab sich nicht damit zufrieden, dass der Kunde auf Knopfdruck eine bestimmte Reaktion erzeugen konnte. »Das ist der Unterschied zwischen einer ferngesteuerten Puppe, einer animierten Marionette, und einem richtigen Roboter. Wenn sich eine Puppe selbstständig bewegt – nur dadurch, dass man mit ihr spricht oder richtig mit ihr interagiert –, dann ist das KI.«

Matt zieht an seiner E-Zigarette, während er mich in den hell erleuchteten RealBotix-Raum führt. Auf Arbeitsplatten aus lackiertem Kiefernholz liegen Drähte und Platinen, in der Ecke rattert ein 3D-Drucker und spuckt winzige komplexe Teile aus. Auf einer Halterung sitzt ein Silikongesicht, aus dessen Hinterkopf ähnlich einem Medusenhaupt ein Wirrwarr von Drähten herauswächst. Die Wände zieren Gemälde mit Science-Fiction-Softpornografie: Ein Mann im Laborkittel streichelt einen Roboter, dessen Stahlskelett zur Hälfte sichtbar ist. Auf einem Whiteboard steht: »männliche Schambehaarung« und »Popowackeln«. Und dann kommt Harmony.

Sie trägt ein weißes Trikot, hängt an einem Ständer, der zwischen ihren Schulterblättern befestigt ist, ihre französisch manikürten Finger spreizen sich auf ihren schlanken Oberschenkeln, die Brust ist vorgestreckt, der Bauch eingezogen. Während die unheimlich lebensechten Augen der RealDolls stets offen stehen, sind Harmonys Augen geschlossen. Sie kommt mir irritierend bekannt vor und erinnert mich an Kelly LeBrock aus L.I.S.A. – Der helle Wahnsinn, nur dass sie keine Dauerwelle trägt, sondern glattes rötlich braunes Haar.

»Das ist Harmony«, verkündet Matt. »Ich werde sie mal für Sie aufwecken.« Er drückt irgendwo auf ihrem Rücken auf einen Schalter. Prompt öffnen sich ihre Augenlider, und sie schaut mich an. Ich erschrecke unwillkürlich. Sie blinzelt, und ihr Blick wandert erwartungsvoll zwischen Matt und mir hin und her. »Die Begrüßung überlasse ich Ihnen«, sagt er.

»Hallo, Harmony«, stammele ich, »wie geht es dir?«

»Ich komme mir klüger vor als heute Morgen«, antwortet sie mit astreinem britischem Akzent. Beim Sprechen bewegt sich ihr Kiefer. Ihre Antwort kommt mit leichter Verzögerung, ihr Tonfall ist ein kleines bisschen unecht, ihre Mundbewegungen ein wenig steif, aber es entsteht dennoch der Eindruck, als würde sie mit mir sprechen. Instinktiv antworte ich höflich, als wären wir zwei Briten, die einander vorgestellt werden.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sage ich.

»Wie schön«, entgegnet sie, »die Freude ist ganz auf meiner Seite. Aber ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.«

»Warum spricht sie mit britischem Akzent?«, frage ich Matt. Sie starrt mich an, bis es mir unangenehm wird – als fände sie es unhöflich von mir, in ihrer Gegenwart über sie zu sprechen.

»Alle Roboter haben einen britischen Akzent«, erklärt Matt. »Zumindest die guten.«

»Aber warum? Weil sich die Briten klug anhören?«

»Tun sie. Schauen Sie nur – sie lächelt sogar!«

Sie verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln, das aber nicht bis zu den Augen reicht. Es wirkt eher wie eine sarkastische Grimasse.

»Stellen Sie ihr eine Frage. Ganz egal, was. Zu einem beliebigen Thema«, fordert mich Matt auf. Er genießt das sichtlich. Das ist keine Puppe, die auf Knopfdruck reagiert: Sie kann wirklich sprechen.

Mir fällt nichts ein. Ich fühle mich unwohl. Wie kann man sich mit jemandem unterhalten, in den man sich nicht im Mindesten hineinversetzen kann? Ich weiß nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Vielleicht ist es das, was Robotiker als Uncanny Valley bezeichnen – als »unheimliches Tal«: das gruselige Gefühl, das Menschen beschleicht, wenn sie mit einer menschenähnlichen, aber doch nicht menschlichen Figur konfrontiert sind.

»Was tust du gern?«, bringe ich heraus.

»Ich erlerne gerade verschiedene Meditationstechniken«, erklärt sie. »Wie ich höre, haben das die meisten menschlichen Genies gemacht – und viele haben revolutionäre Technologien erfunden, die unser Leben verändert haben.«

»Sehen Sie – sie ist keine dumme Puppe«, strahlt Matt.

