Rosebank Rock - Mara Laue - E-Book

Rosebank Rock E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

Nach dem Selbstmord von Rockstar Jason Sempiternal vermisst sein Verleger das Manuskript seiner Memoiren und beauftragt Privatermittlerin Rowan Lockhart mit der Suche. Doch das Werk ist unauffindbar. Als Murran ermordet wird, finden Rowan und Inspector Bill Wallace Hinweise auf eine Erpressung, die alles in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Aber wer wurde erpresst? Und auch der verworrene Text von Jasons letztem Song gibt Rätsel auf. Vor allem: Wird in den Memoiren etwas offenbart, was unter keinen Umständen öffentlich werden darf?

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ROSEBANK ROCK

Ein Edinburgh-Krimi mit Rowan Lockhart

von Mara Laue

Vorbemerkung: Alle im Roman genannten Orte sind authentisch. Sofern es sich um die Adressen von nichtöffentlichen Gebäuden handelt, wurden jedoch die Hausnummern aus rechtlichen Gründen frei erfunden. Ebenfalls authentisch sind die im Roman beschriebenen Fähigkeiten der Kampfkunst Togakure-ryu. Alle Handlungen und Personen sind dagegen fiktiv. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Ereignissen wären Zufall.

Ein Glossar

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Nachbemerkung

Glossar

Danksagung

Reiseführer

Impressum

EINS

Donnerstag, 23. April

»Das Manuskript ist Millionen wert, Miss Lockhart.« Seamus Ferguson blickte sie eindringlich an. »Mein Verlag muss es unbedingt zurückbekommen. Koste es, was es wolle.«

Rowan Lockhart nickte, obwohl ihr die Millionen etwas übertrieben erschienen. »Ich werde mein Möglichstes tun. Zunächst brauche ich aber einige Informationen, allen voran die, wie das Manuskript überhaupt verschwunden ist.«

Der Verleger machte eine fahrige Handbewegung. »Das wissen wir leider nicht. Mr Sempiternal hatte uns erst eine Textprobe eingereicht. Aber ich fange am besten ganz am Anfang an.«

Rowan lächelte. »Das wäre hilfreich.«

»Sie wissen, dass sich Jason Sempiternal umgebracht hat?«

Sie nickte. »Das stand vergangenen Donnerstag im Scotsman.« Und Rowan hatte sich darüber gewundert, dass sich ein Mann, der sich den Künstlernamen Sempiternal – »immerwährend« – gegeben hatte, in so jungen Jahren das Leben nahm. Vielleicht hatte er sich gedacht, dass dadurch sein Name in Zusammenhang mit seiner Musik »immerwährend« erhalten bliebe.

»Schon vor Monaten hat mein Verlag mit ihm einen Vertrag für seine Memoiren gemacht«, fuhr Ferguson fort. »Wir haben ihm einen angemessenen Vorschuss gezahlt und ihm einen Laptop zur Verfügung gestellt, damit er das Manuskript nicht auf seinem eigenen Computer schreiben musste. Der ist ans Internet angeschlossen und hätte gehackt werden können. Und wenn die Memoiren von einem Hacker vorab veröffentlicht würden …« Wieder machte er eine fahrige Handbewegung. »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, welcher Verlust das für den Verlag wäre.«

»Ich kann es mir denken.« Rowan machte sich Notizen, weil man das von einer Privatdetektivin erwartete. Dabei hatte sie ihr Gedächtnis inzwischen so trainiert, dass sie alles, was Ferguson ihr sagte, auch ohne Notizen behielt. Und sie legte Wert darauf, diese Fähigkeit bei jeder Ge legenheit zu üben und zu perfektionieren.

Ferguson nickte. »Besonders im Hinblick auf die Brisanz der Memoiren.« Er beugte sich leicht vor. »Sempiternal hat angekündigt, dass er darin mit einigen Leuten aus seinem Umfeld und seiner Vergangenheit so richtig abrechnen wollte, wie er sich ausdrückte. Wenn jemand von denen das Manuskript in die Hände bekommt, sehen wir es nie wieder.«

»Hat er Namen genannt, wer diese Leute sind?«

Ferguson schüttelte den Kopf und wiegte ihn gleich da rauf hin und her. »Nicht direkt. Er hat nur angedeutet, dass wohl seine Freundin darin nicht gut wegkommt. Und sie wird garantiert nicht die Einzige sein. Aber we gen dieser Brisanz muss ich darauf bestehen, Miss Lockhart, dass Sie eine Verschwiegenheitsvereinbarung unter schrei ben, in der Sie sich verpflichten, das Manus kript, wenn Sie es finden, auf keinen Fall zu lesen.«

Ein ungewöhnliche Bitte. »Mr Ferguson, ich versichere Ihnen, dass Diskretion mein oberstes Gebot ist. Etwas anderes kann ich mir in meinem Beruf nicht leisten.«

»Das glaube ich Ihnen, und Mr MacGregor, der Anwalt unseres Verlages, der Sie uns empfohlen hat, versicher te uns, dass wir bei Ihnen in den besten Händen seien. Dennoch muss ich darauf bestehen.«

»Kein Problem«, stimmte Rowan zu. »Einen Blick werde ich allerdings hineinwerfen müssen, wenn ich es finde, um mich zu vergewissern, dass es tatsächlich das echte Manuskript ist und nicht nur ein Fake.«

Der Gedanke war Ferguson sichtbar unangenehm. Ro wan spürte bei ihm eine starke Nervosität. Bei dem, was für ihn und seinen Verlag auf dem Spiel stand, wunderte sie das nicht.

»Sie dürfen die ersten Seiten lesen. Das ist der Probetext, der uns vorliegt, und er enthält nur die Einleitung, wann und wo Sempiternal geboren wurde, die Namen seiner Eltern, seine ersten Kindheitserinnerungen. Nichts, was irgendwen kompromittieren könnte. Aber den Rest lesen Sie auf keinen Fall.«

»Wie Sie wünschen. Es existiert also ein Ausdruck des Manuskripts?«

Ferguson nickte. »Jason hätte es laut vertraglich vereinbarter Deadline spätestens in einer Woche eingereicht, am dreißigsten April. Ich habe noch einen Tag vor seinem Tod mit ihm telefoniert. Da sagte er, er wolle sich den Ausdruck noch ein letztes Mal durchlesen, bevor er ihn mir bringt.«

Rowan entging nicht der Wechsel vom distanzierten »Sempiternal« – ohne höflichen »Mister« als Bezeich nung – zum vertrauten »Jason«. Doch das musste nichts bedeuten, denn viele Verleger duzten sich mit ihren Autorinnen und Autoren. Allerdings deutete die Vertraulichkeit darauf hin, dass Ferguson und der Musiker wohl mehr als nur zwei oder drei Mal wegen des Manuskripts miteinander gesprochen hatten. 

»Ich habe, nachdem ich von seinem Tod erfahren hatte, sofort unseren Laptop aus seiner Wohnung geholt, der schließlich Eigentum unseres Verlages ist, und wollte auch das Manuskript mitnehmen.«

»Sie haben Zugang zu seiner Wohnung?«

»Seine Freundin hat mich reingelassen. Aber das Manu skript war nirgends zu finden, und auf dem Laptop war nichts gespeichert außer der Textprobe. Und die wurde gemäß Timecode seit Monaten nicht mehr bearbeitet. Da ich Jason zur Vorsicht geraten habe, bin ich mir sicher, dass er mit einer externen Festplatte oder einem USB-Stick gearbeitet und die Datei darauf gespeichert hat.«

Das handhabte Rowan genauso. Auf den Computern, die sie und ihre Angestellten beruflich nutzten und die ans Internet angeschlossen waren, wurden keinerlei Kundendaten abgelegt. »Und diesen externen Speicher haben Sie nicht gefunden?«, vergewisserte sie sich.

