Roll Inclusive - Avery Alder - E-Book

Roll Inclusive E-Book

Avery Alder

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Beschreibung

Sich mit den Protagonist*innen unserer Lieblingsromane identifizieren zu können, sich auf Buchcovern und Illustrationen und in den Gesellschaften phantastischer (Rollenspiel-)Welten wiederzuerkennen, ist für viele Leser*innen und Rollenspieler*innen ganz selbstverständlich. Aber welche Erfahrungen machen People of Color, queere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Mitglieder anderer marginalisierter Gruppen, wenn sie phantastische Literatur oder Rollenspielbücher und Settingbeschreibungen lesen? Warum ist es wichtig, sich repräsentiert zu sehen? Welche Auswirkungen kann mangelnde Repräsentation für den Einzelnen, aber auch für die Community und die Gesellschaft haben? Was haben wir durch mehr Vielfalt zu gewinnen? Den Ansatz einer Antwort soll dieser Essay-Band geben. Sechzehn renommierte deutschsprachige und internationale Autor*innen nehmen sich verschiedener Themen an: Wie kann eine respektvolle Darstellung von diskriminierten Personengruppen in Produkten und am Spieltisch aussehen? Wie kann kultursensibler Weltenbau gelingen und wie wichtig ist dabei historische Korrektheit? Wie zugänglich ist das Pen-&-Paper-Rollenspiel und wie ist es um die Barrierefreiheit am Spieltisch und in der Kommunikation bestellt? Ein Toolkit mit praktischen Tipps zur Umsetzung und eine Sammlung von eigens entwickelten Nano-Games runden das Buch ab und sorgen für einen hohen Mehrwert für Spieler*innen und Spielleiter*innen.

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Seitenzahl: 460

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Impressum

Auch erhältlich als Hörbuch. Zur kostenlosen Hörbuch-Version geht es über diesen QR-Code oder den folgenden Link: http://www.jcvogt.de/hoerbuch-roll-inclusive

Herausgeber*innen:Aşkın-Hayat Doğan, Frank Reiss und Judith Vogt

Lektorat: Aşkın-Hayat Doğan, Frank Reiss und Judith Vogt

Korrektorat: Aimée M. Ziegler-Kraska und Kathrin Dodenhoeft

Layout: Kathrin Dodenhoeft

Coverillustration und -gestaltung: Peter Hoffmann

© Feder & Schwert 2019E-Book-Ausgabe

ISBN 978-3-86762-406-0ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-86762-405-3

Roll Inclusive: Diversity und Repräsentation im Rollenspiel ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.feder-und-schwert.com

Inhalt
Vorwort
Wofür wir eine bessere Repräsentation von Vielfalt im Pen & Paper-Rollenspiel brauchen
Sein als ob – Aneignung und Aushandlung von Identität im Rollenspiel
Das Spiel mit eingefahrenen Rollenbildern – Ganz schön hässlich?
Nur einen Würfelwurf voneinander entfernt – Die politische Dimension des Rollenspiels
Kritischer Treffer? Kritisches Weißsein! – Rassismus-kritisches Denken und Handeln im Rollenspiel
People of Color zwischen Othering und adäquater Repräsentation
Liebesgrüße von der Lebkuchenperson – Geschlechtliche Vielfalt repräsentieren
Psychische Auffälligkeiten in Rollenspielen
Charaktere mit Behinderung im Rollenspiel – ein Interview mit André Skora
Der offene Tisch – Barrierefreiheit in einem kommunikativen Hobby
Gemeinsam verschiedene Wege gehen – zur Bedeutung von Intersektionalität
Auf Augenhöhe – Von Hierarchie, Community-Standards und was Feminismus damit zu tun hat
Endboss Kulturklischee – Tipps für kultursensiblen Weltenbau
»Das war halt so!« – Zur Problematik von historischer Korrektheit, Authentizität und Fantastik
Illustration – Visuelle Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Stereotypen und Vielfalt
Queeres Spieldesign
Toolkit – Werkzeuge für mehr Diversität im Rollenspiel
Nano-Game: Con-Tisch 2.04
Nano-Game: Team Meeting
Nano-Game: Vor der Schlacht
Nano-Game: Sprachlos
Glossar: Fachbegriffe
Glossar: Spiele
Literaturverzeichnis
Über die Autor*innen
Danksagung

Vorwort

Liebe Leser*innen,

als wir im Sommer 2018 zum ersten Mal auf der FeenCon in Bonn zum Thema Diversität und Repräsentation in unserem Lieblingshobby sprachen, war uns noch nicht klar, wie schnell es von da an gehen würde – und wie viele Höhen und Tiefen das Projekt würde überstehen müssen, um jetzt, im Herbst 2019, als Essayband in euren Händen zu landen.

Den Entschluss, vielfältige Stimmen aus der Rollenspielszene zu diesen Themen zu sammeln, fassten wir im September 2018, als Verlag war Feder & Schwert rasch gefunden und wünschte sich ein Crowdfunding, um evaluieren zu können, ob Roll Inclusive auf genügend Interesse stoßen würde. Nachdem wir im Herbst und Winter unsere Essay-Autor*innen anschrieben, arbeitete der Verlag, allen voran Kathrin Dodenhoeft, an der Erstellung des Crowdfundings mit Stretchgoals, Prämien und allem, was dazugehört. Der Start Ende Januar war ein voller Erfolg: Innerhalb weniger Stunden hatten wir die gewünschte Summe zusammen und Roll Inclusive hob so richtig ab. Mehr als das Vierfache der Ausgangssumme kam schließlich zusammen. Gleichzeitig gingen wir mit unserem Lieblingsthema auf Tour und veranstalteten Workshops und Vorträge, auf denen wir noch viele Impulse erhielten und tolle Gespräche führten. Allen, die daran und am Crowdfunding beteiligt waren, möchten wir hiermit noch einmal von Herzen danken. Es ist großartig, was ihr möglich gemacht habt!

Im Frühjahr waren wir vor allen Dingen mit der Redaktion der Texte beschäftigt – und dann kam nach all den Höhenflügen im Juni die bittere Pille: Feder & Schwert und der damit zusammenhängende Rollenspielverlag Uhrwerk meldeten Insolvenz an. Unser Projekt, in das wir und alle beteiligten Autor*innen – sowohl die der Essays als auch die der Stretchgoals – so viel Arbeit und Herzblut investiert hatten, stand in den Sternen. Das Projekt, auf das sich so viele gefreut und das so viele so sehr willkommen geheißen hatten.

Wir haben nun, da wir dieses Vorwort schreiben, einiges an Hoffen und Bangen hinter uns – nicht zuletzt mit den Mitarbeiter*innen beider Verlage, denen wir alles Gute für die Zukunft wünschen. Doch Ende Juli gab es das »Go« für Roll Inclusive: Dank der vielen noch hinzugekommenen Vorbestellungen und der Großzügigkeit aller Mitwirkenden ist es Feder & Schwert möglich, den Essayband doch noch zu realisieren. Uns fällt ein Stein vom Herzen – oder vielleicht eher ein bunter, vielseitiger Würfel.

Das Buch, das ihr jetzt vor euch habt, ist in drei große inhaltliche Schwerpunkte aufgeteilt: Zunächst befassen sich Frank Reiss, Giulia Pellegrino, Guddy Hoffmann-Schoenborn und Lena Falkenhagen mit den theoretischen Grundlagen, Hintergründen und Überlegungen zum Thema Repräsentation im Rollenspiel. Daran schließen sich die Beiträge von Mike Krzywik-Groß, Aşkın-Hayat Doğan, Oliver Baeck, David Grade, André Skora und Christian Vogt an, in denen es um die spezifischen Perspektiven und ­(He­raus-)­Forderungen für eine angemessene Repräsentation marginalisierter Menschen in Rollenspielprodukten und am Spieltisch geht. Den dritten Themenkomplex bilden dann die Essays von Judith Vogt, Elea Brandt, Aurelia Brandenburg, Ben Maier, Avery Alder und Lena Richter, die sich allesamt mit der Frage der Rollenspielpraxis und der Umsetzung der zuvor angesprochenen Themen beschäftigen.

Als wir damit anfingen, die ersten Ideen zu einem Buch zusammenzutragen, in dem es um die Repräsentation und Inklusion von Menschen gehen sollte, die in ihrem Alltag immer wieder Diskriminierung erfahren, waren wir uns schnell einig, dass wir großen Wert auf eine inklusive und respektvolle Sprache legen wollten. Dazu gehört für uns unter anderem, dass wir uns, anstelle eines generischen Maskulinums oder Femininums, dafür entschieden haben, in unseren Texten das Gendersternchen * zu verwenden, um sowohl männliche, als auch weibliche und nicht-binäre Geschlechter anzusprechen. Außerdem benutzen wir die in einer diskriminierungs­sensiblen Arbeit aktuell in Deutschland gängigen Selbstbezeichnungen von marginalisierten Menschen. Aber keine Sorge, unser Glossar am Ende des Buchs enthält Erklärungen und Erläuterungen der im Buch verwendeten Begriffe und Bezeichnungen, falls diese für euch noch neu sind.

Und auch wenn wir uns mit Roll Inclusive bemüht haben, möglichst diskriminierungssensibel zu schreiben, wissen wir natürlich, dass wir damit sicher nicht im Namen aller marginalisierter Menschen sprechen können. Bestimmt haben wir Fehler gemacht, vielleicht sogar Dinge geschrieben, die jemanden verletzen – auch wenn wir das natürlich nicht beabsichtigt haben. Und hier sind wir auf euer Feedback angewiesen. Schreibt uns, gebt uns Rückmeldung, kritisiert uns, zweifelt uns an! Und glaubt bloß nicht, dass das hier der Wahrheit letzter Schluss ist!

