Rondo - Jürg Amann - E-Book

Rondo E-Book

Jürg Amann

4,7

Beschreibung

Dieser Band vereinigt eine Auswahl der besten Erzählungen des Schweizer Autors Jürg Amann. Herzstück ist die Titelerzählung Rondo, die 1982 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde und der von Seiten der Jury, allen voran von Marcel Reich-Ranicki, höchstes Lob zuteilwurde: die Geschichte über eine kranke Mutter und ihren Sohn, dargestellt in der klassischen Einheit von Raum und Zeit, ein Gleichnis für Werden und Vergehen, für Liebe und Tod.

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Seitenzahl: 182

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Jürg AmannRondo

Jürg Amann

Rondo

und andere ErzählungenHAYMON

© 2013HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

Originalausgabe: Arche Verlag AG, Zürich, Hamburg, 1996

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7314-1

Umschlag: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Inhalt

Rondo

Der Traum des Seiltänzers vom freien Fall

Die Baumschule

Die Brunnenentgifter

Tod Weidigs

Fort

Rondo

Und sei also auf seiner Flucht von zu Hause plötzlich wieder zu Hause gewesen. Sei wieder vor der Türe gestanden, von der er geglaubt gehabt habe, daß er sie endgültig und ein für allemal hinter sich zugemacht habe. Zugeworfen habe. Zugeschlagen habe. Habe geklingelt. Schreibt, ich habe geklingelt. Schreibt, ich bin wieder vor dieser Türe gestanden, vor dieser bekannten, mir zur Genüge bekannten Holztüre, die immer so schwer in den Angeln zu bewegen gewesen ist, zu schließen gewesen ist, aufzumachen gewesen ist. Schreibt, ich habe wieder geklingelt, habe wieder die Klingel gedrückt, auf diesen Knopf über dem Schild gedrückt, auf dem wie für die Ewigkeit unser Name eingraviert ist. Und habe darauf gewartet, daß mir die Mutter wieder die Türe aufmacht. Aber die Mutter machte die Türe nicht auf. Auch nach dem zweiten, auch nach dem dritten Klingeln noch nicht. Wie sehr ich auch an der Türe horchte, mich an die Türe preßte, mein Ohr an die Türe legte, kein Laut drang aus dem Innern des Hauses. Und von der Mutter, die immer die Zuflucht für ihn gewesen sei, sei nicht das geringste zu hören gewesen. So daß ich, schreibt er, nachdem ich noch mehrmals geläutet, in Wahrheit die Hand auf der Läute gelassen, sekundenlang, tatsächlich die längste Zeit Sturm geläutet hatte, hinter das Haus ging. Um unser Haus herum, das ein stattliches Haus ist, ein großes, zweistöckiges, gut gegen das Wetter geschütztes, auch gut über die Jahre gekommenes sogenanntes Kriegsjahrgangshaus. Durch unseren Garten, in dem ich immer so ungern gearbeitet hatte, Gras geschnitten, Sträucher geschnitten, Unkraut gejätet. Oder die Beeren gepflückt. Das Gras war geschnitten, das Unkraut gejätet, die Bäume und Sträucher waren von kundigen Händen gestutzt. Und zwischen den Sträuchern, am Abhang, blühten die Lilien. Er habe natürlich, bei diesem Wetter, bei diesem Sommer, bei diesem Sonnenschein, auf ein offenes Fenster gehofft. Aber die Fenster seien alle geschlossen gewesen, die Fensterläden von innen verriegelt, die Lamellen schräg gegen den Sommer und gegen die Sonne gestellt, die Vorhänge zugezogen. So daß nichts zu sehen gewesen sei als auf dem Glas die von den Lamellen gleichmäßig zerschnittenen und