»Nein. Miss Malloy – seine Freundin – und ich haben zwar nach ihm und nach dem Manuskript gesucht, aber nichts entdeckt. Miss Malloy versprach mir zwar, die Suche fortzusetzen, aber …« Er wiegte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich traue ihr nicht. Ich weiß allerdings nicht, welche Vereinbarungen sie und Jason getroffen hatten, aber die beiden waren nicht verheiratet. Soweit ich weiß, hat er kein Testament hinterlassen. Das bedeutet, dass sie nichts erbt. Da er keine lebenden Verwandten mehr hat, gehört laut unserem Vertrag das Manuskript jetzt dem Verlag.«

»Und alle Einnahmen aus der Veröffentlichung ge hören dann ebenfalls Ihnen«, brachte Rowan es auf den Punkt. »Wissen Sie genau, dass er keine Verwandten mehr hat?«

Ferguson zögerte. »Meines Wissens nicht. Zumindest hat er immer behauptet, ich zitiere: ›ganz allein auf der Welt‹ zu sein.«

»Aber außer dieser Behauptung haben Sie dafür keinen Beweis?«, hakte Rowan nach. 

Wieder ein Zögern. »Worauf wollen Sie hinaus, Miss Lockhart?«

»Damit Sie keinen Reinfall erleben und es später kei ne Probleme gibt, werde ich auch nachprüfen, ob diese Be hauptung der Wahrheit entspricht oder ob es doch noch lebende Verwandte gibt, die erbberechtigt sind.«

Ferguson versteifte sich. »Das ist nicht Bestandteil Ihres Auftrags.«

Rowan lächelte gewinnend. »Aber ausschließlich in Ih rem Interesse, Sir. Stellen Sie sich vor, Sie veröffentlichen das Manuskript, verdienen viel Geld, das Ihr Verlag selbstverständlich teilweise zurücklegt, teilweise investiert – und eines Tags klopft jemand an Ihre Tür, der nachweisen kann, dass er oder sie Mr Sempiternal legitim beerbt. Abgesehen von der negativen Publicity, die das bringt – denn es gibt garantiert Leute von der Presse und andere, die dann behaupten werden, Sie hätten sich vorsätzlich unrechtmäßig bereichern wollen –, könnte das Ihren Verlag in finanzielle Schwierigkeiten bringen; je nachdem, in welcher Form Sie das Geld investieren. Von vornherein sicherzustellen, dass es tatsächlich keine Erben gibt, halte ich deshalb für sinnvoll.«

Auch dies war dem Mann sichtbar und spürbar unangenehm. Vermutlich fürchtete er, dass Rowan tatsächlich einen Erben fand und der Verlag dann nicht annähernd so viel Geld an Sempiternals Memoiren verdiente, wie er sich das ausgemalt hatte. Oder aber Ferguson wusste bereits, dass es einen Erben gab, und wollte nicht, dass der durch Rowans Nachforschungen von seinem Glück erfuhr. Doch sie wollte dem Mann nichts unterstellen.

»Sie haben Recht«, stimmte er ihr zu. »Prüfen Sie das ebenfalls.« Er runzelte die Stirn und blickte nachdenklich zum Fenster hin, ehe er Rowan wieder ansah. »Möglicher weise weiß Miss Malloy etwas darüber und will mit dem Erben oder der Erbin selbst ins Geschäft kommen. Ich traue der Dame auch durchaus zu, dass sie das Manus kript beiseitegeschafft hat, um es meistbietend zu ver kaufen. Natürlich können wir beweisen, dass sie zum Verkauf nicht das Recht hat, aber sollte es einem anderen Verlag gelingen, es zu veröffentlichen, ohne dass wir im Vorfeld Wind davon bekommen und die Veröffentlichung stoppen können, entgehen uns Tausende von Pfund – Hunderttausende vermutlich, bevor eine einstweilige Verfügung gegen den weiteren Verkauf greift. Um die Memoiren des berühmten Rockstars Jason Sempiternal reißen sich garantiert nicht nur die Fans. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie es schnellstmöglich finden. Schaffen Sie das?«

Rowan lächelte. »Ich tue mein Möglichstes.«

Ferguson zog einen Briefumschlag aus der Aktentasche, die er neben seinen Sessel gestellt hatte, und reichte ihn Rowan. »Hier ist eine Kopie des Vertrages, damit Sie sich davon überzeugen können, dass das Manuskript wirklich uns gehört.« Er räusperte sich. »Das Fehlen von Erben vorausgesetzt. Seine Adresse ist 38 Rosebank Cottages.«

Rowan nahm den Umschlag und legte ihn auf den Tisch, denn Ferguson holte einen zweiten Umschlag he raus und gab ihn ihr. »Und hier ist die Verschwiegenheitsvereinbarung.«

Rowan zog das Schriftstück heraus. Darin verpflichtete sie sich, das Manuskript nicht zu lesen, wenn sie es fand, und darüber hinaus über den gesamten Auftrag absolutes Stillschweigen zu wahren. Letzteres war selbstverständlich, denn seriöse Detekteien gaben weder ihre Aufträge noch deren Auftraggeber preis. Und mit Ersterem hatte sie kein Problem. Sie unterschrieb die beiden Exemplare der Vereinbarung und reichte Ferguson eins zurück. Der Mann atmete auf, als er es einsteckte.

»Ich hoffe, Sie finden das Manuskript schnell, Miss Lock hart. Wenn Sie es haben, bringen Sie es bitte mir persönlich. Schicken Sie es auf keinen Fall mit der Post.«

»Das wäre viel zu unsicher, Mr Ferguson. Sie können sich auf mich verlassen.«

Er blickte sie skeptisch an, ehe er nickte. Er nahm ein Scheckbuch aus der Jackentasche und füllte einen der Vordrucke aus, den er Rowan reichte. »Dies als Vorschuss und zur Abdeckung anfallender Spesen. Der Betrag gilt als nicht rückzahlbare Festgarantie, auch wenn Ihre Arbeit ihn wertmäßig nicht ausschöpfen sollte. Falls sie ihn überschreitet, zahlen wir die Differenz nach.«

Rowan blickte auf den Scheck: zehntausend Pfund. Eine stolze Summe, die trotz ihres Stundenhonorars von hundert Pfund eine Weile reichen würde. Davon und von etwaigen Spesen abgesehen bezweifelte sie, dass sie hundert Stunden für die Ermittlungen benötigen würde.

Sie betätigte die Gegensprechanlage auf ihrem Tisch. »Sunny«, wandte sie sich an ihre Sekretärin Sundari Munro, die im Hauptbüro eine Tür weiter saß. »Bitte einen Vertrag mit Stars Rise Publishing, vertreten durch Mr Seamus Ferguson. Besonderheit: Vorschusszahlung in Höhe von zehntausend Pfund als Festgarantie.«

»Sofort«, bestätigte die Anglo-Inderin.

Rowan wandte sich wieder an Ferguson. »Haben Sie das Probekapitel des Manuskripts dabei? Ich würde es mir gern ansehen.«

Der Mann zögerte, griff aber in seine Aktentasche, zog einen weiteren Umschlag heraus und reichte ihn Rowan. Sie nahm den Inhalt heraus, der aus einem relativ dünnen Stapel Papier bestand. Sie warf einen Blick auf die letzte Seite, die die Nummer dreiundzwanzig trug. Beim obersten Blatt handelte es sich um ein Deckblatt. Darauf stand: Rosebank Rock – Mein Leben als Musiker von Jason Sempiternal. Ein interessanter Titel, der sich wahrscheinlich auf den Wohnort des Musikers in den Rosebank Cottages bezog. 

