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Klaus Eichenlaub entdeckte nach seinem Berufsleben als Lehrer und Schulleiter sowie als nebenberuflich engagierter Leiter von Kinder und Jugendchören mit dem Pilgern eine neue Form des Unterwegsseins in der Welt, nachdem er über Jahrzehnte als kulturhungriger Tourist durch die Länder im Westen und Süden Europas gereist war und sich außerdem in den großen Bergregionen der Welt auf hohe Gipfel gequält hatte. Mittlerweile hat er mit Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem die großen christlichen Pilgerziele zu Fuß erreicht und dabei rund 10.000 Kilometer unter die Füße genommen. Auf seiner letzten Pilgerfahrt suchte er erneut den Weg nach Rom, mit dem Vorsatz, auch den Rückweg nach Hause per Pedes anzutreten. Nach Rom und zurück! Mit diesem Buch will der Autor die Leserinnen und Leser mit auf den Weg nehmen, einen Weg hinaus in die Welt, aber auch zu sich selbst.
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Ich danke allen, die mir zu den Pilgerunternehmungen Mut gemacht haben, die in Gedanken die langen Wege mitgegangen sind, die meine Pilgervorhaben mit Sympathie begleitet haben. Zu Dank verpflichtet bin ich allen, die während meiner vielmonatigen Abwesenheit in Haus und Garten nach dem Rechten sahen und mir diesbezüglich alle Sorge nahmen.
Ohne die Anregungen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis wäre aus den umfänglichen Tagebuchnotizen wahrscheinlich kein Buchprojekt geworden. Für den sanften, aber beharrlichen Druck bin ich dankbar.
Schließlich danke ich Lothar Bade und Tilbert Müller für das kritische Lesen des Textes und für die Anregungen, die sie mir haben zukommen lassen sowie Ingrid Bouché für die Gestaltung der Wegkarten.
Zehn Jahre Pilgerschaft – ein Prolog
Immer dieser Abschied
Durch bekannte Gefilde nach Süden
Wie war das wohl in vergangenen Zeiten?
Von den Schönheiten des Oberelsass
Ungeplante Begegnungen
Der Marsch durch die Burgundische Pforte
Terra incognita
Welterbe der UNESCO en passant
Wasser, Berge und weitere Pilgerfreuden
Die Alpen sind erreicht
Pilgern und Klöster – eine lange Tradition
Dem höchsten Punkt der Pilgerreise entgegen
Wunder gibt es auch heute noch
Jetzt in Italien
Im francophonen Aosta
Die Poebene – Freud und Leid beieinander
Die italienische Staatsbahn muss weiterhelfen
Mehrere Tage durch Reisfelder
Wo ich schon einmal als Pilger unterwegs war
Der Weg über den Apennin
Das war nicht geplant
Im Herzen der Toskana unterwegs
Manhattan des Mittelalters
Die Via Francigena – mehr als nur ein Pilgerweg
Lange und anstrengende Etappe
Abschied von Mitpilgern
Durch Latium dem Pilgerziel entgegen
In der Peripherie Roms
Am Ziel, aber nur vorläufig
Der Weg zurück – Ungemach zu Beginn
Im Zeichen des griechischen Buchstabens Tau
Diese Hitze!
Wo Augen im Hinterkopf hilfreich wären
In der Aura des Poverello von Assisi
Die Welt trifft sich in Assisi
Weiter auf den Spuren des hl. Franziskus
Wo Franziskus gerne weilte
Von Kloster zu Kloster in der Bergeinsamkeit
Wo Touristen selten oder nie hinkommen
Auf dem Götterweg nach Norden
Das Ende naht
Ausklang
Im Jahre 2009, es war der 29. März, hatte ich mich erstmals auf den Pilgerweg gemacht. Zwei Monate zuvor war ich nach mehr als 40 Jahren beruflicher Tätigkeit als Lehrer und Schulleiter in die passive Phase meiner Altersteilzeit getreten. Beruf, Nebenberuf und Ehrenamt hatten bis dahin ein Unterwegssein über vier Wochen hinaus ausgeschlossen. Denn unabhängig davon, welches der großen christlichen Pilgerziele ich fußläufig hätte erreichen wollen, der eine Monat, den ich für das Pilgern hätte reservieren können, er hätte dafür nie und nimmer gereicht. Denn das war mir wichtig: Der Pilgerweg sollte an der eigenen Haustür beginnen.
Also macht ich mich an besagtem Datum auf den Pilgerweg, der mich von meinem Heimatort Herxheim in der Südpfalz durch Lothringen nach Vezelay in Burgund führte. Von dort folgte ich der Via Limovicensis und durchmaß auf den Beinen die gewaltige Strecke von ca. 1.500 Kilometern durch Frankreich, um dann nach einem „Schlenker“ über den Marienwallfahrtsort Lourdes auf dem Somport-Pass in den Pyrenäen Spanien zu erreichen. Über die Via Arragones stieß ich in Puente La Reina auf die Via Frances und mischte mich dort unter die zahlreichen Pilger, um dann ziemlich genau 100 Tage später in Santiago de Compostela am Grab des Apostels Jakobus zu stehen, die Pilgerurkunde mit dem lateinischen Text entgegenzunehmen und schließlich drei Tage später nach Finisterre weiter zu ziehen, ans Ende der Welt, den westlichsten Punkt Kontinentaleuropas. Was für ein überwältigendes Gefühl, an jenem Punkt angekommen zu sein, dessen Entfernung auf einem Wegweiser im Dorf Oberhoffen, gleich hinter der pfälzisch-elsässischen Grenze mit 2.412 Kilometer angezeigt war. In summa summarum hatte ich 3.000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt und habe erkannt und bestaunt, welches Wunderwerk unsere Füße darstellen, gleichwohl das alles nicht beschwerdefrei über die Runden ging und ich gelegentlich ein erzwungenes Ende der Pilgerfahrt vor mir auftauchen sah.
Ich, der ich bis dahin entweder als kulturhungriger Urlauber und Tourist zu Städten, Schlössern, Kirchen, Museen Europas, vor allem in Italien unterwegs war oder mich weltweit in Gipfelregionen großer Gebirgszüge quälte, hatte eine neue Art des Unterwegsseins kennengelernt, hatte elementare neue Erfahrungen an und in mir gemacht und gehörte ab diesem Zeitpunkt zur Spezies der „Infizierten“. Ich wollte die wundervolle und erfüllende Art des Unterwegsseins, das Erleben und Erfassen der Umgebung mit allen Sinnen, die Freude der Begegnung mit unzähligen Menschen, unbekannten Dörfern, Städten und Landschaften nicht mehr missen, suchte nach Fortsetzung des „leichten“ Lebens beim Pilgern; leicht in der Tat, weil gerade mal 11 Kilogramm (anfangs etwas mehr) auf dem Rücken eine Leichtigkeit im übertragenen Sinne darstellen, gemessen an den permanent oder auch nur gelegentlich auf den Schultern lastenden Aufgaben, Sorgen, die mich auch noch als Rentner, der ich damals gerade geworden war, verfolgten. So trat ich schon 2011 einen weiteren Pilgerweg an, der mich nach Rom bringen sollte. Nach vier zeitlich von einander getrennten Etappen, die mich durch das Elsass, die Schweiz, die Lombardei und ab Pavia auf der Via Francigena durch die Emilia Romagna, die Toskana und Latium führten, erreichte ich am 14. Juli 2012 die Ewige Stadt. Was für ein unbeschreibliches Gefühl, all jene Städte per Fuß zu erreichen, die ich zuvor aus touristischen Gründen wiederholt aufgesucht hatte, so Como, Pavia, Piacenza, Fidenza, Cararra, Lucca, San Gimignano, Siena und natürlich Rom selbst, um nur einige zu nennen; nicht zu vergessen die Städte, die mir in der Geschichte und in der Kunstgeschichte begegnet waren, wie etwa Bolsena, Viterbo, Sutri und viele andere.
