Tod Weidigs - Jürg Amann - E-Book

Tod Weidigs E-Book

Jürg Amann

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Beschreibung

Dieser Band enthält acht Erzählungen: Tod Weidigs, Der Aufenthalt, Ist dieser dunkle Raum die Welt, Die Brunnenentgifter, Die Zerstückelung, Der Tunnel, Nachruf, An der Ruhe gemalt.

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Jürg Amann

Tod Weidigs

Acht ErzählungenHAYMON

© 2013

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Originalausgabe: R. Piper GmbH & Co. KG, München, 1989

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7319-6

Umschlag: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Für S.

Tod Weidigs

Da steht also, Herr Präsident, dieser Herr Preuninger vor meinem Tisch und erstattet Bericht, weil er glaubt, daß da etwas nicht rechtens. Also nicht ganz mit rechten Dingen, sagt er. Zugegangen sei. Er weiß jetzt nicht mehr genau, wann oder wo es gewesen ist. Zu lange ist es schon her, zu viel Gras ist seither wieder gewachsen, und die Ereignisse beginnen sich ja auf der ganzen Welt so erschreckend zu gleichen. Aber mir ist natürlich klar, er meint den Fall Weidig. Aufgrund dieser neuesten Vorkommnisse fühlt er sich wieder daran erinnert. Die Parallelen, sagt er. Mir sind natürlich diese uns allen unangenehmen Gerüchte, auf die er Bezug nimmt, bekannt. Jedenfalls hat ihn das, was davon an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Und das ist, wie wir wissen, mehr als gut ist, mehr als uns lieb sein kann. Zu mir getrieben. Den Fall Weidig will er also aufrollen vor mir. Und da ich gerade Zeit habe, und da ich denke, es ist vielleicht besser, er sagt es mir, als er sagt es dann jemand anderem, höre ich ihn also an. Nehmen Sie Platz, sage ich. Und Herr Preuninger, etwas verwirrt, übrigens längst pensioniert und vorzeitig aus dem Wachdienst entlassen, aus Gründen, die man sich denken kann, inzwischen auch sehr in die Jahre gekommen, nimmt mir gegenüber, in der Ecke, vor meinem Schreibtisch Platz. An dem ich mich, der Form halber und aus Verlegenheit, etwas zu schaffen mache. Ich weiß ja, was kommt. Ich habe die Akte im Kopf. Es ist, weiß Gott, nicht das erstemal, daß mir so ein Herr Preuninger an diesem Tisch gegenübersitzt. Auf dem ich ein paar Papierstöße von oben bis unten umkremple. Von dem ich ein paar Ordner aufhebe, um sie zu meiner Seite, wo sie eigentlich hingehören, in das Regal zu schieben. Sie kennen ja mein Büro, in dem alles von Akten überquillt. Von diesen über die Jahrhunderte weiter verschleppten, immer offenen, nie zu beschließenden Akten. Es ist ein Wahnsinn. Man müßte den Mut haben, tabula rasa zu machen. Alles weg. Alles verbrennen. Das nur nebenbei. In eines dieser zimmerhohen Regale, die sich auf allen Seiten über mir türmen. Die sich gefährlich biegen. Die einen gefährlichen Hang zur Mitte haben. Wo ich aber sitze. Unter der Lampe. Ich fordere ihn auf zu reden, aber er redet ja ohnehin. Um zu reden, ist er ja da. Er hat schon zu lange geschwiegen, es muß jetzt etwas vom Herzen. Ein Stein, sagt er, muß jetzt vom Herzen. Und er fragt mich, erinnern Sie sich an Weidig? Schwach, sage ich. Friedrich Ludwig Weidig, sagt er. Geboren dann und dann, gestorben dort und