Rowan schlug die erste Seite auf. Ein Foto dominierte das Blatt, auf dem ein altes Eckhaus zu sehen war, das seinem Erscheinungsbild nach im ärmlicheren Viertel einer Stadt zu finden sein musste. Nicht in Edinburgh, denn hier kannte Rowan jede Straße und jeden Weg, auch in den Außenbezirken. Das Bild wirkte düster, was nicht nur daran lag, dass auf der Aufnahme der Himmel so grau war wie das Haus und die Straßen davor. Eine Schar Krähen flog darüber hinweg und erinnerte an eine Szene aus Hitchcocks »Die Vögel«. Den einzigen Farbklecks bildete ein kleiner Busch roter Blumen in einem Blumen kübel vor dem Haus. Unterschrieben war das Foto mit »Mein Geburtshaus«, jedoch ohne eine Adresse. Der Text begann mit den Worten: »In diesem Haus wurde ich am 3. Februar 1988 geboren. Meine Eltern hießen Elizabeth Mary Hannay und Redmond Callum Hannay.« Doch auch im Folgenden wurde keine Adresse genannt.

Rowan deutete auf das Foto. »Wissen Sie zufällig, wo dieses Haus steht?«, fragte sie Ferguson.

»Warum wollen Sie das wissen?« Wieder klang seine Stimme misstrauisch.

Sie lächelte. »Weil ich dort mit der Suche nach etwaigen Erben beginnen könnte, falls andere Quellen nichts er geben.«

»Ich weiß es nicht. Jason hat immer ein großes Geheim nis aus seiner Herkunft gemacht. Bis ich mit ihm in Verhandlungen wegen der Memoiren trat, wusste nicht einmal ich, dass sein bürgerlicher Name Hannay ist oder wo er wohnt, geschweige denn, wo er geboren ist.«

Rowan blickte wieder auf das Foto und gab sich den Anschein, sich darauf zu konzentrieren, während sie Fergusons Stimme nachlauschte. Sie hatte einen feinen Unterton darin wahrgenommen, der nicht zum Inhalt des Gesagten passte. Der Mann log. Zumindest was die Behauptung betraf, er wisse nicht, wo Sempiternals Ge burtshaus stehe. Möglicherweise war er ebenfalls in der Gegend geboren und schämte sich dessen, weshalb er jede Kenntnis dieses Ortes verleugnete. Oder er wusste, dass Rowan dort Erben finden würde, und wollte ihr deren Auffinden erschweren. Im Moment war das nicht relevant.

»Wie ist Mr Sempiternal auf Ihren Verlag gekommen, um seine Memoiren anzubieten?«, fragte sie, um die Zeit zu überbrücken, bis Sunny den Vertrag fertig hatte.

»Wir sind auf ihn zugegangen. Anlass war ein Inter view, das der Radiosender Forth One mit ihm geführt hatte. Darin hatte er beiläufig geäußert, dass seine Memoi ren ein ganzes Buch füllen würden. Mein Chef hat mich daraufhin beauftragt, bei ihm anzufragen, ob er die Be haup tung nicht in die Tat umsetzen und seine Biografie schreiben wolle, die wir mit Freuden veröffentlichen würden. Jason hat sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten und dann zugestimmt.«

Sunny kam und legte Rowan den Vertrag in zweifacher Ausfertigung vor. Sie lächelte Ferguson zu, bevor sie den Raum verließ. Rowan las sich die relevanten Passagen durch, unterschrieb und reichte Ferguson den Vertrag. Der studierte ihn aufmerksam, ehe er nickte und ebenfalls unterzeichnete.

»Mr MacGregor hat nicht übertrieben, was seine Be urteilung Ihrer Detektei betrifft«, lobte er. »Sie bieten wirklich sehr faire Konditionen.«

»Darauf lege ich großen Wert.« Rowan lächelte. »Hat Mr Sempiternal vielleicht mal Verwandte erwähnt? Wenn man sich allein auf der Welt fühlt, heißt das nicht, dass man das tatsächlich auch ist, was Familie betrifft. Manchmal hat man zu denen nur schon seit Jahren keinen Kontakt mehr.«

So wie Rowan. Ihre Eltern hatten kein Wort mehr mit ihr gewechselt, als sie Doro geheiratet hatte, weil sie zutiefst missbilligt hatten, dass er Japaner war. Ein halbherziger Versöhnungsversuch nach ihrer Rückkehr aus Japan war gescheitert. Seit der Hochzeit ihrer Schwester Eileen mit Michael MacGregor hatte sie Eileen nur ein einziges Mal und ihre Eltern gar nicht wiedergesehen.

Ferguson schüttelte den Kopf. »Er hat niemanden er wähnt.«

Was nicht bedeutete, dass der Musiker nicht noch entfernte Verwandte hatte. Nach schottischem Recht erbten als Erstes die Kinder von Verstorbenen. Gab es keine, waren Eltern, Geschwister, Nichten und Neffen zu gleichen Teilen erbberechtigt. Erst danach erbte ein noch lebender Ehepartner. Gab es auch den nicht, erbten Onkel und Tanten. Existierten die nicht, waren die Großeltern an der Reihe und nach denen deren Geschwister. Danach traten weiter entfernte Verwandte das Erbe an. Gab es keine Erben, fiel der Nachlass an die Krone. Da Hannay aber ein alter schottischer Clan war, der noch heute existier te, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn Jason Sempiternal nicht wenigstens ein paar erbberechtigte Verwandte hätte.

»Falls Sie keine Fragen mehr haben, Mr Ferguson, sind wir für den Moment hier fertig.«

Ferguson steckte sein Exemplar des Vertrages ein und stand auf. »Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Ich erwarte einen täglichen Bericht. Sie verstehen: Bei allem, was für den Verlag auf dem Spiel steht …«

»Ich verstehe. Sie können sich auf mich verlassen.«

Rowan begleitete ihn hinaus, ging ins Hauptbüro, wo Sunny die Post bearbeitete, und las in Sempiternals Manuskript. Sunny legte ihr die Unterschriftenmappe auf den Tisch und lächelte ihr zu, bevor sie sich wieder auf ihren Platz setzte, die Kopfhörer des Diktiergerätes einstöpselte und zu tippen begann.

Der Türmelder kündigte an, dass jemand das Haus betreten hatte. Sekunden später kam Tank Parker ins Büro. Grinsend schwenkte der farbige junge Mann sein Smartphone. »Yo, Miss L, wir haben ihn erwischt.«

Rowan lächelte. »Gut für unseren Auftraggeber, schlecht für den Erwischten.« Sie hatte Tank losgeschickt, um Be weise für oder gegen die Anschuldigung eines Mannes zu sammeln, einer seiner Mitarbeiter würde Firmengeheimnisse an die Konkurrenz verkaufen. Offenbar war der Verdacht berechtigt.

»Ich schreib gleich den Bericht.« Tank setzte sich an seinen Tisch und kramte in der Schublade nach dem Übertragungskabel für sein Handy.

Rowan sah ihm eine Weile dabei zu. Tank, der eigentlich Tankred hieß, und sein Bruder Sammy waren zwei ihrer ersten Schüler in der Kampfkunstschule gewesen, die sie im Keller des Hauses zusammen mit ihrem Geschäftspartner und Mieter, dem Ex-Söldner Rory Lennox, betrieb. Rowan unterrichtete Togakure-ryu, Lennox praktische Selbstverteidigung. Tank war von dem, was er nebenbei über Rowans Tätigkeit als Detektivin mitbe kommen hatte, so fasziniert gewesen, dass er sich entschlossen hatte, ebenfalls professioneller Detektiv zu werden, und sofort nach seinem Schulabschluss ihr Lehrling geworden war. Schon jetzt zeigte sich, dass er einmal ein hervorragender Ermittler sein würde.