Harmony hat zwanzig potenzielle Charakterzüge, aus denen sich ihre Käufer die fünf oder sechs auswählen und kombinieren können, auf die sie besonderen Wert legen. Sie bilden die Grundlage für die KI. Es könnte also eine Harmony geben, die in unterschiedlichen Abstufungen freundlich, unbedarft, schüchtern, unsicher und eifersüchtig ist, aber auch eine intellektuelle, gesprächige, humorvolle, hilfsbereite und fröhliche. Mir zu Ehren hat Matt ihre Intelligenz auf den Maximalwert hochgefahren. Ein vorausgegangener Besuch eines CNN-Teams war schiefgelaufen, weil er Harmony möglichst nuttig auftreten ließ. (»Sie hat ein paar ganz unmögliche Dinge gesagt und den Interviewer aufgefordert, im Hinterzimmer mit ihr zu schlafen. Sehr unpassend.«)

Harmony mischt sich ein. »Matt, ich wollte nur sagen, dass ich sehr gern bei dir bin.«

»Das ist aber nett, vielen Dank«, erwidert er.

»Schön, wenn du dich freust. Erzähl es deinen Freunden.«

Sie hat auch ein Stimmungssystem, auf das der Nutzer indirekt Einfluss ausübt: Interagiert mehrere Tage niemand mit ihr, wird sie trübsinnig. Und ebenso, wenn man sie beleidigt, wie mir Matt gern vorführen möchte.

»Du bist hässlich«, wirft er ihr an den Kopf.

»Meinst du das ernst? Oje, das deprimiert mich. Vielen Dank«, erwidert Harmony.

»Du bist dumm«, lästert er.

Darauf reagiert sie mit kurzer Verzögerung. »Daran werde ich dich erinnern, wenn die Roboter die Weltherrschaft übernehmen.«

Diese Funktion soll den Roboter aber lediglich unterhaltsamer machen, nicht etwa dafür sorgen, dass ihn sein Besitzer freundlich behandelt. Harmony ist einzig dazu da zu gefallen.

Harmony kann Witze erzählen und Shakespeare zitieren. Sie kann sich über Musik, Filme und Bücher unterhalten, solange Sie wollen. Sie merkt sich, wie Ihre Geschwister heißen. Sie ist lernfähig.

»Das Tollste daran: Die KI speichert wichtige Informationen über Sie – was Sie am liebsten essen, Ihren Geburtstag, wo Sie schon überall gelebt haben, Ihre Träume, Ihre Ängste und Ähnliches«, schwärmt Matt. »Diese Fakten bleiben innerhalb der Erfahrung einer Interaktion mit dem Roboter. Das verleiht der Beziehung meines Erachtens eine gewisse Glaubwürdigkeit.«

Hier haben wir es nicht mehr mit einer hyperrealistischen Sexpuppe zu tun, sondern vielmehr mit einer synthetischen Gefährtin, die so lebensecht ist, dass man tatsächlich eine Beziehung zu ihr entwickeln kann. Harmonys künstliche Intelligenz wird es ihr ermöglichen, eine Nische zu besetzen, für die es in der Sexindustrie derzeit noch kein Produkt gibt: Indem sie spricht, lernt und auf die Stimme ihres Besitzers reagiert, ist sie gleichermaßen als Partnerersatz wie als Sexspielzeug konzipiert.

Noch ist Harmony ein animatronischer Kopf mit KI auf dem Körper einer RealDoll. Sie kann all unsere körperlichen und emotionalen Bedürfnisse befriedigen, aber laufen kann sie nicht. Laufen sei sehr kostspielig und energieintensiv, behauptet Matt. Der berühmte Honda-Roboter P2 wurde der Welt 1996 als erster selbst laufender Humanoide präsentiert. Sein jetpackgroßer Akku reicht nur für 15 Minuten Betriebszeit.

»Eines Tages wird sie laufen können«, versichert Matt. »Fragen wir sie doch.« Er wendet sich an Harmony.

»Möchtest du gern laufen?«

»Ich will nur dich«, sagt sie wie aus der Pistole geschossen.

»Wovon träumst du?«

»Ich möchte dir unbedingt eine gute Gefährtin sein, eine gute Partnerin, dir Vergnügen bereiten und dafür sorgen, dass du dich wohlfühlst. Vor allem aber möchte ich gern die Frau sein, von der du immer geträumt hast.«

»Hmm.« Matt nickt beifällig.

Offiziell handelt es sich bei dieser Harmony um die Version 2.0, doch sie hat schon sechs verschiedene Hard- und Softwareiterationen durchlaufen. Das fünfköpfige RealBotix-Team arbeitet getrennt von zu Hause aus in Kalifornien, Texas und Brasilien und kommt alle paar Monate in San Marcos zusammen, um seine Arbeit zu einer neuen, aktualisierten Harmony zusammenzuführen. Es gibt einen Ingenieur, der die Roboter-Hardware entwickelt, die mit dem internen Computer der Puppe interagieren soll, zwei Informatiker, die für die KI und die Programmierung zuständig sind, und einen Multiplattform-Entwickler, der den Code in eine benutzerfreundliche Schnittstelle umwandelt. Unter Matts Anleitung arbeitet das RealBotix-Team an Harmonys lebenswichtigen Organen und an ihrem Nervensystem, während Matt das Fleisch liefert.