Im gleichen Jahr 2012 startete ich - in Erfüllung einer Zusage an alle daran Interessierten aus dem Kreis meiner ehemaligen und aktuellen Choreltern – mit anfänglich zehn Personen von Herxheim aus ein weiteres Mal in Richtung Santiago. Das war für mich, der ich bislang immer allein unterwegs war und alle Freuden und Leiden des Pilgerns allein tragen musste, eine neue Situation, nicht nur weil eine gewisse Verantwortung für die Reiselogistik und das Wohlergehen der Pilgertruppe von mir erwartet wurde, die ich gerne auf mich nahm - nein, es galt auch, einen gemeinsamen Nenner für Distanzen, für Pausen, für Tempo, für Kulturstopps zu suchen und ich musste „ertragen“, wenn der Kommunikationsdrang innerhalb der Truppe nicht nur gelegentlich über den Austausch des gerade Erlebten und Beobachteten hinaus ging und weite Abschnitte des Weges begleitete. Dass sich dieser zweite Weg nach Santiago, diesmal durch das Elsass und Burgund nach Le Puy und von dort auf der Via Podiensis an das Apostelgrab über sechs Etappen bis zum Jahre 2017 hinzog, war vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Teilnehmer*innen überwiegend noch im Berufsleben standen und sich für das Pilgervorhaben lediglich zwei oder auch schon mal drei Wochen Urlaubszeit reservieren konnten. Aber auch diese Zeit des gemeinsamen Unterwegs-Seins ist mit zahlreichen gewinnbringenden und erkenntnisreichen Erfahrungen und Erinnerungen verbunden, die im Rückblick Sehnsucht aufkommen lassen, beispielsweise nach den übersichtlich kleinen, verträumten Dörfern und Städtchen im Herzen Frankreichs, im Zentralmassiv oder nachfolgend in Südwestfrankreich.
Mittlerweile hatte ich auch die nebenberufliche Aufgabe eines Chorleiters von Kinder- und Jugendchören, die ich über 40 Jahre mit Ehrgeiz verfolgt hatte, aus Altersgründen aufgegeben. 40 Jahre war ich erfolgreich bemüht, den Jugendlichen die Freude an der vokalen Musik zu vermitteln, deren Stimmen zu schulen, diese zu einem wohlklingenden Klangkörper zu formen und in Konzerten und Konzertreisen europaweit und darüber hinaus zu präsentieren. Von dieser Kärrnerarbeit fand ich 2015 den Abgang, übergab den Dirigentenstab an eine kompetente Nachfolgerin.
So konnte ich noch vor Vollendung dieses zweiten Pilgerwegs nach Compostela einem auf dem Weg nach Rom entstandenen Plan nachkommen, der mich von Rom über die Via Francigena del Sud nach Brindisi in Apulien, von dort nach Griechenland und schließlich durch das Heilige Land nach Jerusalem und Bethlehem führen sollte. Diesen Plan setzte ich im Jahre 2016 in die Tat um und starte am 29. März an Roms antiker Stadtmauer. Auf der Via Appia Antigua, der berühmten Konsularstraße, zog ich nach Süden, gelegentlich auf dem originalen, großformatigen Pflaster, das schon die genialen römischen Straßenbauingenieure setzen ließen. Die Via Francigena del Sud, wie sie als Pilgerweg genannt ist, ist bezüglich der Infrastruktur Welten von dem entfernt, was Pilgerwege in Spanien oder im Südwesten Frankreichs oder in Portugal zu bieten haben, sowohl die Wegmarkierung wie auch die Übernachtungsmöglichkeiten betreffend. Es ist mehr ein auf historischem Hintergrund „gedachter“ Weg. Nie vorher oder auch nachher hatte ich so viel Mühe, den Weg ausfindig zu machen, gefolgt von Sorge auch auf dem richtigen Weg zu sein und täglich beunruhigt von der Frage, ob es am Abend eine Stätte geben würde, in welcher ich meinen müden Körper würde zur Ruhe betten können. Noch nie davor und danach – auch nicht auf der ersten Pilgerfahrt nach Santiago – bin ich unfreiwillig so viele Irrwege gegangen, habe so viele Kilometer zusätzlich „eingesammelt“. Aber auch hier durfte ich feststellen, dass ich aus den Situationen gestärkt, gelegentlich stolz hervorging. Es gab nämlich so viele Überraschungen und so zahlreiche bereichernde Begegnungen mit Städten, Dörfern, Landschaften und selbstverständlich auch Menschen, dass man im Rückblick mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht von einer Traumreise sprechen mag. Die Städte, die mich in ihren Mauern sahen, sie aufzuzählen, würden Seiten füllen. Klangvolle Namen sind darunter wie Castel Gandolfo und die Albaner Berge, Velletri, der Ort, in dem Kaiser Augustus geboren wurde, die Volskerstadt Norba, die Abtei Fossa Nova, in deren Mauern der Kirchenlehrer Thomas von Aquin 1291 starb. In Terracina erreichte ich das Tyrrhenische Meer, schaute wie einst Johann Wolfgang Goethe über die lichtüberflutete Wasserfläche der Meeresbucht auf das Circeo-Bergmassiv. Ich bekomme Heimweh, wenn ich an das liebevoll restaurierte Kloster San Magno in den Monti Aurunci denke, das mir Aufnahme gewährte. In Formia erreichte ich nicht nur das Tyrrhenische Meer ein zweites und letztes Mal, sondern kam auch am sogenannten Grabmal des großen römischen Denkers und Redners Cicero vorbei, der - als sich in Rom die monarchische Staatsform abzeichnete - für seinen verbal kämpferischen Einsatz für die Beibehaltung der Republik, auf der Flucht getötet wurde. Der verehrte Leser mag schon an diesen wenigen Beispielen sehen, wie zahlreich die Konnotationen sind, die sich bei einer Pilgerfahrt ergeben, so man offenen Auges und Geistes durch die Welt zieht, Querverbindungen und gedankliche Vernetzungen, die das Verständnis für Geschichte und damit auch für das Heute erweitern. In Maria Capua Vetere begegnete ich dem ersten von zahlreichen weiteren Amphitheatern aus römischer Zeit und stand erstmals in einem in Gänze erhaltenen unterirdischen Mithräum. In Casserta wurde ich von der Schönheit des als Weltkulturerbe geadelten Gartens der Reggia, des Königspalasts der spanischen Bourbonen des Königreiches Neapel in staunende Bewunderung versetzt. An der weiteren Pilgerstrecke durch Kampanien und Apulien eiferten Städte und Landschaften um meine Gunst. Sie wurden durch meinen Besuch und mein Verweilen daselbst allesamt zu Sehnsuchtsorten. In Bari stand ich am Grab meines Namenspatrons Nikolaus, dessen Gebeine Kreuzfahrer vom kleinasiatischen, einstmals oströmischen Myra dorthin mitgebracht hatten. Von hier immer in der Nähe der Küste des adriatischen Meeres weiterziehend, erreichte ich schließlich Brindisi, stieg dort auf eine griechische Fähre, die mich durch das Ionische Meer nach Patras auf der Peleponnes brachte. Ich stand erstmals auf griechischem Boden. Ich lernte zahlreiche griechische Orte kennen, darunter Korinth und Athen. Der Besuch in dem durch ein Erdbeben zerstörten Alt-Korinth führte mir nicht nur eine antike, vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert hinein sich weiter entwickelnde Stadt unter langer osmanischer Herrschaft vor Augen, sondern ließ mich auch auf den Spuren des Apostels Paulus wandeln.