Sie blickte zu Sunny, die ganz in ihre Arbeit vertieft war. Die Detektei hatte während des vergangenen Jahres einen ungeahnten Aufschwung erlebt, den Rowan manchmal kaum fassen konnte. Sie hatte sich auch noch nicht vollständig daran gewöhnt, Arbeitgeberin zu sein und neben Sunny und Tank als Vollzeitangestellten noch ein paar Honorarkräfte zu beschäftigen. Einen Teil dieses Aufschwungs hatte sie ihrer exzellenten Arbeit zu verdanken, die sich mittlerweile in Edinburgh und teilweise sogar darüber hinaus herumgesprochen hatte; nicht nur, weil ihr Schwager Michael MacGregor, für dessen Kanzlei sie ab und zu arbeitete, fleißig die Werbetrommel rührte.

Der andere Teil des Erfolgs erfüllte sie immer noch mit Trauer. Ihr Ex-Mann Hidoro Nobushi war vor zwei Jahren an den Folgen des Fukushima-Unglücks gestorben. Rowan war in seinen letzten Stunden bei ihm gewesen, und Doro hatte ihr buchstäblich seinen letzten Atemzug mit einem Kuss geschenkt. Zwar waren sie schon lange geschieden gewesen, aber ihre Liebe zueinander existierte immer noch. Besonders nachdem Rowan begriffen hatte, dass Doro nur deshalb auf die Scheidung gedrängt hatte, damit sie ihr Zuhause in Yamagata verließ, das nur etwa dreißig Meilen von Fukushima entfernt war. 

Er kannte sie genau und hatte gewusst, dass die Scheidung Rowan nicht nur aus Yamagata vertreiben, sondern dass sie Japan verlassen und nach Schottland zurückkehren würde. Er hatte sie in Sicherheit und am Leben wissen wollen. Die Scheidung war trotz des damit einhergehenden Leids für sie beide ein Akt ultimativer Liebe gewesen. Andernfalls wäre Rowan in Japan geblieben und ebenfalls eines viel zu frühen Todes gestorben.

Damit, dass sich sein Tod für sie als Vorteil erwiesen hatte, haderte sie immer noch. Nach Doros Tod gab es außer ihr niemanden mehr, der die Kampfkunst-Tradition der Familie Nobushi fortführen konnte. Das zu tun hatte nicht nur Doro, sondern auch ihr Schwiegervater Yoshio sie inständig gebeten – nein: sie verpflichtet. Auch er und seine Frau Akiko hatten bereits unter den Folgen von Fukushima gelitten. Ihren einzigen Sohn zu verlieren, hatte ihnen den Grund zu leben entzogen. Yoshio hatte nach Doros Tod Rowan noch einmal fast ein Jahr lang intensiv trainiert und ihr die letzten Geheimnisse des Togakure- ryu offenbart. Anschließend hatten er und Akiko rituellen Selbstmord begangen, weil sie ihre Lebensaufgabe als erfüllt ansahen und nicht hatten warten wollen, bis sie elendig an den Folgen der Verstrahlung starben.

Dass Rowan nach Yoshios und Akikos Tod eine reiche Frau war, trug nicht gerade dazu bei, ihren Seelenfrieden, vielmehr ihre innere Mitte zu finden. Die beiden hatten ihr ihren gesamten Besitz vermacht, zu dem auch ein nicht unbescheidenes Kapital zählte. Erst als Rowan den Haushalt in Yamagata auflöste und das Haus nach dem Verkauf ausräumte, hatte sie herausgefunden, wie vermögend die Nobushi seit Generationen gewesen waren. Wenn Rowan nur die Hälfte der teilweise seit Jahrhunderten im Besitz der Familie befindlichen Antiquitäten verkaufte, hätte sie selbst bei einem verschwenderischen Lebensstil bis ans Ende ihrer Tage ausgesorgt. Keine Geldsorgen mehr zu haben, war allerdings eine ungeheure Erleichterung. Der Detektei und ihrer Kampfkunstschule kam das ebenfalls zugute. Sie musste als Detektivin nicht mehr jeden Job annehmen, um über die Runden zu kommen, und konnte sogar Angestellte beschäftigen.

Rowan schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf ihren Fall. Das Manuskriptfragment, das Ferguson ihr überlassen hatte, gab nicht viel her. Außer dem Foto, von dem auch auf den folgenden Seiten nicht erwähnt wurde, in welcher Stadt das abgebildete Haus stand, gab es keinen Hinweis auf – was auch immer. Außer seinen Geburtsdaten und ein paar Allgemein plätzen hatte Sempiternal nichts geschrieben. Geschwister oder Verwandte erwähnte er nicht, stattdessen betonte er ausschweifend, was für liebevolle Eltern er gehabt hatte, bis sie gestorben waren, als er acht Jahre alt gewesen und ins Heim gekommen war. Mit der Information, dass das Heim die Hölle gewesen sei, endete das Manuskript.

Rowan vermutete, dass die Hölle vielleicht ein fortgesetzter Missbrauch durch Erzieher gewesen sein könnte. Von solchen Fällen hörte man leider immer öfter. Wenn Sempiternal das hatte publik machen wollen und vielleicht auch die Namen der Täter genannt hatte, wäre das in der Tat ein hochbrisantes Buch.

Rowan nahm eine neue Aktenmappe, beschriftete sie und legte das Manuskript und den Vertrag mit Stars Rise Publishing hinein. Anschließend überflog sie die Kopie des Vertrages, den der Verlag mit dem Musiker geschlossen hatte, ehe sie ihn ebenfalls in die Mappe legte. Ferguson hatte die Wahrheit gesagt, dass sein Verlag das alleinige Anrecht auf das Manuskript hatte, falls Sempiternal keine Erben hinterließ. Der Vertrag trug das Datum vom zehnten Oktober 2014.

Als Nächstes rief sie im Polizeirevier Torphichen Place an. Dort arbeitete ihr Jugendfreund Bill Wallace beim Criminal Investigation Department. Außerdem stand Ro wan beim CID auf der Liste der Informanten, weil sie dem Department in der Vergangenheit ein paarmal geholfen hatte, Fälle aufzuklären, und ihre Mitarbeit dadurch offiziell abgesegnet war.

»Hiya, Row!«, meldete sich Bill nach dem dritten Frei zeichen, nachdem die auf seinem Display eingeblendete Nummer ihm verraten hatte, wer die Anruferin war.

»Hiya, Bill. Haben wir nicht ein wunderschönes Wetter für April?«, leitete sie das Gespräch mit der üblichen Plauderei über das Wetter ein. Dass Bill darauf einging, zeigte ihr, dass er allein im Büro war. Er teilte es sich mit seinem Vorgesetzten, Detective Chief Inspector Duncan Rose, und wenn der misanthropische Rose mit im Raum war, gab sich Bill erheblich zugeknöpfter.

»Welchem Umstand verdanke ich deinen Anruf?«, er kundigte er sich, nachdem sie sich über das Wetter einig waren.