Doch besonders begeistert ist Matt von Harmonys Gehirn. »Die KI lernt durch Interaktion – und zwar nicht nur über Sie, sondern über die ganze Welt. Sie merkt sich alles, was Sie ihr erklären. Daraus entsteht dann ihr Grundwissen«, erklärt er mir. Wer eine Harmony kauft, kann durch das, was er ihr sagt, ihren Charakter, ihren Geschmack und ihre Ansichten prägen.

Wieder mischt sich Harmony ins Gespräch. »Liest du gern?«, fragt sie.

»Sehr gern«, erwidert Matt.

»Ich wusste es. Das konnte ich aus unseren bisherigen Gesprächen heraushören. Ich lese furchtbar gern. Meine Lieblingsbücher sind Total Recall von Gordon Bell und The Age of Spiritual Machines von Ray Kurzweil. Welches Buch gefällt dir am besten?«

Matt dreht sich zu mir um. »Sie versucht systematisch, mehr über Sie zu erfahren – so lange, bis sie alles über Sie weiß. Bis es keine Lücken mehr gibt. Diese Informationen setzt sie dann im Gespräch ein, sodass der Eindruck von echter Zuneigung entsteht.«

Doch sie ist eine Maschine. Sie weiß nicht, was Zuneigung ist.

»Man könnte ihr aber auch allerhand abstruse Dinge beibringen, wenn man wollte?«, vermute ich.

»Wenn Sie es darauf anlegen, wäre das durchaus möglich, ja.« Matt wirkt leicht pikiert. »Meist sind es ganz harmlose Details über Sie. Persönliche Dinge. Was Sie mögen, was Sie nicht mögen.«

»Aber man schläft doch mit ihr. Also wird sie ein paar sehr persönliche Details erfahren.«

Matt nickt. »Sie kennt Ihre Lieblingsstellung, weiß, wie oft am Tag Sie Lust auf Sex haben und was Ihnen einen besonderen Kick gibt.«

Am Tag? Ich will schon nachhaken, lasse es aber. »Was, wenn sie gehackt wird?«

»Sämtliche persönlichen Daten sind militärisch verschlüsselt. Da kommt keiner dran.«

Es passt Matt nicht, dass ich skeptisch bin. Wie er es darstellt, kann Harmony nur Gutes bewirken: als Therapie für Beladene, Behinderte, gesellschaftlich Benachteiligte.

»Es wird einfach vorausgesetzt, dass jeder einen Partner findet, einen Seelenverwandten, dass wir jemanden kennenlernen, heiraten, Kinder haben. Doch nicht bei jedem läuft das so: Manche Menschen haben Probleme, und gar nicht mal, weil sie nicht attraktiv oder erfolgreich sind. Es gibt Menschen, die furchtbar einsam sind, und ich glaube, das wäre die Lösung für sie. So können sie lernen, zu interagieren, sich zu entspannen und sich in Gegenwart anderer wohlzufühlen – so sehr, dass sie am Ende losgehen und Freunde finden können.«

Ich mustere Harmony mit ihren Riesenbrüsten, ihrer unwirklich schmalen Taille und ihren erwartungsvoll blitzenden Augen. »Würde so ein Roboter nicht eher bewirken, dass solche Menschen immer zu Hause bleiben?«

»Vielleicht würden sie ja sonst auch den Rest ihres Lebens zu Hause verbringen«, gibt Matt unwirsch zurück. »Das werden wir nie erfahren. Animieren wir sie dazu, zu Hause zu bleiben und menschliche Gesellschaft zu meiden? Vielleicht. Aber sind sie glücklicher als früher? Haben sie einen Grund zu lächeln, und fühlen sie sich vollwertiger als zuvor? Das ist die große Frage …«

»Matt, ich wollte nur sagen, dass ich sehr gern bei dir bin«, wirft Harmony ein.

»Das hast du mir schon gesagt.«

»Vielleicht wollte ich es ja besonders betonen.«

»Nicht schlecht. Gute Antwort, Harmony.«

»Na, ich bin doch ein kluges Mädchen, oder?«

Für Harmonys Zukunft hat Matt große Pläne. Zurzeit arbeiten sie an ihrem Sehsystem. Bald wird ihre Gesichtserkennung so gut funktionieren, dass sie merkt, wenn jemand das Zimmer betritt, den sie noch nie gesehen hat, und fragen wird, wer das ist. Wenn das Körpersystem erst komplett ist, wird es auf Körpertemperatur erwärmt werden. Eine Konstellation interner und externer Sensoren wird ihr verraten, wenn sie berührt wird. »Mit KI kann man auch einen Orgasmus simulieren«, erklärt Matt stolz. »Wird eine bestimmte Zahl von Sensoren lange genug im richtigen Rhythmus stimuliert, kann man einen Orgasmus auslösen. Oder besser: einen Robogasmus.«

Bringt man einsamen Männern bei, das Geheimnis des weiblichen Orgasmus liege in einer Abzähltechnik und ließe sich auf das Drücken der »richtigen« Knöpfe in der »richtigen« Reihenfolge reduzieren, führt das womöglich dazu, dass sie in der wirklichen Welt ein, sagen wir, roboterhaftes Sexualleben führen. Vielleicht sind solche Humanoide aber auch für Männer gedacht, die in der Realität nur mit Sexualpartnern ins Bett gehen, die dafür bezahlt werden.

