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Sommerglück in Creek
Die Rose Creek Ranch der Familie Ashburn steht vor dem finanziellen Ruin. Die älteste Tochter Emily und ihr Vater TJ müssen die angeschlagene Pferdezucht wieder rentabel machen, doch das ist leichter gesagt, als getan. TJs und Emilys Ansichten sind grundverschieden. Emilys jüngere Schwester Josie hat andere Sorgen. Sie trauert ihrer Karriere als Country-Pop-Star hinterher und greift aus Frust immer öfter zur Flasche. Eines Abends, als Emily die betrunkene Josie mal wieder aus der örtlichen Bar abholen muss, kommt ihr unverhofft ein Fremder zur Hilfe: Ryan Belford. Die Anziehung zwischen den beiden ist greifbar, doch der neue Tierarzt ist sehr verschwiegen, wenn es um seine Vergangenheit geht. Und je mehr Emily Ryan verfällt, desto deutlicher wird: Er hat ein dunkles Geheimnis ...
Eine zweite Chance in Rose Creek
Jackson Ashburn ist überglücklich: Bald werden Alyssa und er heiraten! Doch dann erwischt er sie in flagranti mit einem anderen. Tief enttäuscht trennt er sich von ihr. Als in der Nacht darauf Sandwoods Sporthalle von einem Unwetter zerstört wird, zögert Jackson nicht lange und organisiert eine Benefizfeier - er kann Ablenkung gerade gut gebrauchen. Er will Spenden zum Wiederaufbau der Halle sammeln und die Gelegenheit nutzen, der Welt den neuen Zuchthengst der Rose Creek Ranch "Phoenix" vorzustellen. Doch ein paar Wochen vor dem Event stürzt TJ so schwer, dass er vorübergehend im Rollstuhl sitzt. Und es gibt niemanden, der Phoenix reiten kann. Nun droht die ganze Veranstaltung ins Wasser zu fallen ...
Rückkehr nach Rose Creek
Josie Ashburns Leben steht Kopf: Nachdem sie mit ihrem Karriereende als Country-Popstar nicht klarkam, hat sie sich freiwillig in eine Entzugsklinik begeben. Nun kehrt sie heim auf die Rose-Creek-Ranch. Während ihre Geschwister Emily und Jackson in ihrem Leben vorangekommen sind, fühlt sie sich als müsse sie wieder ganz von vorn anfangen. Josie glaubt nicht daran, dass sie ihr Leben wirklich wieder in den Griff kriegen kann - bis sie Dollys Neffen Felix kennenlernt. Ihm gegenüber kann sie sich öffnen und verliebt sich sofort in ihn. Die Sache hat nur einen Haken: Felix ist Psychotherapeut und kann es daher einfach nicht lassen, sie mit lieb gemeinten Ratschlägen zu überhäufen. Sie wünscht sich aber einen Partner und keinen Therapeuten. Wird Felix erkennen, dass Josie ihren Weg selbst finden muss?
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Seitenzahl: 865
Veröffentlichungsjahr: 2019
Lucy Mckay
Rose Creek - Die Trilogie
Die Rose Creek Ranch der Familie Ashburn steht vor dem finanziellen Ruin. Die älteste Tochter Emily und ihr Vater TJ müssen die angeschlagene Pferdezucht wieder rentabel machen, doch das ist leichter gesagt, als getan. TJs und Emilys Ansichten sind grundverschieden. Emilys jüngere Schwester Josie hat andere Sorgen. Sie trauert ihrer Karriere als Country-Pop-Star hinterher und greift aus Frust immer öfter zur Flasche. Eines Abends, als Emily die betrunkene Josie mal wieder aus der örtlichen Bar abholen muss, kommt ihr unverhofft ein Fremder zur Hilfe: Ryan Belford. Die Anziehung zwischen den beiden ist greifbar, doch der neue Tierarzt ist sehr verschwiegen, wenn es um seine Vergangenheit geht. Und je mehr Emily Ryan verfällt, desto deutlicher wird: Er hat ein dunkles Geheimnis …
Lucy McKay, geboren 1983, lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist in den USA und Deutschland zur Schule gegangen und hat mehrere Romane unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht. Lucy hört heimlich Countrymusik und bedauert noch heute, dass sie das Reiten in ihrer Jugend zugunsten von Französischnachhilfe aufgeben musste. Denn welcher gute Countrysong ist schon auf Französisch?
Lucy McKay
Sommerglückin Rose Creek
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Römisch
Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: 100ker | sivilla | Creative Travel Projects
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-3275-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
You betrayed my trust
You broke my heart
I thought I got to know you
But you kept in the dark
Josie Torn
Emily schreckte aus dem Schlaf auf. Es war dunkel, durch ihr Fenster sah sie tausende hell strahlende Sterne über der dunklen Landschaft. Sie blinzelte matt und schaute auf den Wecker. Erst kurz nach Mitternacht.
Es hämmerte an ihrer Tür. Das Klopfen hatte sie geweckt, und das, nachdem sie kaum eine Stunde geschlafen hatte.
»Milly, Herzchen. Ich hab es!«
Emily rieb sich die Augen und sah verwirrt zu ihrer Zimmertür. »Aunt Mabel?«
»Milly, jetzt wird alles gut. Ich hab die Lösung!«
Emily warf ihre Decke zurück, tapste im Pyjama durch die Dunkelheit und öffnete gähnend ihre Tür. Vor ihr im hell erleuchteten Flur stand ihre Großtante Mabel mit violett silbernen Löckchen und zartgelbem Morgenrock über dem weißen Nachthemd.
»Milly, komm, wir sprechen jetzt gleich mit ihm!«
»Was? Mit wem?« Sie gähnte wieder und konnte kaum die Augen offen halten.
»Kannst du dir bitte die Hand vor den Mund halten«, rügte die alte Dame sie.
»Entschuldigung«, murmelte die junge Frau. Ihre dunkelblonden Haare hingen ihr leicht verwuschelt ins Gesicht. Sie strich sie zur Seite, um besser sehen zu können, und schaute den leeren Flur entlang. Es war still, wie immer um diese Zeit, wenn das Haus schlief. Sie sehnte sich nach ihrem Schlaf.
Ehe Emily sich versah, hatte Aunt Mabel sie mit festem Griff am Arm gepackt und zerrte sie aus dem Zimmer. Mit erstaunlich forschen Schritten ging die Zweiundachtzigjährige voran und zog Emily barfuß über den Läufer des langen Flurs. Nach einem weiteren Gähnen wachte sie langsam wirklich auf – sehr langsam. Ihr Blick blieb an den Füßen der alten Dame hängen, die ebenfalls keine Schuhe trug.
Sie seufzte, löste sich aus dem Griff ihrer Großtante und stellte sich ihr in den Weg.
»Tantchen, du kannst doch nicht mitten in der Nacht barfuß durchs Haus laufen. Nicht, dass du dir eine Erkältung holst. Oder Schlimmeres. Die Nächte hier in Arizona können sehr kühl werden, auch im Sommer. Du musst ins Bett.«
»Ach was. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Aber solange ich lebe, habe ich eine wichtige Aufgabe zu bewältigen. Komm, wir müssen zu deinem Dad.«
»Aber Aunt Mabel, der schläft doch. Genau wie alle normalen Menschen um diese Uhrzeit.«
Die alte Dame presste ihre Lippen aufeinander. Hinter ihrer faltigen Stirn arbeitete es sichtlich. Dann musterte sie Emily, ihre Miene schien überrascht, so, als sähe sie erst jetzt, dass ihre hübsche Großnichte im Pyjama war.
»Warum schlafen denn alle, Herzchen?«
Emily lachte zärtlich. »Weil es Mitternacht ist, Tantchen.«
»Ach so. Ja. Ja, das ist eine sehr gute Zeit für meinen Plan.« Mit diesen Worten huschte sie an Emily vorbei und setzte ihren Weg fort. Aunt Mabel war für ihr hohes Alter wirklich sehr agil.
Emily holte sie an der Galerie am Ende des Flurs wieder ein. »Mabel, wollen wir nicht morgen beim Frühstück in Ruhe über deinen Plan sprechen und ihn dann gemeinsam angehen?«
»Nein«, flüsterte Aunt Mabel verschwörerisch, »dann ist es zu spät.«
»Aber wofür denn?«, flüsterte Emily zurück.
»Was?«, fragte die alte Dame sehr laut. Emily zuckte zusammen.
Hinter ihnen öffnete sich eine Tür. In dunkelblauem Bademantel und mit zerzaustem, schwarzsilbernem Haar trat TJ auf die Galerie. Ganz offensichtlich war er über die nächtliche Ruhestörung noch weniger erfreut als Emily.
»Was ist denn hier los?«, fragte er unwirsch.
»Jungchen, gut, dass du wach bist.«
»Nenn mich nicht immer Jungchen«, grummelte TJ. »Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, Mabel.«
Die alte Dame ging geschäftig auf ihn zu. Der gelbe Morgenmantel wehte majestätisch hinter ihr her.