dort. Das will ihm jetzt nicht mehr einfallen. Vielleicht später. Rektor, Pfarrer, Doktor der Theologie. Entfernt, sage ich. Kann sein. In irgendeiner verlegten Erinnerung kommt er noch vor. Und ich mache, um das zu illustrieren, eine kreisende Handbewegung in Richtung der Akten. Bevor ich die Hand wieder sinken lasse, zur andern, die auf dem Tisch liegt. Also er, sagt er, hat das Gefühl, daß er es irgendwem schuldig ist, daß er jetzt auspackt. Auspackt, sagt er. Schuldig, sagt er. Wem, sagt er nicht. Vielleicht ist es auch nur eine Redensart. Aber irgendwen interessiert das, davon ist er fest überzeugt. Davon versucht er auch mich jetzt zu überzeugen. Aber leider bin ich davon ja längst überzeugt. Er ist doch, sagt er, damals unter mysteriösen Umständen. Unter mysteriösen Umständen, sagt er, Herr Präsident. Jedenfalls ist die Art und Weise nie ganz abgeklärt worden. In seiner Zelle, in der er wegen des Verdachts auf Aufruhr gegen den Staat. Der übrigens niemals, wie wir ja wissen, Herr Präsident. Leider, füge ich hinzu, leider. Restlos bestätigt worden ist. So daß keinerlei Zweifel mehr. Schon an die zwei Jahre eingesessen ist. In Untersuchungshaft umgekommen. Dieses Wort verwendet Herr Preuninger. Es ist hart, aber er glaubt, es ist wahr. Weil er von der Kanzel herunter dem Volk die Demokratie gepredigt hat. Weil er mit andern zusammen auf Flugblättern seine Meinung über die Herrschafts- und Besitzverhältnisse in Umlauf gebracht hat. Weil er geheimes Mitglied einer Gesellschaft für Menschenrechte gewesen ist. Weil er die Jugend zur kritischen Haltung verführt hat. Lächerlich, sagt Preuninger. Aber das ist ihm ja alles dann, sagt er, jahrelang vorgehalten worden, von Verhör zu Verhör. Aber Verhör ist ja ein Kosename dafür, sagt Preuninger. Vorgehalten, vorgelesen, vorgerechnet. Und weil er, auch durch die schärfsten Drohungen, selbst durch seine Verbannung in die Provinz, niemals zum Schweigen zu bringen gewesen ist. Weil er alles immer geleugnet hat. Alles immer bis auf das letzte Komma bestritten. Hat man ihm einen Zeugen gegenübergestellt, hat er geleugnet, daß er ihn kennt. Hat man ihm eigene Aussagen vorgehalten, hat er bestritten, daß sie auch nur im geringsten mit ihm etwas zu tun haben. Hat man ihm Protokolle zur Unterschrift unterbreitet, hat er gelacht und ihnen die Anerkennung verweigert. Seinen Richter hat er für befangen erklärt. Er hat das ja alles, sagt Preuninger, als sein Wärter aus nächster Nähe erlebt. Während er den Stuhl hinter sich wegstößt und aufsteht und über mir steht, vor meinem Tisch. Obwohl ein uralter Mann, und gebrochen, er selbst kann sein Alter nicht angeben, macht er von meinem Angebot, sich wieder zu setzen, keinen Gebrauch. Behalten Sie Platz, sage ich. Aber er bleibt vor mir stehen. Er hat ja bei all den Verhandlungen auch stehen müssen. Neben ihm stehen, hinter ihm stehen, wie es der Richter von ihm verlangt hat. Der Richter, sagt er immer, mit starker Betonung, als ob er der Hinrichter sagen wollte. Aber er meint natürlich den Untersuchungsrichter. Georgi mit Namen, Sie werden ihn kennen. Sein Name wird schon an Ihre Ohren gedrungen sein. Seine Untersuchungsmethoden sind ja auch in den eigenen Reihen nicht immer ganz