Das Flugzeug brachte mich nach Tel Aviv, die Bahn nach Haifa. Dort begann meine Fußpilgerschaft durchs Heilige Land; durch die Berge Galiläas nach Nazareth, weiter zum See Genezareth, durch das Jordantal nach Jericho und zum Toten Meer und schließlich nach Jerusalem und Bethlehem. Der Leser wird mit Recht annehmen, dass sich hinter diesen wenigen Hinweisen auf den Reiseverlauf ein abenteuerlich mutendes, doch prägendes Pilgerunternehmen verbirgt.
Schließlich war ich – einen Besuch in Madrid nutzend – im Frühjahr 2018 von Porto in Portugal aufgebrochen, um über den Caminho Português in nur 12 Tagen durch den im April sehr regenreichen Norden Portugals und durch Galizien Santiago ein drittes Mal zu Fuß zu erreichen und dann – nebenbei bemerkt – die Fassade der Kathedrale im renovierten Gewand zu erleben. Heute stelle ich mir die Frage, ob ich die vollendete Renovierung des Innern der Kathedrale über der Grabstätte des Apostels Jakobus auch noch erleben darf. Vielleicht im Heiligen Jahr 2021, wenn der 25. Juli, das Namensfest des Apostels auf einen Sonntag fällt.
Nach Erreichen aller großen mittelalterlichen Pilgerziele und den mit den Pilgerwegen einhergehenden mannigfaltigen Erfahrungen, spürte ich, dass mir noch eine Pilgererfahrung abging. Es war jene Erfahrung, die mittelalterliche Pilger machen mussten, wenn sie nach Erreichen des Pilgerzieles und nach wenigen Tagen des Betens und der Erholung den Weg zurück nach Hause per pedes antreten mussten und sich nicht wie die Pilger unserer Tage ins Flugzeug, die Bahn oder in den Bus setzen konnten, um nach Hause zurückzukehren. Diese fehlende Erfahrung wollte ich „nachholen“ und wählte hierfür zum zweiten Mal den Weg in die Ewige Stadt, wenn auch auf anderer Route als beim ersten Pilgerweg, um nach wenigen Tagen des Aufenthaltes daselbst den Rückweg per Fuß anzutreten, möglichst in seiner ganzen Länge – andata e ritorno. Hin und zurück. Davon soll der nachfolgende Bericht Zeugnis geben und den Leser mit auf die Reise nehmen.
Es ist der 23. Mai 2019. Deutschland hat heute Geburtstag; es ist der 70. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn es ein x-beliebiger anderer Tag wäre, es würde sich zeigen, was ein bevorstehender längerer Abschied von Zuhause, von der trauten Umgebung, von dem Bekannten- und Freundeskreis, ja auch von Haus und Garten in Form von sorgenvollen Gedanken vorausschickt. Es bewahrheitet sich auch, dass nicht die Mühen und Anstrengungen des Pilgerweges Mut für die Unternehmung fordern, vielmehr jener Moment, da man an der Haustür steht, den Schlüssel umdreht und losmarschiert. Gleichwohl ich das so oft erfahren habe, muss ich auch diesmal genau diesen Mut erneut aufbringen. Da ist es hilfreich, wenn man das Datum des Abschieds kommuniziert und sich so in Zugzwang bringt. Aus verschiedenen Gründen war der 23. Mai das Datum für den Start.
Ich habe zum Abschied eingeladen: Verwandte, Freunde, Ehrenamtsmitarbeiter, ehemalige Kolleginnen und Kollegen. Rund 40 Personen sind gekommen, versammeln sich im Hof meines Anwesens Am Herrenweg, sitzen an den bereitgestellten Tischgarnituren. Es ist neun Uhr, die Sonne steht am wolkenfreien Himmel, es herrscht eine gelöst fröhliche Stimmung. Im Speiseangebot des Abschiedsfrühstücks wie angekündigt: Weißwurst, Brezeln, alle Arten Bier und weitere Getränke. Um zehn Uhr schwinge ich eine kurze Rede, weise darauf hin, dass heute ganz Deutschland Grund zum Feiern hätte, da es seine gesicherte demokratische Entwicklung sowie sein Ansehen und seine Achtung in der Welt einem reiflich durchdachten Grundgesetz verdankt, um welches es von vielen Ländern der Welt beneidet wird. Ich erläutere mein Pilgervorhaben, weise auch auf die ökologische Komponente meines Pilgervorhabens hin und füge erläuternd an, dass man jene Vorhaben in die Tat umsetzen muss, für die es der beginnenden Altersgebrechen wegen schon bald zu spät sein kann und deren Nichtumsetzung man in der Zeit des restlichen Lebens bedauern würde. Ich bin bemüht zu erklären, warum ich ein zweites Mal zu Fuß nach Rom marschiere und für viele Wochen von Zuhause fern sein werde und dafür ein abenteuerliches Unterwegssein auf mich nehme. Von Sohn Markus am Piano begleitet singen wir – soweit des Textes mächtig – die drei Strophen von „Muss I denn zum Städtele hinaus“. Dann ziehe ich los. Nur noch einmal wende ich meinen Kopf, winke den Zurückbleibenden zu.
Wie in den Wochen zuvor „probeweise“ gegangen, ziehe ich durch den Herxheimer Wald nach Westen, südlich der Bahnlinie an Winden und Hergersweiler vorbei nach Barbelroth und Oberhausen. Dahinter beginnt ein buckeliges Geländeprofil mit Auf und Ab über die Hügel hinweg, die vom Wasgau in die Rheinebene hinausziehen. Das erst einige Tage zuvor erworbene Navigationsprogramm „komoot“ ist erstmals in Aktion. Nicht dass ich es hier zur Orientierung und Wegfindung gebraucht hätte, vielmehr, weil ich die Chance nutzen wollte, auf bekanntem Terrain den Umgang mit dem Programm zu üben. Es zeigte sich, dass dieses den Nutzer auf kürzestem Weg, jedoch nicht immer auf den besten Wanderwegen zum eingegebenen Ziel führt, so auch auf Wegen mit hohem Gras, nur weil dadurch die Strecke um 100 oder auch nur 50 Meter kürzer ausfällt. Da werde ich in den kommenden Tagen, wenn mir die Gegend wenig oder gar nicht vertraut ist, genauer prüfen müssen, ob ich den aufgezeigten Weg gehen soll.
Nach fünf Stunden durchgehenden Marschierens lege ich in Sichtweite zum Deutschen Weintor, nur einen Steinwurf von der Grenze zum Elsass entfernt, eine ausgedehnte Ess- und Trinkpause ein, bevor ich französischen Boden betrete und die restlichen drei Kilometer hinunter ins Städtchen Weißenburg an dem Grenzflüsschen Lauter marschiere.
24. Mai: Ich starte von der ehemaligen Klosterkirche St. Peter und Paul auf dem vertrauten, weil schon so oft gegangenen, mit dem grünen X markierten Weg aus dem Tal der Lauter. Jenseits des ersten großen Hügels liegt Oberhoffen. Dort befindet sich jene schon im einführenden Kapitel genannte Stelle mit dem Wegweiser Saint Jacques de Compostelle 2.412 km. Zwei Hügel südlich davon liegt das Dorf Bremmelbach. Die Grünfläche vor dem Friedhof lädt zu einer kurzen Ess- und Trinkpause ein. Ich werde dem elsässischen Jakobsweg für mindestens eine Woche folgen.
Nun geht es Hügel rauf und runter. Rechter Hand begleiten mich die blaugrünen Berge, Ausläufer der Nordvogesen. Nach knapp drei Stunden erreiche ich Soultz sous Forets und richte mich auf dem Platz vor der Saline zu einer ausgedehnten Mittagspause ein. Den mitgeführten Fahrplan der Bahn während des Kauens studierend entdecke ich darauf einen Zug, der mich um 13:24 Uhr von Walbourg nach Weißenburg zurückbringen würde. Ich schaue auf die Uhr. Das ist in zwei Stunden! Ich breche unvermittelt auf, marschiere stramm den langgezogenen Weg hinauf auf die Hochfläche, an deren Südende sich der Blick auf den Schwemmkegel der Sauer und auf den Hagenauer Forst auftut. Es ist dunstig, die Fernsicht eher bescheiden und der bei klarer Sicht von hier aus gut sichtbare Turm des Straßburger Münsters verbirgt sich hinter dem Dunstschleier. Das Getreide auf den Äckern steht kniehoch, Mais und Zuckerrüben zeigen erst in Fingerlänge aus der Ackererde.