Emily schlich müde zu ihr und ihrem Vater. Sie ahnte inzwischen, worum es ging. »Tantchen, Dad hatte einen harten Tag bei der Arbeit, lass uns doch einfach …«
»Du musst sie anrufen. Jetzt«, ging die alte Dame dazwischen.
»Wen?«
»Na, deine Frau.«
»Christina?« TJ verdrehte die Augen. »Mabel, sie ist nicht meine Frau. Nicht mehr.«
Die alte Dame hob den Zeigefinger. »Das will ich nicht hören. Ihr habt euch vor Gott das Jawort gegeben. Da, wo ich herkomme, da bedeutet das was!«
Emily lachte. »Aber du kommst doch aus New York.«
Mabel hörte das nicht, oder sie tat so, als ob sie es nicht gehört hätte. Sie redete weiter auf TJ ein, der dabei vor ihr zurückwich und hin und wieder hilflos zu seiner ältesten Tochter sah.
»Wenn du ihr jetzt, mitten in der Nacht, deine Liebe gestehst und sofort danach ins Flugzeug steigst, dann wird sie dich mit Kusshand zurücknehmen. Wichtig ist, dass du erst anrufst, mitten in der Nacht. Die Nacht gehört der Liebe und den Liebenden. Erst anrufen, dann abreisen. Und du musst ein paar romantische Sätze sagen. Ich weiß, das liegt dir nicht, Jungchen, aber da musst du jetzt einfach mal über deinen Schatten springen, sonst bleibt deine Frau am Ende Jahrzehnte weg.«
TJs Blick verfinsterte sich. »Sie ist schon Jahrzehnte weg.«
Mabel sah verwirrt zu Emily. »Welches Jahr haben wir?«
»2016.«
Die alte Dame erschrak. »Wirklich?«
»Mabel, ich möchte nun wirklich schlafen«, grummelte TJ, dann rang er sich einen sanfteren Tonfall ab. »Und du solltest dich ebenfalls hinlegen.«
Emily strich ihrer Großtante über den Arm. »Aunt Mabel, Mom und Dad sind schon fast fünfzehn Jahre geschieden, und beiden geht es sehr gut damit.«
»Nein. Nein, nein. Damit geht es niemandem gut. Trennungen sind falsch. Ich würde alles dafür geben, dass mein George noch hier wäre …« Eine Träne kullerte über Mabels Wange.
Emily legte einen Arm um die schmalen Schultern der alten Dame und drückte ihr einen Kuss auf die silbernen Löckchen. »Ich weiß, Tantchen. Ich weiß.«
»Bringst du sie wieder ins Bett?«, fragte TJ.
Emily nickte. »Aber du solltest versuchen ein wenig netter zu ihr zu sein«, flüsterte sie.
»Ich kann das nicht mehr hören. Christina zurückgewinnen …« Er schnaubte, wenn auch leise. Er schüttelte genervt den Kopf und verschwand in seinem Zimmer. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.
»Deine Haare riechen gut.« Mabel sah zu Emily auf, die sie noch immer im Arm hielt. Den Kummer über Georges frühen Tod sah man ihr nicht mehr an. Sie strich über das dunkelblonde Haar ihrer Großnichte und nickte anerkennend.
»So blumig.«
»Na, komm, Tantchen.«
»Was für ein Shampoo benutzt du? Ich möchte es auch anwenden.«
»Ich kauf dir morgen eine Flasche.«
»Ich kann mir selbst Shampoo kaufen. Ich bin nicht senil.«
»Ich weiß, aber ich wollte dir den Weg ersparen.«
»Ach so. Das ist lieb.«
»Weil ich dich lieb hab, Tantchen«, sagte Emily und unterdrückte ein erneutes Gähnen.
Die alte Dame nickte, als würde sie das zwar zur Kenntnis nehmen, eigentlich aber auch erwarten, dann seufzte sie und zeigte auf TJs Zimmertür. »Dein Dad ist ein Griesgram.«
»Wem sagst du das?«, fragte Emily lachend, nahm Aunt Mabel bei der Hand und führte sie über die Galerie in den Flur, wo das Zimmer ihrer Tante und ihr eigenes lagen.
Draußen war es stockfinster. Irgendwo in den Stallungen wieherte ein Pferd, und auf der anderen Seite des Hauses plätscherte der Rose Creek, der klare Bach, der diesem Haus und dem Gestüt seinen Namen gegeben hatte.
Nachdem Emily ihre Tante zugedeckt und das Licht gelöscht hatte, ging sie zurück in ihr eigenes Zimmer. Aber sie kam nicht dazu, ihrem bequemen Bett mit der blauen Streublümchendecke mehr als einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, denn plötzlich vibrierte ihr Handy.
Es lag auf der Kommode neben ihren Kosmetika und surrte vor sich hin.
»Hallo?«
»Hey, Emily. Hier ist Kip aus dem Grand Canyon Café. Hab ich dich geweckt?«
»Nein, hast du nicht. Was gibt’s?«
»Es ist …« Der junge Barkeeper atmete ein.
»… Josie?«, beantwortete Emily den Satz, ihr schwante nichts Gutes.
»Ja, du solltest kommen.«
Emily nickte und betrachtete sich dabei im Spiegel. »Bin schon unterwegs. Wie immer.«
Sie warf das Handy in ihre Handtasche, zog eine Jeans aus der obersten Schublade und entschied sich, ihr Pyjamaoberteil einfach anzulassen. Sie warf nur ihre taillierte Wildlederjacke über, schenkte ihrem Bett einen letzten sehnsüchtigen Blick und schlich sich zurück auf den Flur. Andere Frauen Anfang dreißig hatten schlaflose Nächte wegen heißen Affären und leidenschaftlichen Männern. Emily hatte sie dank ihrer Familie.
***
Das Grand Canyon Café war kein Café, sondern eine Bar. Es wurde dort genau eine Sorte Filterkaffee serviert, die nicht schmeckte, dafür aber nichts kostete. Außerdem gab es hervorragende Burger, ein passables Steak und genug Biersorten, um den Durst all der Rancher des kleinen Städtchens Sandwood und deren Arbeiter zu stillen.
Außerdem gab es sehr guten Whiskey.
Aber Emily trank kein Bier und nur selten Whiskey. Seufzend parkte sie ihren Pick-up auf dem Schotterplatz vor dem Grand Canyon Café und stieg aus. Sie schloss nicht ab. Wer sein Auto in Sandwood verriegelte, machte sich nur lächerlich. Es wusste ja eh jeder, dass der Pick-up zur Rose Creek Ranch gehörte, er hatte einen Werbeaufdruck für das Gestüt. Und er musste mal wieder gewaschen werden. Emily dachte an Jackson, der seine Samstage leidenschaftlich gern mit der Pflege der Ranch-Autos verbrachte. Es wurde langsam Zeit, dass er aus New York zurückkam. Auch wegen Josie.
Emily atmete tief durch und öffnete die Tür zur Bar. Natürlich drang ihr Countrymusik entgegen, und zwar live gesungener Popcountry. Emily atmete den Kneipendunst ein, ein Gemisch aus abgestandener Luft und den Resten aus der Nebelmaschine. Vereinzelt saßen noch ein paar Gäste an Tischen und dem Tresen, aber viel war nicht mehr los – außer auf der Bühne.
Da stand sie, die schöne Josie. Sie hielt das Mikro und sang mit geschlossenen Augen »This Kiss«. Ihre Stimme stellte sogar Faith Hill in den Schatten, ihre Bewegungen taten das nicht. Zumindest nicht in diesem Augenblick.
»Ihre eigenen Songs hat sie seit einer Stunde durch«, sagte Kip. Er warf sich ein Geschirrtuch über die Schulter und stellte sich neben Emily. Ein alter Herrenhut mit schmaler Krempe saß auf seinen Locken. Mit seinen Skinnyjeans hätte besser nach New York City oder San Francisco gepasst als in dieses kleine Städtchen in Arizona, aber er schien es hier zu mögen. Zumindest kümmerte er sich um seine Gäste.
»Wie oft hast du sie gefragt, ob sie runterkommen will?«
»Drei Mal«, antwortete Kip. »Ich habe sie sogar mit einem Burger aufs Haus gelockt …«
Emily sah ihn skeptisch von der Seite an.
Kip wich ihrem Blick aus und kratzte sich unter dem Hut. Dann seufzte er. »Gut, o. k., erst habe ich Burger gesagt und dann Whiskey.«
»Kip …«
»Sorry, Em. Aber das geht doch nicht. Sie mag ja ein Megastar sein oder gewesen sein, aber die Jungs hier wollen an die Jukebox und ihre Ruhe haben. Für sie ist Josie das betrunkene Mädchen von nebenan und nicht der Countrystar Josie Torn.«
»Ich weiß, und das ist Teil des Problems.«
»Abgesehen davon ist sie auch schon siebenundzwanzig. Ist ja nicht so, dass ich an Minderjährige ausschenken würde.«
»So weit kommt es noch, Kip.«
»Falls es dich beruhigt: Josie hat den Whiskey aufs Haus genommen und sich keinen Zentimeter von da runter bewegt.« Dabei deutete er auf die Bühne.