zerstückelten Bilder des Gartens. Und nichts zu hören als aus den Bäumen das sinnlose Pfeifen der Vögel. Und unter den Sohlen das Knirschen von Kies. Und an den Fensterläden das Aufschlagen der Steinchen, die er geworfen habe, gegen die Fenster im ersten Stock, hinter denen die Schlafzimmer lagen. Und das dumpfe Geräusch im Gras, wenn sie, ohne Wirkung, zurückfielen. Er sei wieder zurückgegangen, sei um die Ecke gebogen, kam vor das Haus. Da stand die Türe weit offen. Im Türrahmen, im Halbdunkel des Eingangs, im Rollstuhl die Mutter. Er schreibt, meine Mutter. Sie sei schwer in den Kissen gesessen, den Oberkörper nach vorne gebeugt, das Kinn auf der sich hebenden und senkenden Brust, die verkrümmten Hände an den Speichen der Räder. Sie habe ihn angeschaut. Sie habe ihn ausgeforscht. Obwohl von unten herauf, habe sie ihn von oben herab nicht aus den Augen gelassen. Langsam, ohne daß man die Bewegung wahrnehmen konnte, drehte sie an den Rädern. Langsam rollte sie rückwärts. Langsam verschwand sie im Dunkel des Hauses. Ich folgte, schreibt er. Ich grüßte. Sie wollte wissen, wo ich gewesen sei, schreibt er. Ich antwortete nicht. Statt dessen drückte ich mich an ihr vorbei, wobei ich sie, die mir den Weg abschnitt, die mir den Gang versperrte, beinahe umgestoßen hätte in ihrem Stuhl, rannte die Treppe hinauf, das Stiegenhaus hinauf, immer drei Tritte auf einmal, und in mein Zimmer, das noch immer als das Zimmer aus meiner Kindheit mitten im Haus lag. Das er noch immer, wann immer er daran denke, im stillen als sein Zimmer bezeichne. Auch wenn er auf der anderen Seite der Welt sei. In dem er sich also auch jetzt wieder sogleich verschanzt habe. Ich habe mich in meinem Zimmer vor meiner Mutter verschanzt, schreibt er, ich habe die Türe ins Schloß geworfen, ich habe den Schlüssel im Schloß gedreht, ich habe mich mit dem Rücken gegen die Türe gelehnt. Ich hielt mir die Ohren zu, schreibt er, aber natürlich hörte ich jedes Geräusch. Das Zimmer sei dunkel gewesen. Abgedunkelt, schreibt er, wie das ganze Haus, durch diese ständig geschlossenen Läden. Seit dem Beginn ihrer Krankheit habe die Mutter immer mehr angefangen, alles Licht aus dem Haus auszusperren, die Läden auch tagsüber geschlossen zu halten, sei sie immer mehr dazu übergegangen, keinen Unterschied mehr zu machen zwischen dem Tag und der Nacht, heute und morgen, Sommer und Winter. Immer dämmere sie, auch an den schönsten Tagen, auch in der heitersten Jahreszeit, nur vor sich hin. Einen Augenblick lang habe er in sich den selbstverständlichen Impuls gespürt, auf das Fenster zuzugehen, das Fenster zu öffnen, die Fensterflügel weit auseinanderzuschlagen und die Läden mit großer Kraft auf- und gegen die Hausmauer zu stoßen, die er übrigens noch vor wenigen Jahren selber gemalt habe, der Mutter zuliebe, um Geld einzusparen; aber im nächsten Augenblick habe ihm dazu die Kraft gefehlt. Mir hat die Kraft gefehlt, schreibt er, unerklärlich, unbegreiflich, auch für mich selber, sobald ich nicht in dem Haus bin, einfach die Kraft gefehlt, die es dazu gar nicht braucht. Natürlich rief sie nach mir. Ich gab keine Antwort. Natürlich sandte sie in regelmäßigen Abständen ihre Wehklagen aus. Ich ließ mich nicht rühren. Sie schrie. Ich blieb stumm. Zu gut kannte ich all diese Töne. Zu oft hatte sie mir