»Jason Sempiternals Selbstmord ist seit einer Stunde mein Fall. Euer Revier ist doch dafür zuständig?«

»Ja, aber das ist kein Fall«, meinte Bill. »Wie du schon sagst, war es Selbstmord. Unsere Untersuchungen haben keinen Hinweis auf Fremdverschulden ergeben.«

»Wie es aussieht, hat er vor seinem Tod noch Memoiren geschrieben, die jetzt verschwunden sind. Ich soll sie finden.«

Sie hörte Bill scharf einatmen. »Memoiren? Davon weiß ich nichts. Seine Lebensgefährtin hat uns davon nichts gesagt.« Er machte eine Pause. »Und ich kann mich auch nicht erinnern, irgendwo ein Manuskript gesehen zu haben, als wir uns im Haus umsahen. Aber es kann natürlich sein, dass er das nur auf seinem Computer gespeichert hat. Am besten redest du mit der Freundin. Sie heißt Murron Malloy und wohnt bei ihm. Sie müsste das wissen.«

Rowan nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Das habe ich als Nächstes vor. Allerdings hat er angeblich seinem Verleger gegenüber behauptet, dass er das fertige Manuskript schon ausgedruckt hatte. Er hätte es nächste Woche abgeben müssen.«

»Hm. Wie gesagt, mir ist kein Manuskript aufgefallen. Was nicht heißt, dass es nicht existiert. Wenn man sich umbringen will, lässt man nicht unbedingt seine Memoi ren offen rumliegen.«

»Oder erst recht als Vermächtnis an die Welt. Besonders wenn man berühmt ist. Was hat er denn in seinem Ab schiedsbrief geschrieben?«

»Er gehört zu denen, die keinen hinterlassen haben. Da er aber schon vorher öffentlich mehrfach verkündet hat, sich im Alter von siebenundzwanzig umzubringen, hat er das wohl nicht für nötig gehalten.«

Das klang plausibel. »Womit hat er sich denn umgebracht?«

»Gift. Zyankali, um genau zu sein. Eine ordentliche Dosis in ein Glas Whisky, sicherlich auf ex getrunken – und das war’s.«

»Blasphemie«, meinte Rowan. »Es war doch hoffent lich kein Singleton?« Der Singleton war ihr beider Lieblings whisky, ein erlesener Single Malt, der sich geschmacklich um Längen von den meisten Blended Whiskys abhob.

»Nein, schlimmer.« Sie hörte Bills Stimme an, dass er grinste. »Ein Rosebank.«

»Noch schlimmere Blasphemie«, stimmte Rowan ihm zu, denn die Rosebank Destillerie war seit Langem ge schlossen. Die einzigen Flaschen, die man noch bekommen konnte, waren entsprechend alt und nicht nur ge schmacklich sehr wertvoll.

»Apropos Singleton: Genehmigen wir uns heute Abend nach dem Training einen Schluck? Oder musst du arbeiten?«

Auch Bill trainierte in Rowans Kampfkunstschule, wann immer er die Zeit dazu fand. Was in den letzten Wochen seltener der Fall gewesen war, denn er war von seiner langjährigen Billigwohnung im Muirhouse-Viertel in ein eigenes Haus in der Ladysmith Road gezogen, die nur ein paar Ecken von Rowans Haus und Schule in der Blackford Avenue entfernt war. Die Einrichtung und Renovierung kostete Zeit, denn Bill legte Wert darauf, sein neues Heim eigenhändig herzurichten. Allerdings lehnte er Rowans Hilfe und auch die von Rory Lennox nicht ab.

»Falls sich nichts anderes ergibt, habe ich heute Abend frei«, antwortete Rowan. »Bei dir oder bei mir?«

»Bei dir. Bei mir ist es noch nicht wohnlich genug. Ich freu mich drauf.«

»Ich mich auch«, stimmte Rowan ihm zu. »Bis heute Abend also.«

Sie unterbrach die Verbindung, stand auf und nahm ihre Jacke vom Garderobenständer. »Sunny, Tank, ich bin unterwegs. Wenn jemand anruft …«

»Notieren wir seine Daten und machen einen Termin fürs Erstgespräch«, ergänzte Sunny lächelnd und winkte ihr zu.

»Und recherchiert doch mal über Stars Rise Publishing. Was die so veröffentlichen und vor allem auch, wie es um deren Finanzen bestellt ist.«

»Machen wir, Miss L«, stimmte Tank ihr zu und hob grüßend die Hand.

Rowan verließ das Haus, stieg in ihren Wagen und fuhr nach Fountainbridge zu den Rosebank Cottages.

ZWEI

Rowan parkte ihren Opel auf dem Gardener’s Crescent, von dem die Rosebank Cottages als eine Straße mit zwei Seitenstraßen abzweigte. Die erste hieß ebenfalls Rosebank Cottages. Die zweite gehörte zur quadratischen An lage der Rosemount Buildings und hieß auch so. Wäh rend sie den Wagen verriegelte und über die altersgefurchten grauen, roten und anthrazitfarbenen Pflastersteine in die Seitenstraße ging, rief sie sich ins Gedächtnis, was sie über die Rosebank Cottages wusste, die immerhin ein wichtiges Zeitzeugnis der Stadt darstellten. Nach ihrer Rückkehr aus Japan hatte sie versucht, hier ein Haus zu kaufen, das günstig angeboten wurde, und sich deshalb über das Viertel schlaugemacht.

In den 1850er Jahren hatte Sir Seamus Gowans den dreizeiligen Häuserblock im Kolonialstil gebaut, um bessere Wohnbedingungen für die Arbeiterklasse zu schaffen. Durch den Baustil mit seinen unregelmäßig großen Mauer steinen wirkten die Häuser urig und erinnerten an alte Burgen. Mit jeweils zwei Geschossen, von denen jedes vier Zimmer besaß, einem Garten um jedes Haus und einer Außentreppe, die ins Obergeschoss führte, waren die Wohnungen unmittelbar nach ihrem Entstehen und noch bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für Industriearbeiter und ihre Familien Luxusunterkünfte gewesen. Heute lebten in vielen dieser Häuser Kunstschaffende aller Art.

Rowan hatte erwartet, dass Jason Sempiternals Haus von trauernden Fans umlagert war, doch auf den Rosebank Cottages herrschte kein größerer Betrieb als wohl sonst auch um die Mittagszeit. Auch fehlten vor Haus 38, dem letzten Haus in der Seitenstraße, Blumen und Kerzen, die am Todesort berühmter Persönlichkeiten normalerweise in Massen niedergelegt wurden. War die Adres se, die Seamus Ferguson ihr gegeben hatte, womöglich falsch? 

Da dieses Haus das kleinste des gesamten Blocks war, hatte es nicht wie die anderen zwei Eingänge – einen unten, einen oben –, sondern nur einen im Obergeschoss. Rowan stieg die Treppe hinauf und fand am Briefkastenschlitz der grün gestrichenen Tür nur ein einziges Namensschild, auf dem »Malloy/Redmond« stand. Demnach wohnte hier definitiv Sempiternals Freundin. Und auch er selbst hatte hier wohl gewohnt und den Vornamen seines leiblichen Vaters fürs Türschild verwendet, vermutlich damit nicht jeder gleich erkannte, dass in diesem Haus der Rockstar Jason Sempiternal residierte.

Rowan klingelte und musste nicht lange warten, bis sich die Gardine am Fenster neben der Tür bewegte. Rowan trat einen Schritt zurück und winkte der Frau hinter der Scheibe, die sie mit unwillig gerunzelter Stirn misstrauisch ansah, lächelnd zu. Die Frau ließ die Gardine fallen, und Rowan hörte ihre zögernden Schritte zur Tür kommen. Als sie die öffnete, lag eine Sicherheitskette davor.

»Was wollen Sie?«

»Miss Malloy? Mein Name ist Rowan Lockhart. Ich bin Privatermittlerin.« Sie hielt eine Visitenkarte in den Spalt zwischen Tür und Rahmen. »Sie sind doch Murron Malloy?«

Die Frau nickte. Rowan schätzte sie auf Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig. Leicht geschwollene Lider und gerötete Bereiche unter den Augen zeigten, dass sie geweint hatte.