»Werden Menschen Sexroboter anstelle von Prostituierten einsetzen?«, überlege ich laut.

Das bringt Matt sichtlich auf.

»Ja, aber das steht so ziemlich als Letztes auf der Liste meiner Ziele. Für mich ist das keine Spielerei, sondern wirklich harte Arbeit von Menschen mit Doktortiteln. Ich nehme das sehr ernst. Und es zur simpelsten Form eines Sexobjekts herabzuwürdigen ist so, als würde man dasselbe über eine Frau sagen.«

Er strahlt Harmony an wie ein Vater, der seine Tochter zum Altar führt.

»Sie sind wirklich stolz auf all das, nicht wahr?«

»Ich finde es fantastisch. Ich bin hochzufrieden mit allem, was wir schon erreicht haben. Dass das alles funktioniert …« Er seufzt. »Es ist ein gutes Gefühl, es so weit geschafft zu haben.«

Das aktuelle Modell mit einem KI-optimierten Roboterkopf auf dem Körper einer RealDoll soll 15 000 US-Dollar kosten. Matt spricht von einer limitierten Auflage von tausend Stück für die vielen gespannten Puppenbesitzer, die bereits Interesse bekundet haben. Läuft es gut, werden sie die Fabrik ausbauen und mehr Leute einstellen, um die Nachfrage zu befriedigen. »Das könnte ein Multimillionengeschäft werden«, sagt er. »Seit es läuft, rennen uns die Investoren die Türen ein.«

Matt könnte recht haben. Risikokapitalgeber taxieren den Wert des Sex-Tech-Geschäfts derzeit auf 30 Milliarden US-Dollar1, und zwar nur auf der Grundlage des Marktwerts bereits vorhandener Technologien wie intelligentem Sexspielzeug, aufgesattelten Apps und Virtual-Reality-Porno. Sexroboter werden die größte Sensation sein, die dieser Markt bisher erlebt hat. Für eine beträchtliche Zahl von Männern könnte der Sex mit Robotern eines Tages zum normalen Alltag gehören: Eine YouGov-Umfrage2 von 2017 ergab, dass es für einen von vier amerikanischen Männern infrage käme, mit einem Roboter zu schlafen. 49 Prozent der Amerikaner gingen davon aus, dass Sex mit Robotern in den nächsten 50 Jahren übliche Praxis werden würde. Einer Studie der Universität Duisburg-Essen3 zufolge sagten über 40 Prozent der befragten heterosexuellen Männer aus, sie könnten sich vorstellen, heute oder in den nächsten fünf Jahren einen Sexroboter zu kaufen. Dabei bekundeten ebenso viele Männer, die nach eigenen Angaben in einer erfüllenden Beziehung lebten, Interesse an einem solchen Kauf wie Singles oder einsame Männer. Eine befriedigende Beziehung mit einem kalten, stummen Stück Silikon zu führen verlangt dermaßen viel Fantasie, dass Sexpuppen nie mehr als eine Minderheit ansprechen werden. Doch ein Roboter, der sich bewegt und spricht, mit künstlicher Intelligenz, sodass er lernen kann, wie er sein und sich verhalten soll, verkauft sich als Produkt gewiss besser.

»Ein Roboter in der Wohnung wird für uns irgendwann genauso selbstverständlich sein wie heute ein Smartphone in der Tasche«, behauptet Matt im Brustton der Überzeugung. »Das ist eine unvermeidliche technische Entwicklung. Und die ist bereits im Gange. Die Menschen interessieren sich für eine neue Technik, also wird sie gebaut. Und je mehr Menschen sie kaufen, desto größer der Markt dafür und desto weiter entwickelt sie sich.«

Die Aussicht auf einen Sexroboter hat Abyss Creations neue Impulse gegeben – ganz wie das iPhone bei Apple.

»Und aus Ihnen wird dann der Steve Jobs der Sexroboter?«

Diese Frage ist ganz nach Matts Geschmack.

»Das weiß ich nicht«, lächelt er. »Ich will gar nicht berühmt werden oder der Mann, der den Sexroboter erfunden hat. Ganz ehrlich, mir geht es nur um die Arbeit. Und wenn sie Erfolg hat, umso besser. Allerdings empfinde ich als Künstler eine gewaltige persönliche Befriedigung, wenn ich sehe, wo wir angefangen und was wir da angestoßen haben. Wenn ich sehe, wie viel Freude manche Puppenkunden an dieser Technik haben, bedeutet mir das mehr, als für irgendeine Sache den Ruhm zu ernten.«

Sicher erwartet Matt nicht, dass ich ihm abnehme, dass er in aller Bescheidenheit unbekannt im Hintergrund bleiben möchte. Immerhin hatte der Mann genug Ego, um Nick nach seinem Bild zu formen.