Am Ende des Buchs findet ihr ein Glossar, das – neben den bereits erwähnten Fachbegriffen und Selbstbezeichnungen – auch Erklärungen für die in den Essays immer wieder verwendeten Fach­termini aus dem Bereich des Pen & Paper-Rollenspiels enthält, denn wir würden uns freuen, wenn Roll Inclusive seinen Weg auch in die Hände von Menschen findet, die vielleicht noch nie ein Rollenspiel gespielt haben. Zu guter Letzt enthält das Glossar noch eine separate Auflistung aller Rollenspiele, auf die in den Essays verwiesen wird, inklusive einer kurzen Beschreibung, um was es in den jeweiligen Spielen geht.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Band ein Gespräch fortführen können, eine Tür öffnen und einen Weg ein klein wenig beleuchten können. Wir hoffen, dass es noch viele Gespräche mit euch gibt, dass sich viele Türen auftun und dass die Wege, die wir gehen, vielfältig und abenteuerlich sind.

Vielen Dank für eure Unterstützung sagen

Aşkın-Hayat Doğan, Frank Reiss und Judith Vogt

Wofür wir eine bessere Repräsentation von Vielfalt im Pen & Paper-Rollenspiel brauchen

Frank Reiss

Einleitung

Wir Rollenspieler*innen lieben gute Geschichten. Uns gefallen sie dann besonders, wenn wir richtig in sie eintauchen können, wenn fantastische Welten vor unserem inneren Auge lebendig werden. Welten, in die wir für die Dauer eines Rollenspielabends reisen, in denen wir, durch die Augen unserer Spielfiguren, aufregende Abenteuer erleben können. Unsere Charaktere, aber auch die anderen Figuren, die unsere Spielwelten bevölkern, wachsen uns ans Herz, werden zu Freund*innen und Vertrauten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir das Eintauchen über beide Ohren vor allem dann gut gelingt, wenn ich mich mit den Geschichten identifizieren kann und die darin handelnden Persönlichkeiten, ihre Erfahrungen und Erlebnisse anschlussfähig an mein Leben, an meine Erfahrungen sind. Wenn sie – bei aller Fantasie und Fremdheit – Aspekte haben, die mir wohlbekannt vorkommen. Wenn ich mit Figuren nicht warm werde, lege ich ein Buch schon mal zur Seite, schaue die Serie nicht weiter oder erzähle gemeinsam mit meinen Mitspieler*innen eine andere Geschichte mit Held*innen, die uns mehr zu sagen haben. Was ist aber, wenn auch das nächste Buch, die andere Serie, die neue Geschichte, nur mir fremde Erfahrungen, Erlebnisse, Konflikte oder Charaktere behandelt? Und die übernächste auch …?1

Vor einiger Zeit stieß ich auf einen Artikel der Rollenspieldesignerin Whitney »Strix« Beltrán mit dem Titel Why minority settings in RPGs matter.2 Beltrán beschreibt darin, dass sich die Spielwelten im Pen & Paper-Rollenspiel (P&P) häufig stark an der sogenannten Mehrheitsgesellschaft3 orientieren und die Erfahrungen von Personen, die nicht dieser Mehrheit zugerechnet werden, systematisch ausblenden. Sie spricht sich in ihrem Artikel dafür aus, in die Geschichten, die wir uns erzählen, mehr Vielfalt einziehen zu lassen. Und sie ist mit dieser Forderung nicht allein. Schon 2009 brachte die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie auf den Punkt, wie problematisch es ist, wenn wir stets dieselben Geschichten über eine ethnische Gruppe, ein Land oder einen Kulturkreis erzählen. The danger of a single story ist der Titel ihres Beitrags zur Innovationskonferenz TED4. Beide Autorinnen haben mich maßgeblich dazu inspiriert, das P&P-Rollenspiel, seit Jahrzehnten meine Leidenschaft, kritisch auf die Darstellung von gesellschaftlichen Rollenbildern und Minderheiten zu hinterfragen.

Beltrán und Adichie zeigen auf, dass sich die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen – sei es in Filmen, Serien, Computerspielen, Romanen oder eben im P&P-Rollenspiel – durch eine erstaunliche Eintönigkeit auszeichnen: Die Vielfalt, die unsere individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit prägt, die große Palette an Lebensentwürfen, persönlichen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Umständen, die unsere Welt und die Menschen darin bieten, findet in den Erzählungen unserer Gesellschaft – weder in den fiktionalen noch den nicht-fiktionalen – kaum oder nur sehr geringen Widerhall. Stattdessen finden wir in den Hauptfiguren von Filmen, Serien, Romanen und Videospielen vor allem die Menschen wieder, die in unserer westlich geprägten Gesellschaft als »Mehrheit« gelten. Wie häufig habe ich in letzter Zeit einen Film gesehen, ein Buch gelesen oder ein Videospiel gespielt, in dem die Hauptfigur nicht weiß, nicht männlich und nicht heterosexuell war? Die Antwort auf diese Frage fällt oft sehr ernüchternd aus. Es fehlen die Frauen, die Queers5, die Menschen mit Behinderung, die People of Color6 in vielschichtigen, tragenden Rollen unserer Erzählungen. Natürlich gibt es Gegenbeispiele. Insbesondere der Erfolg der nutzer*innenbestimmten Streaming-Dienste und ein stärker werdendes Bewusstsein für die Problematik verbessern das Bild ein wenig. Filme wie Black Panther7, die Schwarze8 Menschen und eine selbstbestimmte, fortschrittliche afrikanische Gesellschaft zeigen, oder Serien wie Jessica Jones9, Romane wie Zerrissene Erde von N. K. Jemisin10 oder Videospiele wie Horizon Zero Dawn11 mit ihren selbstbewussten, fähigen weiblichen Hauptfiguren zeigen das Bemühen um neue, von Vielfalt geprägte Geschichten. Auch in der Rollenspielszene (insbesondere im anglo-­amerikanischen Raum) fand in den letzten Jahren eine positive Entwicklung statt. Sichtbar wird sie unter anderem in zahlreichen Diskussionspanels auf Conventions und Blogbeiträgen im Netz12. In vielen sogenannten Independent-Rollenspielen finden sich mehr und mehr moderne Settings jenseits kultureller Klischees und selbst in den Produkten der großen Verlage zu traditionellen Spielwelten haben die Themen Diversität und Repräsentation an Bedeutung gewonnen. Aber es bleiben Ausnahmen. Und sie sind immer begleitet von beständigem Widerstand – erkennbar zum Beispiel an den zahlreichen Stimmen, die im Zuge von Ereignissen wie »Gamergate«13 in Boykottaufrufen und in Hasskommentaren in Fanforen laut werden.

In Roll Inclusive wollen wir uns hauptsächlich mit der Frage nach der Repräsentation von Menschen aus marginalisierten Gruppen im Pen & Paper-Rollenspiel auseinandersetzen. Wie werden Menschen, die häufig die Erfahrung machen, nicht als gleichwertiger Teil der Gesellschaft angesehen zu werden, im Hobby Rollenspiel dargestellt14? Welche Auswirkungen hat das und wie kann eine bessere Repräsentation gelingen? Dafür ist zunächst zu klären, was wir mit den Begriffen Diversity – oder in der deutschen Übersetzung »Diversität« – und Repräsentation in Bezug auf das Rollenspiel meinen und warum wir es wichtig finden, dass sich die Rollenspielcommunity, aber auch die Kreativen und Schaffenden, die Autor*innen und Verlage, mit dieser Thematik auseinandersetzen. Diese Aufgabe soll der folgende Beitrag erfüllen. Er will ein Türöffner für die weiteren Essays in diesem Buch sein, die sich detaillierter und spezifischer mit einzelnen Aspekten des Themas auseinandersetzen.

Diversity und Marginalisierung

Wenn wir in Roll Inclusive von Diversity oder Diversität sprechen, dann beziehen wir uns, auch wenn es um das Spiel in ausgedachten Welten geht, zunächst einmal auf die ganz reale, alltägliche Gesellschaft, in der wir uns bewegen. Diversität ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften und beschreibt die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit von Menschen, wie wir sie in realweltlichen Bevölkerungen finden15. Gemeint sind vor allem gesellschaftlich gesetzte Unterschiede, also individuelle Merkmale, die mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen sind, seien es die ethnische Herkunft, die romantische oder sexuelle Anziehung16, das Aussehen einer Person, das Geschlecht, mit dem sich die Person identifiziert, die Religion oder das (Nicht-)Vorhandensein einer Behinderung. Der Begriff Diversität ist für sich genommen wertfrei. Er erfasst nüchtern eine gesellschaftliche Wirklichkeit, ohne sie als erstrebens- oder beklagenswert zu bezeichnen. Auch die beschriebenen Merkmale sind für sich genommen weder positiv noch negativ zu sehen.