»Geschieht dir recht.« Emily grinste ihn an.
»Ja, stimmt. Es tut mir leid, manchmal weiß ich mit ihr echt nicht weiter.«
»Willkommen im Club.« Emily strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Dann mal los.«
»Soll ich dir helfen?«
»Danke, aber lass erst mal. Bei dir bestellt sie bloß noch eine Runde. Wahrscheinlich sogar eine fürs ganze Lokal.«
»Oh, das klingt lukrativ, da komm ich doch besser mit auf die Bühne.«
Emily verdrehte die Augen. »Kip …«
»Nur ein Spaß, Em. Ruf mich, wenn du mich brauchst.« Er nickte, tippte sich an den Hut und verschwand hinter dem Tresen.
Emily bahnte sich den Weg durch die zumeist leeren Tische. Sie winkte Bill, einem der Arbeiter von ihrer Ranch, der ihr stumm zuprostete, und bestieg schließlich die Bühne.
Josie hauchte ins Mikro und wiegte sich zur Musik. Ihre hellblonden Haare reichten ihr bis zur Hüfte. Sie leuchteten im Licht des einsamen Scheinwerfers, der die kleine Karaokebühne erhellte. Eigentlich konnte Josie wahnsinnig toll tanzen. Sie hatte mit den besten Choreographen der Welt gearbeitet, aber Emily zählte die leeren Gläser am Bühnenrand und wusste, dass man nur noch ungelenkes Wiegen zu erwarten hatte.
Sie streckte die Hand aus und tippte ihrer kleinen Schwester an die Schulter. »Josie. Liebes … Hey.«
Josie erschrak, riss die Augen auf und starrte sie an. Dann strahlte sie. »Emily.« Sie drückte sie an sich, nahm Emilys Hand, riss sie hoch, wie nach einem Sieg in irgendeinem Sport, und sprach ins Mikro.
»Das, meine Lieben, ist meine große Schwester Emily. Sie ist der Hammer, der ganze Stolz von unserem Dad. Sie schmeißt die Ranch und kennt sich mit Zahlen aus. Sie ist ein Supergirl. Whooo!«
»Josie.« Emily nahm ihre Hand herunter. »Josie, jeder hier kennt mich.«
»Und jeder sollte dich kennen. Du solltest auch berühmt sein«, lallte Josie. »Oder?«, fragte sie über das Mikro ihr kleines Publikum. »Ist sie nicht wunderschön? Wie ein Model, oder? Whooo!«
»Josie, lass uns nach Hause gehen.«
»Nein, lass uns noch einen trinken. Wir sollten mal wieder zusammen ausgehen. Und anstoßen. Auf das Leben und die Musik.«
»Das machen wir«, antwortete Emily. »Aber nicht heute. Jetzt gehen wir nach Hause.«
In diesem Augenblick erklang über die Boxen ein altes Shania-Twain-Lied, und mit einem weiteren »Whooo« warf Josie das Mikro weg und griff nach ihrer großen Schwester. »Lass uns tanzen. Ich liebe diesen Song.«
Emily wusste kaum, wie ihr geschah. Sie wurde herumgewirbelt, stolperte schließlich über die leeren Whiskeygläser – und fiel von der Bühne. Sie wurde geistesgegenwärtig von einem Mann aufgefangen, der allein in einer dunklen Ecke saß.
»Entschuldigung«, murmelte sie und rappelte sich auf.
»Das macht doch nichts«, sagte eine tiefe Stimme. »Hast du dir was getan?«
Emily sah auf und blickte in ein unbekanntes Gesicht. Braune Augen, markantes Kinn. Ein junger Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Sein Lächeln war warm und sorgenvoll.
»Geht es dir gut?«
Emily schluckte, dann nickte sie rasch und ermahnte sich, ihn nicht anzustarren. Sie kannte alle Männer in Sandwood. Achtzig Prozent davon waren verheiratet und der Rest viel zu jung. Und ausgerechnet in dieser verrückten Nacht, in der sie so unendlich müde und damit beschäftigt war, ihre verwirrten Familienmitglieder einzusammeln, lernte sie jemand Neuen kennen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich rechnete in Sandwood nie jemand damit.
»Ich bin Ryan«, stellte der Fremde sich vor.
»Emily.« Sie gab ihm die Hand.
Er lachte und zeigte auf die Bühne. »Und ist das wirklich …?«
»Josie Torn. Countrywunder und Popstar.« Emily nickte. »Außerdem meine kleine Schwester, die eindeutig zu viel getrunken hat und dringend ins Bett muss.«
Ryan schmunzelte. Seine dunklen Augen blitzten. »Ich glaube, sie sieht das anders.«
»Rock on, rock all night«, sang Josie nun einen ihrer eigenen Songs.
Emily schüttelte den Kopf. »Wie hat sie es nur so schnell wieder zur Karaokemaschine geschafft?«
»Sie hat Talent.«
»Ja«, sagte Emily und in Gedanken fügte sie hinzu: Und sie ist sehr traurig. Dann bestieg sie die Bühne wieder und ging mit energischen Schritten zur Karaokemaschine. Sie schaltete sie aus, und es wurde still. Einzig Josie sang noch, wenn auch unverstärkt.
Emily nahm ihr das Mikro weg. »Schluss. Die Show ist vorbei.«
»Aber …«
»Nein«, sagte Emily in einem Tonfall, den nur ältere Schwestern draufhaben. Sie zeigte auf den Bühnenrand. »Warte hier, während ich deinen Deckel bezahle.«
»Aber …«
Emily schüttelte den Kopf. »Hier hinsetzen.«
Mit dem Mikro in der Hand ging sie zur Bar. Sie reichte es Kip, der das Glas, das er eben noch poliert hatte, ins Regal stellte.
»Kip«, begann Emily. »Kein Wort zu Dad. Ja?«
»Ehrensache«, antwortete der junge Barkeeper und schob Emily Josies Deckel hin.
»Fünfundsiebzig Dollar?!«
Kip hob die Schultern, dann beugte er sich über den Tresen. »Sie will ja immer das gute Zeug. Und das ist schon der Vorzugspreis für Stammsäu …« Er korrigierte sich. »Stammgäste.«
Emily seufzte, zog achtzig Dollar aus ihrer Jeans und legte sie auf den Tresen. »Stimmt so.«
»Danke, du bist ein Schatz.«
»Ja, so fühle ich mich auch«, gab Emily trocken zurück.
»Em, ich mein das Ernst. Du bist eine Gute.«
Müde bin ich, dachte sie bei sich, stieß sich am Tresen ab und ging zur Bühne zurück.
»Ist nicht wahr«, murmelte sie, als sie ihre kleine Schwester zusammengerollt am Bühnenrand sah. Sie schlummerte und schnarchte leise.
»Josie. Aufwachen!«
Aber Josie rührte sich nicht. Emily rüttelte vergeblich an ihr.
»Du die Füße, ich den Oberkörper?«, fragte Ryan, der auf einmal neben ihr stand.
Er sah sie voll Tatendrang an, und Emily nickte. Gemeinsam schleppten sie Josie nach draußen zum Pick-up und legten sie auf die Rückbank. Emily war mehr als dankbar, dass ihre kleine Schwester jeden Tag eine Stunde joggte und auf ihre Ernährung achtete, sonst hätte sie es kaum geschafft, sie hier rauszutragen.
Emily wollte sich gerade von Ryan verabschieden, als schon wieder ihr Handy klingelte. Was war denn heute Nacht nur los? Sie angelte das Handy aus ihrer Handtasche und sah die Nummer ihres Vaters.
»Dad?«
»Emily, wo bist du?«, fragte TJ.
»Ich … äh … konnte nicht schlafen und hab noch eine kleine Spazierfahrt gemacht«, antwortete Emily mit Blick auf ihre schlafende Schwester.
»Gut, dann kannst du ja auch gleich zu Dolly fahren und sie abholen.«
»Was? Ist was passiert?«
»Ich konnte auch nicht mehr einschlafen und hatte ein schlechtes Gefühl, also bin ich in den Stall gegangen. Das war goldrichtig: Jupiter hat Wehen.«
»Aber das ist viel zu früh.«
»Deshalb sollst du ja Dolly abholen!«
»Dad, Dolly macht auch nichts anderes als Kräuterwickel und Handauflegen.«
»Sie ist eine sehr intuitive Ärztin.«
»Sie ist eine Quacksalberin.«
»Emily«, sagte ihr Vater verärgert. »Dolly ist eine erfahrene Veterinärin. Sprich nicht so über sie.«
»Dad, ich vertraue ihren Methoden einfach nicht.«
»Aber wir brauchen einen Tierarzt. Das sieht hier alles nach Komplikationen aus.«
»Dolly wohnt so furchtbar weit draußen …«
»Dann fährst du besser sofort los«, befahl TJ und legte auf.