mit dieser Tonleiter der Schmerzen schon in den Ohren gelegen. Inzwischen, schreibt er, habe er sich auch an das Dunkel wieder gewöhnt gehabt. Er sei von der Türe zurückgetreten, ins Innere des Zimmers hinein, habe sich auf das Bett gelegt, das mit frischem Bettzeug bezogen gewesen sei, er habe die Augen geschlossen. Von Zeit zu Zeit sei noch ein Schluchzen zu ihm herauf gedrungen. Dann sei es still geworden im Haus. Ich lag auf dem Rücken, schreibt er. Ich war müde. Ich hätte gerne geschlafen. Mit den Händen tastete ich, wie in den Kindheitsnächten, die Furchen der Wände ab. Ich spürte den Wunsch nachzugeben, nachzusehen stärker werden in mir. Die Augen aufzuschlagen, vom Bett aufzustehen, an die Türe zu gehen, nach ihr zu horchen. Hielt aber stand. Habe standgehalten, schreibt er, habe der Versuchung, wie sehr sie mich auch bedrängte, je länger es still blieb im Haus, je mehr Zeit verstrich, trotz allem nicht nachgegeben. Ich ging nicht zur Türe. Ich stand nicht auf. Ich hielt die Augen geschlossen. Gegen Abend sei plötzlich ein Schlag zu hören gewesen. Ein schwerer, harter Schlag. Dann wieder nichts. Dann drang ein Wimmern die Treppe herauf. Jetzt sei er aufgesprungen, schreibt er, als ob er nur auf das Zeichen gewartet hätte. Flog durch das Zimmer, drehte den Schlüssel im Schloß, war auf dem Flur, rannte hinunter. Da lag sie, die Mutter, am Fuß der Treppe. Und habe sich hilflos in sich zusammengekrümmt. Der Rollstuhl war umgekippt. Die Kissen begruben sie. Sie wollte zu Bett gebracht werden. Jetzt, schreibt er. Auf der Stelle, schreibt er, von mir, schreibt er, will sie zu Bett gebracht werden. Wo ist der Vater? frage ich, schreibt er. Fort, sagt die Mutter. Wie fort? frage ich, schreibt er. Im Bett, sagt die Mutter. Jetzt? frage ich, schreibt er, um diese Tageszeit schläft er? Er schläft doch immer, wenn ich ihn brauche, schreibt er, habe die Mutter gesagt. Und du weißt das. Trotzdem habe er nach seinem Vater gerufen. Trotzdem rief ich nach ihm, schreibt er. Vater! rief ich, wo bist du? Der Vater gab keine Antwort. Noch einmal, Vater, wo bist du, wo er denn sei, nichts, keine Erwiderung. Tatsächlich schien er zu schlafen. Er habe das ja gekannt, habe es aber immer wieder einfach nicht glauben können. Einfach nicht glauben wollen. Es war nicht zu fassen, schreibt er. Aber es war so. Es sei so gewesen. Er habe also der Mutter unter die Arme gegriffen, habe sie mühsam am Boden in eine sitzende Lage gebracht, habe sie aufgerichtet. Sie sei schwer gewesen, habe sich schwer gemacht, er habe ihr Gewicht unterschätzt, sei auf ihren heruntergekommenen Anblick hereingefallen. Aufgerichtet, schreibt er, war sie noch immer eine mächtige Frau. Obwohl sie den Kopf habe hängen lassen. Obwohl sie sich habe gehen lassen. Obwohl sie sich habe fallen lassen, immer wieder, in seine Arme. Er habe sie gegen die Wand gelehnt. Er habe die Krücken geholt. Er habe ja gewußt, wo sie sie immer versteckt gehabt habe. Da sei sie schon wieder zusammengesunken gewesen, von der Wand abgerutscht, ein Haufen Elend, am Boden. Sei auf dem Boden gesessen, mit hängenden Schultern, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Last, die sie sich selber gewesen sei, auf den Handballen abgestützt. Hilf mir, schreibt er, habe sie ihm befohlen. Halte mich, schreibt