In der gesellschaftlichen Praxis ist Diversität aber alles andere als folgenlos. Offenkundig werden Menschen wegen individueller Unterschiede ungleich behandelt. Sie werden aufgrund von Merkmalen wie ihrer Hautfarbe, ihrer geschlechtlichen Identität oder Anziehung strukturell benachteiligt, ausgegrenzt und angefeindet – also marginalisiert17. Andere Merkmale sorgen stattdessen dafür, dass Menschen Vorteile genießen, dass sie privilegiert sind, insbesondere gegenüber den Personen, die von den besonders bevorzugten Merkmalen abweichen, also beispielsweise von weißer Hautfarbe, männlichem Geschlecht oder Heterosexualität. Diese Privilegien wirken auch dann, wenn man sie selbst nicht bewusst in Anspruch nimmt, denn sie sind strukturell verankert und prägen die Gesellschaft18. Diese Ungleichbehandlungen sind vielfältig beschrieben und benannt: Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit, Ableismus sind strukturell verfestigte – aber längst nicht die einzigen – Formen von Diskriminierung19 aufgrund eines oder mehrerer (größtenteils angeborener) Merkmale. Wenn im Folgenden von »marginalisierten Personen oder Gruppen« die Rede ist, meine ich damit Personen oder Gruppen von Personen, die von diesen Systemen der Ungleichbehandlung betroffen sind.

Repräsentation in Medien

Vielfalt ist der Normalzustand menschlicher Gesellschaft. Dass wir uns von unseren Nachbar*innen, unseren Kolleg*innen oder den Mitreisenden in der U-Bahn schon allein äußerlich in vielfältiger Weise unterscheiden, ist eine alltägliche Erfahrung. Müsste diese dauernde Präsenz von Vielfalt nicht dazu führen, dass sich die Verschiedenheit der Menschen auch in ihren kulturellen Produkten, in Medien (fiktional und nichtfiktional) wiederfindet? Diese Frage führt mich zum zweiten zentralen Begriff des Bandes: Repräsentation.

Mit Repräsentation ist grundsätzlich die Art und Weise gemeint, wie etwas aus der Realität – beispielsweise ein Gegenstand oder eine Person – in Sprache, aber auch in Medien wie in Fernsehsendungen, Büchern, in der Musik oder im Rollenspiel abgebildet, also »repräsentiert« wird20. Dabei geht es einerseits um die bloße Anzahl von Erwähnungen: Wer oder was taucht häufig auf? Wer oder was bleibt unerwähnt? Neben der rein zahlenmäßigen Verteilung geht es bei Repräsentation vor allem auch darum, wie diese Personen gezeigt werden. Welche Personen(-gruppen) kommen in welchen Zusammenhängen vor? Welche Funktionen und Rollen und welche Relevanz haben sie für den Fortgang der Handlung? Wer sind die Stars der Geschichte, die Protagonist*innen? Und wer spielt die Nebenrollen? Wie vielschichtig oder stereotyp – also klischeehaft, holzschnittartig – wird eine handelnde Person inszeniert? Auf diese Fragen lenkt der Begriff der Repräsentation unseren Blick.

Die Art und Weise, wie etwas dargestellt wird und wie nicht, was hervorgehoben und was weggelassen wird, hat Einfluss darauf, wie diese Darstellung auf uns als Zuschauende, Lesende oder Spielende wirkt21. Dieser Einfluss – und das ist entscheidend – beschränkt sich nicht nur auf den Medieninhalt selbst, sondern wirkt auch auf unsere alltägliche Sicht auf uns selbst, auf die Gesellschaft und unsere Mitmenschen22. Dadurch, wie etwas in einem Medium repräsentiert wird, wird eine Bedeutung und eine Bewertung über das Dargestellte – und damit auch über Personen und soziale Gruppen – mitgeteilt. Der Soziologe Stuart Hall weist noch auf eine weitere Dimension von Repräsentation hin: Macht. Darin, ob und wie eine Gruppe Menschen in Medien repräsentiert wird, drücken sich Machtstrukturen aus. Wer bestimmt, wie eine Gruppe Menschen in den Medien dargestellt wird, verfügt auch über die Macht zu bestimmen, wie die Repräsentierten wahrgenommen werden. Nach Hall können bestimmte Formen der Repräsentation (beispielsweise die einseitig negative Darstellung einer ethnischen Minderheit) dazu dienen, vorherrschende Machtstrukturen und Marginalisierung aufrechtzuerhalten.

Auf diese Aspekte und auch auf die Folgen von Repräsentation werde ich weiter unten genauer eingehen.

Repräsentation von Diversität im Pen & Paper-­Rollenspiel

Im Pen & Paper-Rollenspiel findet Repräsentation auf mehreren Ebenen statt: Zum einen in den Regelbüchern, Settingbeschreibungen und Szenarien, in denen einzelne Aspekte einer Spielwelt (Charaktere, Gesellschaften, die Natur, Gegenstände, etc.) durch Wort und Bild repräsentiert werden, zum anderen direkt am Spieltisch, in unserer Vorstellung. Dabei sind nicht nur die mitgelieferten Informationen von Bedeutung, sondern auch die fehlenden. Was von den Autor*innen überhaupt nicht beschrieben – also gar nicht repräsentiert wird – ist zunächst kein oder zumindest kein sehr relevanter Teil der Spielwelt. Aber selbst, wenn ein bestimmter Aspekt einer Spielwelt in einem Rollenspielprodukt oder am Spieltisch beschrieben wird, stellt sich immer noch die Frage nach der Art der Beschreibung, nach den Rollen und Machtpositionen, die bestimmten Personengruppen zugewiesen werden – oder eben auch nicht. Mit welchen Worten eine bestimmte Kultur in einer mittelalterlichen Spielwelt beschrieben wird, beeinflusst, wie wir uns diese Kultur und ihre Angehörigen vorstellen.

Wenn wir uns nun die breite Masse der Rollenspielprodukte anschauen, müssen wir feststellen, dass hier ganz überwiegend eine weiße, heterosexuelle, cis*23 Mehrheit repräsentiert wird. Menschliche Vielfalt, beispielsweise in Bezug auf Geschlechterrollen, ethnische Zugehörigkeit, geschlechtliche Anziehung und körperliche Behinderungen, sucht man in den Settingbeschreibungen, Abenteuern und Illustrationen oft noch vergebens. Personen, die von der Mehrheit abweichen – etwa, weil sie nicht in eine binäre Vorstellung von Geschlecht einzuordnen sind oder aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen von den baulichen Gegebenheiten unserer Umwelt behindert werden – tauchen selten in den Geschichten auf, und wenn überhaupt, dann in Nebenrollen. Ihre Darstellung ähnelt dabei nicht selten den Zuschreibungen, denen diese Menschen in der Wirklichkeit ausgesetzt sind: Ihnen werden stereotype Rollen zugedacht, Charakterzüge, Motivationen und Verhaltensweisen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion oder dem Geschlecht, von dem sie sich angezogen fühlen, unterstellt.

Damit haben wir zwei wesentliche Aspekte benannt, an denen Repräsentation von marginalisierten Gruppen mit großer Regelmäßigkeit im P&P-Rollenspiel scheitert: Nicht-Erwähnung beziehungsweise Bedeutungslosigkeit und stereotype Darstellung. Auf beide Aspekte soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Fehlende Repräsentation: Nicht-Erwähnung beziehungsweise Bedeutungslosigkeit

Bei einem Setting, in dessen Beschreibung eine bestimmte Gruppe Menschen – beispielsweise People of Color – nicht vorkommt, liegt der Schluss nahe, dass sie in dieser Spielwelt auch nicht existiert oder sie keine nennenswerte Rolle spielt – zumindest solange, bis sie jemand explizit beschreibt24. In einem Rollenspielbuch, das sich zur Aufgabe macht, eine Spielwelt zu beschreiben und in dem alle in Illustrationen dargestellten Personen weiß sind, werden sich ­People of Color nicht repräsentiert fühlen. Ein Abenteuerband, in dem alle handelnden Personen einer vermeintlichen körperlichen Idealvorstellung entsprechen, gibt Menschen mit Behinderung kaum die Möglichkeit, sich in gleicher Weise mit den handelnden Figuren zu identifizieren, wie es Menschen ohne Behinderung möglich ist. Es gibt sogar Spielwelten, in denen das Nichtvorhandensein einer bestimmten Gruppe innerweltlich begründet wird: In vielen futuristischen Settings wird die Abwesenheit von Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen durch einen technologischen Fortschritt erklärt. Wie aber wirkt diese Form der Darstellung – und die mitgelieferte Erklärung – auf Menschen mit Behinderung, die Rollenspiel in einem solchen Setting spielen? Ein völliges Fehlen von Repräsentation kann zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Personengruppen in dieser Spielwelt schlicht nicht existieren (sollen?). Insbesondere in fiktionalen Spielwelten ist diese Botschaft besonders bitter. Ihre Schöpfer*innen verfügen über jede kreative Freiheit, allen einen Raum in der Spielwelt zu geben, und nutzen sie nicht.

Für dieses symbolische Auslöschen einer Gruppe Menschen aus dem medialen Bewusstsein hat George Gerbner 1976 den Begriff der »Symbolic Annihilation« geprägt25. Der Kommunikations- und Kulturwissenschaftler meint damit die Verweigerung einer adäquaten Repräsentation in Medien. Das heißt in unserem Zusammenhang: Findet man in der Beschreibung eines Rollenspielsettings keine Schwarzen Personen, keine trans*Menschen und keine behinderten Personen, wiederholt sich mit großer Wahrscheinlichkeit für viele Menschen in ihrem Hobby das Gefühl des Nichtdazugehörens, des Nichterwünschtseins, das sie aus ihrem Alltag kennen.