Nach einer Stunde habe ich die altehrwürdige ehemalige Klosterkirche in Surbuorg erreicht. Wäre ich nicht schon wiederholt hier gewesen, ich hätte sicherlich einen anderen Zeitplan verfolgt und mir Zeit für den romanischen Kirchenbau gelassen. Ich aber werfe einen Blick auf die Wegaufzeichnung auf dem mitgeführten Tablet - und schon geht es weiter; es bleiben ja nur noch 50 Minuten für die geschätzten vier Kilometer. Auf dem Damm der alten Bahnlinie ziehe ich durch die bewaldete Niederung der Sauer und über den Fluss hinweg. Ich eile durch den Forst dem Bahnhof Walbourg entgegen, das letzte Stück dem Trampelpfad neben den Gleisen entlang. Ich erreiche heftig schnaufend und mit erhöhtem Puls den Bahnhof, stehe schließlich allein am Bahnsteig und habe noch 10 Minuten, bis ich in den mit Verspätung kommenden Zug aus Hagenau einsteige. Wie schon einmal werde ich auf dieser Strecke erneut ungewollt Schwarzfahrer, weil weit und breit kein Fahrkartenautomat auszumachen ist. Kurz nach 15 Uhr bin ich wieder zu Hause, erledige die restlichen Arbeiten in Haus und am Schreibtisch, richte final den Rucksack. Es sind noch zwei Unterkünfte zu buchen. Meine Freundin lässt sich auf einen zweitägigen Besuch mit meinem Camping-Bus in der Westschweiz ein, so dass ich für die Zeit am Neuburger See keine Unterkunft benötigen werde. Mit diesem Stand der Planung und Organisation komme ich ins Bett, aber nicht unbedingt zur Ruhe.
25. Mai: Kurzes Frühstück! Nichts vergessen? Meine Freundin bringt mich zum Bahnhof; Abschied mindestens für zwei Wochen. Sollte es früher sein, dann wäre etwas schief gelaufen oder die Biologie hätte über Willen und Verstand gesiegt.
Am Bahnhof in Weißenburg muss ich erfahren, dass der im Fahrplan ausgewählte Zug mit Halt in Walbourg nur sonntags fährt. Der nachfolgende Zug fährt erstmal am Startpunkt Walbourg vorbei und bringt mich nach Hagenau. Erst zwei Stunden später bringt mich ein Zug zurück nach Walbourg. Man muss halt die Pläne richtig lesen! Jedenfalls wird so nichts aus dem geplanten Marsch durch den morgendlichen kühlen Wald. Dafür aber bleibt mir Zeit, Tagebuch zu schreiben, in Weißenburg am Springbrunnen vor dem Chor von Sankt Peter und Paul und in Hagenau vor dem Westabschluss von Sankt Georg, ebenfalls am Springbrunnen. Trotz der Umstände bleibe ich gelassen, weil die Wegstrecke von Walbourg nach Marienthal nur 17 Kilometer beträgt. So durchstreife ich vor dem eigentlichen Start in die Pilgeretappe die ehemalige Reichsstadt Hagenau, verweile im Innern der beiden Kirchen St. Georg und St. Nikolaus, die ihre Entstehungszeit in der Gotik deutlich demonstrieren. Es sind angenehme Temperaturen beim Sitzen in den Kirchenbänken. Im Freien werde ich schon bald den Schatten suchen. Die Sonne hat meine Haut auf den Armen und im Nacken ohnehin schon gefährlich rot werden lassen.
Um 12:40 Uhr entsteige ich in Walbourg dem Zug – als einziger! Es sind eineinhalb Kilometer zur Ortsmitte, dessen Zentrum durch das katholische Lyzeum mit Jungen-Internat definiert wird. Südlich daneben, auf der Anhöhe über dem tiefer liegenden Hagenauer Forst erwartet mich die ehemalige Klosterkirche. Romanik und Gotik des Kirchenbaus, besonders aber die Kirchenfenster mit ihrer großen, bunten Erzählfreude sind immer wieder einen Besuch wert. Ich denke, es ist mein sechster Besuch in der Kirche, die bis zur Auflösung der alten Bistumsgrenzen in den Wirren der Französischen Revolution zum Bistum Speyer gehörte. Auf den Wiesen unterhalb suchen die weißen Rinder ihr Futter. Wie gehabt! Die Luft ist schwül, dunkle Wolken zeigen sich im Norden. Es bleibt warm. Dennoch, das sind die richtigen Temperaturen für Wanderer und Co. Der lange nach Süden ziehende Fahrradwaldweg bringt mich durch den „Heiligen Forst“. Es ist Samstag. Auch wenn mir das nicht bekannt gewesen wäre, die zahlreichen Radrennsportler hätten mich darauf gebracht. Am südlichen Waldrand, nachdem ich ein Stück des bezeichneten Weges als schwer zu bestimmenden „Urwaldweg“ hinter mich gebracht habe, treffe ich auf ein Waschhaus und einen Biker von der Eifel. Er teilt mit mir die einzige Sitzbank für die von mir schon langersehnte Pause. Er ist mit seinem teuren Bike mit Akku-Unterstützung unterwegs zum Bodensee. Ich entnehme seinen Worten den abenteuerlichen Stolz für sein Reisevorhaben und stärke ihn darin.
Kurz danach wechsle ich über die Mundartgrenze vom Fränkischen zum Alemannischen und betrete beim Weißenburger Tor die Stadt Hagenau, die viel gerühmte, aber auch viel geschundene. Da der Besuch der Stadt unfreiwillig schon am Vortag stattgefunden hat, ziehe ich für etwa fünf Kilometer der Moder entlang, um die Stadt herum und an dieser vorbei. Die Moder führt hier wenig appetitliches Wasser, das dem Rhein entgegenfließt. Den Fluss verlassend geht es nach Kaltenhouse auf dem Moder-Hochufer und von dort nach Marienthal. Kürzer als der Weg durch die Stadt war der gewählte Weg nicht, aber doch neu für mich und weiter weg vom Verkehr.
Das Kloster erreiche ich um 17 Uhr, da gerade die Vesper in der Basilique gesungen wird. Ich habe 18,2 Kilometer hinter mir, nicht eben viel und bin dennoch froh, als mir von einer der Schwestern – es sind Benediktinerrinnen vom Heiligen Herzen Jesu vom Montmartre Paris – das Zimmer 103 im ersten Stock überlassen wird.
Den Abendtisch teile ich mit drei Frauen schwarzer Hautfarbe, Mutter und ihre beiden Töchter. Die Kommunikation bleibt wegen meiner geringen Sprachkenntnisse in Französisch auf Sparflamme, so sehr, dass es mir schon peinlich ist. Nach einem Abendspaziergang im Klostergarten und auch außerhalb des Klostergeländes ist es höchste Zeit, den müden Beinen, vor allem dem von den arbeitsreichen Wochen vor dem Abschied ausgelaugten Körper Ruhe zu schenken.
26. Mai: Ganz entgegen der langfristigen Wettervorhersage grüßt der Morgen mit wolkenfreiem, blauem Himmel. Um acht Uhr nehme ich am Sonntagsgottesdienst in der Wallfahrtskirche teil. Es ist eine Bet-Sing-Messe. Die Gesänge des Organisten und des Zelebranten sind für die Ohren eines Chorleiters, der ich ein Leben lang war, angenehm, aber wegen der mikrofonalen Verstärkung für meine Ohren ein wenig zu laut. Der Priester ist einer der „Senioren“ der Diözese Straßburg, welche in einem Flügel des Konvents ihren Alterssitz haben. Er geht am Stock. Die Predigt handelt von der Mutter Maria – es ist Muttertag in Frankreich (Fete des Mamas). Zum Schluss fasst der Priester seine Predigtworte im alemannisch-elsässischen Dialekt zusammen; ich bin freudig überrascht und berührt.