»Verdammt!«
»Entschuldige, dass ich gelauscht hab«, sagte Ryan. »Aber sehe ich das richtig, dass du dringend einen Großtierarzt brauchst?«
»Ja, wir haben eine Pferdezucht, und eine unserer Stuten hat viel zu früh Wehen bekommen.«
Ryan lächelte. »Hatte ich erwähnt, dass ich Tierarzt bin?«
»Nein«, antwortete Emily baff, dann jubelte sie innerlich. Sie vertraute jedem anderen Menschen mehr als Dolly. Zumindest mit Pferden. In den letzten Jahren hatte Dolly eine Richtung eingeschlagen, die Emily mehr als suspekt war.
»Alles was ich brauche ist im Wagen. Ich fahr dir hinterher.«
»Super. Danke, du bist unsere Rettung.« Emily sprang in ihren Pick-up und startete den Motor. Als sie vom Parkplatz runterfuhr, leuchteten hinter ihr zwei Scheinwerfer auf. So seltsam und turbulent diese Nacht auch war, sie hatte das sichere Gefühl, nicht allein zu sein.
***
»Da seid ihr ja endlich!«, rief TJ und stürmte ihnen aus dem Stall entgegen, dann blieb er abrupt stehen, musterte Ryan und sah sich suchend um. »Wo ist Dolly?«
»Dad«, begann Emily und schloss die Autotür hinter sich, »Das hier ist Ryan. Er ist der neue Tierarzt.«
»Ich habe Barry Deans Praxis übernommen«, sagte Ryan und hielt TJ die Hand hin. »Ryan Belford.«
Emily schenkte Josie einen Seitenblick. Sie sah entspannt aus, wie sie da in die Decke eingehüllt auf der Rückbank schlummerte. Ihre hellblonden Haare lagen um sie herum und ließen sie wie eine Elfe aussehen. Emily entschloss sich dazu, sie vorerst hier liegen zu lassen. Hauptsache TJ merkte nichts, aber ihr Vater hatte im Augenblick sowieso andere Sorgen, anstatt sofort in den Stall zu eilen, stand er ihnen im Weg.
TJ sah misstrauisch auf die ausgestreckte Hand und in Ryans Gesicht. »Akzent, aha. Kanadier, wie?«
»Ja, stimmt.«
Der erfahrene Rancher stemmte die Hände in die Hüften, ignorierte Ryans Hand und sah seine Tochter an. »Wo ist Dolly?«
»In ihrem Bett. Dreißig Meilen entfernt von hier, Dad.«
TJ schüttelte den Kopf, drehte sich um und stapfte in Richtung Stall davon.
Ryan sah Emily fragend an.
»Er ist sehr angespannt«, sagte sie entschuldigend und lief ihrem Vater hinterher. »Folge mir.«
Sie hörte Ryans Schritte hinter sich, als sie den Stall betrat. Sie gingen durch die schmaleren Pferdeboxen hindurch. Seit frühester Kindheit kannte Emily diesen Geruch. Das war der erste Geruch, den sie je bewusst wahrgenommen hatte: den von Pferden.
Die Familie Ashburn züchtete Appaloosas. Die gescheckten Westernpferde von Rose Creek waren beliebt auf der ganzen Welt. TJs Zucht war von einer führenden Zeitschrift für Westernreiten unter die besten drei der Welt gewählt worden.
Der Stall war sauber gefegt, links am Ende des Ganges stapelten sich Heu- und Strohballen, während es rechts in die Sattelkammer ging. Daneben war noch ein kleiner Aufenthaltsraum für die Stallburschen und Rancharbeiter. Aber Andrew, der heute Nachtdienst hatte, stand den Gang runter an Jupiters Box. Emily sah schon von Weitem, wie angespannt der erfahrende Pfleger war.
»Dad, was machst du denn jetzt?«
TJ verschwand in dem Aufenthaltsraum und ging zum Telefon. »Ich rufe Dolly an.«
Emily lehnte im Türrahmen. »Dad, jetzt hör aber auf. Wir haben einen erfahrenen Tierarzt hier.«
»Erfahren?« TJ schnaubte. »Wie alt ist der Bursche?«
Emily sah über die Schulter zu Ryan, der an Snowcakes Box stand und den Kopf des jungen Hengstes streichelte. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd. Seine kurzen braunen Haare waren voll und glänzten leicht. Er sah sportlich aus. Und war verdammt attraktiv.
Emily fragte sich, ob es ihr nur so vorkam, weil er ein neues Gesicht in der sehr kleinen Stadt war, oder schlicht daran, dass er wirklich einfach sehr gut aussah. Sie riss den Blick los.
»Ich weiß nicht, Dad. Mitte dreißig vielleicht.«
»Pah. Ein Kind ist das. Dolly hingegen …«
»Dolly Vanderbill hat seit Jahren keine vernünftige Diagnose mehr gestellt.«
»Emily, sie ist eine respektable Dame, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft.«
Sie verdrehte die Augen. »Sandwood hat doch keine Gesellschaft, Dad. Außerdem kann sie von mir aus die Queen sein, wenn sie alles mit Mondphasen und Kräutertees heilen will, dann ist sie die Falsche für unsere Tiere.«
»Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als Zahlen und Biochemie. Wir müssen nicht für alles die Pharmaindustrie und ihre Produkte heranziehen, auch nicht für unsere Pferde. Die Industrie erfindet nämlich Krankheiten, nur damit sie sie mit ihren Chemiebomben heilen kann.« Er schnaubte. »Heilen. Dass ich nicht lache. Man kann auch erspüren, was einem Körper fehlt.«
»Dolly hat dir wirklich Flausen in den Kopf gesetzt, Dad. So hast du früher nicht geredet.«
»Dann lag ich früher vielleicht falsch. Ich bin nur hier unten in den Stall gegangen, weil ich ein schlechtes Gefühl hatte. Ich konnte nicht einschlafen, etwas hat mich gewurmt … Das ist alles, und jetzt wird mein Gefühl vielleicht das Leben einer unserer besten Stuten retten. Und des Fohlens.«
»Eben. Dann lass uns auch rübergehen. Wir haben alles, was wir brauchen, um Jupiter beizustehen.«
»Du kennst diesen Ryan doch gar nicht, er ist neu in der Stadt, niemand kennt ihn«, sagte TJ und griff nach dem Telefon.
»Dad, Dolly braucht fast eine Stunde, bis sie alles beisammenhat und hier ist. Wir verschwenden unsere Zeit.«
»Nein, du verschwendest unsere Zeit, in dem du die beste Tierärztin, die Sandwood je hatte, schlechtmachst. Und du hast Zeit verschwendet, als du ohne sie hergekommen bist.« Er wählte bereits.
Emily nahm ihm das Telefon aus der Hand und legte den Hörer weg. »Jetzt sei doch vernünftig.«
TJs Blick verfinsterte sich. »Emily, das war respektlos. Ich habe vierzig Jahre Erfahrung mit Pferden, ich habe diese Ranch aufgebaut.«
»Entschuldige Dad, aber ich bin doch deine Partnerin.«
»Und vor allem für die Bücher zuständig«, zischte TJ und nahm das Telefon wieder an sich.
In diesem Augenblick stürmte Ryan in den Aufenthaltsraum. »Es ist so weit. Und das Fohlen lieg falsch. Ich brauche jemanden, dem Jupiter vertraut. Sofort.«
TJ zögerte, sah auf das Telefon in seiner Hand, dann zu dem jungen Arzt.
»Jetzt gleich, Mr. Ashburn«, drängte Ryan und verschwand wieder.
TJ seufze, legte das Telefon schließlich weg und eilte dem jungen Tierarzt nach.
Emily seufzte erleichtert und folgte ihnen.
***
Als Emily aus dem Stall trat, ging am Horizont langsam die Sonne auf. Sie sah die Silhouetten von ein paar Felsen und Kakteen. Dort, wo ihr Land an Joes grenzte, sah sie den Nachbarn auf einem Pferd. Joe Jefferson trieb seine Rinder auf eine andere Weide. Sein Pferd hatte er vor ein paar Jahren auf der Rose Creek Ranch gekauft. Auch wenn die meisten Appaloosas inzwischen für Westernreiten und die Freizeit benutzt wurden, konnten sie natürlich noch immer für das Viehtreiben eingesetzt werden. Sie sind wendig und können auf kurzer Strecke sehr schnell werden.
Jedes Mal, wenn Emily Joe traf, lobte er seinen Wallach Stone in den höchsten Tönen. Aunt Mabel fügte in solchen Augenblicken gern an, dass das nur an dem Wasser des Baches lag, dass die Pferde hier auf der Ranch tranken. Für sie war der Rose Creek magisch.
Emily wusste, dass sehr viel mehr zu einem guten und gesunden Pferd gehörte als sauberes Quellwasser. Eine gute Zucht war harte Arbeit.
Sie streckte sich und versuchte, ihre Müdigkeit zu ignorieren. Eigentlich sehnte Emily sich nach einer Dusche und ihrem Bett, aber sie hatte gleich am Vormittag zwei wichtige Telefongespräche mit Interessenten und einen Termin bei der Bank auf der Mainstreet. Ihr Bett würde warten müssen.
Emily wurde aus den Gedanken gerissen, als plötzlich der Schotter unter TJs Stiefeln knirschte. Er trat neben seine Tochter, setzte sich den Stetson auf und blinzelte in die Sonne. Ein Pick-up fuhr unter dem hölzernen, rosenumrankten Torbogen auf den Hof, zwei Rancher stiegen aus. Sie tippten sich an den Hut.