Stereotype Repräsentation – ein Korsett für unsere Kreativität

Repräsentation scheitert aber nicht nur an der zahlenmäßigen Ungleichbehandlung oder der Nicht-Erwähnung. Vielmehr geht es auch darum, dass marginalisierte Personen in den immer gleichen, stereotypen Rollen dargestellt werden:

Wenn in einem Setting die weiblichen Charaktere ebenso häufig vorkommen wie die männlichen, ist damit nichts gewonnen, solange die Frauen nur als dienstbare Nebenfiguren auftauchen, als »Love Interests« für die männlichen Protagonisten, ohne Bedeutung für den Handlungsfortgang. Ein anderes Beispiel: Ein Volk of Color, dessen Beschreibung die Angehörigen und deren Kultur auf einige wenige Merkmale reduziert, während eine vornehmlich weiße, westlich-europäische Bevölkerung der Spielwelt in großem Facettenreichtum beschrieben wird. Dadurch werden häufig essentialisierende26 Stereotype über real existierende Kulturen fortgeschrieben, und das hat nichts mit guter Repräsentation zu tun.

In der Kombination von bestimmten Merkmalen und damit verbundenen negativen Stereotypen, also der Unterstellung, dass alle Menschen mit jenen Merkmalen so und nicht anders sind, spiegeln sich genau die strukturellen Mechanismen wieder, die in unserer Welt zur Aufrechterhaltung von Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit27 etc. beitragen. Durch eine stereotype, essentialisierende Darstellung wiederholt sich für marginalisierte Personen darüber hinaus eine Erfahrung, die sie auch im realen Leben immer wieder machen müssen. Ihnen wird unterstellt, »typische« Vertreter*innen ihrer vermeintlichen Gruppen zu sein. Individualität und Vielschichtigkeit, die Mitgliedern der sogenannten Mehrheitsgesellschaft unhinterfragt zugestanden werden, werden ihnen abgesprochen. Das Hineinversetzen in solche Figuren ist nur schwer möglich und nicht besonders attraktiv. Wer möchte sich schon mit einem negativen Klischee ihrer*seiner selbst identifizieren, mit dem sie*er sich im Alltag schon oft genug herumplagen muss?

Gerade in einem kreativen Hobby wie dem Pen & Paper-Rollenspiel verwundert es doch eigentlich, dass wir uns in einem relativ begrenzten Rahmen bewegen, der Menschen aus marginalisierten Gruppen häufig ausschließt oder in die immer gleichen Rollen zwängt.

Die Ursache für die Verwendung von Stereotypen bei der Repräsentation marginalisierter Personen ist dabei nicht immer eine bewusste Entscheidung. Sie liegt auch darin begründet, dass wir die im Laufe unseres Lebens erlernten Vorstellungen und Annahmen über unsere Umwelt und unsere Mitmenschen aus unserer eigenen Realität in die erdachten Spielwelten »importieren«.

Whitney Beltrán bezeichnet dieses Phänomen als »Defaultism«28: Wenn wir uns etwas ausdenken, greifen wir auf einen kreativen Ressourcenpool zurück, der sich zu großen Teilen aus unseren eigenen Erfahrungen und dem, was wir im Laufe unseres Lebens bereits irgendwie gesehen, gehört, erlebt haben, zusammensetzt. Bei der Erschaffung einer Fantasywelt (oder eines Settings in einem beliebigen anderen Genre) spielen unsere Bilder von der Realität also eine bedeutende Rolle.

Das gilt besonders dann, wenn wir etwas beschreiben, mit dem wir wenig oder gar keinen persönlichen Kontakt haben, das sich von unseren eigenen Erfahrungswelten unterscheidet, wie es häufig der Fall ist, wenn es um eine andere Kultur, eine andere geschlechtliche Anziehung oder ein anderes Gender geht. Diese Bilder davon, wie »diese Anderen« (im Gegensatz zu »uns«) angeblich sind, speisen sich dann überwiegend aus Erzählungen Dritter, aus kulturell geprägten Perspektiven und ganz maßgeblich auch aus Darstellungen in den Medien29.

Dieses »Wissen aus zweiter Hand« ist geprägt von lange gewachsenen, gesellschaftlichen Machtstrukturen: Eine durch Kolonialismus und weiße Vorherrschaft geprägte Welt, in der die Perspektive von People of Color kaum zählt; patriarchale Strukturen, in denen die Meinung und die kreativen Werke von Männern mehr Bedeutung haben als die von Frauen; Idealbilder von äußerlicher Schönheit, die mit der menschlichen Realität nichts zu tun haben; die Tabuisierung von Krankheit und Behinderung; starre Erwartungen daran, wie »richtige« Männer und Frauen zu sein haben; was eine »normale« Sexualität ausmacht.

Diese Stereotypen nisten sich auch in unseren Spielwelten ein und bleiben in ihrer Wirkmacht nicht darauf beschränkt. Durch das, was wir in Worten und Bildern erschaffen, tragen wir selbst wieder zum »Ressourcenpool« bei. Der Soziologe Stuart Hall beschreibt dieses Phänomen als »Circuit of Culture«, als Kreislauf der Kultur. Er zeigt damit auf, dass die Art und Weise, wie wir Dinge beschreiben, immer wieder reproduziert werden. Die mit diesen Beschreibungen verbundenen Bedeutungen und Bewertungen sickern in unsere Kultur ein und werden über die Zeit als vermeintliche Wahrheiten über das Beschriebene verankert.30 Das heißt, dass auch wir im Rollenspiel und bei der Gestaltung von Rollenspielprodukten gegebenenfalls zur Erhaltung von Stereotypen beitragen, die strukturelle Diskriminierung von Menschen ausdrücken und mitbegründen31. Genug Gründe, um an dieser noch immer gängigen Praxis etwas zu ändern.

Repräsentation in der Community

Abhilfe gegen das ständige Reproduzieren von Stereotypen gibt es leider nicht ohne Aufwand: Wir müssen beim Kreativsein, beim Erschaffen von Welten, Gesellschaften und Geschichten den Energiesparmodus unseres Denkens ausschalten und wachsam sein für unsere spontanen Assoziationen und die dahinterliegenden Muster. Der Sozialpsychologe Andreas Zick bringt es so auf den Punkt:»Der Mensch ist evolutionär noch nicht klug genug, die Umwelt so wahrzunehmen, wie sie ist«32. Dabei hilft es grundsätzlich, nicht nur auf die eigene Sicht zu vertrauen, sondern die Perspektive der »Anderen« bewusst zuzulassen. Wer könnte eine Kultur oder Vertreter*innen eines bestimmten Personenkreises besser beschreiben als diejenigen, die selbst Teil davon sind?

Das Pen & Paper-Rollenspiel aber war lange von einer weißen, männlichen Autoren- und Spielerschaft geprägt. Damit befindet es sich in guter Gesellschaft mit vielen anderen Bereichen der Nerdkultur wie Comics und Videospielen. Wer schon mal eine Pen & Paper-Convention in Deutschland besucht hat, wird diesen Eindruck auch heute noch bestätigen können. Das heißt auch, dass im Rollenspiel überwiegend Personen von marginalisierten Menschen erzählen, die mit deren Erfahrungen selbst keine oder nur sehr wenige Berührungspunkte haben und deshalb nur auf tendenziell oberflächliches, stereotypes Wissen aus zweiter Hand zurückgreifen können. Nichts anderes geschieht, wenn »asiatisch« oder »orientalisch« anmutende Settings eine ganze Reihe – in Wirklichkeit oft sehr unterschiedlicher – Kulturen zu einem exotisierenden Mischmasch zusammenrühren. »Westlich« geprägte Ausschnitte der Spielwelt werden dagegen in der Regel facettenreicher, differenzierter und damit auch respektvoller beschrieben.

Zugleich wirkt eine überwiegend weiße, männlich dominierte Subkultur nicht gerade einladend auf Mitspieler*innen und Autor*innen, die eben jener dominanten Personengruppe nicht angehören. Warum soll sich jemand überhaupt mit dem Hobby Pen & Paper-Rollenspiel auseinandersetzen, wenn sie*er sich kaum in der Gemeinschaft wiederfindet und in den Produkten überwiegend als negatives Stereotyp auftaucht? Ein Hobby, das alle Spieler*innen ansprechen soll, braucht bessere Repräsentationen in Produkten, aber auch in den Geschichten, die auf Conventions, in Onlinerunden und zu Hause erzählt werden.

Wie Repräsentation gelingen kann

Gelungene Repräsentation schafft Sichtbarkeit und stattet Charaktere und Kulturen, die marginalisierte Personen im Rollenspiel repräsentieren, mit einer angemessenen, der Realität entsprechenden Komplexität aus. Sie zeigt auch, dass Menschen, die queer sind, eine Behinderung haben oder einer uns vielleicht fremden Kultur angehören, dieselbe Breite an Rollen in einer Geschichte ausfüllen können wie die Angehörigen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Und: Die dargestellten Personen werden nicht nur von einem einzelnen Merkmal bestimmt und in ihrem Beitrag zur Erzählung darauf beschränkt.