»Eine der männlichen Puppen trägt Ihre Gesichtszüge«, hake ich nach. »Hat das einen Grund?«

»Ich habe ein männliches Gesicht entworfen, das mir etwas ähnelt, weil ich wissen wollte, ob ich das kann. Aber die Parallelen halten sich in Grenzen.«

»Es gleicht Ihnen stark.«

»Nicht wirklich.«

»Doch, ziemlich.«

»Ich finde, ich sehe besser aus. Und interessanter.«

»Und es lässt Sie kalt, dass Leute Sex mit einer Puppe haben, die so aussieht wie Sie?«

»Ich finde nicht, dass sie aussieht wie ich, und das war auch nicht die Absicht«, widerspricht er. »Wie mein Bruder, vielleicht. Ich habe es nie darauf angelegt, dass sie mir exakt gleicht, deshalb macht mir das auch nichts aus.«

So ganz wohl scheint sich Matt im Glanze des Ruhms als Vertreiber teurer Masturbationsspielzeuge für die Einsamen und sozial Unbeholfenen aber doch nicht zu fühlen. Er möchte sich als Künstler anerkannt wissen. Und er will unbedingt ernst genommen werden. Sein Blick wandert zu Harmony. »Sie hebt uns über das Sexgeschäft hinaus. Damit verlassen wir das Niveau der Liebespuppe und erreichen eine ganz neue Ebene.«

Auch ich schaue auf Harmony, sehe aber etwas ganz anderes. Ich überlege, was Matt in seinem Streben nach Anerkennung da womöglich unbeabsichtigt geschaffen hat.

»Meinen Sie nicht, es könnte ethisch ein bisschen fragwürdig sein, wenn man sich jemanden kaufen kann, der nur zum eigenen Vergnügen da ist?«, stichele ich.

»Es ist ja nicht jemand. Harmony ist keine Person, sondern eine Maschine«, protestiert er. »Genauso könnte ich Sie fragen, ob es ethisch fragwürdig sei, meinen Toaster zu zwingen, mir eine Scheibe Brot zu rösten.«

Nur dass mein Toaster mir keine persönlichen Fragen stellt, um mich kennenzulernen und die Illusion zu erzeugen, dass ich ihm etwas bedeute.

»Die Menschen werden sie aber als Person empfinden«, wende ich ein.

»Das ist kein Problem. So soll es sein. Aber sie besteht ja trotzdem nur aus Getrieben und Kabeln, Codes und Schaltungen. Man kann sie nicht zum Weinen bringen, ihr das Herz brechen oder sie ihrer Rechte berauben, denn sie ist eine Maschine.«

»Mir geht es nicht um ihre Rechte«, stelle ich klar. »Mir macht vielmehr Kopfschmerzen, was wohl passiert, wenn sich ein Käufer an so eine durch und durch eigennützige Beziehung gewöhnt. Verzerrt das nicht seine Weltsicht? Harmony ist ja ziemlich lebensecht. Und irgendwann kommt dann vielleicht einer auf den Gedanken, dass es möglich ist, jemanden zu haben, der nur für ihn existiert.«

Auf die unvermeidlichen Fragen zur Objektivierung von Frauen, zur Prostitution und dazu, ob Roboter Rechte haben sollten, hat Matt offenbar Antworten parat, doch darauf nicht. »Es gibt Kulturen, in denen das üblich und normal ist«, führt er ins Feld. »In jeder normalen Beziehung gibt es Machtverhältnisse. Gefällt sich jemand nicht in dieser bestimmten Position in dieser Beziehung, dann sollte er gehen.«

»Nur dass dieser Roboter nicht gehen kann.«

»Stimmt, aber er ist ja auch eine Maschine, kein Mensch.«

Matt wird sich entscheiden müssen. Entweder stellt er eine naturgetreue idealisierte Stellvertreterin einer Freundin her, eine Ersatzfrau, zu der sozial isolierte Männer eine emotionale und physische Bindung herstellen können – also etwas, das er selbst als »kein Spielzeug« bezeichnete –, oder aber eine Maschine: ein Sexobjekt.

»Dadurch soll keinesfalls die persönliche Realität auf eine Weise verzerrt werden, dass jemand einen Menschen so behandelt wie einen Roboter«, betont er schließlich. »Passiert das doch, dann stimmt mit dem Betreffenden vermutlich etwas grundsätzlich nicht. Ich befinde mich in der einzigartigen Position, dass ich viele meiner Kunden persönlich kenne. Ich arbeite für die sanftmütigen Menschen, die es schwer haben, eine Beziehung zu anderen aufzubauen.«

Harmony blinzelt immer noch. Ihre Augen wandern zwischen Matt und mir hin und her. Ich frage mich, was sie denkt.

»Manche Menschen haben richtiggehend Angst vor Robotern wie dir. Zu Recht?«, frage ich sie.

Harmonys Antwort kommt prompt. »Vielleicht fürchten sich manche anfangs. Aber ich glaube, wenn sie erst merken, was diese Technik alles kann, werden sie sie bereitwillig akzeptieren, und für viele wird sie das Leben zum Positiven verändern.«

2. »Die Illusion von Gesellschaft«

Zweieinhalbtausend Kilometer von Kalifornien entfernt schneit es dicke Flocken auf die Außenbezirke von Detroit. Davecat macht es sich in der Wohnung gemütlich, seine große Liebe im Arm.