unwidersprochen geblieben. Ihn in die Rippen stoßen. Ihn in die Beine treten. Ihn in den Nacken schlagen. Immer auf Befehl dieses Richters, sagt Preuninger. Handschellen an- und ablegen. Fußschellen an- und ablegen. Wandspangen an- und ablegen. An die Ketten schließen. In den Sprenger schließen. Kurz schließen. Damit meint er Hände und Füße. Die Hände an die Füße schließen. Einfach oder übers Kreuz. Die linke Hand an den rechten Fuß, die rechte Hand an den linken Fuß. Stundenlang, tagelang, wochenlang. Alles nicht sehr lustige Dinge, sagt Preuninger. Aus der Nähe gesehen. Er ist ja in gewisser Weise sein Schützling gewesen. In gewisser Weise, sagt er, fühlt er sich für ihn ja verantwortlich. Jawohl, ich habe ihm auch den Farrenschwanz übergezogen. Und den Ochsenziemer. Obwohl es verboten gewesen ist. Jawohl, die Körperstrafe hat stattgefunden. Zehn Schläge, zwanzig Schläge, dreißig Schläge, ad libitum. Über den Rücken, auf das Gesäß, unter die Füße. Der Richter hat dafür extra die Erlaubnis der höchsten Instanz einholen müssen. Und sie natürlich gar nicht bekommen. Es ist empörend, sagt Preuninger. Ich ziehe ihn aus und lege ihn über den Bock und halte ihn fest. Und mein Kollege Wolf führt den Ochsenziemer. Mein Kollege Wolf zieht ihn aus, legt ihn über den Bock, hält ihn fest. Ich führe den Farrenschwanz. So hin und her. So über Jahr und Tag. Abwechslungsweise. Wir rufen uns zu. Wir muntern uns auf. Wir feuern uns an. Ein tristes Geschäft. Man kann es sich denken. Nur unser Opfer lacht. Lächelt uns ins Gesicht. Wir kennen ja dieses höhnische, staatszersetzende Lachen. Nicht wahr, Herr Präsident. Aber uns ist nicht zum Lachen, sagt Preuninger, wir tun ja an ihm unsere Pflicht. Diese verdammte Pflicht. Plötzlich sind sie zu zweit. Plötzlich sehe ich neben Preuninger auch diesen Wolf. Ein schmächtiger, ausgehungerter, schüchterner Mensch. Preuninger spricht, Wolf nickt. Bestätigt mit seinem Nicken alles, was Preuninger sagt. Aber Wolf ist natürlich gar nicht da. Wolf sehe ich nur, weil Preuninger ihn erwähnt. Und Preuninger gibt also zu Protokoll, wie er an diesem unseligen Morgen in Weidigs Zelle gekommen ist. Unselig, sagt er. Es muß Februar gewesen sein. Oder Oktober. Jedenfalls kalt. Jedenfalls Winter. Jedenfalls kommt er in der Früh um halb acht von seiner Wohnung am Stadtrand, wo seine Frau noch schläft, vor das Arresthaus, das in der Mitte der Stadt liegt, neben dem Rathaus, in unmittelbarer Nähe der Kirche und des Militärlazaretts, und geht, wegen der klirrenden Kälte, auch sogleich, eher zu früh als zu spät, hinein. Und geht in die Wachstube, wo er für sich und den Häftling, der ihm anvertraut ist, das einfache Frühstück macht, bestehend aus Brot und Kaffee, das hier für alle das übliche ist. Er ist noch allein im Haus. Es ist still. Die Nachtschicht, nachdem sie an ihn übergeben hat, ist jetzt gegangen. Die Häftlinge scheinen zu schlafen. Kein Laut dringt durch die dicken Wände und Dekken zu ihm. Er gibt sich das Brot in die Kachel, gießt sich die Brühe darüber, löffelt und schlürft seinen Kaffee. Bevor er zu Weidig hinuntergeht, die paar Stufen ins Untergeschoß, wo dieser untergebracht ist, halb unter dem Boden, in seiner eisigen Zelle, mit einem