Wie Repräsentation gelingen kann, zeigt ein Blick auf die verschiedenen Publikationen des internationalen Rollenspielmarkts, die insbesondere in den letzten Jahren entstanden sind und die es sich teilweise explizit zur Aufgabe gemacht haben, Menschen, die marginalisiert werden, in respektvoller und angemessener Weise zu repräsentieren. Besonders hervorzuheben wäre dabei eine Reihe kleiner Erzählspiele, häufig im Selbstverlag, teils rein digital erschienen, die sich ganz explizit Themen wie Kolonialismus (Dog Eat Dog33), Sklaverei (Steal Away Jordan34), queerer Liebe (Hot Guys Making Out35) oder weiblichen Horrorthemen (Bluebeard’s Bride36) widmen. Diese Produkte schaffen den Raum, gemeinsam über das Spielen mit Erfahrungen und Themen in Berührung zu kommen, die für marginalisierte Personen von Bedeutung sind, häufig aber keinen Platz in den großen Mainstream-Spielen finden. Andere Rollenspiele erklären Mitglieder marginalisierter Gruppen explizit zu einem integralen Teil ihrer Settings und lassen Spieler*innen beispielsweise in die Rolle der Schwarzen Bewohner*innen Harlems in einer vom Cthulhu-Mythos beeinflussten Version der 1920er Jahre schlüpfen (Harlem Unbound37) oder queere Gemeinschaften nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft aufbauen (Dream ­Askew38). All diesen Spielen ist gemein, dass marginalisierte Personen und ihre Erfahrungen eine bedeutende Rolle für die zu erlebenden Geschichten haben und sie den gespielten marginalisierten Figuren den Grad an Tiefe verleihen, der ihnen sonst häufig abgesprochen wird.

Darüber hinaus gibt es inzwischen auch große Mainstream­systeme, die sich um gute Repräsentation bemühen: Bei Dungeons & Dragons39 wird inzwischen sensibler auf die Darstellung von Frauen und People of Color in Illustrationen geachtet, und auch queere Personen tauchen in offiziellen Abenteuerpublikationen auf – wenn auch meist noch in Nebenrollen. Im Science-Fantasy-Rollenspiel Numenera wird explizit herausgestellt, dass sich die Kulturgeschichte der Spielwelt so sehr von der unsrigen unterscheidet, dass es schlicht keine Diskriminierung aufgrund von anatomischem Geschlecht, der geschlechtlichen Anziehung oder des Genders gibt40. Die »Normalisierung« von Diversität in Mainstream-Produkten ist meines Erachtens besonders wertvoll: Mit ihnen erlebt ein breites Publikum marginalisierte Personen, die auch jenseits ihrer vermeintlichen Unterscheidungsmerkmale wichtig für den Fortgang der Geschichte sind, von stereotypen Erwartungen abweichen und ganz selbstverständlich Machtpositionen innehaben.

Was wir alle durch bessere Repräsentation und mehr Diversität gewinnen können

Im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsmedien bietet das Pen & Paper-Rollenspiel einen enormen Vorteil: Wir gestalten die Spielwelten, in denen wir uns bewegen, maßgeblich selbst mit. Wir sind keine passiven Rezipient*innen wie beim Schauen einer TV-Serie oder dem Lesen eines Buchs, sondern können selbst bestimmen, wie divers unsere Spielwelten und unsere Geschichten sind. Die Schwelle von der rezipierenden zur gestaltenden Person ist zudem klein: Immer wieder werden Spieler*innen zu Autor*innen und gestalten neue Spielprodukte mit.

Wir können selbst frei entscheiden, ob wir in unseren Spielwelten eingefahrene Klischees aufwärmen oder ob wir etwas Neues schaffen. Unsere Welten müssen nicht die Realität kopieren. Wir können utopische Gesellschaften im Spiel zum Leben erwecken, in denen niemand aufgrund von Geschlecht oder anderen Merkmalen diskriminiert wird. Wir können Machtstrukturen aufbrechen und uns weigern, unsere Protagonist*innen in traditionelle Rollen pressen zu lassen. Wir können vielschichtige Charaktere jenseits von Stereotypen erschaffen. Selbst wenn unsere Spielrunden in historischen oder zeitgenössischen Settings stattfinden, in denen Diskriminierung real ist, können wir Geschichten von Emanzipation und Befreiung erzählen und versuchen, die Per­spektive der Menschen einzunehmen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Gelingt es uns, marginalisierte Menschen stärker und angemessener in Medien zu repräsentieren, können wir damit langfristig auch die Vorurteile in unseren Köpfen aufweichen. Wir geben Mitspieler*innen, die in Unterhaltungsmedien unterrepräsentiert und nur in einseitiger, negativer Art und Weise dargestellt werden, die Möglichkeit, sich mit fähigen, sympathischen und vielschichtigen Charakteren zu identifizieren, die mehr sind als das Merkmal, über das sie noch immer häufig definiert werden. Das allein wäre es schon wert, für eine bessere Repräsentation einzustehen.

Zudem könnte bessere Repräsentation das Pen & Paper-Rollenspiel auch für Menschen zugänglich und interessant machen, die sich bisher in den sehr homogenen, wenig diversen Spielwelten und Produkten nicht wiedergefunden haben. So kann ein Hobby, in dem Menschen, die im Alltag oft genug von Ausgrenzung und negativen Zuschreibungen betroffen sind, zu einem sichereren Ort werden, an dem sich alle Teilnehmenden als gleichwertiger Teil einer Gemeinschaft fühlen. Marginalisierte Personen können erleben, dass ihre Erfahrungen und Perspektiven genauso viel wert sind und dass ihnen die gleiche Beachtung und Wertschätzung entgegen gebracht wird wie denen, die vielleicht (noch) die zahlenmäßige Mehrheit in der Szene stellen.

Zu guter Letzt sollte uns als Rollenspieler*innen ein weiterer Mehrwert von Vielfalt nicht entgehen: Durch das Erzählen von Geschichten, die in westlich geprägten Settings spielen, in denen Kulturen beschrieben werden, die unseren eigenen westlich geprägten Kulturen ähneln, in denen der Großteil der Bevölkerung weiß ist und in denen traditionell heteronormative Vorstellungen von Ehe und Familie vorherrschen, stecken wir einen sehr engen Rahmen von Möglichkeiten ab. Dadurch wird der Eskapismus, der Wunsch nach einer anderen Realität, schnell zu einem sehr einseitigen Bild unserer Alltagssicht, garniert mit ein wenig Ritterromantik und einer Prise Magie. Damit beschränken wir unsere kreativen Möglichkeiten durch ein Korsett unserer eigenen Erfahrungshorizonte. Das Ausbrechen aus diesem Korsett erschließt die vielen Möglichkeiten, die uns Fantasy, Science-Fiction und andere Genres des Rollenspiels bieten.

Gegner*innen halten der Forderung nach mehr Diversität im Hobby entgegen, dass dies lediglich eine hohle Forderung nach »politischer Korrektheit«41 sei. Wir sollten Wert auf mehr Diversität in unseren Rollenspielprodukten und an unseren Spieltischen legen, nicht, weil es »politisch korrekt« ist, sondern weil Vielfalt Realität ist und weil auch Rollenspiel seine Wurzeln in der Realität hat. Weil das Verweigern von angemessener Repräsentation ein Fortbestehen diskriminierender Strukturen bedeuten würde. Auf die Frage nach der Motivation, sich bei der fünften Edition von D&D für mehr Diversität in den Produkten zu entscheiden, hat Designer Jeremy Crawford geantwortet, man wolle, dass sich die Geschichten, die in D&D erzählt werden, authentisch anfühlen.42 In ihrem Vortrag zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2018 hat die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie etwas ganz ähnliches über Literatur gesagt: »Es ist wichtig, sehr unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen – nicht, weil wir politisch korrekt sein wollen, sondern weil wir genau sein wollen.«43

Ausblick und Fazit

Mit meinem Essay habe ich – gewissermaßen als Startschuss für die Texte der vielen Autor*innen, die sich anschließen – zu verdeutlichen versucht, warum es uns wichtig sein sollte, über das Thema Repräsentation von Diversität im Pen & Paper-Rollenspiel in den Diskurs zu gehen. Hoffentlich konnte ich aufzeigen, dass in diesem Hobby, genau wie in vielen anderen Unterhaltungsmedien, noch immer problematische Gegebenheiten dazu beitragen, dass nicht alle Menschen gleichermaßen teilhaben können. Die übrigen Essays im Buch werden unterschiedliche Perspektiven beleuchten und sich intensiver den verschiedenen Schwerpunkten des Themas Repräsentation widmen, aber auch verwandte Themen wie Zugänglichkeit und Inklusion im Pen & Paper-Rollenspiel beleuchten.

So problematisch sich der Status Quo bezüglich der mangelnden Repräsentation marginalisierter Personen in manchen Bereichen unseres Hobbys darstellt, es gibt auch ein wachsendes Problem­bewusstsein. Das Pen & Paper-Rollenspiel, seine Spieler*innen und Autor*innen, entwickeln sich weiter. Man kann vielleicht behaupten, dass die internationale Rollenspielszene eine Tür geöffnet hat. Den dahinterliegenden Weg müssen wir aber noch gehen. Veränderung ist immer möglich und vielleicht sogar einfacher, als wir denken. Schließlich sind es vor allem unsere Bilder im Kopf, die wir verändern müssen. Und damit sollten sich Rollenspieler*innen nun doch bestens auskennen!

1Ich schreibe diesen Text aus der Perspektive einer weißen, cis-männlichen Person ohne Behinderung, die sich als queer positioniert. Wenn ich dabei auch über Formen von Diskriminierung wie Rassismus, Sexismus oder Ableismus, von denen ich selbst nicht betroffen bin, schreibe, tue ich dies, um einen Überblick über die Gesamtproblematik zu geben. Mir ist bewusst, dass es sich dabei um eine »Außensicht« handelt. Den verschiedenen Perspektiven von marginalisierten Gruppen im Detail widmen sich die einzelnen Autor*innen in diesem Buch ab S. 93.