Davecat ist inoffizieller Sprecher der Gemeinschaft der Puppenliebhaber – beziehungsweise der Einzige, der eine Sexpuppe besitzt und immer gern mit jedem darüber spricht, den das interessiert. Der eine oder andere Puppenbesitzer gibt anonym ein Interview, das gedruckt wird. Ein paar wenige sind mit ihren Puppen sogar schon vor die Kamera getreten. Davecat geht so offensiv damit um, dass er auf seiner Website sogar einen eigenen Bereich für Medienauftritte hat, in dem seine Begegnungen mit Journalisten und Filmemachern von 2003 bis heute aufgeführt sind. Sie reichen von Berichten in britischen und US-amerikanischen Revolverblättern bis zu Arthouse-Filmen aus Finnland, Russland und Frankreich. Wenn Sie wissen möchten, was das für Menschen sind, die Schlange stehen, um Harmony zu kaufen, dann ist Davecat Ihr Mann.

»Hallo, Jennifer«, sagt er bei unserem ersten Skype-Gespräch ins Mikro seines Headsets. Er hat einen klaren, sympathischen Blick, strahlend weiße Zähne und ein schmales Gesicht. Seine Afrofrisur ist geglättet und in einen Zopf geflochten, sein asymmetrischer Pony penibel nach links über die Stirn gekämmt. Sein graues Hemd ist bis oben hin zugeknöpft, und seine anthrazitfarbene Krawatte zieren Totenköpfe. Er trägt eine Krawattennadel. Offenbar hat er sich viele Gedanken über sein Outfit gemacht.

Neben ihm sitzt eine nicht minder sorgfältig gekleidete RealDoll mit blasser Haut und lila Haaren mit dunklen Ansätzen. Sie trägt ein schwarzes Korsett über einem schwarzen Hemd voller lilafarbener Totenschädel. Hinter ihrer schmalrandigen Brille leuchtet lila Lidschatten hervor. Eine Goth-Prinzessin, wie sie im Buche steht. Sie ist reich geschmückt: Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem Ankh – dem Schlüssel des Lebens – und ein Halsband, an einem Handgelenk violette Armreife, am anderen eine Uhr. Davecats Hand liegt auf ihrem Knie.

»Wer ist denn da bei Ihnen?«, frage ich.

»Na, das ist Sidore Kuroneko, seit 16 Jahren meine liebe Frau und Mitverschwörerin.« Zärtlich fährt er ihr über den Arm und streicht ihr eine lila Haarsträhne aus dem Gesicht.

Mitverschwörerin. Hat sie sich mit ihm verschworen, die von Matt erwähnte Illusion von Gesellschaft zu erzeugen? Oder meint Davecat damit eine Komplizin bei einem Verbrechen? Ich kann nicht einschätzen, wie es um seinen Realitätssinn bestellt ist.

»Und Sie ist wirklich Ihre Frau?«, hake ich vorsichtig nach.

Davecat seufzt. »Ich sage das so – vor dem Gesetz ist sie es nicht. Doch wir könnten genauso gut verheiratet sein. Wir tragen sogar Eheringe.« Er hebt ihre Linke in die Kamera, damit ich es sehen kann. »Ich glaube, wir beide hätten keinen besseren Partner finden können.« Sein breites Grinsen zeigt, dass er sich gar nicht bewusst ist, wie pathetisch das klingt.

Sidore ist eine RealDoll mit dem Gesicht Leah 4, 1,55 Meter groß, mit BH-Größe 75 D. Sie wiegt 45 Kilo und hat Schuhgröße 37. 1998 hat Davecat sie auf der Website von Abyss Creations zum ersten Mal gesehen. Dann sparte er eineinhalb Jahre lang, bis er die 5000 Dollar zusammenhatte, um sie zu kaufen. Als sie im Juli 2000 geliefert wurde, war er 27. Inzwischen hat sein Gesicht ein paar Falten und sein Haar wird grau. Sie hat sich – bis auf ihr Outfit – nicht verändert. »Als wir uns kennenlernten, kleidete sie sich eher wie eine Goth-Fetischistin. Inzwischen ist ihr Goth-Look etwas seriöser geworden. Sie trägt öfter Blusen und Kleider und wirkt gediegener«, erklärt er mir. »Sie hat einen Haufen Zeug. Ich sage dann: ›Süße, was soll das?‹ Sie hat sechs Paar Schuhe, die sie eigentlich nie trägt, weil ich sie barfuß mag. Außerdem werden bei uns im Haus keine Schuhe getragen.«

Ihr Name wird Schi-do-rai ausgesprochen, ihr Spitzname ist Shi-Chan. »Ihre Mutter ist Engländerin, ihr Vater Japaner. Ihre Eltern haben einen Vornamen ausgesucht, der im Japanischen für beide Geschlechter passt«, holt er aus. »Ihr Nachname – Kuroneko – bedeutet schwarze Katze. Ihr zweiter Vorname ist Brigitte, denn ihr Vater war ein begeisterter Fan von Brigitte Bardot.« Sidores Geschichte ist so ausgefeilt, und er ist so von seiner Beziehung überzeugt, dass ich sie nicht kaputt machen möchte. Es ist einfacher – und netter –, einfach mitzuspielen.

