Rote Linie- Autobiografie einer Seele - Jan Eickmann - E-Book

Rote Linie- Autobiografie einer Seele E-Book

Jan Eickmann

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Beschreibung

Rote Linie –Autobiografie einer Seele. Diese Autobiografie ist persönlich, nah und ehrlich. Bereits im Mutterleib trifft der Alkohol auf den ungeborenen Jungen und legt so seine ersten Grundsteine, für ein schweres Leben. Die Mutter ist eine Alkoholikerin und der Vater gewalttätig. Nachdem sich die Eltern scheiden lassen, wächst Jan bei seiner alkoholkranken Mutter auf, bis er mit neun Jahren zu seiner Tante und seinem Onkel kommt. In dem Glauben, ein Zuhause gefunden zu haben, entpuppt sich dieses Leben als ein Trauma aus Gewalt, Missachtung und sexuellen Übergriffen seines Onkels, an dem neunjährigen Jungen. Schonungslos erzählt Jan vierzig Jahre später in seinem Buch "Rote Linie - Autobiografie einer Seele", über den Schmerz, seine Geschichte der Verzweiflung und die Aussicht, dass das Leben trotz alledem lebenswert ist.

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Rote Linie

Autobiografie einer Seele

Jan Eickmann

1. Auflage, 2020

2. Auflage 2021

© Alle Rechte vorbehalten.

Korrektorat & Lektorat: Suanne Thaus

http://www.lektorat-thaus.de

Cover: Jan Eickmann

Jan Voisin

c/o Block Services

Stuttgarter Str.106

70736 Fellbach

[email protected]

Für meine Seele.

Für meine Geschwister.

Für alle, die jetzt leiden.

Triggerwarnung: In diesem Buch geht es um sexuellen Übergriffe und Schläge.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die ersten Erinnerungen

Vorschulzeit

Delirium

Geschwister

Mutter

Onkel und Tante

Prügel

Ich kann nicht schlafen

Windeln

Stromstoß

Lass mich nicht fallen

Helgoland

Gulasch

Blinddarm

Räum auf

Canasta

Vater

Christos

Weihnachtskalender

Verschickung

Angst

Heimzeit

Zurück in die Hölle

Zweiter Anlauf

Berlin

Epilog

Hier findest du mich

Vorwort

Wir haben das Jahr 2012 und ich habe schon einiges in meinem Leben erlebt, schöne wie schlechte Dinge. Manche waren so mies, dass ich jetzt mit Anfang vierzig darüber schreiben muss. Ich habe mich lange dagegen gewehrt und insgeheim tue ich es immer noch, denn ich dachte, alles hinter mir gelassen und alles verarbeitet zu haben. Doch kann man das überhaupt? Wie will man die Narben, die bei Traumata im Gehirn entstehen, wieder wegbekommen? Das geht nicht - und so lebt man sein Leben mit all diesen Narben auf der Seele, im Gehirn und im Herzen weiter.

Ich habe lange überlegt, ob ich dieses Buch schreiben soll, denn was kann es bringen, über vergossene Milch zu weinen. Passiert ist passiert, könnte man meinen, doch so einfach ist es dann eben doch nicht.

Erst wollte ich der Welt mein Leid klagen und alle wissen lassen, was mir zugestoßen war. Es sollte eine Anklage an die Gesellschaft werden, eine Abrechnung, und das ist es jetzt auch geworden.

Irgendwann hat sich mein Gefühl beim Schreiben verändert. Mir wurde klar, dass das hier viele Menschen lesen werden. Vielleicht ist auch der ein oder andere dabei, der ähnliche Sachen erlebt hat und dem dieses Buch helfen kann.

Es ist gut möglich, dass es dir den Mut schenkt, etwas zu klären, jemanden zur Verantwortung zu ziehen, was ich nicht mehr kann, weil alle verstorben sind und ich erst 2019 die Wahrheit erfahren habe.

Ich wünsche es dir.

Ich erhoffe mir, dass dieses Buch Menschen tangiert, die vielleicht Kindern wehgetan haben und einsehen, dass es der falsche Weg ist. Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun, sich selbst zur Verantwortung zu ziehen und einen anderen Weg einzuschlagen.