Beim sich anschließenden Frühstück bin ich allein. So kann ich ohne Rücksicht auf Tischregeln die Platte leer putzen. Eine halbe Stunde später bin ich unterwegs; anfangs nur auf wenige hundert Meter dem grünen X folgend, dann auf selbst gewählten Wegen zum Dorf Gries und weiter - ziemlich genau nach Süden - auf unmarkierten Wald- und Feldwegen, geleitet von meiner Outdoor-App. Die Robinien blühen und verbreiten einen süßen, betörenden Duft. Der Raps ist bis auf wenige „Nachzügler“ verblüht und schickt wenig schmeichelnde Düfte in die Nase. In dem sandigen Boden der Waldlichtungen steht der Ginster in voller Blüte und erfreut das Auge ob der leuchtend gelben Farbkleckse vor dem Grün des Waldes im Hintergrund. Draußen auf den Feldern steht das Wintergetreide schon in Blüte und bildet bereits den Fruchtstand. Zu früh? Nun ja, es ist noch ein Monat bis Peter und Paul, dem Reifedatum. Auf den sandigen Böden der elsässischen Rheinebene ist mir der Spargelanbau selbstverständlich keine Überraschung. Die Erntezeit des „Königsgemüses“ in seiner weißen Erscheinungsform ist voll im Gange.
Nach Kutzenhaus bin ich für zwei Kilometer auf der Landstraße unterwegs, des Sonntags wegen mit sehr wenig Verkehr. In Weyersheim treffe ich auf eine auch am Sonntag geöffnete Einkaufsmöglichkeit; Brot und Wurst wandern in den Rucksack. Westlich liegt Geudertheim, wohl der Herkunftsort jener gleichnamigen Tabaksorte, welche in meiner Heimatgemeinde Herxheim früher in der Hauptsache angebaut wurde und mich als Familien-Erntehelfer bis zur Aufgabe des Tabakbaus meiner Eltern jeden Sommer in die damit verbundene Arbeit des Erntens (Brechens) der Blätter, des Einfädelns auf die Bandeliere, das Aufhängen in den luftigen Höhen im Trockenschuppen einband und verhinderte, dass ich Ferienbeschäftigungen nachgehen und mich mit Freunden treffen konnte.
Auf dem elsässischen Jakobsweg durch bekannte Gefilde.
Das EU-Parlament am Rhein-Marne-Kanal eingangs der Stadt Straßburg.
Ich komme nach Hoerdt und denke an Max Frey sen., der in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vergeblich bemüht war, eine Jumelage zwischen den beiden Hördts auf den Weg zu bringen, dem Hördt in der Südpfalz und jenem in der Peripherie Straßburgs. Dann werde ich nach Westen bis zur Bahnlinie Brumath-Straßburg gelenkt und durch ein ausgedehntes Waldstück weiter nach Süden. Ein junger Fuchs ist einige Zeit unbekümmert mit mir unterwegs, bis ich wieder Tempo aufnehme und er seitlich ins Walddickicht abtaucht. Ich überquere die Autobahn Lauterburg-Straßburg kurz vor deren Einmündung in die Autobahn nach Paris. Letzterer geht es entlang, bis ich exakt nach vier Stunden bei Reichstett auf den Rhein-Marne-Kanal treffe. Es ist jene Wasserstraße, der ich schon zweimal auf dem Weg nach Süden gefolgt bin – nun zum dritten Mal. Bei nächster Gelegenheit sitze ich zu einer schon lange herbeigesehnten Mittagspause bei einer Schiffsschleuse auf einer Bank, während vor mir einige Freizeitkapitäne ihre Boote zum höheren Niveau anheben bzw. zum tieferen Niveau absenken lassen. Eigentlich hatte ich im Sinn, hier viel länger als 45 Minuten zu bleiben; aber die Sorge um den leeren Akku des Tablets, eine fehlende Orientierung im Straßengewirr von Straßburg lassen mich weiter ziehen; Souffelweyersheim und Bischheim bleiben zu meiner Linken andererseits des Kanals.
Bald schon tauchen die gläsernen Fronten des 1999 vollendeten EU-Parlamentes auf. Trotz seiner gewaltigen Ausmaße zeigt sich dem Betrachter ein luftiger und wohlproportionierter Bau und liefert ein Beispiel für moderne Architektur, die Funktion und Ästhetik in perfekter Form zusammenführt. Ich nehme jene Straßen, die mich von Norden her auf kürzestem Weg in die Rue Finkmat bringen wird, wo meine Unterkunft, das Hostel CIARUS liegt. Ich checke ein und komme in einem Viererzimmer unter. Dieses wird am Abend außer mir noch einen jugendlichen Mitbewohner schwarzer Hautfarbe beherbergen.
Nach einer Stunde Ruhezeit mache ich mich durch die sonntäglich ruhigen Straßen der Stadt auf zu einem Besuch der „Insel“ und lande im Sonntag-Abend- Gottesdienst im Straßburger Münster. Es wird viel gesungen und vorgesungen. Der Vorsänger ist ein junger Mann mit angenehmer, geschulter Stimme. Während der Predigt, der zu folgen meine Französischkenntnisse nicht ausreichen, schreibe ich Tagebuch. Am Ende des Gottesdienstes macht der zelebrierende Priester auf ein Konzert am Abend mit einem orthodoxen Chor aufmerksam. Ich speichere diese Information – man weiß ja nie!
Während die Gottesdienstbesucher beim kurzen Nachspiel der Orgel das Gotteshaus verlassen, spricht mich ein Herr etwa meines Alters an, neugierig geworden durch die Muschel auf meinem Rucksack und meine während der Predigt getätigten, schriftlichen Notizen, wie er mir später sagt. Er ist Pilger und Pilgerbuchautor, wie sich noch herausstellen sollte. Er lädt mich zu einem Glas Wein ein, das wir in Münsternähe zu uns nehmen. Wir unterhalten uns angeregt. Aus seiner Tasche holt er zwei seiner Schriftsteller-Produkte. Es ist ein Gespräch auf „Augenhöhe“.
Nun schlendere ich durch die Straßen, der Ill entlang, über die Brücken, unter den Brücken hindurch und verzehre – mehr von der Lust, denn vom Hunger diktiert – einen Dönerteller und eile danach zu besagtem Konzert in der Kathedrale. Diese ist zu meinem Erstaunen fast voll besetzt. Grund dafür ist nicht nur der angekündigte Chor, sondern das Erscheinen „Seiner Heiligkeit“ des Patriarchen Cyrill von Moskau, der derzeit Gast des Europarates ist. Der Bischof von Straßburg und der Patriarch tauschen Botschaften und Geschenke aus. Es wird jeweils in die Sprache des andern übersetzt. Der Chor des orthodoxen Seminars der ukrainisch orthodoxen Kirche gibt dann eine großartige musikalische Visitenkarte ab. In allen Lautstärken und allen Harmonien wird wohlklingend gesungen. Alleinstellungsmerkmal dieses Chors – wie aller russischen Chöre - ist das eindrucksvolle Fortissimo.
Um 22 Uhr bin ich auf meinem Zimmer in oben beschriebener Gesellschaft. Mein linkes Schienbein kribbelt - Folgen eines vor vielen Jahren zugezogenen Bandscheibenvorfalls. Ärgerlich! Das bedeutet einmal mehr Stunden des Wachseins und wenig Schlaf.
27. Mai: Mein Zimmergenosse war ein lautloser Schläfer. Er gab nicht den Grund für das lange Wachliegen, sondern … siehe weiter oben!