er, habe sie ihn gebeten. Ich kann allein nicht mehr stehen. Meine Beine tragen mich ja nicht mehr. Und dein Vater läßt mich im Stich. Aber er habe sie ja gehalten. Aber er habe ihr ja geholfen. Natürlich, habe er ihr gesagt, ich helfe dir ja. Ich lasse dich nicht im Stich. Du mußt dich nur festhalten an mir. Du mußt dich nur abstützen auf mich. Was kann denn geschehen? Und mit den Füßen habe er währenddessen die Kissen beiseite geräumt. Dem Rollstuhl habe er einen Tritt versetzt. Steh auf, schreibt er, habe er ihr gesagt. Daß sie jetzt aufstehen müsse, habe er von seiner Mutter verlangt. Und seine Mutter sei aufgestanden, schneller, als er es von ihr habe erwarten können, schneller und leichter, als er sich das jemals vorgestellt habe. Natürlich habe sich ihr Gesicht dabei zu einer einzigen Maske des Schmerzes, zu einer Schmerzensgrimasse verzerrt. Natürlich sei sie wieder in ihr ewiges Wimmern verfallen. Natürlich habe sie wieder Anstalten gemacht, vornüber zu kippen. Er habe ihr aber rasch die Krücken unter die Achseln geschoben, so daß sie plötzlich erstaunt ihm gegenüber gestanden sei. Laß mich nicht los, sagte sie, schreibt er. Aber er habe sie ja nur einen Augenblick lang losgelassen. Nur diesen Augenblick. Jetzt sprang er ihr wieder bei. Jetzt sei er ihr wieder beigesprungen, jetzt sei er ihr beigestanden, schreibt er. Ich half ihr die Treppe hinauf, so gut ich nur konnte. Blieb hinter ihr. Ging hinter ihr her. Langsam, geduldig, Stufe für Stufe. Schob. Bückte mich, hob ihre Beine, die einerseits abgemagert, andrerseits aber mit Wasser gefüllt waren, mit diesem typischen Altersbrand, eins nach dem andern, setzte ihr immer einen Fuß über den andern, stemmte gleichzeitig die Schultern gegen den hin und her schlagenden Leib, der immer wieder zurück, rücklings die Treppe herunter fallen wollte, der keine Knochen, der keine Muskeln, der kein Rückgrat zu haben schien, stützte sie in den Hüften, faßte sie in den Steiß, drückte sie, drängte sie aufwärts. Darüber, schreibt er, wurde es Nacht. Und er habe endlich, auf halber Höhe, in diesem zwielichtigen Haus das Licht anmachen dürfen. Sie habe ihm zugestimmt. Erschöpft habe sie mit dem Kopf genickt. Der Schweiß, vermischt mit Farbe, sei ihr aus den ermatteten Haaren über Stirne und Wangen den Hals herunter in ihre Kleider geflossen. Die Augen seien tief in den Höhlen gelegen. Die Frau, die seine Mutter gewesen sei, habe gekeucht und geschnauft. So daß ihr stoßweises Keuchen und Schnaufen doch endlich, dachte ich, schreibt er, den Vater hätte aufwecken müssen. Aber der Vater zeigte sich nicht. Der Vater dachte im Traum nicht daran, in Erscheinung zu treten. Ich kann nicht mehr, stieß die Mutter hervor. Du kannst, entgegnete ich. Es geht nicht, jammerte sie. Es geht, gab ich zur Antwort. Und so immer fort, schreibt er, und immer weiter, tief in die Nacht hinein, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, er wisse es nicht, er könne es nicht angeben, er habe, schreibt er, die Orientierung vollkommen verloren. Alles um ihn herum vollkommen vergessen. Aus dem Blick, aus den Augen gelassen. Endlich waren wir oben. Am Ende des Treppenhauses. Am Ende des Korridors. In ihrem Zimmer, das Wand an Wand neben dem meinen lag. Allein, schreibt er. Die Türe war hinter uns zugefallen. Er sei