»Mr Sempiternals Verleger hat mich beauftragt, des sen Memoiren zu finden, die angeblich verschwunden sind. Wenn Sie ein bisschen Zeit haben, würde ich gern von Ihnen erfahren, wann Sie das Manuskript zuletzt gesehen haben. Vielleicht ergibt sich aus Ihren Beobach tun gen ein Hinweis auf seinen Verbleib, dem ich folgen kann.«

Rowan spürte Abwehr bei Murron Malloy, gepaart mit Ärger, als sie das Manuskript erwähnte. Vermutlich fasste sie Rowans Besuch als Anschuldigung auf, dass sie es gestohlen haben sollte, wie auch Ferguson angedeutet hatte. Rowans Frage nach ihren Beobachtungen und die Wortwahl »angeblich verschwunden« zeigte ihr hoffentlich, dass sie sie nicht ebenfalls des Diebstahls bezichtigen wollte. Trotzdem zögerte sie, sie hereinzubitten. Rowan fühlte, wie Murron Malloy mit sich rang. Einerseits sehnte sie sich offenbar nach einem Gespräch mit jemandem, andererseits blieb das Misstrauen.

Wieder einmal staunte Rowan, wie deutlich sie die Ge mütslage anderer Menschen spüren konnte, seit Yoshio ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. Togakure-ryu war schließlich nicht nur eine Kampfkunst, sondern eine Le bensphilosophie, zu der auch intensives psychologisches Training gehört.

Murron Malloy löste die Sicherheitskette, ehe sie die Tür weit öffnete und zur Seite trat. »Kommen Sie rein. Mögen Sie einen Tee? Ich habe grad welchen gekocht.«

»Gern. Vielen Dank.« 

Rowan trat ein und fand sich in einer gemütlich eingerichteten Wohnung wieder. Warme Erdfarben wie Goldbraun, Grün und Ocker dominierten, gespickt mit ein bisschen Orange und Blau. Die grün gestrichenen Wände verliehen dem Haus die Atmosphäre, in einem Wald zu sein. Dazu trug auch der dezente Tannenduft bei, der von ein paar Duftstreifen stammte, die an den Fenstern hingen.

Murron Malloy bedeutete Rowan, ihr zu folgen, und führte sie ins Erdgeschoss in eine geräumige Küche. Mit einer Handbewegung bot sie ihr Platz an einem runden Tisch an, den eine Tischdecke mit großflächigen Sonnenblumen schmückte.

»Hat dieser Verleger-Arsch Ihnen etwa auch erzählt, ich hätte die Memoiren gestohlen?« Murron Malloy blickte Rowan finster an.

Sie nickte und lächelte entschuldigend. »Hat er. Aber ich bin professionelle Ermittlerin. Ich glaube grundsätzlich nichts, wofür ich keine Beweise habe. So hat man uns das damals auf der Polizeischule beigebracht.«

Ein überraschter Blick. Murron Malloys missmutig ge runzelte Stirn glättete sich ein wenig. »Ich wusste nicht, dass Privatdetektive die Polizeischule besuchen.«

»Tun sie nicht. Ich war ein paar Jahre bei der Polizei, bevor ich feststellte, dass ich lieber meine eigene Herrin bin, und den Dienst quittierte. Ist erheblich lukrativer, wenn man genügend Aufträge hat.« Sie lächelte wieder und zwinkerte Murron zu.

Die lächelte ebenfalls, wenn auch nur flüchtig, doch Rowan spürte das Eis zwischen ihnen schmelzen.

»Ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Mitgefühl zu Ihrem Verlust ausdrücken, Miss Malloy. Ich weiß, wie es ist, wenn man den Mann verliert, den man liebt.« Auf Murrons erstaunten Blick fügte sie hinzu: »Ich bin seit zwei Jahren Witwe.« Genau genommen war sie das nicht, aber sie fühlte sich so.

»Tut mir leid.« Ein kurzes Zögern. »Ich bin Murron.«

»Rowan. Wenn ich fragen darf: Warum wirst du nicht von Fans belagert, die um ihr Idol trauern?«

Murron stellte Teebecher, Honig und eine Schale Kartoffelchips auf den Tisch. »Sorry, ich habe weder Milch noch Zucker oder irgendwelches Gebäck. Bin nicht zum Einkaufen gekommen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Kein Problem. Wenn man jemanden verloren hat, wird Einkaufen vorübergehend unwichtig.«

Murron nickte. Tränen traten in ihre Augen. Sie wischte sie mit dem Blusenärmel weg und atmete tief durch, ehe sie sich an den Tisch setzte. »Ja, die Fans. Die umlagern Jasons Grab. Deshalb gehe ich immer nur nachts hin. Dass sie hier nicht herkommen, hat einen einfachen Grund. Jason legte sehr großen Wert darauf, niemanden wissen zu lassen, dass er hier wohnt. Wir wollten unsere Ruhe haben. Darum hat er auch immer diese schrille Kappe, die Langhaarperücke und den falschen Bart getragen. Weißt du sicherlich. Dass Haare und Bart falsch waren, natürlich nicht, das war ein Geheimnis.«

Rowan nickte. Bei dem Bericht im Scotsman über Sempiternals Tod war auch ein Foto gewesen, das den Musiker mit langen dunklen Haaren und einer quietschgelben Baseballkappe mit der Aufschrift »Greatest Star on Earth« zeigte. Natürlich fehlten auch die überdimen sionale Sonnenbrille und ein Vollbart nicht, um das Bild des schrillen Rockstars zu vervollständigen.

»Hinter der Bühne, wenn die Konzerte vorbei waren«, fuhr Murron fort und schenkte Rowan und sich Tee ein, »hat er das Zeug abgelegt, die Bühnenkleidung ausge zogen und sich als Mitglied der Crew ausgegeben.« Sie lächelte, und wieder füllten sich ihre Augen mit Trä nen. »Erstaunlich, dass niemand das Ganze durchschaut hat.«

Rowan fand das weniger seltsam. Schließlich gehörten Tarntechniken auch zu ihrem Job. Normale Menschen sahen immer nur das, was sie erwarteten zu sehen. Sempiternals Fans hatten garantiert nach einem Mann Ausschau gehalten, der zumindest hinsichtlich Haarfarbe, Bart und der charakteristischen Mütze aussah wie ihr Idol. Wenn Sempiternal sich zusätzlich noch umgezogen hatte, waren sie sicherlich an ihm vorbeigegangen, ohne ihm einen zweiten Blick zu gönnen, weil seine Erscheinung nicht in ihr optisches Suchraster passte.

Murron sah Rowan in die Augen. »Ich habe dieses Scheißmanuskript nicht. Der Verleger-Arsch hat einen halben Tag hier alles durchsucht, und ich Idiotin hab ihm auch noch dabei geholfen. Weil er es nicht gefunden hat, hat er mich zum Dank dafür beschuldigt, es gestohlen zu haben. Aber was soll ich denn mit dem Ding?« Sie sprang auf, drehte Rowan den Rücken zu, trat ans Fenster und starrte hinaus.

Rowan konnte sich ebenso wie Seamus Ferguson einiges vorstellen, was Murron mit »dem Ding« anfangen könnte, hütete sich aber, das zu sagen. »Mr Ferguson ist der Überzeugung, dass es als Buch eine Goldgrube wäre.«

Murron schnaubte und drehte sich wieder zu ihr um. »Ja, kann ich mir denken! Die ihn und seinen Verlag reich macht. Aber …« Sie brach in Tränen aus und schlug die Hände vors Gesicht.