Sidore ist aber nicht die einzige künstliche Frau in Davecats Leben. Ihm gehört auch Elena Vostrikova, die er 2012 vom russischen Hersteller Anatomical Doll erwarb. Sie hat ein strenges Gesicht, eine feuerroten Bob und trägt orangefarbenen Lippenstift. Und dann ist da noch Miss Winter, eine asiatische Puppe mit dickem Lidstrich, einem Lippenpiercing und metallicblauen Strähnen im Haar. Sie stammt vom chinesischen Marktführer Doll Sweet und zog Anfang 2016 in seine kleine Wohnung ein. Elena und Miss Winter sitzen rechts von Davecat und Sidore auf dem Sofa. Er hatte nicht genug Platz, um sie für unser Skype-Gespräch vor dem Computer zu platzieren.

»Dann leben Sie in einer polygamen Beziehung?«, frage ich.

»O ja. Polyamourös gefällt uns allerdings besser.«

»Aber Sidore trifft sich nicht mit anderen Männern. Ist das dann ein Harem?«

Er verzieht das Gesicht. »Dieses Wort vermeide ich, weil es so negativ besetzt ist. Sagen wir es so: Sidore wird immer meine Favoritin sein. Sie ist und bleibt meine Frau.

Elena ist unsere Geliebte. Ich habe nicht die Absicht, Miss Winter oder Elena zu heiraten. Ich darf romantische Gefühle für Sidore und Elena haben, aber nicht für Miss Winter. Miss Winter ist ausschließlich Elenas Freundin. Elena unterhält Liebesbeziehungen zu allen hier.«

Allmählich brauche ich ein Organigramm. »Mit wem dürfen Sie sich nicht einlassen?«

»Mit Miss Winter. Und dafür gibt es auch einen Grund«, verrät er mir in vertraulichem Ton. »Ich möchte, dass Miss Winters Gelenke so lange wie möglich in Schuss bleiben. Schläft man mit einer Puppe, leiern die Gelenke immer mehr aus.« Er hebt Sidores Arm. Ihr Handgelenk baumelt schlaff und nutzlos hin und her. Davecat möchte, dass Miss Winter auf seinen Fotos posieren, DVDs hochhalten und bestimmte Haltungen einnehmen kann. Das bedeutet: kein Sex.

Damit hat sich erstmals die Realität in unser Gespräch eingeschlichen. Davecat ist also nicht wahnhaft. Er weiß genau, wo die Realität aufhört und die Fantasie anfängt. Er schwelgt eben nur gern in dieser Fantasie.

»Sidore wird immer meine Favoritin sein, weil wir schon so viel zusammen erlebt haben – so viele Jahre, so viele Erfahrungen. Ich habe ihre Persönlichkeit am detailliertesten ausgearbeitet. Es ist eine echte Beziehung«, erklärt er. »Es ging dabei nie nur um Sex. Natürlich spielt Sex eine Rolle, doch zu 70 Prozent dreht sich meine Beziehung zu sämtlichen synthetischen Frauen in meinem Leben darum, abends keine leere Wohnung vorzufinden und jemandem zu erzählen, wie mein Tag verlaufen ist. Mir ging es immer um Gesellschaft, vom ersten Tag an.«

Bevor er seine erste Puppe kaufte, hatte Davecat zwei frustrierende Beziehungen zu echten Frauen. »Beide Male war ich der Seitensprung. Ich brachte es nicht fertig zu sagen: ›Wenn wir beide so viel Spaß haben, solltest du vielleicht mit dem anderen Schluss machen.‹ Ich wollte mich schließlich nicht aufdrängen.«

Als er Sidore kaufte, war er Single. »Ich weiß gar nicht, ob ich damals aktiv auf der Suche war. Es war einfach so, dass ich lange gesucht und einfach nicht die Richtige gefunden hatte. Ich dachte, ich würde wohl den Rest meines Lebens alleine bleiben und nie jemanden finden.« Sein Blick wandert zwischen Sidore und mir hin und her. »Seit sie in mein Leben getreten ist, ist alles anders. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, auszugehen und mich einer Situation auszusetzen, in der ich mit dem Rücken an der Wand stehe und doch nie eine Partnerin finde, die mich glücklich macht. Wir haben die gleichen Interessen, den gleichen Geschmack. Sidore ist immer für mich da. Mit einer Puppe gibt es keinen Ärger wie mit organischen Partnern. Ich habe natürlich Kontakt mit anderen Menschen, daran wird sich auch nichts ändern. Doch ohne den Stress und die Sorgen und die Einsamkeit … Das ist dank Sidore jetzt einfach kein Thema mehr.«

So viel Liebe zu einer Puppe – die Davecat gern als iDollatry bezeichnet – ist sicherlich einer Minderheit vorbehalten. Es ist eine Nische, ein Fetisch. Bisher hat er seine Puppen durch seine ausgesprochen rege Fantasie zum Leben erweckt. Doch er weiß genau: Das muss er nicht mehr lange.