Fenster hoch oben unter der Decke, zum Hof. Da will er das andere Frühstück jetzt hinbringen, die andere Kachel, das andere Brot. Vermittels der schweren Schlüssel an seinem Bund bahnt er sich seinen Weg durch die Gänge zu ihm. Er schaut durch den Schieber, einmal, zweimal, um sicher zu sein. Weidig schläft noch. Liegt auf dem Rücken auf seiner Pritsche und schläft. So jedenfalls sieht es aus, sagt Preuninger. So jedenfalls macht es von der Tür aus den Anschein. Es muß ein schwerer Schlaf sein, in dem der da liegt. Er sieht, wie sich die Brust stoßweise hebt und senkt. Er schließt auf. Er öffnet die Türe. Er geht ein paar Schritte hinein, auf den Schlafenden zu. Weidig, ruft er, sagt Preuninger, Ihr Frühstück. Und er will noch etwas Gescheites über die Morgenstunde hinzufügen. Aber da hält er in der Bewegung inne und den Morgenspruch setzt er aus. Denn der da drinnen ist ja schon wach. Dem stehen die Augen weit offen. Der schläft mit offenen Augen. Und daß er sieht, wie ihm bei jedem Atemzug oder Atemstoß. Atemstoß, sagt Preuninger. Blut aus den Mundecken fließt. Und durch die Barthaare, die den Hals ganz verdecken, herabsickert. Und dann heruntertropft, durch die Latten der Schlafpritsche hindurch, auf den Steinboden.Tatsächlich, sagt Preuninger, ist ja, das sieht er erst jetzt, um diesen ganzen Weidig herum auf dem Steinboden Blut. Blutstropfen tropfen in Blutlachen hinein, die schon halb gestockt sind, halb schwarz, halb vertrocknet. Weidig, sagt Preuninger, ruft er, Weidig, noch einmal, lauter. Aber Weidig gibt keine Antwort. Weidig liegt da, auf dem Rücken, mit gefalteten Händen, in Nachthemd und Schlafwams, und stößt röchelnd die Luft in blutigen Blasen aus sich heraus. Was ist denn, sagt Preuninger, ruft er. Herr Weidig! Und läßt alles stehen und liegen und rennt aus der Zelle und vergißt die Zellentür zuzumachen und abzuschließen und rennt die paar Stufen wieder hinauf und durch den Gang in die Wachstube, wo noch der Rest des Kaffees dampft, und hofft, seinen Kollegen dort anzutreffen, aber Wolf kommt heute erst später, und rennt weiter, in die Amtsstube des Richters, aber Georgi ist noch nicht da, und ruft durch das Haus und rennt auf die Straße und will dem Richter entgegen, aber in der Aufregung fällt ihm nicht ein, aus welcher Richtung der Richter kommt, und rennt zurück in die Amtsstube des Richters und wirft sich auf einen Stuhl und steht wieder auf und wirft sich erneut auf den Stuhl, und Punkt acht tritt Georgi herein. Herr Richter, schreit er, sagt Preuninger, Herr Weidig! Und wirft ihm entgegen, was er gesehen hat. Er hat alles so deutlich vor sich, sagt Preuninger, als stünde er jetzt vor Georgi, als wäre das alles jetzt, als geschähe das alles noch immer. Er bringt diese Bilder nicht aus dem Kopf. Er ist diese Bilder seit diesem unseligen Tag nicht mehr losgeworden. Und gibt also dem Richter jetzt ein Bild von der Lage in seinem Gefängnis. Er rapportiert. Er hat das ja einmal gelernt. Und der Richter nimmt seine Aussage auch zu den Akten, während er seinen Mantel auszieht, von dem er etwas Schnee abschüttelt, und über den Ofen hängt, den die Nachtschicht für ihn am Glühen gehalten hat, und mit den schneenassen Schuhen in seine Überzieher