»Morgen Boss, morgen Emily.«
»Morgen«, sagte TJ. »Jupiter hat abgefohlt. Bill, kannst du dich darum kümmern? Und Todd, meinst du, du kriegst Snowcake heute endlich mal vernünftig geritten?«
»Ich geb mein Bestes, Boss.«
»Davon geh ich aus«, grummelte TJ, während die beiden im Stall verschwanden.
Kurz darauf kam Ryan aus dem Stall und verschloss seine Tierarzttasche im Gehen. »So, das war’s fürs Erste. Die beiden sind wohlauf«, informierte er Emily.
TJ brummte und nickte.
»Danke, du warst unsere Rettung.« Emily strahlte erleichtert.
TJ schnaubte.
Ryan ignorierte ihn einfach und wendete sich wieder an Emily. »Hab ich gern gemacht. Übrigens ist mir aufgefallen, dass Indian Thunder etwas unkoordiniert scheint.«
»Was?« TJ schnappte nach Luft. »Das ist mein bester Zuchthengst. Der ist nicht unkoordiniert, der ist tipptopp in Form.«
Ryan räusperte sich. »Es sei denn, er ist krank, Mr. Ashburn. Soll ich ihn mir mal ansehen?«
»Nein, danke. Doktor.« Er spie das Wort höhnisch aus, »Belford. Sie haben mit uns genau so viel Geld verdient, wie Sie mit uns verdienen werden. Schicken Sie meiner Tochter die Rechnung!«
»Darum geht es nicht. Indian Thunder macht mir Sorgen. Ein Arzt sollte sich ihn mal ansehen.«
TJ verschränkte die Arme vor der Brust und trat nah an Ryan heran. »Und das werden ganz sicher nicht Sie sein. Jetzt gehen Sie und drängen sich anderen Menschen auf. Aber eins sage ich Ihnen, hier in Sandwood hat niemand auf Sie gewartet.«
»Dad«, sagte Emily empört. Sie zog Ryan von ihrem Vater weg. »Es tut mir leid. Bitte entschuldige meinen Vater. Er ist heute nicht er selbst.«
»Du musst mich nicht entschuldigen, Emily. Es gibt nämlich nichts zu entschuldigen. Ich hab das alles so gemeint.«
»Dad, so behandelt man doch niemanden, der zwei unserer teuren, liebgewonnenen Pferde gerade das Leben gerettet hat.«
»Ich hab ihn nicht darum gebeten!«
»Aber du hast ihn gebraucht. Jupiter hat ihn gebraucht.« Emily schüttelte den Kopf, dann seufzte sie. »Dad, leg dich einfach mal ein paar Stunden hin. Es war für uns alle eine anstrengende Nacht.«
»Du hast mir nicht zu sagen, wann ich mich hinzulegen habe. Ich bin nicht alt. Ich kann schon noch eine Nacht neben einer fohlenden Stute verbringen und dann ganz normal weiterarbeiten.«
»Ok. Gut. Wie du meinst.« Sie strich sich die Haare hinters Ohr und wandte sich Ryan zu. »Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar. Willst du noch einen Kaffee trinken? Etwas frühstücken.«
»Verschwinden soll er, hab ich gesagt!«, brüllte TJ plötzlich dazwischen.
Erschreckt sah Emily ihren Vater an. »Was ist denn in dich gefahren?«
Ryan legte eine Hand auf ihren Arm. »Lass gut sein, Emily. Ich muss eh los. Aber vielen Dank für das Angebot.«
TJ musterte Ryan ein letztes Mal verächtlich und ging dann in den Stall. Er hatte leichte O-Beine, auch von Weitem sah man ihm den ehemaligen Westernreiter an. Im Herzen war und blieb er ein rauer Cowboy. Aber so rau wie heute war er jedoch selten.
Emily sah ihrem Vater verärgert, aber auch irritiert nach. Dann wurde ihr bewusst, dass Ryans Hand noch immer auf ihrem Arm lag. Sie lächelte ihn an, er fühlte sich ertappt, zog schnell die Hand weg und räusperte sich.
»Ich wünsch dir noch einen schönen Tag.«
»Ich dir auch«, antwortete sie verlegen und begleitete ihn zu seinem Wagen. »Und du schickst mir die Rechnung, ja?«
Er nickte und verstaute die Tasche auf dem Rücksitz seines Kombis. »Und, Emily, das vorhin war mein Ernst. Indian Thunder wirkte tatsächlich seltsam auf mich. Ich wollte eure Zucht nicht beleidigen oder mich aufdrängen. Lass Doktor Vanderbill sich das unbedingt mal ansehen, ja?«
Sie nickte. »Danke.«
Er fuhr davon. Am Torbogen schaukelte das Holzschild vom Fahrtwind, auf dem Rose Creek Ranch eingraviert war. Emily fühlte sich für einen Augenblick ganz allein auf der Welt.
Bis Josie lautstark schimpfend aus dem Pick-up stolperte. Sie sah aus wie der blonde Tod und litt ganz offensichtlich Höllenqualen in der knallenden Arizona-Sonne. Sie stand noch nicht sehr hoch am Himmel, hatte aber schon eine enorme Kraft.
Emily schob ihr Gefühl der Einsamkeit beiseite, das sie trotz ihrer großen Familie immer wieder heimsuchte, und eilte zu ihrer kleinen Schwester. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, Josie so lange im Auto liegen gelassen zu haben. Aber andererseits: Was sollte Emily tun? Und Josie war schließlich selbst dafür verantwortlich, wenn sie sich mit Alkohol nahezu ins Koma trank.
»Na, komm, ich bring dich ins Bett.«
»Das ist eine gute Idee«, krächzte Josie matt und verzog das Gesicht. »Ist das meine Stimme?«
»Ja.«
»Die Sonne tut mir weh. Ich hasse sie.«
Emily lachte. »Ich weiß, Kleines, ich weiß.«
Die Hufe donnerten auf die sandige Straße, als sie zurück auf die Rinderranch galoppierten. Joe sprang als Erster von seinem Pferd.
»Mann. Toll, dass du mit mir rausgeritten bist. Dolly will immer rausfahren, aber meine Rinder sind einfach nicht mehr so sehr an Motoren gewöhnt, seit ich alles mit dem Pferd mache. Und dann sind sie nervös und lassen sich nicht untersuchen.«
»Kein Problem«, antwortete Ryan und warf seine Arzttasche auf die Veranda, bevor auch er von dem rotbraun gescheckten Appaloosa hinuntersprang. Neben dem Pferd lief Pebbels aufgeregt umher, Ryans riesiger Hund. Sie war eine Mischung aus Neufundländer und Dogge. Ein gutmütiges, ausdauerndes Tier. »Es ist schön, mal wieder ein bisschen zu reiten.«
»Ja, ist herrlich, oder? Willst du ein Bier?«
Ryan prüfte die Uhr seines Handys, es war erst früher Abend, dann nickte er. »Klar, warum nicht. Und Wasser für Pebbels wäre toll.«
Joe sah zu dem hechelnden Riesenhund und schüttelte den Kopf. »Du hättest sie nicht Pebbles nennen sollen. Kiesel. Dabei ist sie so riesig.«
»Stimmt, aber ich hab sie als Welpen bekommen, und da sah sie aus wie ein Kieselstein.«
Joe lachte, brachte die beiden Pferde zur Tränke und verschwand dann durch den Hintereingang im Haus. Wenig später war er mit zwei eisgekühlten Flaschen Bier und einem Wassernapf zurück. Sie stießen an und setzten sich nebeneinander auf die beiden Schaukelstühle, die auf der Veranda standen. Pebbles schlabberte gierig über dem Napf.
»Ich habe in letzter Zeit Probleme mit Dollys Diagnosen und Therapien. Ich bin froh, dass du hergezogen bist«, sagte Joe.
»Ich bin auch froh.«
»Um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass Dolly dem Kalb Antibiotika gegeben hätte.«
Ryan runzelte die Stirn. »Aber die Entzündungswerte waren doch so hoch.«
»Ja, aber Dolly findet Antibiotika zu aggressiv.«
»Na ja. Ein Stück weit hat sie ja auch recht. Wir selbst nehmen viel zu viel davon, und unseren Tieren geben wir auch zu leichtsinnig welche. Irgendwann sind die Bakterien resistent gegen die Medikamente. Sie mutieren und sind dann nicht mehr mit Antibiotika zu bekämpfen.«
»Hast du Dolly schon kennengelernt?«
»Nein, wieso?«
Joe lachte herzhaft. »Weil ich mich gerade frage, ob sie dir auch schon Mondphasenflausen in den Kopf gesetzt hat.«
Ryan nahm einen Schluck kühles Bier und schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Das ist einfach medizinische Achtsamkeit. Antibiotika werden in den USA viel zu leichtfertig verabreicht, glaub mir.«
»Mhm«, machte Joe nachdenklich, während am Horizont hinter den Felsen und Kakteen die Sonne langsam versank.