Im Frühstücksraum tummeln sich weitere Gäste der Unterkunft: eine Mädchenklasse aus Deutschland, eine Jungenklasse aus England. Straßburg als Hauptstadt Europas - ein wenig wird es hier sichtbar. Das Frühstück ist vielfältig und reichhaltig. Hungrig muss hier keiner in den neuen Tag. Ich verlasse die Unterkunft, begebe mich in einen zu diesem Zeitpunkt sonnigen Tag, ziehe der Ill entlang und später mithilfe der Navigation aus der Stadt hinaus zum Canal de La Bruche. Vertrautes Gelände aus früheren Pilgerfahrten! Zahlreiche Radler aller Alters- und Sportsklassen sind unterwegs, gleichwohl Montag. Der Weg entlang an dem von Vauban zum Festungsbau von Straßburg angelegten Wasserbau ist eine einzige Idylle. Graubraun trübes, stehendes bzw. nur träg fließendes Wasser, fast durchweg von Bäumen beschattet, dümpelt dahin, von Enten, Schwänen, Fröschen und Fischen sicht- oder hörbar bewohnt. Die gelben Schwertlilien leuchten am begrünten Uferrand. Es ist wirklich ein staunenswerter Wasserbau dieser Kanal, gespeist von der Bruche, einem Gebirgsbach, dessen Namen er übernommen hat, aus gleichem Grund eingerichtet wie auch der Kanal von Albersweiler nach Landau bei uns in der Pfalz. Staunenswert auch, weil da ja nicht nur die große Zahl der Schleusen zu berechnen war, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Mühlen und die Dörfer links und rechts des Kanals dennoch das notwendige Wasser zur Verfügung hatten.
An der Brücke beim Restaurant „Au Canal“ in Egersheim gibt es ein freudiges Déjà vu, da ich diesen als jenen Ort wieder erkenne, wo ich im Jahr 2012 beim ersten Rom-Marsch – ebenfalls im Mai – am Brückengeländer mein Fahrrad gesichert hatte. Fahrrad? Ja! In Erwartung einer notwendig gewordenen Operation, für die ein frühst möglicher Termin wünschenswert war, hatte ich damals mit Camper, Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem ersten Pilgerabschnitt bis zum Gotthard-Pass in der Schweiz eine sehr spezielle Logistik entwickelt. Damals war ich von hier über Dachstein auf dem Fahrradweg direkt nach Molsheim gegangen. Heute gehe ich den Weg am Kanal weiter mit dem Ziel, endlich einmal die Kirche Dompeter zu besuchen. Die rebenbestandenen Hügel rücken nun näher an den Kanal, die Bruche und den Pilgerweg heran. Dahinter nehmen die graublauen Sattelberge der Hochvogesen ihren Anfang, um sich nach Süden hin immer höher aufzubauen. Sie werden mir für den Rest der Woche Begleiter sein.
Der Domus Petri gilt als älteste Kirche des Elsass, eine schlichte Basilika mit Flachdecke. Seine Anfänge reichen ins siebte Jahrhundert zurück. Der vom Friedhof umgebene Kirchenbau liegt im Grünen, gehört zur Gemeinde Avolsheim. Ruhe strahlt der Ort aus. Ein wenig von dieser Ruhe überträgt sich auf mich, auch deshalb, weil ich mich schon bald in Molsheim, am Ziel des heutigen Pilgertages weiß.
Auf teilweise schmalem Wiesenpfad geht es der baumbestandenen Bruche entlang. Nach knapp sechs Stunden des Unterwegseins erblicke ich die ersten Häuser von Molsheim. Wenige Minuten später sitze ich im Zug, der mich in 15 Minuten nach Straßburg zurückbringt, eine Strecke, für die ich marschierend viele Stunden unterwegs war. Dort führt mich der Gang Richtung Stadtmitte zu Saint Pierre le Vieux, der gotischen Kirche mit dem hohen Netzgewölbe. Im linken Querschiff befinden sich Holzreliefs mit lebendig erzählten Ausschnitten aus der Vita des Namenspatrons dieser Kirche. Die Reliefs und der Name der Kirche lassen mich einen gedanklichen Bogen zu meinem Pilgerziel spannen. Denn einige der dargestellten Szenen aus der Petrus-Vita spielten in Rom. Dort endete sein Leben am Kreuz und dort fand er sein Grab. Dort, am Grab des Apostelfürsten werde ich in etwa sieben Wochen stehen, wenn alles gut geht. Die Entfernung dorthin, rund 1.400 Kilometer, will mich in diesem Moment nicht schrecken.
Ich erkenne das künstlerisch hohe Niveau der Reliefs und mir wird deutlich, wieviel große sakrale Kunst Straßburg neben seinem Münster zu bieten hat. Aber Saint Pierre le Vieux muss das Los tragen, das zahlreiche weitere Kirchen des Abendlandes ertragen, wenn sie eine berühmte Schwester in ihrer Nähe haben: Der Besucher ist von der Kunst der berühmten Schwester dermaßen gefesselt und dann auch „erschlagen“, dass ihm die physische und geistige Kraft für den Besuch in einer der anderen Kirchen fehlt. So führen Kirchen wie Saint Pierre le Vieux bezüglich der Besucherfrequenz zu Unrecht ein Mauerblümchen-Dasein. Ich habe jedenfalls den Kirchenraum die ganz Zeit über nur für mich allein.
Auf dem Weiterweg zur Unterkunft tätige ich den Einkauf für den nächsten Tag. Dann aber heißt es, den Regenschirm aufspannen. Der Himmel macht wahr, was die Wolken schon lange angekündigt. Es gießt wie aus Kübeln, während ich vor einem gefüllten Teller zum Abendessen im Restaurant sitze. Um 18 Uhr ist der Pilgertag vollendet. 26,9 Kilometer zeigt die Aufzeichnung an. Eine schöne Tour! Schade, dass das linke Bein noch immer kribbelt.
Am Abend umrunde ich die Ill-Insel zur Hälfte, lege dabei immer wieder Dehnübungen für den Rücken und gegen das Beinkribbeln ein, an Stellen, wo ich mich unbeobachtet fühle und kehre bei spätabendlichem Himmelslicht zur Übernachtungsstätte zurück.
28. Mai: Von den vier Betten in meinem Zimmer waren heute Nacht drei belegt. Die von mir in der Nacht immer wieder eingelegten Übungen gegen das Kribbeln im linken Bein waren durchaus erfolgreich. Wie lange? Jedenfalls bin ich am Morgen einigermaßen ausgeruht. Ich will früh sein, bin es dann aber doch nicht, weil mein Zimmermitbewohner das Bad 25 Minuten lang okkupiert.
Um 8:27 Uhr bringt mich der Zug von Straßburg nach Molsheim. Ich durchstreife die Stadt, die der Fürstbischof von Straßburg zur Mitresidenz machte, nachdem die Bürger Straßburgs sich der Reformation zugewandt hatten. An einigen Stellen der Stadt ist das fürstliche Flair noch auszumachen. Die Stadt ist mir aus den vorherigen Besuchen gut bekannt. So tut es mir nicht wirklich weh, dass die ehemalige bischöfliche Kirche zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen ist. Das Rathaus mit der vorgelagerten blumengeschmückten Doppeltreppe ist ein Blickfang und fesselt auch heute meinen Blick. Im Tourismusbüro gegenüber lasse ich mir einen dritten Stempel in meinen Pilgerausweis drücken.