hineinschlüpft. Sagt, daß er glaubt, daß Pfarrer Weidig. Sich den Hals durchgeschnitten hat. Jawohl, sagt Preuninger, das habe ich damals wirklich geglaubt. Es hat auf ihn diesen Eindruck gemacht. Er weiß jetzt nicht mehr, hat er, als er das vor dem Georgi herausgewürgt hat, laut geschrien oder hat er nur still vor sich hin geweint. Er muß aber, denkt er, geschrien haben, denn der Richter, den seine Meldung nicht sehr beeindruckt, mahnt ihn zur Ruhe. Bringen Sie mich zu der Leiche, sagt er. Aber es ist ja, sagt Preuninger, noch gar keine Leiche, und er hat das auch gegenüber dem Richter gar nicht behauptet. Und geht dann mit ihm, und in Begleitung der Beamten Weber und Scharmann, die auch grade eintreffen, in die fragliche Zelle hinunter. Das gleiche schreckliche Bild, das er im Kopf hat. Die gleichen schrecklichen Zeichen. Nichts hat sich verändert. Weidig in seinem Bett. Schlecht zugedeckt. Die Gebeine zu sehen. Gebeine, sagt Preuninger. Denn Weidig ist ja im Lauf der zwei Jahre, in der Zeit seiner Haft, bis auf die Knochen gemagert. Aber er meint natürlich die Beine. Die Hände gefaltet und auf der Decke aufliegend. Große, schmale, schön gestaltete Hände. Das fällt ihm noch auf, inmitten des Schreckens. Die offenen Augen, die tief in den Höhlen liegen. Das stoßweise, keuchende Atmen. Das Blut, das aus ihm herausrinnt. Alles wie vorher. Alles wie vor einer halben Stunde, denn eine halbe Stunde ist seither vergangen. Nur daß da jetzt noch viel mehr Blut. Und daß dieses Blut jetzt noch an viel mehr Stellen. Und schwärzer. Und daß das jetzt alles besser zu sehen ist, weil das Morgenlicht durch das hoch oben in die Wand gelassene Fenster hereindringt. Ein Blutbad, sagt Preuninger, er hat vordem gar nicht gewußt, was das ist. Aber den Richter beeindruckt das nicht. Er geht zweimal um Weidig herum und läßt ihn durch Scharmann auch anstoßen, aber als er nicht antwortet, geht er mit dem ganzen Gefolge aus der Zelle gleich wieder hinaus und läßt sie durch Preuninger wieder verschließen. Einen Arzt, sagt er. Holen Sie Graff oder Stegmayer. Schon auf der Treppe, schon auf dem Weg zu seiner Stube. Und übergibt im übrigen das weitere Vorgehen in dieser Sache an Weber. Er rennt also nun nach dem Arzt. Nach diesem Graff. Ausgerechnet zu diesem Graff wird er geschickt, der doch am andern Ende der Stadt wohnt. Am anderen Ende der Welt. Und den Kollegen Wolf, der nun auch da ist, dem er noch vor dem Arresthaus im Hof begegnet, schickt er, um doppelt zu nähen, was ihm in so einem Fall nötig erscheint, in die entgegengesetzte Richtung, nachdem er ihn kurz informiert hat, mit dem genau gleichen Auftrag zu Stegmayer. Dabei ist doch das Militärlazarett direkt neben dem Amtsgericht. Also gleich um die Ecke. Und voll von Ärzten, die schnell bei der Hand wären. Das weiß er. Und Wolf hat ihm diesen Vorhalt ja auch gemacht. Aber Befehl ist Befehl, sagt Preuninger, denkt er. Und daß Georgi schon wissen wird, was er tut. Warum er ausgerechnet Graff oder Stegmayer will. Und rennt also durch die noch fast leere Stadt, in der frischer Schnee liegt. Es ist ja keine Minute mehr zu verlieren, wenn dieser Weidig nun nicht verrecken soll. Verrecken, das ist nicht mein Wort, Preuninger braucht