»Und was treibt einen Kanadier hier nach Arizona?«, fragte Joe nach einer langen schweigsamen Pause.
»Die Landschaft hat mich schon immer fasziniert.«
»Das hört man oft von Fremden. Ich weiß gar nicht, was an der Landschaft so besonders ist. Ich kenn ja keine andere.«
»Warst du denn nie weg aus Sandwood?«
»Doch, doch in Texas. Ich muss ja auch zu Rinderauktionen. Aber das Reisen übernimmt oft meine Frau. Im Sommer zum Beispiel, wenn Schulferien sind. Ich bin lieber hier, mit den Tieren.«
Er nahm seinen Hut ab und legte ihn auf das Holzgeländer der Veranda. Joe war Mitte vierzig, das Wetter hatte sein Gesicht gegerbt, sein Haar war dünn geworden, der Haaransatz ging zurück. Seine Hände waren stark und grobschlächtig. Aber er strahlte eine Ruhe aus, die Ryan in seinem Leben ein wenig vermisste.
»Warst du denn schon mal in New York oder L.A.?«
»Klar«, antwortete Ryan.
»Und?«
»Es ist voll und laut.«
»Siehst du. Das wusste ich. Deshalb muss ich da auch nicht hin. Warum man allerdings unbedingt nach Sandwood muss … Das weiß ich auch nicht.« Er sah Ryan neugierig an.
Ryan wurde unwohl unter dem Blick, er wich ihm aus. »Die Praxis von Barry war ein gutes Angebot.«
»Die stand seit Jahren leer. Ich find es gut, dass du da frischen Wind reinbringst – und auch keine Angst hast, in die Prärie da draußen zu reiten.«
Ryan nickte. »Wolltest du schon immer Rancher werden?«
»Hab ich nie viel drüber nachgedacht. Mein Vater war Rancher, jetzt bin ich es. Ist der Lauf der Dinge. Was hat dein Vater gemacht?«
»Er war Anwalt in Toronto, meine Mutter Kinderärztin.«
»Und der Spross einer solchen Familie zieht in ein Kaff nach Arizona?« Joe lachte. »Nee, so ganz begreife ich das nicht. Sagtest du nicht, dass du bei den Dressurreitern extrem gefragt warst?«
Ryan presste die Lippen aufeinander und wog mit dem Kopf hin und her – er hatte zu viel erzählt. »Nicht extrem gefragt. Ein Freund von mir ist Experte in Sachen Dressurreiten. Ich kenne ihn von der Uni, und er hat sich schon damals auf Pferde spezialisiert. Ich bin viel breiter aufgestellt, aber er hat mir manchmal Patienten vermittelt, wenn er überlastet war. Ich hatte nur einige wenige Starpferde in Behandlung.«
»Und sind die auch mal für Olympia geritten?«
»Ja, dauernd«, antwortete Ryan leise und kippte sein Bier hinunter. Dann stand er auf. »Ich muss jetzt los. Komm, Pebbles.«
»Schon?« Enttäuschung machte sich in Joes Gesicht breit. »Aber das mit Olympia musst du mir noch erzählen.«
»Klar. Irgendwann.«
»Und du musst meine Frau kennenlernen. Claire schwärmt sehr fürs Dressurreiten. Sie findet unseren Westernstil viel zu plump.« Er lachte und hob seine Hände an. »Als ob man diese Pranken je in so Lederhandschühchen bekäme.«
Auch Ryan lachte.
»Bist du sicher, dass du nicht noch auf ein Bierchen bleiben willst?«
»Ja, aber danke«, sagte Ryan knapp, gab Joe rasch die Hand und ging zu seinem Auto.
»Pebbles!« Er pfiff, die Hündin kam angelaufen und sprang in den großen Kofferraum des Kombis. Ryan schloss die Klappe, stieg ein und startete den Wagen. Es kam ihm ein bisschen vor wie eine Flucht.
***
Nicht aufgeben, sagte sie sich. Noch eine Meile. Immer weiter. Sie lief mit geschlossenen Augen. Lief und lief. In ihren Ohren hämmerten Elektrobeats. Nichts war besser zum Joggen als kalte, treibende, harte Beats.
Wer hätte gedacht, dass der Countrystar Josie Torn auch Gefallen an Musik jenseits ihrer eigenen, launigen Popsongs fand. Noch achthundert Yards, immer weiter. Nicht aufgeben. Nicht jetzt. Schweiß tropfte auf das Laufband. Sie nahm einen Schluck Wasser und lief weiter – und dann endlich, war sie fertig. Keuchend verfiel sie ins Gehen.
Josie war fünf Meilen gejoggt. Sie verspürte Stolz. Jeden Tag lief sie genau fünf Meilen, und das geschafft zu haben, war jedes Mal ihr Höhepunkt.
Josie stellte das Laufband aus. Sie war außer Atem. Ja, das war der Höhepunkt ihres Tages. Danach ging es bergab. Außer natürlich, Hal hatte geschrieben. Sie seufzte und legte sich ihr Handtuch um die Schultern. Während sie sich die Stirn abtupfte, schaltete sie erst den Fernseher aus und zog dann die Kopfhörer-Stöpsel aus ihren Ohren.
Dann ging sie langsam die Treppe zur Küche rauf. Nein, sie schleppte sich eher. Die Tür öffnete sie mit einem Seufzer.
Duft von Apple Pie schlug ihr entgegen. Mitten in der großen Küche stand Aunt Mabel in einer weißen Schürze mit kleinen Rüschen. Sie summte und wirbelte durch Mehlwolken. Aus dem Backofen holte sie einen heiß dampfenden Apfelkuchen und stellte ihn zu den zwei bereits abgekühlten auf die Arbeitsfläche, bevor sie einen weiteren Kuchen in den Ofen schob und den Herd mit einem gekonnten Stoß ihrer Hüfte wieder schloss.
Erst als sie sich das nächste Mal umdrehte, bemerkte sie ihre Großnichte, die in Sportkleidung in der geöffneten Kellertür stand.
»Josie, Honey. Du hast mich erschreckt.«
»Was machst du denn hier, Aunt Mabel?«
»Ich backe dir einen Kuchen.« Sie schob Josie einen der Pies hin.
»Du hast mir einen ganzen Kuchen gebacken? Mir allein?«
»Natürlich«, antwortete Mabel und sah sich suchend um.
»Aber Josie isst doch gar nichts Süßes, Tantchen«, sagte Emily. Sie sah müde aus, wie sie da plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer stand.
»Herzchen. Dir habe ich auch einen Kuchen gebacken.«
»Einen ganzen Kuchen für jeden?« Emily lachte herzlich.
Josie sah sie neidisch an. Ihre große Schwester arbeitete sehr viel, und doch war sie immer noch warmherzig und lachte gern. Sie selbst konnte kaum lachen, dabei war es natürlich sehr ulkig, dass die zweiundachtzigjährige Mabel spontan entschieden hatte, für jeden im Haus einen eigenen Kuchen zu backen.
»Du bist viel zu dünn«, konstatierte Aunt Mabel in Josies Richtung. Sie stemmte die Hände in die Hüften, musterte ihre Großnichte und nickte dann entschlossen. Sie holte noch einmal Mehl aus dem Schrank. »Ich backe dir noch einen Kuchen.«
»Tantchen. Josie braucht keinen Kuchen.«
»Nicht? Was braucht sie dann?«
Emily sah Josie an. Fragend, sorgenvoll. Ein Blick, der sagte, ich bin für dich da, aber Josie war das unangenehm. Sie verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Sie musste duschen.
Aunt Mabel ließ Mehl derweil Mehl sein und stellte einen rosa Pappkarton auf die Arbeitsfläche.
Emily nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und deutete auf einen Karton, der danebenstand. »Was ist das denn?«
»Die Kiste, in der ich Chris’ Kuchen nach New York schicken werde.«
»Und Jacksons Kuchen?«
»Der steht da.«
»Nein, Tantchen. Jackson ist doch gerade auch in New York. Bei Mom.«
»Aha. Mhm«, machte Aunt Mabel nachdenklich und sah auf die Box. »Aber es darf nur ein Kuchen in die Kiste. Und dann muss TJ die Karte unterschreiben.« Sie kramte in einer Schublade, dann legte sie Emily einen Stift und eine Karte hin. »Kannst du deinen Dad um seine Unterschrift bitten, Milly?«
Emily zog die Karte aus einem Mehlhäufchen. »Aunt Mabel, Dad wird nicht mitmachen. Und er will auch nicht, dass Mom zu ihm zurückkommt.«
Josie verdrehte die Augen. Die alte Leier.
»Könntest du ihm nicht sagen, dass die Karte für einen Kunden ist?«
Emily hob eine Augenbraue. »Da sind Herzen drauf.«
Jetzt musste Josie doch lachen.
Mabel wirbelte herum. »Was machst du denn noch hier, Honey? Husch, husch, unter die Dusche. Sonst fährt dein Tourbus ohne dich los.«
Josie biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte einen Stich im Herzen. »Ich bin gerade nicht auf Tour, Aunt Mabel«, sagte sie leise, ging schnell zum Kühlschrank und nahm sich auch ein Wasser.