erschrocken. Er habe daran gedacht, wie er früher, als der Vater noch bei ihr geschlafen habe, vor zwanzig Jahren, manchmal Geräusche herüber habe dringen hören, durch die Mauer oder durch den nach beiden Seiten seine Warmluft durch verstellbare Klappen abgebenden Kamin, die wie das Weinen der Mutter geklungen hätten. Sie stand in der Mitte des Zimmers, das ihr Schlafgemach war, neben der Hälfte des Ehebetts, die ihr geblieben war, deren schwere, dunkle Holzumrandung noch immer alles beherrschte. In diesem Geviert, schreibt er, zwischen diesen Brettern war ich von ihr geboren worden. Mit den Füßen voran. Daran dachte ich jetzt. Das Bettzeug war aufgeschlagen, das Leintuch war schmutzig. Vertiefungen drückten den Körper ab, der hier sonst lag. Am Kopfkissen waren Spuren von Blut. Nasenblutenreste aller Wahrscheinlichkeit nach, vermischt mit verkrustetem Schleim. Ich hatte, schreibt er, mit einem in mir gegen die Mutterliebe aufkommenden Ekel zu kämpfen. Mit einem Abscheu. Mit einem Widerwillen, schreibt er, den er nur mit der größten Anstrengung vor der Mutter habe verborgen halten können. Die Luft sei stickig gewesen. Drückend und stumpf. Es habe nach Medikamenten gerochen. Nach Desinfektionsmitteln und Kampfer. Er sei fast zu Boden geschlagen worden von diesen Gerüchen, von dieser Luft. Schnurstracks sei er auf das Fenster zugegangen, das hier wie im ganzen Haus natürlich geschlossen gewesen sei, habe es aufsperren wollen, die Vorhänge zur Seite ziehen, die Fensterläden aufschlagen, die Nachtluft hereinlassen. Es war nicht erlaubt, schreibt er. Noch auf dem Weg dahin sei er durch einen Ruf der Mutter an seinem Vorhaben gehindert worden. Bleib stehen, rief sie. Er sei stehen geblieben. Die Fenster bleiben geschlossen. Hier muß aber wieder einmal gelüftet werden, sagte ich, schreibt er. Hier wird nicht gelüftet. Nicht, solange ich hier befehle, habe die Mutter gesagt. Weil sie sonst friere. Ich werde ersticken, schreibt er, habe er ihr geantwortet. Du wirst nicht ersticken, habe die Mutter gesagt, ich werde erfrieren. Er habe es aufgegeben. Es sei nichts zu machen gewesen. Er sei gegen die Mutter nicht angekommen. Dreh dich um, habe sie von ihm verlangt. Er habe sich umgedreht. Schau mich an, habe sie ihm befohlen. Er habe sie aber nicht angeschaut. Er habe zuerst auf den Boden, dann auf die Verbindungstüre zum Zimmer des Vaters gestarrt. Jetzt zieh mich aus, schreibt er, sagte die Mutter, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre. Allein kann ich das nämlich nicht mehr. Und dein Herr Vater zieht es ja vor zu träumen. Ich bin, schreibt er, vorwärts getaumelt, ein paar Schritte, dann wieder zurück, dann wieder vorwärts, haarscharf an ihr vorbei, an die Türe des Vaters. Dort blieb ich stehen, schreibt er. Ich stützte mich gegen die Wand. Ich legte das Ohr ans Holz. Ich horchte. Ich hörte, wie sich der Vater im Bett von der einen Seite auf die andere drehte. Er schnarchte, schreibt er. Tatsächlich schnarchte er. Tatsächlich, schreibt er, schlief er den Schlaf des Gerechten. Zieh mich aus, sagte die Mutter. Ich rüttelte an der Türe des Vaters, schreibt er, aber die Türe war abgeschlossen. Komm, sagte die Mutter, dein Vater will nicht gestört werden von uns. Ich drehte mich um. Ich hätte die Türe des Vaters einschlagen mögen, den