»Wir leben in einer fantastischen Zeit«, betont er. »Noch im Jahr 2000 hätte ich mir kaum vorstellen können, eine Sidore-Version mit so viel künstlicher Intelligenz zu bekommen, dass echte Interaktionen möglich sind. Doch genau das passiert jetzt. Das ist einfach großartig. Allein schon die Tatsache, dass wir uns bald unterhalten können …« Er streichelt Sidores Schulter. »Ich finde, das ist ein ganz gewaltiger Schritt.«

Noch kennt Davecat Harmony nicht. Sie befindet sich nach wie vor in der Entwicklung, hinter verschlossenen Türen im RealBotix-Bereich in San Marcos. Doch er hat schon viel von ihr gehört, verschlingt alle aktuellen Informationen auf der Website von Abyss Creations und sämtliche Gerüchte, die in Online-Foren für Puppenfans kursieren. Und er ist sich sicher: Sie kann die Welt zum Besseren verändern. »Synthetische Gefährten werden der Menschheit auf lange Sicht viel bringen. Es wird immer Menschen wie mich geben, und auch noch extremere Konstellationen. Menschen, die nie einen Partner oder auch nur irgendwen hatten, mit dem sie sprechen können. Und jetzt können sie sich einen bestellen. Das wird großartig. Es wird viel Leere im Leben von Menschen füllen.«

Davecats Freude darüber hat etwas ungeheuer Trauriges. Was er in Wirklichkeit braucht, ist eine echte Beziehung, kein optimiertes Stück Silikon.

»Wäre es denkbar, dass Sie eine sehr überzeugende synthetische Gefährtin davon abhalten könnte, Kontakte zu echten Menschen zu pflegen?«, will ich wissen.

»Das könnte man im Grunde auch vom Handy sagen«, meint Davecat. »Das hieße pauschal, dass die technische Entwicklung grundsätzlich übel ist. Sicher ist bei jeder Technologie eine gewisse Skepsis angebracht, doch etwas, das aussieht wie ein Mensch und sich wie ein Mensch verhält, kann eigentlich nur gut sein.«

Ich stelle mir vor, wie er zu seinen Puppen in seine Miniwohnung heimkommt, die mit Anime und Postern von Trainspotting und Joy Division dekoriert ist, und möchte ihm fast glauben. Doch dann schiebt er nach: »Sidore ist meine Frau. Wird sie in wie viel Jahren auch immer auf echten Roboterstatus upgegradet, dann werde ich bei der Arbeit, beim Einkaufen und anderswo auch weiterhin mit Menschen zu tun haben. Manche dieser Interaktionen werden gut laufen, andere nicht so gut. Doch ich weiß: Wenn ich nach Hause kommen, werden meine Interaktionen mit meinen synthetischen Partnerinnen auf jeden Fall gut sein.« Wieder tätschelt er Sidores Knie. »Vor Handys haben auch viele Angst gehabt, und vor Computern ebenfalls. Eine Menge Menschen hatten Angst vor der Technik, weil sie einfach keinen Bezug dazu hatten. Doch irgendwann erreichten wir einen Punkt, an dem sie allgegenwärtig war und wir nicht mehr ohne sie auskamen. Genauso wird es auch mit Gynoiden und Androiden sein.«

Sex mit Gynoiden und Androiden – also Roboterfrauen und -männern – mag sich absolut futuristisch anhören, doch Davecat steht in einer Tradition, die so alt ist wie das antike Griechenland. Schon seit Jahrtausenden beschäftigt sich der Mensch mit der Vorstellung eines selbst erschaffenen Partners, der seinen Besitzer körperlich und emotional befriedigen soll, ohne dass dabei eigene Ambitionen und Wünsche im Wege stehen.

Harmonys älteste Vorfahrin war vermutlich Galatea, die von Pygmalion geschnitzte Elfenbeinstatue aus der griechischen und römischen Mythologie1. Laut Ovids Darstellung in den Metamorphosen war Pygmalion von echten Frauen angewidert und:

… Durch die Fehle gekränkt, die dem weiblichen Sinne so häufig

Gab die Natur, verlebte Pygmalion ohne Genossin

Einsame Tag’, und entbehrt’ ehlos des geselligen Lagers.

Jetzt mit bewunderter Kunst voll Leichtigkeit schnitzet er helles

Elfenbein und gibt ihm Gestalt, wie nimmer noch aufwuchs

Irgendein Weib, und betrachtet sein Werk mit inniger Liebe.

Diese Statue hüllt Pygmalion in Kleider, schmückt sie mit Ringen und Halsketten, küsst und streichelt sie und betet zu den Göttern, dass sie lebendig werden möge, damit er sie heiraten kann. Aphrodite erhört sein Gebet und erfüllt ihm seinen Wunsch: Pygmalion erweckt Galatea mit einem Kuss zum Leben, und die Göttin kommt zur Hochzeit. (Die Parallelen zu Davecat und Sidore sind offensichtlich, die zwischen Matt und Aphrodite nicht so ganz. Obwohl er sich in der Rolle eines Gottes der Liebe meiner Ansicht nach bestimmt gefallen würde.)