»Nicht? Wann geht das denn wieder los?«
»Ich … weiß noch nicht.«
»Du musst bald wieder auf Tour, Honey, deine Fans vermissen dich doch.«
Josie lächelte traurig. »Ja, manche. Vielleicht.«
»Soll ich denen auch einen Kuchen backen?«
»Nein, das wird nicht nötig sein, Aunt Mabel.«
»Also für mich ist das gar kein Problem.« Sie wandte sich wieder an Emily. »Du denkst an die Karte, Herzchen. Ja?«
Emily und Josie tauschten einen Blick, dann nickte Emily ihrer Tante zu. Sie stellte einen der Kuchen in die Box und nahm die Karte. »Ich kümmere mich darum, dass Mom das Päckchen bekommt, Aunt Mabel.«
Die alte Dame strahlte.
»Und du kannst Feierabend machen«, sagte Josie. »Häng die Schürze an den Haken, nimm dir ein Stück von deinem Kuchen und setz dich raus auf die Veranda in die Abendsonne.«
»Na gut. Aber du verabschiedest dich noch einmal, bevor du in den Tourbus steigst, oder Honey?«
»Natürlich.«
Wenig später schloss Josie ihre Zimmertür hinter sich. Es war schon lange kein Tourbus mehr für sie nach Sandwood gekommen. Sie war auch schon lange nirgendwo mehr hingeflogen, um in Talkshows aufzutreten.
Sie klappte ihren Laptop auf und aktualisierte das E-Mail-Postfach. Wieder nichts. Also nichts außer Spam und Newslettern. Gähnende Leere und enttäuschte Hoffnung. Hal musste das alles doch inzwischen gehört haben.
Sie nahm das Handy und rief ihn an. Eigentlich hatte sie sich geschworen, es nicht zu tun. Sie hatte warten wollen. Hal war einfach an der Reihe sich zu melden, und Josie war sich sicher, dass er das auch tun würde, wenn er was Neues wusste. Aber sie hatte das Warten so satt. Das ewige Aktualisieren ihres Postfaches ebenfalls.
»Miss Torn. Josie, mein Lieblingsstar«, begrüßte er sie überschwänglich.
»Hal. Hi. Stör ich?«
»Du? Nie. Wer mir vier Nummer-eins-Hits gesungen hat, kann gar nicht stören.«
Josie seufzte innerlich. Denn natürlich hätte Hal sie, die ihm darüber hinaus auch zwei Nummer-eins-Alben geliefert hatte, auch mal von selbst anrufen können.
»Ja … ähm, ich wollte nur fragen, ob du meine Demos bekommen hast.«
»Mhm. Ja klar. Hab ich bekommen. Entschuldige, dass ich mich noch nicht zurückgemeldet habe. Aber mit Lily ist gerade echt die Hölle los. Alle lecken sich die Finger nach ihr. So wie bei dir früher.«
»Schön. Das freut mich für dich.«
»Willst du zum Konzert in Phoenix kommen? Ich lass dich abholen, dann kannst du in der Loge sitzen und Backstage kommen.«
Josie schloss die Augen und dachte an früher, als sie noch Miss Torn gewesen war, an die Gäste, die sie backstage empfangen hatte. Sie hat sich damals sehr über die Fans gefreut, die alle supernervös darauf gewartet hatten, ihren Superstar endlich kennenzulernen. Leider hatte sie nie wirklich Zeit gehabt, sich ihnen näher zu widmen. Ein kurzes Meet & Greet und dann war alles schon wieder vorbei.
Und jetzt sollte sie selbst auf der anderen Seite stehen? Wo stand sie überhaupt? Sie saß verschwitzt in Sandwood auf ihrem Bett in ihrem Jugendzimmer und wartete darauf, dass die Welt sie zurückrief.
»Hal, was ist mit meinen Songs?«, fragte sie schließlich, statt ihm zu antworten.
»Die waren … nicht schlecht, Josie. Für jemanden, der noch nie selbst komponiert und geschrieben hat, hast du dir ein nettes Set zusammengestellt.«
»Nett?«
»Ja, fürs Erste wirklich gut.«
»Aber?«
»Hör zu, Superstar. Ich hab mit der Plattenfirma gesprochen, und sie sind nicht interessiert an einer neuen Ausrichtung. Sie wollen die alte Josie, die Country-Pop-Josie. Sie haben sogar schon ein paar Songs, die sie dir vorschlagen wollen.«
»Lass mich raten, es ist der gleiche Glitzersound, den ich schon mit fünfzehn gesungen habe.«
»Der Sound, mit dem du mit fünfzehn die Welt erobert hast.«
Josie verdrehte die Augen. »Ich bin siebenundzwanzig, Hal.«
»Das ist noch jung, Superstar. Alle sind sich einig, dass du die Welt noch umhauen kannst. Du hast doch nicht zugenommen, oder? Ach, egal, und wenn, das kriegen wir wieder runter. Diät, Sport … Soll ich dir die Songs mal schicken?«
»Hal, ich will meine Sachen singen. Mit einer kleinen Band.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es plötzlich still. »Hal? Bist du noch dran?«
»Ach, Josie. Überlass das Songschreiben doch lieber den Profis, die wissen, wie man Millionen erreicht.«
»Ich muss ja keine Millionen erreichen.«
»Nicht? Aber dann wirst du kein Geld verdienen.«
»Ich werde weniger Geld verdienen, aber doch nicht gar nichts.«
»Na ja … Also, die Sachen, die du mir geschickt hast …«
»Waren die so schlecht? Hal, ich hab doch gerade erst angefangen. Ich arbeite ja auch weiter an neuem Material.«
»Ich sag dir was, Superstar. Du nimmst dir jetzt erst mal eine Auszeit bei deiner Familie, und in sechs Monaten oder einem Jahr sprechen wir noch mal, ja?«
»Aber ich hab doch schon eine Auszeit genommen. Ich bin doch schon seit fast einem Jahr hier in Sandwood.«
»Mhm. Ja. Du, ich muss los. Lily muss zu einem Radiointerview. Wir hören uns, ja?«
Er hatte aufgelegt. Josie saß auf ihrem Bett, das Handy rutsche ihr aus der Hand und fiel auf den Boden. Draußen auf dem Flur hörte sie Schritte.
Sie raffte sich auf und öffnete die Zimmertür. Vor ihren Füßen lag ein Apfelkuchen. Sie beugte sich hinunter, nahm ihn hoch, setzte sich wieder auf ihr Bett und dann aß sie ihn auf. Einfach so. Bis zum letzten Krümel.
***
Ryan setzte sich an einen Tisch am Fenster. Wahrscheinlich hätte Joe ihn noch zum Abendessen eingeladen, wenn er geblieben wäre, aber nun saß er hier im Grand Canyon Café.
»Hey, was darf’s sein?«, fragte Carly. Die flippige Kellnerin hatte Ryan schon ein paarmal bedient.
»Ein Steak. Medium Rare. Eine Ofenkartoffel und ein Bier.«
Sie nickte und ging davon. An den anderen Tischen saßen ein paar Familien, Kinder mit Burgern und Milchshakes. Am Tresen saßen Rancharbeiter und –besitzer. Einigen hatte Ryan sich schon vorgestellt, aber heute Abend wollte ihn keiner wiedererkennen.
Carly brachte ihm sein Bier mit einem Lächeln. »Und was treibt einen Touristen nach Sandwood?«
Er runzelte die Stirn. »Ich bin kein Tourist. Ich bin der neue Tierarzt. Ryan Belford, der Nachfolger von Barry.«
»Ach«, sagte sie überrascht und kaute Kaugummi. »Du klingst so kanadisch.«
»Bin ich auch.«
Sie nickte und eilte zu einem anderen Tisch.
Eigentlich hätte auch sie ihn wiedererkennen müssen. Er aß ja nicht zum ersten Mal hier. Ryan kochte ungern für sich allein, und leider gab es in Sandwood nur wenige Möglichkeiten, essen zu gehen. Draußen vor der Stadt war noch eine Pizzeria bei der Tankstelle, aber seit Ryan einmal in Europa gewesen ist und echte italienische Pizza gegessen hatte, schmeckte ihm die fettige, amerikanische Pizza mit dem dicken Teig nicht mehr.
Also Steak.
Carly brachte es genau in diesem Augenblick, setzte sich zu ihm und stützte ihr Kinn auf die Hand. »Also, Brian …«
»Ryan«, verbesserte er sie freundlich und schnitt ein Stück von seinem Fleisch ab.
»Sorry.« Sie nahm schlürfend einen Schluck aus ihrem mitgebrachten Eisteeglas. Ihre knallroten Haare waren zu Schnecken gedreht und ihre Oberarme voller Tattoos. Ryan schätzte sie auf Anfang zwanzig.