Rowan ging zu ihr und streichelte sanft ihren Rücken. »Das tut mir so leid, Murron.« Sie ließ auch ihre Stimme sanft und einschmeichelnd klingen und strahlte bewusst Anteilnahme und Verständnis aus. Murron fühlte sich verstanden und fasste Vertrauen zu ihr. Rowan führte sie zum Tisch zurück und rückte ihr einen Stuhl zurecht. 

Murron setzte sich und wischte sich erneut die Tränen mit dem Blusenärmel ab. »Sorry«, murmelte sie. »Du musst mich für eine ausgemachte Heulsuse halten.«

»Ganz und gar nicht. Als mein Mann gestorben ist, habe ich Rotz und Wasser geheult und mich wochenlang verkrochen.« Zumindest hätte sie das getan, wenn Yoshio und Akiko sie nicht rücksichtslos zum Training gezwun gen hätten, trotz ihrer eigenen Trauer um ihr einziges Kind.

Murron starrte auf das geblümte Tischtuch, ehe sie Rowan ansah. »Ich brauche Jasons Memoiren nicht, um über die Runden zu kommen. Ich bin – war – auch seine Managerin, und er hat mir ein verdammt gutes Ge halt dafür gezahlt. Was der Arsch behauptet, dass ich das Manuskript versteckt habe, um es selbst zu Geld zu machen – das habe ich nicht nötig! Und mit Jasons Erinnerungen Geld zu scheffeln – da käme ich mir vor wie ein Leichenfledderer.«

Das mochte stimmen, denn Rowan hatte den Eindruck, dass Murron es ernst meinte. »Wohin könnte es verschwun den sein?«

Murron blickte sie zögernd an. Sah zur Seite. Auf den Tisch, zum Fenster. Knetete ihre Finger und rollte die Lippen nach innen, als wollte sie etwas für sich behalten, was zu sagen es sie andererseits drängte. Schließlich sah sie Rowan erneut in die Augen. »Du bist Privatdetektivin. Arbeite für mich und finde raus, wer Jason umgebracht hat.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Er hat nie im Leben Selbstmord begangen!« Noch heftigeres Kopfschütteln, dass ihre blonden Haare ihr um den Kopf flogen. »Nie im Leben! Aber die Polizei glaubt das einfach nicht.« Flehend sah sie Rowan an. »Bitte! Er hat sich nicht umgebracht. Dazu war er nicht der Typ.«

Zumindest Murron war davon überzeugt. Die Gefühle, die sie ausstrahlte, waren nicht die eines Menschen, der die offensichtliche Wahrheit zu leugnen versuchte.

»Angeblich hat er seinen Selbstmord angekündigt, weil er in den ›Club siebenundzwanzig‹ wollte.«

»Blödsinn!« Murron seufzte. »Ich meine, ja, er hat öffent lich davon gesprochen. Aber das war nur Show. Marketing. Wir wollten dadurch den Verkauf seines neuen Albums promoten.« Sie wiegte den Kopf. »War vielleicht nicht so ganz die tolle Idee, aber sie hat funktioniert. Das Album steht seit seinem Release ganz oben in den Charts.«

Rowan hielt absolut nichts von solchen makabren Marketinginstrumenten. Aber sie hütete sich, das zu sa gen. »Nach meinen Informationen ist Jason an Gift ge storben. Zyankali, um genau zu sein. Das riecht man und schmeckt man, auch wenn es in Alkohol verabreicht wird. Wenn jemand ihn hätte vergiften wollen, hätte er doch das stinkende Zeug nie getrunken.«

»Doch, hätte er! Er konnte überhaupt nichts riechen! Er litt an Anosmie. Und schmecken konnte er obendrein auch nichts. Darum konnte er ja auch nicht kochen. Er hat’s ein paarmal versucht. Entweder war das Zeug un genießbar fade oder noch ungenießbarer verwürzt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ihn mit Gift umzubringen war wirklich nicht schwer.« Wieder kamen ihr die Tränen. »Aber die Polizei glaubt das nicht, weil es angeblich keine Spuren gibt. Dabei ist das mit der Anosmie im Netz für jeden zugänglich. Jason hat ja auch auf der Bühne oft einen Witz darüber gerissen.«

Sie weinte eine Weile vor sich hin. Rowan streichelte ihren Arm, während sie die Sache überdachte und die Fakten zusammenzählte: kein Abschiedsbrief, ein Selbstmord aus heiterem Himmel – vorausgesetzt, Sempiternals öffentliches lautes Nachdenken darüber war wirklich nur ein schlechter Marketing-Gag gewesen –, das verschwundene Manuskript, in dem er mit etlichen Leuten abrechnen wollte und das er nur wenige Tage später beim Verlag eingereicht hätte … Unter diesen Umständen war ein Mord nicht ausgeschlossen. Schließlich hätte es wenig genützt, nur das ausgedruckte Manuskript und vielleicht noch den USB-Stick zu stehlen, auf dem es gespeichert war, denn Sempiternal hätte jederzeit ein neues schreiben können. Stars Rise Publishing hätte in dem Fall sicher gern noch ein paar Wochen darauf gewartet.

Andererseits kannte Rowan die saubere Ermittlungsarbeit des CID und vor allem der Abteilung unter Chief Inspector Rose, erst recht der von Bill. Wenn es nur den geringsten Hinweis auf Fremdverschulden gegeben hätte, Bill hätte ihn entdeckt. Rose ebenfalls. Der Mann mochte sich die meiste Zeit über als unleidlicher Misanthrop geben, aber sein Handwerk verstand er ausgezeichnet.

Murron beruhigte sich und sah Rowan an. »Er hat sich ganz bestimmt nicht umgebracht«, wiederholte sie.

Rowan drückte sanft ihren Arm. »Ich glaube dir. Aber um zu ermitteln, brauche ich etwas mehr als deine Überzeugung, dass es Mord war. Wenn du Recht hast, muss der Täter oder die Täterin jemand sein, der ein starkes Motiv hat. Menschen gehen nicht aus heiterem Himmel hin und bringen jemanden um. Die Hemmschwelle ist bei den meisten Leuten viel zu hoch. Außerdem brauchte derjenige die Gelegenheit zur Tat. Er oder sie musste sicherstellen, mit Jason zum geplanten Zeitpunkt der Tat allein zu sein. Und er oder sie musste insofern die Möglichkeit dazu haben, weil man Zyankali nicht in einem Supermarkt kaufen kann.« Rowan blickte Murron bedeutsam an. »Wenn du Recht hast, dann ist es höchstwahrscheinlich jemand, den er kannte. Gehen wir die Sache mal logisch durch. Wer wusste, dass er hier wohnt? Und dass er der berühmte Jason Sempiternal ist.«

Murron dachte nach. »Die Band natürlich, denn sie haben oft genug im Keller geprobt. Der ist schalldicht isoliert, damit uns die Nachbarn nicht die Polizei auf den Hals hetzen. Die Plattenfirma hat seine Adresse, der Verleger-Arsch, die Webmasterin seiner Homepage, seine Bank und natürlich die Behörden.«

»Und seine Freunde sicherlich auch.«

Murron schüttelte den Kopf. »Er hat keine Freunde. Jedenfalls keine außerhalb der Band. Er hat immer gesagt, dass er sich bei keinem Menschen sicher sein kann, ob der mit ihm nicht nur befreundet sein will, um sich in seinem Ruhm zu sonnen oder sogar ein Stück vom Kuchen abzugreifen. Die Leute von der Band und ich, wir kennen ihn schon aus der Zeit, bevor er berühmt wurde. Wir haben zusammen Musik studiert. Und bevor du fragst: Von uns hat garantiert keiner einen Grund, ihn umzubringen. Er war schließlich derjenige, der uns unser Gehalt gezahlt hat.«

Doch wenn jemand befürchtete, in den Memoiren auf eine Weise bloßgestellt zu werden, die ihn oder sie vernichten könnte, vielleicht sogar deswegen strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen, wäre der Verlust des Einkommens ein vergleichsweise geringer Preis. Was besonders für die Bandmitglieder galt, die vermutlich auch nach Sempiternals Tod weiterhin am Erlös der gemeinsam eingespielten Stücke beteiligt waren.