Vater hätte ich schlagen mögen, seine Ausrede, die Schlafsucht, hätte ich mit den Fäusten aus seinem Kopf schlagen wollen. Statt dessen, schreibt er, half ich der Mutter still aus den Kleidern. Den Reißverschluß den Rücken herunter habe er aufgemacht. Das Häkchen an ihrem Kragen aufgehakt. Die Krücken, als sie sich rechts und links aus den Ärmeln herausgeschält habe, habe er ihr abwechslungsweise gehalten. Den Rock, aus dem sie mühsam und mit viel Umständen herausgestiegen sei, habe er vom Boden aufgehoben und in den von Röcken, die sie nie mehr getragen habe, so weit er sich zurück besinnen könne, überquellenden Schrank gehängt. Den Unterrock, der mit Spitzen besetzt gewesen sei, habe er ihr, während er gleichzeitig wieder die Stöcke habe halten müssen, über den Kopf und über die erhobenen Arme gezogen, dann auf das Bett geworfen. Zuletzt nahm ich die Halskette von ihrem Hals. Nackt sei sie vor ihm gestanden, schreibt er, nur noch mit Hose und Brustwehr bekleidet, in ihren Krückstöcken wie eine Gekreuzigte hängend. Er habe sich weggedreht, habe sich von ihr abgewendet, habe an ihr vorbeigeschaut, so gut er es gekonnt habe. Aber ich mußte ihr doch, schreibt er, das Nachthemd noch über die Schultern werfen und über die Arme und über die Krückstöcke herunterzerren und vorn, über der Brust und an den Handgelenken, nachdem sie dann in die Ärmel geschlüpft war und ich ihr die Krückstöcke unter dem Hemd hervorgeholt hatte, die Hemdknöpfe zuknöpfen. Und mußte sie an den Ellbogen fassen und sie an das Bett heran führen und ihr vor dem Bett die Krückstöcke abnehmen. Dabei, schreibt er, sei er natürlich wohl oder übel mit ihrer Wäsche auch in Berührung gekommen, die, wie er habe feststellen müssen, nicht die sauberste Wäsche gewesen sei, auch nicht die modischste Wäsche, das habe sich, schreibt er, nicht ganz vermeiden lassen. Die Mutter setzte sich auf den Bettrand. Stell doch die Stöcke weg, sagte sie, schreibt er. Ich lehnte die Stöcke gegen den Nachttisch. Siehst du die Salbe dort? fragte sie. Dort, auf dem Nachttisch? Diese hier? fragte ich. Die andere, sagte sie. Diese dort, diese. Aber der Nachttisch war voll von Dosen und Tuben und Flaschen. Wähl eine aus, sagte sie, es kommt auf die Hände an, nicht auf die Salbe. Ich nahm eine Tube in die Hand. Setz dich aufs Bett, sagte sie. Da, neben mich. Er habe sich neben sie auf die Bettkante gesetzt. Sie habe sich zur Seite gedreht. Ihm den Rücken entgegengewölbt. Reibe mich ein, habe sie ihm befohlen. Er habe sich Salbe auf die Handfläche gequetscht und sich, unter dem Filz ihrer Haare, an ihrem Nacken zu schaffen gemacht. Sie habe einen Schrei ausgestoßen. Tu ich dir weh? habe er sie gefragt. Es ist kalt, habe sie nur gesagt, aber es wird mich ja wärmen. Also habe er weitergemacht, schreibt er, habe er weiter gerieben. Tiefer, habe die Mutter gesagt. Er habe also, mit der Hand unter das Tuch des Nachthemds fahrend, tiefer gerieben. Knöpf mir das Nachthemd auf, leg mir die Schultern frei, reib mir den Rücken ein. Er habe ihr das Nachthemd aufgeknöpft, er habe ihr die Schultern freigelegt, er habe ihr die Schultern eingerieben. Warte, habe die Mutter gesagt, laß mich das Gestell ausziehen. Sie habe versucht, sich das Gestell auszuziehen, unter dem Hemd. Hilf mir doch, sagte sie, schreibt