»Ich kenne jeden Mann hier in der Stadt. Praktisch seit dem Kindergarten … Was ist deine Geschichte?«
»Meine Geschichte?«
»Ja, klar. Was treibt dich nach Arizona?«
»Barrys Praxis war ein gutes Angebot.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte laut. »Die alten Räume? Und da gab es in ganz Nordamerika kein besseres Angebot?«
Doch, aber nichts, dass so schön weit weg von Kanada ist, dachte Ryan, schwieg aber.
»Bist du frisch geschieden?«, fragte Carly und schlürfte wieder an ihrem Eistee. »Läufst du vor einer Ex davon?«
»Ist das wichtig? Es zählt doch nur, dass ich jetzt hier bin und mich um eure Tiere kümmern werde, oder?«
Carly zeigte auf einen dicken Mann an der Bar. »Das ist Phil. War zwei Mal verheiratet, ist aber eigentlich immer noch in sein Highschool-Sweetheart verliebt, die allerdings den Bürgermeister geheiratet hat. Sie ist zwar unglücklich, aber sie lenkt sich davon in Komitees und Bücherclubs ab. Da drüben«, sie deutete auf einen Tisch, der etwas weiter weg von der Theke war, »sitzen die Millers mit ihren vier Blagen. Keiner weiß, warum die nicht aufhören, Kinder zu kriegen, denn ganz offensichtlich können sie Kinder nicht leiden.«
Ryan sah zu der turbulenten Familie. Die Eltern waren mit ihren Smartphones beschäftigt und ignorierten die wilde Meute, die kauend um ihren Tisch wirbelte und sich mit Essen bewarf.
»Dann gibt es noch Agnes.« Carly zeigt jetzt auf eine hagere alte Dame an der Bar, die allein in der Ecke saß. Sie hatte einen weißen Haarknoten und trug eine lavendelfarbene Strickjacke.
»Sie trinkt jeden Tag zwei Mint Julips und schweigt. Dann geht sie nach Hause und liest ihren Katzen Jane Austen vor. Das macht sie, seit ihre vierzehnjährige Tochter bei einem Autounfall gestorben ist. Die hat nämlich Jane-Austen-Romane geliebt. Und das«, Carly wandte sich ihm wieder zu, sie kaute noch immer Kaugummi, »ist das, was hier wichtig ist.«
Ryan trank einen Schluck Bier und sah Carly nachdenklich an. Sie grinste, zog einen Stift aus ihrer Jeans und nahm seinen Arm.
»Und wenn du bereit bist, deine Story zu erzählen, dann ruf mich doch an«, sagte sie, während sie ihre Nummer auf seinen Unterarm schrieb. Dann zwinkerte sie ihm zu und verschwand samt ihrem Eisteeglas.
Ryan genoss die Stille und aß sein Steak. Hinter der Bar stand Kip und versorgte alle mit Getränken. Als ihre Blicke sich trafen, wusste Ryan, dass auch der Barkeeper ihn nicht wiedererkannte. Es war, als würden sie sich sein Gesicht nicht merken, obwohl er der einzige Fremde in der Stadt war. Vielleicht merkten sie es sich auch gerade deshalb nicht. Er war nun mal eine Art Mann ohne Vergangenheit.
Zumindest hier in Sandwood.
***
»Whiskey!«, forderte Josie und plumpste auf den Barhocker.
Kip warf das Abtrockentuch über die Schulter, stützte seine Arme auf und sah sie skeptisch an. »Wirklich? Willst du nicht erst mal was essen?«
»Oh Gott. Nein«, wehrte Josie ab. »Aunt Mabel hat mir einen ganzen Apfelkuchen gebacken. Und ich habe ihn komplett aufgegessen. Alleine. Mir ist schlecht.«
Er lachte. »Du hast einen ganzen Kuchen gegessen?«
»Ja. Mit Kohlenhydraten und allem. Wobei … ich glaube, sie hat den Zucker vergessen. Trotzdem viel zu viele Kalorien. Und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.«
»Klar hast du das. Musst du aber doch nicht. Wenn der Kuchen lecker war … Man muss sich doch auch mal was gönnen.«
»Man schon. Aber ich nicht. Josie Torn nicht.«
»Bist du denn noch Josie Torn?«
Sie krauste nachdenklich die Stirn. »Torn. Zerrissen. Mehr denn je.«
»Sind wir das nicht alle?« Kip zog eine Augenbraue hoch. »Aber offiziell trittst du doch im Moment gar nicht auf. Oder?«
Josie seufzte. »Die Medien sind trotzdem ungnädig. Jetzt wahrscheinlich mehr denn je. Und eh ich mich versehe, ist plötzlich eine Bloggerin auf Durchreise in Sandwood, schießt ein Handyfoto von mir, und dann werde ich im Internet hingerichtet. ›Seht, wie fett Josie Torn geworden ist. Kein Wunder, dass wir keine neuen Songs mehr von ihr hören. Sie ist jetzt zu fett zum Singen.‹«
»Du spinnst ja.«
»Nein, mein lieber Kip. Die Medienwelt spinnt.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Hast du schon was getrunken?«
»Ein bisschen Wein beim Abendessen.« Sie musste aufstoßen. »Na ja. Statt Abendessen. Emily macht immer eine Flasche auf. Jeden Abend. Emily ist nämlich erwachsen.«
»Kip, ein Bier«, rief jemand am anderen Ende des Tresens.
Ohne hinüberzusehen, holte er eine Flasche raus, öffnete sie und ließ sie über die Bar hinübersausen.
»Josie, du bist auch erwachsen.«
Sie grinste und nickte. »Und deshalb will ich Whiskey trinken.«
Kip betrachtete sie nachdenklich. Er sagte nichts, und machte auch keine Anstalten, sie mit ihrem Drink zu versorgen.
»Worauf wartest du noch?«
»Darauf, dass du vernünftig wirst. Du bist jeden Abend hier und trinkst eine ganze Flasche …«
»Aber heute ist es besonders schlimm, mein lieber Kip.« Sie angelte mit dem Arm nach seinem Hut und setzte ihn sich schräg auf den Kopf. »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?«
»Klar.« Er beugte sein Ohr näher zu ihr.
Sie flüsterte: »Ich bin eine miserable Musikerin.«
»Quatsch.«
»Doch, doch. Alle wollen, dass ich meine langen blonden Haare hin- und herwerfe, meine No-Carb-Hüften schwinge und Kaugummicountry singe, der von Kreativmaschinen geschrieben wurde. Meine Songs will keiner.«
»Du schreibst Songs?«
»Sch, nicht so laut. Und nein, ich schreib nix. Ich hör viel mehr mit dem Songschreiben auf.«
Kip seufzte und schob einem anderen Gast ebenfalls ein neues Bier hin.
Josie legte ihren Kopf auf den Tresen, jetzt war nur noch Kips Hut und ein Meer von hellblonden Haaren zu sehen. »Ich bin sehr traurig.«
»Und betrunken.«
»Noch nicht betrunken genug.«
»Du solltest nach Hause gehen, Josie.«
Sie hob den Kopf. »Nur einen kleinen Whiskey. Einen klitzekleinen. Ich verspreche auch, dass ich nicht an die Karaokemaschine gehe.«
»Das will ich hoffen«, brummte ein Rancharbeiter.
»Bevor das passiert, hau ich das Teil eigenhändig mit dem Vorschlaghammer kaputt!«, brüllte ein anderer.
»Hey, die war teuer«, wandte Kip ein und holte seinen Hut zurück. Er setzte ihn leicht schief auf seine dunklen Locken. »Hier zerstört niemand irgendetwas.«
Er betrachtete Josie. Sie war das All-American-Girl mit Pailletten-Cowboyhut und pinken Cowboystiefeln gewesen. Ihre blond gesträhnten Haare glänzten immer, sie war stets leicht gebräunt und perfekt geschminkt. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Eigentlich war sie immer noch die Art von Schönheit, die ganz Amerika liebte, nur eben etwas älter und weniger pink als damals.
Josie war ein Jahr älter als er und hatte die Highschool verlassen, als ihr erster Song gleich ein Megahit wurde. Sie war dann privat unterrichtet worden. Im Tourbus.
Kip war immer ein bisschen verliebt in sie gewesen. So, wie man eben verliebt in die Prom-Queen war, nur dass Josie eben niemals Prom-Queen gewesen war, sondern Country-Pop-Prinzessin mit Werbevertrag für eine Kosmetikmarke. Aber auf den Postern war sie ihm schon länger nicht mehr begegnet. Dafür sah er sie jetzt jeden Tag hier.
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte er.
»Wie meinst du das?«, entgegnete sie, ohne den Kopf von der Theke anzuheben.
»Warum bist du zurück nach Sandwood gezogen?«
Sie lachte bitter. »Na, was denkst du wohl? Mein letztes Album hat sich sehr viel schlechter verkauft als die zwei davor. Ich war ausgebrannt.« Endlich setzte sie sich halbwegs aufrecht hin. »Die Plattenfirma hat mich in den Urlaub geschickt.« Sie machte Anführungszeichen in der Luft und wiederholte: »Urlaub.«
»Aber Urlaub ist doch gut.« Lässig lag das Geschirrtuch über seiner Schulter.
»Sie haben mich fallen gelassen, Kip. Urlaub ist nur ein nettes Wort für gefeuert.«