2Beltrán, Whitney Strix: Why minority settings in rpgs matter. In: Tor Online. URL: https://www.tor.com/2015/04/27/why-minority-settings-in-rpgs-matter/ (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

3Der Begriff der »Mehrheit« im Kontext von Gesellschaft meint hier nicht zwingend immer eine zahlenmäßige Verteilung, sondern ist eng damit verbunden, welche Mitglieder der Gesellschaft in Machtpositionen sind, wessen Meinung oftmals mehr zählt und wer bevorzugt behandelt wird. Äquivalent dazu kann auch der Begriff der »Dominanzkultur« herhalten. Siehe dazu auch: Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda, 1995.

4Ngozie Adichie, Chimamanda: The danger of a single story. In: TED.com URL: https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=de (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

5Unter der Selbstbezeichnung »Queer« werden unterschiedliche, von einer heterosexuellen beziehungsweise binären Geschlechternorm abweichende Geschlechtsidentitäten (zum Beispiel Trans*gender) und geschlechtliche Anziehung (wie zum Beispiel Homo-, Bi- und Asexualität) zusammengefasst.

6Der Begriff »People of Color« oder (Singular) »Person of Color« ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismus erfahren. Siehe dazu auch Aşkın-Hayat Doğans Essay People of Color zwischen Othering und adäquater Repräsentation in diesem Band.

7Black Panther. Regie: Coogler, Ryan, USA: Marvel Studios, 2018.

8»Schwarz und weiß bezeichnen politische und soziale Konstruktionen und werden nicht als biologische Eigenschaften verstanden. Sie beschreiben also nicht Hautfarben von Menschen, sondern ihre Position als diskriminierte oder privilegierte Menschen in einer durch Rassismus geprägten Gesellschaft. Während es sich bei Schwarz oftmals um eine emanzipatorische Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen handelt, wird weiß explizit benannt, um die dominante Position zu kennzeichnen, die sonst meist unausgesprochen bleibt. Damit der Konstruktionscharakter deutlich wird, wird Schwarz groß und weiß klein und kursiv geschrieben, da sie von Adjektiven abgegrenzt werden sollen.« Siehe dazu auch: glokal e. V. (Hrsg.): Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet. Berlin, 2013, S. 10. In: Glokal.org. URL: https://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/ (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

9Marvel’s Jessica Jones. Regie: Rosenberg, Melissa, Scotts Valley: Netflix, 2015.

10Jemisin, N. K.: Zerrissene Erde, München: Droemer Knaur, 2018.

11Horizon Zero Dawn. Leitende Entwicklung: Ford, David, Amsterdam: Guerilla Games, 2017.

12Beispielhaft sei hier die Convention-Organisation Contessa genannt, die Veranstaltungen zum Thema Inklusion durchführt sowie Artikel online veröffentlicht. Mehr unter http://www.contessa.rocks (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019). Der Mitschnitt eines Diversity-Diskussionspanels auf einer der weltweit größten Rollenspiel-Conventions, der GenCon, findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=oF-DXFvnvH0 (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

13Als »Gamergate« wird ein Ereignis aus dem Jahr 2014 bezeichnet, in dessen Zuge es zu einer Hasskampagne gegen verschiedene in der Videospielbranche tätige Frauen kam. Siehe dazu auch im Detail das Essay von Judith Vogt: Auf Augenhöhe.

14Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Beispielen und Argumentationen nicht immer jede einzelne von Diskriminierung betroffene Gruppe benannt. Das ist ein Kompromiss und impliziert keine Wertung oder einen bewussten Ausschluss, auch wenn mir klar ist, dass eine Nicht-Nennung auch und insbesondere bei dieser Thematik eine Auswirkung auf Leser*innen haben kann.

15Vgl. Abdul-Hussain, Surur & Samira Baig: Diversity in Supervision, Coaching und Beratung. Wien: Facultas Universitätsverlag, 2009, S. 27-32.

16Die Bezeichnung »geschlechtliche Anziehung« wird hier anstelle von »sexueller Orientierung« verwendet, um Menschen zu beschreiben, die sich zum Beispiel als schwul, lesbisch, bi-, pan- oder asexuell bezeichnen. »Geschlechtliche Anziehung« deckt aus unserer Sicht die verschiedenen Formen sexueller und romantischer Anziehung besser ab. Mehr dazu und auch zur Kritik am Begriff der sexuellen Orientierung findet sich in Oliver Baecks Essay Liebesgrüße von der Lebkuchenperson in diesem Band.

17Von lateinisch margo »Rand«: An den Rand, ins Abseits geschoben. Vgl. Young, Iris Marion: Fünf Formen der Unterdrückung. In: Christoph Horn & Nico Scarano (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp, 2002, S. 428-445.

18Beispiel: Solche Vorteile ergeben sich, wenn das eigene Bewerbungsschreiben mit dem deutsch klingenden Namen oben auf dem Stapel landet, während die Unterlagen der Mitbewerberin mit beispielsweise albanischem Namen schnell aussortiert werden. Vgl. dazu: Koopmans, Ruud, Susanne Veit & Ruta Yemane: Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung. In: Wissenschaftszentrum Berlin. URL: https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2018/vi18-104.pdf (zuletzt aufgerufen am 01.07.2019).

19Ich lege hier ein Verständnis von Diskriminierung zugrunde, das davon ausgeht, dass nur dann von Diskriminierung gesprochen werden kann, wenn ein Machtgefälle zwischen der diskriminierenden und der diskriminierten Person oder Gruppe vorliegt.

20Vgl. Hall, Stuart, Jessica Evans & Sean Nixon: Representation: Cultural Representations and Signifying Practices (Culture, Media and Identities). London: Sage Publications, 2013, S. 2.

21Die Kommunikationswissenschaftlerinnen Nicole Martins und Kristen Harrison fanden 2011 in einer Studie mit Schulkindern heraus, dass ausschließlich weiße, männliche Kinder nach TV-Konsum einen höheren Selbstwert aufwiesen, während der Selbstwert von Mädchen und von Jungs of Color nach TV-Konsum gesunken war. Vgl. dazu Martins, Nicole & Kristen Harrison: Racial and Gender Differences in the Relationship Between Children’s Television Use and Self-Esteem: A Longitudinal Panel Study. Communication Research 39(3), 2012, S. 345.

22Die negativen Auswirkungen von einseitigen Darstellungen zu den Themen Flucht, Asyl und Migration im TV beispielsweise ist vielfach erforscht. Vgl. Thiele, Matthias: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen. Konstanz: UVK, 2005. Gleiches gilt für die durch mediale Darstellung Schwarzer Menschen beeinflusste Einstellung der US-amerikanischen Bevölkerung gegenüber afroamerikanischen Mitbürger*innen, vgl. dazu Kang, Jaheo: Trojan Horses of Race. In: Harvard Law Review, 2005, S. 118, 1489-1593.

23Der Begriff »cis*« bezeichnet – in Abgrenzung zu trans* – Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das * schließt dabei verschiedene Ausdifferenzierungen des Begriffs wie beispielsweise -gender und -identität mit ein. Siehe dazu auch das Essay von Oliver Baeck: Liebesgrüße von der Lebkuchenperson.

24Die regelmäßige Erfahrung des Ausgeschlossenwerdens, die marginalisierte Menschen tagtäglich in allen möglichen Kontexten machen, erfordert in Rollenspielprodukten meiner Ansicht nach eine Sprache und Darstellung, die sehr bewusst und explizit signalisiert, dass diese Menschen mitgemeint sind.

25Vgl. Gerbner, George & Larry Gross: Living with Television: The violence profile. In: Journal of Communication, 1976, S. 172-199.

26Mit Essentialisierung ist die (Über-)Betonung physiognomischer Merkmale (z. B. Hautfarbe, körperliche Behinderung), Geschlechtszugehörigkeit und religiöser Zugehörigkeit oder geschlechtlicher Anziehung gemeint. Essentialisierungen gehen mit einer Reduzierung der jeweiligen Person auf dieses eine Merkmal einher, blenden also andere Identitätsmerkmale der Person aus. Siehe auch das Onlineglossar des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e.V. URL: https://www.idaev.de/recherchetools/glossar/?no_cache=1 (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

27Die Begriffe Trans- bzw. Homo- oder Queerfeindlichkeit drücken – im Gegensatz zu den verbreiteteren Begriffen der Trans- bzw. Homophobie – den Aspekt der Ablehnung und Diskriminierung deutlicher aus und werden deshalb von mir verwendet, um die strukturelle Diskriminierung von Menschen aufgrund von Merkmalen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt darzustellen.

28Vgl. Beltrán.

29Vgl. Thiele, Martina: Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes. Bielefeld: transcript, 2015, S. 50.

30Vgl. Hall 2013, S. xviii-xix.

31Der Verwendung eines Stereotyps muss nicht zwangsläufig eine »böse« Absicht zugrunde liegen. Die Aktivierung von Stereotypen in Denkprozessen erfolgt vielmehr automatisch und reflexhaft. Umso entscheidender ist die bewusste Reflexion. Vgl. dazu auch Thiele, Martina 2015, S. 53.

32Zeug, Katrin: Der Fluch der Vorurteile. In: Zeit Online. URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/03/psychologie-vorurteile-verhalten(zuletzt aufgerufen am 01.07.2019).