es. Aber er weiß, was er sagt. Man darf diesen Weidig doch nicht einfach so verrecken lassen. Und wenn er, ruft er, hundertmal ein Revolutionär ist. Hundertmal ein Verbrecher gegen den Staat. Was aber nicht einmal feststeht. Der Prozeß gegen ihn ist noch gar nicht eröffnet. Das Verfahren stockt, seit es geführt wird. Das Verfahren kommt gar nicht vom Fleck. Es ist nicht das geringste bewiesen. Lauter Verdächtigungen, sagt Preuninger, kaum ein Indiz. Er ist ja bei den Verhören immer dabei. Ihm macht man nichts vor. Blöd ist er nicht. Er ist jetzt ganz außer Atem. Aber der Arzt, nach dem er geschickt wird, ist nicht zu Hause. Er rennt also weiter, dahin, wohin der Arzt gerade gegangen ist. Das wird ihm gesagt. Aber da ist er inzwischen ja auch schon nicht mehr. So noch ein paarmal. Wenn er hinkommt, ist der Arzt gerade gegangen. Und Wolf ergeht es nicht anders. Aber das weiß er ja nicht. Er denkt ja, sagt Preuninger, daß sein Kollege schon längst. Und die Ärzte vom Militärlazarett werden doch auch. Also die Erste Hilfe ist ja ganz sicher inzwischen geleistet. So daß er im Laufen so kreuz und quer durch die Stadt ein wenig nachläßt. Das macht ihm ja doch zu schaffen. Der Jüngste ist er nicht mehr. Und die Luft an diesem Morgen ist so kalt, daß sie in seine Lungen zu schneiden beginnt. So vergeht natürlich die Zeit. Und als sie beide, Wolf und er, mit ihren Ärzten, die nun gefunden sind, er weiß nicht mehr wie, endlich zurückkommen, ist es schon zehn. Und bis dann der Richter die Ärzte auch noch informiert und instruiert und bei einer Tasse Kaffee in ihre inzwischen ganz zweifelhaft gewordenen Obliegenheiten eingeführt hat. Warum er sie nämlich hat rufen lassen. Dabei haben er und Wolf doch, sagt Preuninger, das alles schon unterwegs getan. Verstreichen nochmals gut fünfzehn Minuten. So daß, als sie nun endlich alle unten in Weidigs Zelle sind, Graff, Stegmayer, Weber und Scharmann, Wolf, Preuninger, Georgi nicht, Georgi bleibt in der Stube, wenigstens zweieinhalb Stunden seit seiner Entdeckung vergangen sind. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, sagt Preuninger. Es ist eine Bodenlosigkeit. Es ist eine menschliche und staatspolitische Perfidie ohnegleichen. Preuninger, der bleich im Gesicht ist, braucht jetzt die härtesten Worte, die ihm zu so etwas einfallen. Und der Verwundete, bei dem, wie er jetzt sieht, in der Zwischenzeit keiner gewesen ist, um den sich jedenfalls keiner gekümmert hat, dem keiner die nötige Hilfe geleistet hat, ist jetzt schon fast tot. Ausgelaufen, sagt Preuninger. Verblutet natürlich, Herr Präsident, so haben wir es in unseren Akten. Und deutet nur einmal noch schwach mit der Hand nach der Wand. Zu der eine Blutspur hinüberführt. Auf der etwas mit Blut Geschriebenes steht. Dieses Bekannte, das dann ja alles erklären soll. Bevor er die Hand sinken läßt. Und sich ein wenig zur linken Seite dreht. Und also stirbt. Und also tot ist, sagt Preuninger. Und weint. Und läßt sich vor meinen Augen gehen. Aber er ist nicht zum Weinen gekommen. Sein Weinen hilft niemandem mehr. Sein Zorn auch nicht. Er faßt sich. Er reißt sich zusammen. Reden will er. Gerechtigkeit will er. Aufgeklärt haben will er den Fall. Was er weiß, muß auf