Ich strebe in Richtung Rosheim und finde auf dem Weg dorthin, hinter der Ortschaft Dorlisheim, die ersten reifen Kirschen am Wegrand. Wer will mir nachtragen, dass ich nicht widerstehen kann und kräftig nasche. Ich habe auch kein schlechtes Gewissen, weil der Baum nach meiner Begutachtung auf „Niemandsland“ steht. Nach diesen Gaumenfreuden wartet der erste von vielen Anstiegen durch die den Vogesen vorgelagerten Weinberge auf mich. Auf der anderen Seite liegt Rosheim. Das Städtchen hat das blaue Band der Vogesenberge als Hintergrund, den Odilienberg, den heiligen Berg des Elsass in der ersten Reihe. Durchs Stadttor geht es hinein in das Städtchen, um gleich dahinter vor Rosheims bekanntestem Bauwerk zu stehen - der romanischen Kirche Peter und Paul. Mit dem reichen Skulpturenschmuck im äußeren Mauerwerk, dem Kreuzrippengewölbe und dem 21-Köpfe-Kapitell im Hauptschiff ist sie ein Anziehungspunkt für den kunst- und architekturgeschichtlich interessierten Menschen.
Auf mir vertrauten Pfaden erreiche ich die Weindörfer Börsch und Ottrott. Beides sind attraktive Orte mit Fachwerkhäusern und Winzerhöfen. In Börsch gefallen mir besonders Rathaus und Renaissancebrunnen, für den der dreisäulige Brunnen in Rosheim Pate gestanden haben mag. Oberhalb des Rathauses, im ehemaligen, liebevoll restaurierten Waschhaus, koste ich vom Wasser des Laufbrunnens und stille meinen ersten Hunger. Über mir auf dem Odilienberg grüßt die weitläufige Klosteranlage, die sich wie eine Burg eindrucksvoll darauf ausbreitet.
Es war in Ottrott, wo uns auf dem ersten Abschnitt des Jakobsweges 2012 die Mitpilgerinnen Gaby und Regina verlustig gegangen waren und wir bange Minuten überstehen mussten, bis sie nach vielem Telefonieren einem Auto mit Elsässer Kennzeichnen entstiegen. Das kommt mir in den Sinn, als ich durch den sich an den Berghang anschmiegenden Ort ziehe. Hinter Saint Narbor tauche ich für lange Zeit in den Wald in der zum Rheingraben auslaufenden Flanke des Odilienbergs ein. Später treffe ich auf den Pilgerweg, der vom Heiligen Berg des Elsass herunterzieht. Ihn, den Odilienberg, habe ich - ein wenig schweren Herzens - rechts liegen lassen. Beim herrschaftlich landwirtschaftlichen Anwesen Truttenhausen sitze ich auf der Bank zur Mittagspause. Hier, von der Anhöhe, ist der Rheingraben bis hinunter zum Mittel- und Südschwarzwald zu überblicken, eine geographisch und geologisch spannende Erscheinung. Dieser Blick ist besonders schön oberhalb von Barr, wo ich aus dem Wald heraustretend am Rande der ersten Weinberge erneut auf einer Bank sitze, das Auge in der landschaftlichen Runde schweifen lasse und Tagebuchnotizen mache. Viele Wolken sind am Himmel. Hoffentlich bringen sie keinen Regen! Der Schirm liegt nämlich in der Unterkunft in Straßburg unter dem Bett. Der vom Weinbau und von der Weinwirtschaft geprägte Ort präsentiert dem Besucher zahlreiches, schönes Fachwerk. Wer jedoch von weither anreist, um die Heimeligkeit und Schönheit des elsässischen Fachwerks zu genießen und zu bestaunen, der steuert die Orte im Oberelsass an: Obernai, Ammershwihr, Ribeauvillè, Kaysersberg, Riquewihr, Turckheim … Da habe ich es gut. Ich werde diese Orte fast allesamt auf dieser Pilgerfahrt erleben.
Am Fahrkartenautomaten am Bahnhof von Barr unterläuft mir bei der Einstellung ein Fehler. Wer die Unterschiedlichkeit der Fahrkartenautomaten der SNCF zu denen der DB kennt und ungeübt bei deren Bedienung ist, wird Verständnis für mein Ungeschick haben. Dreimal muss ich mit dem Prozedere von ganz vorne anfangen und komme ob der herannahenden Abfahrtszeit des Zuges in Hektik. Dann habe ich den Fahrschein aber doch in Händen bevor der Zug einfährt.
Ich bin ganz schön müde geworden; das merke ich, als mir bei der Zugfahrt zurück nach Straßburg die Augen zufallen, wo doch vor dem Fenster eine wundervolle Landschaft vorüberzieht. 26,9 Kilometer war ich fußmarschmäßig unterwegs, auf den Meter genau wie am Vortag.
Für den Abend nehme ich mir vor, die von den Armen der Ill gebildete Insel einmal schlendernd ganz zu umrunden. Den Plan setze ich dann auch in die Tat um und entdecke auf dem städtebaulich hochinteressanten Place de La Republique die im Stil des Historismus errichteten öffentlichen Bauten: Palais du Rhin, Bibliotheque National, und das Theater. Von dort reicht der Blick die Avenue Victor Schoelchen hinunter zum Palais Universitaire, alles „Kinder“ des 19. Jahrhunderts, als Elsass Reichsland war. Aus der Sicht der industriellen und verkehrsmäßigen Entwicklung war das eine vorteilhafte Zeit für das Elsass. Aber die Seele der Elsässer wurde mit preußisch-deutschen Füßen getreten, indem man Land und Leute zum Anhängsel des Zweiten Reiches machte. Auch wenn es mir nicht leicht fallen will, ich gewöhne mich bei den Einträgen im Pilgertagebuch an die Schreibweise mit dem doppelten „ss“ bei der Nennung des Namens Elsass. Das über Jahrhunderte im Namen geführte „ß“ ist 1996 der Rechtschreibreform zum Opfer gefallen.
Dem Canal de La Bruche entlang vom Rhein zum Vogesenrand.
Entlang der Vogesen durch Weinberge und Wald.
Nach vollendetem Rundgang verabschiede ich mich geistig von dieser schönen Stadt, weil ich auf dieser Pilgerfahrt nicht mehr hierher zurückkehren werde. In der Unterkunft genehmige ich mir ein Glas Rotwein, während jugendliche Musiker im Foyer mit viel Spielfreude ihr Können präsentieren. Wohlgefühl macht sich in mir breit und dann stellt sich auch die notwendige Bettreife ein. Der Schrecken, den mir der fehlende Kulturbeutel bei der Rückkehr ins Zimmer versetzt und mich nervös alle Ecken des Zimmers untersuchen lässt, löst sich bald in Wohlgefallen auf. Er wurde vom Reinigungspersonal mit den Handtüchern wegtransportiert. Ich finde ihn an der Rezeption wieder.
29. Mai: Alle vier Betten des Zimmers waren in der Nacht belegt. Von keinem der Mitschläfer war auch nur ein Schnaufer zu hören; eine selten ruhige Schlafstätten-Gesellschaft. Beim Frühstück passiert mir ein erstes Malheur und es ist doch erst der siebte Tag der Pilgerschaft. Beim Biss in die Kruste des Weißbrotes bricht die wangenseitige Wand des fünften Zahns rechts oben ab! Später konsultiere ich deswegen telefonisch meine Zahnärztin Viktoria. Sie verspricht mir nach Einsicht der Patientenunterlagen Rückmeldung und eine Empfehlung zu geben. Was hätte ein Pilger früherer Tage in einem solchen Falle getan? Was hätte er getan, wenn die Angelegenheit dann auch mit großen Schmerzen verbunden gewesen wäre? Ich kann mich nicht nur auf den Rat meiner Ärztin verlassen, kann mit dem von ihr per SMS-Anhang zugeschickten Röntgenbild zum nächsten Zahnarzt am Weg gehen oder kann mich in den Zug setzen und mich zwei Stunden später auf dem Behandlungsstuhl meiner Ärztin kurieren lassen. Um wieviel mehr Risiko und Mut musste ein Pilger früherer Tage auf sich nehmen! Meine Zunge versucht sich an die neue Situation in der Zahnreihe zu gewöhnen, bis sie sich ob der ihr eigenen Neugierde wund anfühlt. Später werde ich dankbar registrieren, dass sich der Zahn ruhig verhält und erst Monate später nach der Rückkehr von der Pilgerschaft von zahnärztlicher Kunst versorgt wird.