33Liwanag Burke, Liam: Dog Eat Dog. San Francisco: Liwanag Press, 2012.

34Bond Ellingboe, Julia: Steal Away Jordan Revised. Stone Baby Games, 2007.

35Lehman, Ben: Hot Guys Making Out. These are our games, 2015.

36Beltrán, Whitney, Marissa Kelly & Sarah Richardson: Bluebeard’s Bride. Magpie Games, 2017.

37Spivey, Chris: Harlem Unbound. Darker Hue Studios, 2017.

38Alder, Avery: Dream Askew. Buried without Ceremony, 2018.

39Dungeons & Dragons (D&D) ist das weltweit wirtschaftlich erfolgreichste Rollenspielsystem. Es wurde erstmals 1974 veröffentlicht und liegt mittlerweile in der 5. Version vor. Siehe zum Beispiel Cordell, Bruce R., Robert J. Schwalb & James Wyatt: Dungeons & Dragons Player Handbook: Spielerhandbuch (Deutsch). Waldems: Ulisses Spiele, 2017.

40Germain, Shanna: Love and Sex in the Ninth World. Seattle: Monte Cook Games, 2015, S. 2.

41Der Begriff der »Politischen Korrektheit« oder »political correctness« ist sicher schon aufgrund seines Ursprungs in rechtsnationalen Bewegungen der USA problematisch und taucht beispielsweise auch in Deutschland immer wieder als diffamierender Kampfbegriff in Diskursen um diskriminierungssensible Sprache auf. Der Germanist und Linguist Marc Fabian Erdl bezeichnet die Forderung nach »Politischer Korrektheit« als einen rhetorischen Mythos, mit dem bewusst das Feindbild einer Gruppe von Personen konstruiert wird, deren Ziel die Einschränkung von Sprache und Meinungsfreiheit sei. Vgl. auch das Interview mit Marc Fabian Erdl: Noch vor dem ersten Widerwort eine Verfolgung herbeizulügen. In: Blickpunkt Wiso. URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/marc-fabian-erdl-noch-vor-dem-ersten-widerwort-eine-verfolgung-herbeizuluegen--1084.html (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

42Boock, Indigo: Panel Recap: Diversity in D&D. In: Geek Girl Con Blog. URL: https://geekgirlcon.com/panel-recap-diversity-in-dd/ (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

43»It is important to have a wide variety of voices not because we want to be politically correct, but we want to be accurate.« Ngozie Adichie, Chimamanda: Eröffnungs-PK der Buchmesse 2018. In: Youtube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=UGV7315Pztw (zuletzt aufgerufen am 16.01.2019).

Sein als ob – Aneignung und Aushandlung von Identität im Rollenspiel

Giulia Pellegrino

»Ich nenne es das mimetische Vermögen, die Natur, die die Kultur nutzt, um eine zweite Natur zu schaffen; das Vermögen, zu kopieren, nachzuahmen, Modelle hervorzubringen, Unterschiede auszumachen, anderes zu erschaffen und selbst anders zu werden. Das Wunder der Mimesis liegt in der Kopie, die die Eigenschaft und die Kraft des Originals in dem Maße behält, daß [sic] die Darstellung selbst dessen Eigenschaft und Kraft übernehmen kann. Früher sprach man bei diesem Vorgang von ›Sympathiezauber‹, der, wie ich glaube, für die Erkenntnis ebenso notwendig ist, wie dafür, eine Identität aufzubauen, die auf natürliche Weise verkörpert werden kann.«44

Der Funke

Menschen haben mich schon immer fasziniert … Insbesondere die Suche nach dem zutiefst Menschlichen, nach dem Ursprung unseres Wesens, hatte es mir von klein auf angetan. Ich wollte nicht nur wissen, wie Menschen werden, wer sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind, sondern auch, worauf dieser Prozess beruht und wie – und wann – wir diese Fähigkeiten im Laufe unserer Stammesgeschichte erworben haben.

Bei meiner Suche nach Antworten stieß ich immer wieder auf den im Rahmen der Natur-Kultur-Debatte45 behandelten Konflikt darüber, welcher Einfluss in Bezug auf menschliches Verhalten als einflussreicher anzusehen ist: Biologie/Gene oder Kultur/Erziehung? Für mich erschien diese Zweiteilung von Anfang an wenig zielführend, sodass ich nach Ansätzen suchte, die beide Positionen fruchtbar miteinander in Einklang brachten. Als mir dann schließlich Taussigs Werk, aus dem das eingangs wiedergegebene Zitat stammt, in die Hände fiel, ließen mich bereits diese wenigen Worte nicht mehr los – sprach sich der Autor doch hier dafür aus, dass der Mensch nicht nur die angeborene Fähigkeit besitzt, sich in andere hineinzuversetzen, sondern auch über die Repräsentation des anderen zu eben diesem zu werden. Das mimetische Vermögen ist also unsere Fähigkeit, über das Nachahmen eines anderen nicht nur Einblick in dessen Wesen zu erlangen, sondern darüber hinaus auch dessen Eigenschaften für sich selbst übernehmen zu können.

Gerade Letzteres erregte meine Aufmerksamkeit – deutet es doch an, dass Menschen durch das Spielen einer Rolle nicht nur empathische Einsichten über jemand anderen erlangen können, sondern auch ihren eigenen Erlebens- und Handlungshorizont über diese Tätigkeit erweitern, indem die Eigenschaften dieser Rolle in das eigene Selbst aufgenommen werden.

Für mich ergaben sich hierdurch viele neue Fragen, denen es nachzugehen galt: Wie genau verlaufen diese Einfühlung und Übernahme von Eigenschaften, wie gestaltet sich bzw. verläuft also dieser Prozess und welche Mechanik liegt ihm zugrunde? Und am Wichtigsten: Wie und wo lassen sich Prozess und Mechanik bei uns Menschen in Aktion beobachten?

Die Antwort auf die letzte Frage lag für mich als langjährige Rollenspielerin recht schnell auf der Hand, denn wo ließen sich diese Prozesse besser in einem definierten Rahmen beobachten als in einem Rollenspiel – einem Spiel, dessen »Ziel« unter anderem darin besteht, erfolgreich eine Rolle, beziehungsweise eine fremde Identität, zu übernehmen und darzustellen? Da es sich bei Rollenspielen zudem um ein kooperatives Gruppenspiel handelt, sind die in ihnen vorkommenden Handlungen und Themen nicht das Ergebnis der isolierten Vorstellungen eines Einzelnen. Rollenspiele und ihre geteilten Fantasiewelten stellen nach dem Soziologen Gary Alan Fine vielmehr kollektive Rorschach-Tests46 dar, mit deren Hilfe wir einen Einblick in kulturelle Entstehungs-, Erhaltungs- und Deutungsprozesse erlangen können47. Da in ihnen also die Vorstellungen mehrerer Personen aufeinandertreffen und miteinander in Verhandlung treten, weisen die gespielten Szenen über sich selbst hinaus, indem sie die Strukturen und Prozesse der realen Welt in vereinfachter Form sichtbar machen48.

Vor diesem Hintergrund beschäftigte ich mich im Rahmen meiner Magisterarbeit in Ethnologie49 mit Aushandlungsprozessen von Identität auf mehreren Ebenen – und zwar sowohl innerhalb von RPGs50 als auch zwischen den Spieler*innen. Diese Arbeit war der Beginn einer faszinierenden Reise und spannender Erkenntnisse, von denen ich im Folgenden einige ausgewählte Aspekte vorstellen möchte, um dann am Ende darauf einzugehen, wie diese für die in dieser Essayanthologie verhandelten Themen nutzbar gemacht werden können. Zu Beginn werden wir uns ein wenig mit unserem Gehirn beschäftigen – jenem Organ also, das wir während eines Rollenspiels so intensiv zur Schaffung unserer gemeinsamen fantastischen Welten nutzen.

Von den Dämonen in unseren Köpfen

Um es gleich vorweg zu nehmen – unser Gehirn ist nicht hauptsächlich zum abstrakten Denken da. Wäre dem so, würde es jedem Menschen spielerisch leichtfallen, die Prinzipien der formalen Logik zu verinnerlichen und anzuwenden. Was jedem Menschen ohne das Vorhandensein einer Neurodivergenz51, wie etwa Autismus, jedoch von klein auf überaus leicht fällt, ist das Navigieren in sozialen Situationen. Unser Gehirn ist somit kein Denkorgan, sondern ein Sozialorgan. Sein heutiger Aufbau und seine heutige Funktion sind das Ergebnis eines evolutionären Prozesses hin zu immer mehr psychosozialer Kompetenz innerhalb einer zunehmend von Kultur und gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten Spezies52.

Unser Gehirn ist also hauptsächlich dazu da, uns dabei zu unterstützen, in der kulturellen Umwelt, in die wir jeweils hineingeboren werden, möglichst erfolgreich53 zu sein. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedarf es eines sehr flexiblen, beziehungsweise, in der Sprache der Neurowissenschaften, stark plastischen Gehirns, da die Variabilität menschlicher kultureller Praktiken so überaus divers ist. Ein stark plastisches Gehirn wie das unsere zeichnet sich dadurch aus, dass es sich Zeit unseres Lebens durch Nutzung entsprechend verändern kann. Das heißt, unser Gehirn ist niemals »fertig« oder nicht mehr veränderbar – ganz im Gegenteil, besitzt jede Person genau das Gehirn, das sie sich bis dahin durch eigene Tätigkeit »erarbeitet« hat.