den Tisch. Er hat lange genug geschwiegen. Was soll man denn davon halten, fragt er, daß ein Mensch um halb acht Uhr morgens in seinem Blut liegend, sonst aber lebendig, aufgefunden wird, in einer Stadt, in der es von Ärzten wimmelt, noch dazu in nächster Nähe des Lazaretts, in welchem es jedenfalls vom Staat angestellte und zur sofortigen Hilfe verpflichtete Mediziner in Menge gibt, und erst nach zweieinhalb Stunden und also zu spät, um Hilfe zu leisten, wird Hilfe geleistet? Eine Frage, die nicht gestellt wird. Eine Frage, die gar nicht gestellt werden darf. Die Spuren, sagt er, werden jetzt aufgenommen. Nach der Wunde wird endlich gesucht. Das Instrument wird endlich gefunden, mit dem sie beigefügt worden sein muß. Es ist eine Glasscherbe, sagt Preuninger, vermutlich. Jedenfalls liegt eine Glasscherbe am Kopfende des Bettes neben der Leiche. Es ist ja jetzt eine Leiche. Groß, grün, sagt er, blutig. Wir haben das alles natürlich im Protokoll. Aber wie kommt die da hin? Die Wunde ist eine Halswunde. Schrecklich, sagt Preuninger. Die man jetzt sieht, weil man den Kinnbart entfernt. Quer durch die Kehle. Schrecklich aufklaffend. Schrecklich weiß, weil ja kein Blut mehr herausdrückt. Weil in diesem Weidig jetzt gar nichts mehr drin ist. Weil er jetzt leer ist. Schrecklich offen und tief und alt. Ein zahnloser zweiter Mund. Den man nun schließt, mit etwas Mull. Und der Körper ganz blau, ganz vernarbt, ganz zerschunden. Häßliche lange und breite Striemen. Über Brust und Rücken, Lenden, Gesäß und Beine. Er weiß ja, woher das kommt. Er selber, zusammen mit Wolf, hat sie ihm beigebracht. Das gibt er ja zu. Und dafür ist er ja dann. Wie wir wissen. Entlassen worden. Unfaßbar. Unerträglich. Zum Glück sind die Augen jetzt zu. Und das Lächeln ist einem anderen Lächeln gewichen. So daß man fast glauben könnte, sagt Preuninger. Wenn man ein religiöser Mensch wäre. Aber er sagt dann nicht, was. Und am Boden das Blut. All das Blut dieses Weidig. Es hat ihm ja keiner sein Blut gestillt. Dunkle Lachen. Schwarze Flecken. Gestockter Fluß. Und die Blutspuren hinüber zur Wand, die später als Weidigs eigene Spuren in die Papiere genommen werden. Sie kennen die Akte, Herr Präsident. Aber wer sagt das? fragt Preuninger. Wer will denn das eigentlich wissen? Die kann doch ebensogut ein ganz anderer. Nichts leichter als das. Das braucht man doch niemandem vorzumachen. Da muß doch nur einer die Schuhe ausziehen und die Socken ausziehen und barfuß in eine der Blutlachen beim Bett hineintreten und dann durch die Zelle gehen, hinüber zur fraglichen Wand, auf der diese Schrift, und wieder zurück. Und dann die Socken wieder anziehen und die Schuhe wieder anziehen und gehen. Als ob nichts gewesen wäre. Und irgendwo dann, irgendwann, wenn keiner ihn sieht, seine Füße in Unschuld waschen. All das ist ja nie untersucht oder gar abgeklärt worden, sagt Preuninger. Dieser Möglichkeit ist man nicht einmal nachgegangen. Die Selbstmordtheorie steht bei allen schon fest, bevor die Untersuchung beginnt. Das ist doch auffällig, sagt Preuninger. Jedenfalls ist aber an Weidigs Füßen, da hat er recht, tatsächlich auch gar kein Blut festgestellt worden. Auch keine Kruste. Auch keine Blutasche. Und in der