Am Bahnhof in Barr beginnt der neue Pilgertag. Es gibt viel schönes Fachwerk vergangener Jahrhunderte zu bestaunen. In ihnen kommt der Sinn für Schönes und die dafür notwendige Wohlhabenheit der Erbauer und Besitzer zum Ausdruck. Der wache Geist am Morgen nimmt das klarer zur Kenntnis, denn der müde Kopf am Ende des vorangegangenen Pilgertages. Hinter dem Ort beginnt ein dauerhaftes Auf und Ab. Über die quer zur Gehrichtung liegenden, von Reben bestandenen Hänge geht es hinauf und hinunter, gelegentlich auch etwas höher hinauf durch die Vogesenausläufer. Der Himmel zeigt eine geschlossene Wolkendecke. Kühler Wind zieht von West-Nordwest übers Land. Das bewahrt mich einerseits vor dem Schwitzen, verkürzt oder verhindert andererseits ein längeres Verweilen an einem der zahlreichen lauschigen Plätze am Weg.
Andlau mit seinem auf Richardis, der Gemahlin Karls III. zurückgehenden Kloster bzw. mit dessen Resten und der Klosterkirche hält mich lange fest. Während die Krypta mit den auf Säulen mit Würfelkapitellen ruhenden drei Schiffen und sechs Jochen aus der Romanik stammt und den ältesten Bauteil der Kirche darstellt, ist der Kirchenbau selbst sicher ein „Neubau“ der Renaissance oder des Barock. Es ist eine Querschiffbasilika. Der „primitive“ skulpturale, figürliche Schmuck der Hochromanik am Unterbau des Kirchturms mit Darstellungen aus Legende, Tierfabeln und Volksleben lässt mich ratlos stehen.
Hinter Andlau beginnt der längste und steilste der bisherigen Anstiege. Kein Problem bei dem relativ kühlen Wetter. Andererseits des Waldrückens öffnet sich der Blick auf das allseitig von Rebenhängen und Bergen eingebettete Bernardville. Auf mich wirkt es ein wenig wie das pfälzische St. Martin von den nahen Anhöhen der Haardt betrachtet. An der Kirchennordseite lege ich eine kleine Rast ein und schreibe Tagebuch - dies just, da im Turm über mir die Mittagsglocke laut, aber wohlklingend läutet.
Am Ortsende von Bernardville folge ich dem Wegzeichen des GR 5. Er bringt mich durch Weinberge zum Wald und in diesem auf Höhen von über 500 m. Der anstrengende Aufstieg erfährt Belohnung durch die Begegnung mit der Burgruine Bernstein, auf welcher „Les Amis du Bernstein“ ehrenamtlich am Werkeln sind. Die Geschichte der Burg, das entnehme ich aus einem Flyer, der im Burghof ausliegt, ähnelt der Geschichte der Burgen Zuhause in der Pfalz. Lediglich dass hier der Bischof von Straßburg Herr der Gegend gewesen und den geschichtlichen Werdegang bestimmt hat. Der Blick vom Bergfried gewährt mir eine schöne Aussicht auf die südliche Rheinebene. Das Dorf am Fuß des Burgberges ist Dambach-la-Ville. Dort unten weiß ich die eindrucksvolle Friedhofskapelle mit dem mit menschlichen Gebeinen gefüllten Karner. Annähernd eine Stunde hält mich das Burggemäuer in seinem Bann. Hier oben steht man geologisch betrachtet auf Urgestein, Gneis oder Granit. Es ist das Steinmaterial, das beim Bau der Burg Verwendung fand. Später wird mir dies bei der Burgruine Ortenberg, die mir nachfolgend unerwartet „über den Weg läuft“, auf einer Informationstafel bestätigt. Gegründet von Rudolf von Habsburg weist diese Burg eine spannende Konstruktion auf, die den Bergfried hinter die Ringmauer stellt. Das teilweise erhaltene Maßwerk der Fenster des Palas zeigt wundervolle gotische Formen, die ich mit der Kamera festhalte. Nur wenige Minuten weiter und einige Höhenmeter tiefer liegen die Reste der Burg Ramstein. Drei Burgen an einem einzigen Pilgertag, das ist “Rekord“!
Den Rest des Weges nach Chatenois (Keschdeholz) nehme ich über die Talstraße in Richtung Rheinebene, die in die Hauptverkehrsstraße einmündet. Im Centre Randoneur werde ich erwartet. Ich zahle 23,50 € mit Frühstück. Dieser günstige Preis wird erklärlich, da keine Bettlaken, kein Handtuch und keine Seife bereitgestellt werden. Aber ich bin dennoch sehr zufrieden, denn ich habe heißes Duschwasser und ich bin allein im Zimmer. Zum ersten Mal heißt es unterwegs: Wäschewaschen!
Ich denke an den nächsten Tag und besorge im Dorfladen etwas Essbares für den neuen Pilgertag. Dann aber knurrt mein Magen. Nun ja – ein Ei, eine Banane, eine halbe Tafel Schokolade, das ist nicht eben viel für einen anstrengenden Pilgertag, der mit 24,6 Kilometern und 600 Höhenmetern von der Outdoor-App dokumentiert wird. Ich fühle mich dennoch gut und bin zufrieden, weil mir der Tag den Besuch von drei Burgen geschenkt hat und weil die erste Pilgerwoche im Großen und Ganzen planmäßig verlaufen ist. Bis 19 Uhr muss ich Geduld haben und warten, bis das von mir ausgewählte Restaurant seine Tore öffnet. Die Auberge Alsacienne hat ein einladend gemütliches Ambiente. Es schmeckt gut und ich werde mehr als satt.
30. Mai: Im großen Speisesaal des Wanderheimes finden sich nur vier Personen zum Frühstück, allesamt männlichen Geschlechts. Dieses ist sehr schlicht, bringt aber doch die notwendige Energiezufuhr. Beim Start in den neuen Pilgertag ist der Himmel wolkenlos. Ein kühler Luftzug streift durch die Weinberge, die sich unmittelbar hinter Chatenois auftun. Dass ein munteres Auf und Ab auf mich wartet, ich hätte es nicht erneut erwähnen müssen.
Links zu meiner Gehrichtung liegen die Rheinebene und jenseits des Flusses der Kaiserstuhl und dahinter die Anhöhen des Südschwarzwaldes. Ich komme durch Kintzheim, Orschwiller, Saint Hyppolite. Dann stehen da wieder einmal zum Naschen einladende Kirschen am Wegrand, die zahlreich in meinem Mund verschwinden. Für weitere Baumfrüchte ist es noch zu früh. Nach ziemlich genau drei Stunden bin ich in Ribeauvillè, der viel besuchten – oder sollte man sagen von Touristen heimgesuchten Stadt. Es ist die Partnerstadt Landaus in der Pfalz. Ganz offensichtlich ist Christi Himmelfahrt auch im Elsass ein Feiertag, denn es sind nicht nur deutschsprachige Touristen in der Stadt.
Auf einer Bank vor dem Rathaus sitze ich und esse, was ich am Vortag eingekauft und im Rucksack mitgeschleppt habe. Ich rufe in Herxheim an, erreiche meine Schwester und berichte von unterwegs. Das „Vatertagsrennen“ auf der Sandbahn in Herxheim hat endlich wieder einmal passendes Wetter. Die mächtige Zuschauerkulisse, das Dröhnen der Motoren an der Startlinie, der Kampf um die beste Position in der ersten Kurve, der Geruch von Ethanol, das alles ist weit weg. Vor meinen Augen läuft eine andere Veranstaltung ab. Das bunte Volk der Touristen zieht an mir vorüber und liefert mir unfreiwillig Unterhaltung.