Dies geschieht dadurch, dass die »Verschaltungen« im Gehirn – grob gesagt, die jeweiligen Verbindungsmuster der Synapsen – nicht von Geburt an festgelegt sind, sondern sich nach den Prinzipien des »Fire’n’Wire«54 und des »Use-it-or-lose-it«55 jeweils dynamisch entwickeln. Vor diesem Hintergrund offenbart sich auch, warum die gern bemühte Metapher unseres Gehirns als unveränderliche Hardware, auf die unsere jeweilige Kultur als variable Software »aufgespielt« wird, so gewaltig hinkt: Unser Gehirn ändert seine biologische Struktur durch Nutzung, während bei einem Computer zwar die Software gewechselt werden kann, die Hardware hingegen unveränderlich ist.

Nachdem wir uns die dynamische, stets im Werden begriffene Struktur unseres Gehirns vergegenwärtigt haben, wenden wir uns nun den in der Abschnittsüberschrift erwähnten »Dämonen« zu: Unter diesen sollen hier bestimmte neuronale Aktivitäts- bzw. Kognitionsmuster verstanden werden, die im Wesentlichen unbewusst ablaufen, deren Vorhandensein unserem Bewusstsein also nicht (mehr) zugänglich ist. Diese Dämonen56 können sowohl angeboren als auch durch Lernprozesse erworben worden sein.

Beispiele für angeborene Dämonen wären etwa unsere grundlegenden Emotionen und die damit verbundenen unwillkürlichen Handlungsmuster: Wenn ich etwa den Geruch nach Verwesung wahrnehme, löst dies in mir Ekel aus, welcher mich wiederum instinktiv zurückweichen lässt, ohne dass ich bewusst darüber nachdenken müsste. Beispiele für erworbene Dämonen sind zum einen solche, die wir durch die Ausübung einer bestimmten Sportart erwerben: Je öfter ich eine bestimmte Bewegung ausführe, desto mehr wird diese automatisiert und desto weniger muss ich bewusst über deren korrekte Ausführung nachdenken.

Erworbene Dämonen sind jedoch nicht allein auf die Automatisierung von Bewegungsvorgängen beschränkt, sondern können eine Vielzahl kognitiver Prozesse umfassen. Diese reichen von der Übernahme bestimmter kultureller Praktiken57 bis hin zu den in der Ursprungskultur vertretenen Werten, die zur Bildung psychologischer Tendenzen führen, die dann fortan unbewusst unser Handeln beeinflussen58. So trägt etwa die Praxis von Referaten in Schulen und Universitäten dazu bei, in unserem Kulturkreis so geschätzte Eigenschaften wie die Fähigkeit zur Selbstdarstellung sowie des Vortragens von Informationen einzuüben und als Verhalten zu normalisieren.

Gemeinsam ist all diesen Dämonen jedoch, dass sie die kognitive Last auf unser Bewusstsein durch Automatisierung effektiv verringern. Sie tragen damit zu einem reibungslosen Ablauf unseres Denkens und Handelns bei, indem sie sicherstellen, dass die für dessen Funktion notwendigen Energieressourcen nicht unnötig verschwendet werden. Dass und wie mit diesem Prozess jedoch auch durchaus problematische Effekte einhergehen können, werde ich im folgenden Abschnitt näher ausführen.

Zum Abschluss dieses Themenkomplexes möchte ich noch auf die im Eingangszitat erwähnten »Sympathiezauber« beziehungsweise den von Taussig hier angedeuteten »magischen« Charakter unseres mimetischen Vermögens eingehen. Denn in der Tat mutet der angedeutete Umfang dieser Fähigkeit geradezu unglaublich an – immerhin soll sie uns ermöglichen, uns wahrhaftig in eine andere Person hineinzuversetzen und zu eben jener zu werden. Eine solche Behauptung würde in einer der fantastischen Rollenspielwelten, in denen sich viele Rollenspieler*innen bewegen, kaum Aufmerksamkeit oder gar Verwunderung erregen, denn dort gibt es einen innerweltlich existierenden Mechanismus, der eine solche Transformation des eigenen Selbst möglich macht: Magie. Da die Existenz einer solchen Macht in der von uns als Realität angesehenen Sphäre mitnichten anerkannt ist, muss es eine andere Erklärung geben, die einer Überprüfung durch wissenschaftliche Methoden standhält.

Eine sehr wahrscheinliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und der neurobiologischen Basis unserer Einfühlungsfähigkeit liegt in den sogenannten Spiegelneuronen, deren Existenz erstmals Anfang der Neunziger Jahre ins Bewusstsein der Forschung gelangte59. Hierbei handelt es sich um eine bestimmte Klasse von Neuronen, die sowohl dann feuern/aktiv werden, wenn jemand etwa den eigenen rechten Arm hebt, als auch dann, wenn ein Gegenüber den rechten Arm hebt. Diese Neuronen spiegeln also das Verhalten eines Gegenübers. Sie werden daher in der Forschung als neurobiologische Grundlage für unsere stark ausgeprägte Empathie- und Mimesisfähigkeit gehandelt60. Somit stellen sie auch eine nach den Maßstäben unserer Realität akzeptable Grundlage für die von Taussig angedeutete »Magie« dar.

Mit diesem neurobiologischen Grundwissen gewappnet, beschäftigen wir uns im nächsten Abschnitt nun damit, inwieweit die beschriebenen Dämonen Einfluss auf unser Verhalten im Rahmen eines Rollenspiels und darüber hinaus zeitigen können.

Wenn Dämonen bluten

Wir alle spielen Theater – dieser für eine deutsche Übersetzung überaus passende Titel von Erving Goffmans einflussreichem Werk61 ist mitnichten nur eine bloße Metapher, sondern spiegelt einen unumstößlichen Fakt der menschlichen Existenz wider. Von klein auf schlüpfen wir in unterschiedlichste Rollen und konstruieren und verhandeln so im Wechselspiel mit unserer Umwelt sowohl unsere Identität als auch unser Selbst62.

Darüber hinaus kann es immer wieder dazu kommen, dass mehrere Bezugsrahmen beziehungsweise Frames gleichzeitig aktiv sind, in denen dann jeweils unterschiedliche Rollen eingenommen, Identitäten zugeschrieben werden oder Selbstvorstellungen aktiv sind – eine gerade im Rollenspiel regelmäßig anzutreffende Situation. Bevor wir uns also dem eigentlichen Thema zuwenden, sollten zunächst einige der wichtigsten Begriffe definiert werden.

Rolle: Ein Muster von Verhaltensweisen und Einstellungen, das von einer Person in einer gegebenen sozialen Position erwartet wird (beispielsweise Elternteil, Verkäufer*in, Schüler*in etc.). Im Rollenspielkontext der Charakter, den jemand spielt oder die Funktion im Spiel, die dieser ausfüllt (z. B. Kämpfer*in, Magier*in etc.).

Identität: Die Bedeutungen, die den vom Individuum eingenommenen Rollen, den Gruppen, mit denen es sich identifiziert, und der Art, wie es sich selbst sieht, zugeschrieben werden (beispielsweise »die liebevolle Mama von Person X«).

Selbst: Die Gedanken, Emotionen, Identitäten und Motive, die wir für unser Selbst als konstituierend, also formend, betrachten.

Situation: Der physische und soziale Kontext, in den Identitäten, Rollen und Verhaltensweisen eingebettet sind. Situationen unterscheiden sich dabei in ihrer Dauer und durch die hervorstechenden Merkmale. Beispiele hierfür sind etwa die Momente, in denen eine Gruppe von Abenteurer*innen um ihr Überleben kämpft oder die Jahre, in denen sich eine Freundesgruppe zum Spielen trifft63.

Frame (Bezugsrahmen): Die Art und Weise, eine Situation, wie etwa »Spiel« oder »Einkaufen gehen«, zu verstehen und zu organisieren, die auf gemeinsamen Normen, Erwartungen und dem Verständnis davon beruht, was Dinge bedeuten und wie man sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hat. Framing ist der oftmals unbewusst ablaufende Prozess, in dessen Rahmen die jeweiligen Teilnehmer*innen ein gemeinsames Verständnis über die Art der Situation, in der sie sich gerade befinden, verhandeln und aufrechterhalten. Frames können zudem Modulationen unterliegen – ein Beispiel wäre ein ehrlich ausgesprochenes »Ich liebe dich« als ein Frame, das keiner Modulation unterliegt, gegenüber der gleichen Aussage, die in einem ironischen Tonfall getätigt wird, und so klar machen soll, dass diese nicht ernst gemeint ist (und somit als »Spaß« gerahmt/geframet wird). Darüber hinaus können in einer gegebenen Situation auch mehrere Frames gleichzeitig vorkommen – in diesem Fall wird von Laminierungen gesprochen64. Innerhalb von Rollenspielen sind laut Gary Alan Fine drei miteinander laminierte/verschränkte Frames aktiv65:

1. Primär-Frame: Die wirkliche, reale Welt der Teilnehmer*innen, in denen sie als »Personen« mit all ihren erworbenen Kenntnissen und Vorstellungen handeln.

2. Spiel-Frame: Die Ebene des Spiels, auf welcher die Teilnehmer*innen als »Spieler*innen« auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Spielregeln handeln.

3. Charakter-Frame: Die fantastische Ebene des Spiels, in der die Teilnehmer*innen als »Charaktere« agieren und die im Grunde genommen einen weiteren, gemeinsam ausgehandelten Primär-Frame darstellt.