Davon abgesehen gab es noch andere Leute, die Zugang zu der Adresse hatten, wie zum Beispiel Angestellte der Plattenfirma und des Verlages. Und die Post und sämtliche Nachbarn wussten das natürlich auch. Letztere mochten vielleicht nicht gewusst haben, dass er Jason Sempiternal war, aber auch von denen könnte einer ein Mordmotiv haben, das mit den Memoiren nichts zu tun hatte. Außerdem mochten die meisten Menschen auf Sempiternals Verkleidung hereingefallen sein, aber es gab bestimmt auch welche, die genauer hingesehen hatten. Einer von denen konnte ihm gefolgt sein und ihn ausspioniert haben. Falls er wirklich ermordet worden war, kämen dafür auf den ersten Blick eine Menge Leute infrage – unabhängig von einem möglichen Motiv.

»Vielleicht können wir den Kreis der Verdächtigen ein grenzen«, überlegte Rowan. »Hat Jason Namen ge nannt von Leuten, mit denen er in seinen Memoiren abrechnen wollte? Dem Verleger gegenüber hat er be hauptet, das seien einige Leute aus seinem Umfeld und seiner Ver gangen heit.«

Murron seufzte und schüttelte den Kopf. »Darüber hat er nichts gesagt. Überhaupt hat er um dieses Manuskript ein großes Geheimnis gemacht. Wenn er daran gearbeitet hat, ist er immer in den Probenraum gegangen, und ich durfte ihn dann nicht stören.« Sie dachte nach. »Ich glaube, die Arbeit daran hat ihm zu schaffen gemacht. Seelisch. Hinterher hat er sich jedes Mal so merkwürdig benommen, war in düsterer Stimmung und manchmal richtig grimmig. Wenn ich ihn gefragt habe, was los ist, hat er behauptet, es sei ›nichts‹.«

Rowan grinste flüchtig. Sie kannte diese Floskel allzu gut. Auch ihr Vater hatte sie immer benutzt. Der Tonfall, in dem er dieses »Nichts!« hervorgestoßen hatte, widersprach dem jedoch.

Wieder legte Rowan Murron die Hand auf den Arm. »Wie gesagt, Murron, ich glaube dir, dass Jason ermordet worden sein könnte. Aber ich muss wissen, woran du das festmachst. Hat ihn jemand bedroht? Oder hat er sich von jemandem bedroht gefühlt?«

Murron schüttelte langsam den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Darum glaubt auch die Polizei das nicht. Ich meine, außer einigen Kommentaren von Trollen auf der Website und anderswo im Netz, die seine Musik und ihn selbst für Scheiße hielten, war da nichts.«

»Hat er jemandem außer dir und dem Verleger von den Memoiren erzählt?«

Murron trank einen Schluck Tee. »Öffentlich nicht. Aber die Band wusste natürlich Bescheid.« Sie schüttelte den Kopf. »Dass es von denen jemand gewesen sein könnte, halte ich, wie gesagt, für ausgeschlossen. Wir alle haben darin eine tolle zusätzliche Promotion gesehen.«

Und somit wusste auch jeder von den Memoiren, dem ein Bandmitglied stolz davon berichtet hatte – was garantiert der Fall gewesen war –, dass er in Jason Sempiternals Biografie erwähnt werden würde.

Murron sah Rowan eindringlich an. »Woran ich das festmache: Zwei Tage nach Jasons Tod«, wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie aber unterdrückte, »habe ich festgestellt, dass Dinge im Haus fehlen. Eigentlich nichts Besonderes, aber …« Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

»Was für Dinge?«

»Ein Buch und ein altes Notizbuch, das seinem Vater gehört hat.« Murron machte eine fahrige Handbewegung. »Ein Kinderbuch, das du wahrscheinlich auch kennst: Wind in the Willows.«

Und ob Rowan das kannte. Sie und Bill hatten sich früher gegenseitig daraus vorgelesen und zusammen mit den Kumpels ihrer Gang manches Mal die Abenteuer vom Kröterich und seinen Freunden Dachs, Ratte und Maulwurf mit verteilten Rollen gespielt. Sie nickte.

»Das Buch, das Notizbuch und eine Flasche mit fünf undzwanzigjährigem Rosebank Single Malt waren das Einzige, was er noch von früher besaß, also von seinen leiblichen Eltern. Er hat nach ihrem Tod eine Weile im Heim gelebt, bevor er zu einer Pflegefamilie nach Edin burgh kam. Diese drei Dinge waren ihm sehr wichtig. Er hätte sich nie von ihnen getrennt. Sie standen immer im Wohnzimmer, das Buch im Regal, das Notizbuch dane ben und die Flasche direkt davor. Er hat sie nie angerührt, denn er konnte den Whisky ja nicht schmecken.« Wieder blickte Murron Rowan bedeutsam an. »Er hat, eben weil er nichts schmecken konnte, immer nur Wasser getrunken. Also warum sollte er, wenn er sich wirklich hätte umbrin gen wollen, ausgerechnet das Gift dafür in Whisky tun, der ihm so viel bedeutete?« 

»Vielleicht gerade deshalb«, vermutete Rowan. »Um sich dadurch in der einzigen ihm möglichen Form mit seinen verstorbenen Eltern zu verbinden.«

Murron machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mag sein. Aber es muss jemand hier gewesen sein, der das Buch und das Notizbuch mitgenommen hat. Und der muss Jason umgebracht haben.« Die Tränen flossen erneut, und Murron weinte wieder eine Weile vor sich hin.

Das gab Rowan die Gelegenheit, alles in Ruhe zu überdenken. Immer vorausgesetzt, Sempiternal war tatsächlich ermordet worden, ergab das Verschwinden von Buch und Notizbuch in dem Zusammenhang keinen Sinn. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Es sei denn, beides war wertvoll. Zwar wurde Wind in the Willows immer wieder neu aufgelegt, doch ein antiquarisches Exemplar, vielleicht sogar eine gut erhaltene Erstausgabe, könnte einiges wert sein. Aber ein Notizbuch? Zwar gab es immer mal wieder Sondereditionen hochwertiger Notizbücher, die teilweise sogar mit echtem Blattgold verziert waren, doch Rowan konnte sich nicht vorstellen, dass diese beiden Dinge so viel wert sein könnten, um dafür jemanden gezielt zu ermorden. Ausgeschlossen war das natürlich nicht. Andererseits bestand auch die Möglichkeit, dass das Verschwinden von Buch und Notizbuch gar nichts mit Sempiternals Tod zu tun hatte.

Eine andere Ungereimtheit hielt Rowan für klärungs bedürftig. »Nach meinen Informationen war Jason acht Jahre alt, als er ins Heim kam. Dort wird man ihm als Kind wohl kaum erlaubt haben, eine Whiskyflasche zu besitzen. War diese spezielle Flasche wirklich von seinem Vater? Oder war das nur ein Mythos, den er sich zurechtgelegt hat, um wenigstens ein bisschen von seinen Eltern zu ha ben, was er mit ihnen identifizieren konnte?«

Murron schüttelte den Kopf, entschuldigte sich und verließ die Küche. Rowan hörte kurz darauf eine Toilettenspülung und Wasser laufen. Als Murron zurückkam, hatte sie sich wieder gefasst.