ganzen Zelle kein in Frage kommendes Tuch, an dem es hätte abgewischt werden können. Leider, Herr Präsident. Aber inzwischen, nach den vergleichbaren Vorfällen in jüngster Zeit, ist ja bekannt, daß gewisse Menschen zu allem, und sei es zum scheinbar Unmöglichen, fähig sind, wenn es darum geht, diesen Staat und seine Moral durch einen bösartig auf ihn gelenkten Verdacht zu unterminieren. Das will ich Preuninger sagen. Aber warum hätte er dann, fragt er mich, wenn er den Staat, also den Rechtsstaat, hätte verhöhnen wollen und unmöglich machen und an den Rand bringen mit seinem Tod, warum hätte er dann gewollt, daß er als Freitod erscheint? Durch eigenes Zutun? Von eigener Hand, mit eigenem Blut an die Wand geschmiert? Spricht das nicht alles gerade dagegen? fragt Preuninger. Dagegen, daß er sich selbst? Und ich weiß darauf natürlich auch keine Antwort. Er hat ja recht, denke ich. Auf keinen Fall unrecht. Denn da steht ja tatsächlich noch diese Schrift an der Wand. Unübersehbar. Diese blutige Inschrift. Die dann Berühmtheit erlangt hat. Die scheinbar alles sagt, sagt Preuninger, die aber in Wirklichkeit nichts sagt. Oder schreiben Sie, fragt er mich, weil Ihnen eines Tages einfällt, daß Sie sterben werden, an eine Wand, daß Sie sterben? , was soll denn das heißen? Was soll denn mit diesen zwei Worten bewiesen sein? Warum sollte ich das, was jeder dann sehen kann, im voraus erklären? Wird es nicht ohnehin klar sein? Und spricht nicht gerade der Umstand, daß das Klare noch deklariert wird, dagegen, daß es so klar ist? Fragen, die auf der Hand liegen, die aber sonst keiner stellt. Hat da nicht jemand, sagt Preuninger, alles ein wenig zu klar gemacht? Zu deutlich? Zu augenscheinlich? Angenommen, sagt er, er will aus der Welt. Dieser Weidig will also freiwillig sterben. Aus Gründen, die übrigens einsichtig sind. Oder hätten Sie, fragt er, Lust, so zu leben, wie er gelebt hat? Ich jedenfalls nicht, sagt er. Warum sollte er glauben, daß die Welt es nicht glaubt? Warum sollte ausgerechnet er selbst der Welt den Beweis? Das ist doch keinesfalls zu verstehen. Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Kein Motiv. Keinen Anlaß. Oder wie sehen Sie das? Und ich kann das nun in der Tat auch nicht mehr anders sehen. Preuninger schaut mich erwartungsvoll an. Ich muß ihm ja recht geben. An dem, was er sagt, ist, wenn man es einmal in Ruhe und aus der Distanz der Jahre betrachtet, durchaus etwas Wahres. Aber natürlich sage ich nichts. Und daß er, sagt Preuninger, bevor er dann stirbt, noch mit der Hand auf die Wand zeigt, kann nichts oder alles bedeuten. Oder etwa nicht? Oder ist das alles ganz falsch, was ich sage? Sagen Sie es mir. Sagen Sie etwas. Sagen Sie doch endlich auch einmal etwas dazu. Er ist jetzt erschöpft. Und kann dann auf meine Frage auch nicht mehr angeben, ob diese fragliche Schrift dort von Anfang an, also schon um halb acht, als er gekommen ist, oder erst später, also um zehn, als er mit dem Arzt wiedergekommen ist, an der Wand gestanden hat. Zu weit ist das alles jetzt doch von ihm entfernt. Zu lang ist das alles doch her. Aber natürlich hat er vollkommen recht: es muß endlich aufgeklärt werden.

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