er, ich kann es nicht, ich habe keine Kraft in den Fingern. Er habe also an ihrem Gestell herumgenestelt, habe die Häftchen gelöst, habe die meterlangen Schnürsenkel durch die Ösen gezogen, habe endlich das Gestell unter dem Hemd auseinandergebrochen. Jetzt zieh es heraus, habe die Mutter gesagt. Er habe es also, ihr das Hemd fast zersprengend, herausgezogen. Nun ist es gut, sagte sie, schreibt er. Und das Gestell leg aufs Bett. Er habe das Gestell also aufs Bett gelegt. Und dann mach weiter, habe die Mutter gesagt. Er habe weitergemacht, habe ihr das Fett, von dem ein penetranter Geruch ausgegangen und ihm in die Nase gestiegen sei, in die vertrocknete, schlaffe, in leeren Beuteln herunterhängende Haut eingerieben. Tiefer, habe sie aber gesagt. Er habe tiefer gerieben. Tiefer, habe sie wieder gefordert. Er sei ihrer Aufforderung nachgekommen. Tiefer, befahl sie. Er habe tiefer und tiefer, vom Nacken über die Schultern den Rücken hinunter, gerieben, bis zu den Hüften, bis ans Gesäß. Während das Nachthemd, schreibt er, bis zu den Ellbogen gerutscht war. Nun ist es genug, sagte die Mutter. Nun ist es genug, sagte ich, schreibt er. Er sei aufgestanden, erschöpft, erledigt, ganz außer Atem gekommen, habe die leergepreßte Tube beiseite, zurück auf den Nachttisch gelegt. Habe um Luft gerungen. Sein Blick sei auf das leere Gestell gefallen, das neben dem dünnen Stoff des Unterrocks steif auf dem Bett gelegen habe. Das also trägt meine Mutter, dachte ich, schreibt er. Als ob sie gewußt habe, woran er denke, habe sie es aber mit einer schnellen Bewegung der Hand, zusammen mit dem Unterrock, zu Boden gefegt. Wo es nach zwei, drei Schaukelbewegungen als etwas ihm vollkommen Fremdes, Fremdartiges, Urzeitliches liegengeblieben sei. Dreh dich um, schreibt er, habe die Mutter gesagt. Aber bevor er es habe tun können, habe sie mit einem schnellen Griff unter das Nachthemd die Unterhose ausgezogen, habe sie die Unterhose unter dem Nachthemd hervorgezogen, über die Knie, über die Beine heruntergestreift, auf den Stuhl in der Ecke geworfen. Ein großes, weites, zerlumptes Stück Stoff, aus seiner Form gesprengt, an einem losen Gummiband aufgehängt, schreibt er, mit den bekannten Wasserrändern an den bekannten Stellen. Dann legt sie sich hin, schreibt er. Dann legt sie sich auf den Rücken. Ich, schreibt er, muß sie an ihren Beinen packen, die in den Stützstrümpfen stecken, und muß sie an ihren Beinen auf das Bett hinauf drehen. Ich tue es auch, schreibt er, ich packe sie an den Beinen und drehe sie ganz auf das Bett hinauf. Du mußt mir die Beine spreizen, sagt sie. Sie darf die Beine nicht mehr geschlossen halten. Ihre Gelenke ertragen die geschlossene Stellung nicht mehr. Ich spreize ihr also die Beine. Ich packe sie an den Knöcheln und lege die Füße weit auseinander. Zieh mir die Strümpfe aus, sagt sie. Und ich ziehe ihr also die Strümpfe aus. Diese dicken, elastischen Strümpfe, die bis über die Knie hinauf um ihre Beine herum wie Gummihäute gespannt sind. Ich stehe am Fußende des Bettes und beginne an diesen Strümpfen zu ziehen. Weiß aber nicht, wo ich beginnen soll. Soll ich der Mutter zwischen die Zehen greifen, soll ich versuchen, die Gummihaut an ihrem unteren Ende zu fassen, oder soll ich ihr gleich an die Schenkel, soll ich versuchen, die Haut oben, an ihrem oberen Ende, an ihrem Bund, mit den Fingern in sie hineinschlüpfend, zu fassen und umzustülpen und über sich selber, von oben nach unten, herabzuziehen? Beides versuche ich, eins nach dem andern, abwechslungsweise, immer von neuem. Greife hin, lasse fahren, greife von neuem hin. Aber die Strümpfe wollen nicht abgehen. Was ich auch immer versuche, ob mit der einen, ob mit der andern Methode, die Strümpfe gehen nicht ab. Rutschen nicht, lassen sich auch nicht umstülpen, entziehen sich meinem Griff. Au, schreit die Mutter. Du tust mir weh. Ich tue ihr weh. Ich tue der Mutter weh. Ich ziehe und zerre an ihr. Hänge an diesen Strümpfen, die ich ihr über die Füße ziehen will. Aber die Strümpfe geben nicht nach. Dehnen sich aus, ziehen sich in die Länge, lassen sich in die Länge ziehen, werden dünner und dünner, aber geben nicht nach. Aber ich gebe nach. Spüre, wie meine Kräfte nachlassen. Lehne mich gegen die Schwäche nach hinten. Stemme mich mit den Knien gegen die Bettlade. Aber mein Rumpf beugt sich nach vorne, wird über die Bettkante, über die Brüstung nach vorne gerissen, auf ihre Beine zu, auf die gespreizten Beine der Mutter zu, wenn ich nicht loslasse, wenn ich nicht auf der Stelle diese Stützstrümpfe loslasse, werde ich von diesen Stützstrümpfen zwischen die Beine der Mutter geschleudert, zwischen die offenen Beine der Mutter gerissen, ich spüre den immer stärker werdenden Zug, ich wehre mich noch, ich sträube mich noch, aber das Ende ist abzusehen, schon kommt es näher, kommt auf mich zu, mir schwindelt, schon wird es schwarz, schon wird es mir schwarz vor den Augen, ich sehe nicht hin, aber ich sehe es, aber ich sehe das Loch, aber ich sehe das schwarze Loch. Da werden die Knie weich, da lasse ich los, da schlage ich rücklings hin. Aber bevor mir die Augen zufallen, bevor mich die Ohnmacht befällt, bevor ich in das schwarze Loch hinab falle, sehe ich noch, wie die Mutter vom Bett aufspringt. Wie sie über mir steht. Wie sie sich über mich beugt. Als ich erwachte, schreibt er, lag ich auf meinem Bett, auf dem Rücken, mit einer Wolldecke zugedeckt. Neben mir, riesenhaft, auf ihre Krücken gestützt, den Morgenrock über die aufragenden Schultern geworfen, stand meine Mutter und schaute auf mich herab. Ich fühlte mich krank. Ich war geblendet. Das Sonnenlicht stach mir ins Auge, fiel durch die weit geöffneten Fenster ins Zimmer, lag hell auf den Wänden. Von draußen hörte man Vögel. Was ist geschehen? fragte ich, schreibt er. Nichts, sagte die Mutter. Nichts ist geschehen. Morgen ist es geworden. Aufstehen sollst du. Ich habe uns schon das Frühstück gemacht. Ich stand auf, schreibt er. Und wie ich aufstand, schreibt er. Schüttelte die Müdigkeit von mir ab. Schleuderte die Wolldecke weit von mir fort. Stieß die Mutter weit von mir weg. So daß ihre Krücken zu Boden krachten. Stürzte davon, schreibt er. Rannte die Treppe hinunter. Hätte beinahe den Vater, der im Schlafrock im Flur stand, über den Haufen gerannt. Riß die Haustüre auf. Schlug die Haustüre hinter mir zu. Sah mich nicht um, schreibt er. Floh, schreibt er. Und bin also auf meiner Flucht. Und sei also auf seiner Flucht von zu Hause plötzlich wieder zu Hause gewesen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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