Es ist aber auch ein Schlussstrich. Irgendwann im Leben muss man das tun, denn sonst laufen einem das Leid, der Schmerz und die Trauer immer hinterher und versauen das ganze Leben. Das klingt vielleicht rotzig und auch trotzig, aber so ist es. Du hast nur dieses eine Leben und solange du Zeit darauf verschwendest, dich und dein Schicksal immer wieder zu beweinen und zu beklagen, wird sich nichts ändern.

Das ist mein Weg, mein ganz persönlicher.

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass die Menschen meiner Vergangenheit immer noch aus dem Totenreich nach mir greifen, aber damit ist jetzt Schluss!

Das hier ist meine Geschichte. Meine Geschichte aus Liebe, Leid, Vertrauen und Demütigungen, aber es ist auch ein Neubeginn.

Die ersten Erinnerungen

Ich war kein Wunschkind. Meine Mutter erzählte mir, dass ich das Ergebnis eines geplatzten Kondoms gewesen sei. Das ist Ironie des Schicksals, denn ich hatte immer das Gefühl, dass ich in dieser Familie nicht den Platz hatte, der mir zustand. Meine Mutter war Alkoholikerin, als ich unterwegs war, und so kam ich schon sehr früh mit dem Gift in Berührung. Jeder weiß, dass Alkohol nicht gerade das Wachstum und die Entwicklung eines Kindes fördert. Dass ich trotz alledem noch so geworden bin, wie ich heute bin, nenne ich Glück, denn aus mir hätte auch ein behindertes Kind werden können. Doch das Leben war zumindest am Anfang auf meiner Seite.

Dennoch habe ich die eine oder andere Störung in Form von langsamer Auffassung sowie beim logischen Denken und strukturierten Arbeiten.

Ich wurde im November 1970 morgens um 10:14 Uhr in einem Krankenhaus in Bergedorf geboren.

Meine Mutter nannte mich Bonifacius Kind, da sie gern dieses Bier trank. Ich war gut genährt, als ich auf die Welt kam, was wiederum auf das Bier zurückgeführt wurde. So erzählte man es mir immer wieder aufs Neue, als wäre dies eine Glanzleistung. Wir lebten damals in Hamburg und meine Mutter hatte mich und meinen Bruder zu versorgen. Sie war zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger Hausfrau.

Meine erste Erinnerung an meine frühe Kindheit ist Nikolaus. Meine Mutter wollte mich überraschen und hob mich hoch, damit ich an meinen Weihnachtsstiefel kam, der auf einer Fensterbank stand. Warum auch immer, ich weiß es nicht mehr, begann ich zu weinen. Irgendwie hatte mir der Stiefel Angst eingejagt. Meine Mutter tröstete mich. Das kam nicht sehr oft vor. Jedenfalls kann ich mich, nach diesem Ereignis, nicht daran erinnern, jemals wieder in den Arm genommen worden zu sein.

Meine Geschwister waren schon sechs bzw. zwölf Jahre älter als ich und erlebten das Familienleben logischerweise völlig anders. Ich kann mich kaum an eine Kindheit mit ihnen erinnern, sie dafür umso so mehr. Es ist merkwürdig, es sind nur einzelne Begebenheiten und ich kann sie kaum den richtigen Zeiten zuordnen.

Mein Vater liebte meine Mutter wohl sehr. Er ließ ihr vieles, was den Alkohol betraf, durchgehen, was wiederum zur Vernachlässigung von uns Kindern führte. Oft lag ich in meiner eigenen Scheiße in meinem Bett, weil meine Mutter mich vergessen hatte. Sie war mit dem Trinken beschäftigt und mein Vater zeigte selbst kein Interesse oder war am Arbeiten. Meine Oma und mein Opa väterlicherseits sprangen dann für meine Eltern in die Bresche und holten mich aus dem Elend heraus, wie sie mir später immer wieder stolz erzählten.

Ich kann nur vermuten, dass mein Vater arbeiten war und von alledem nicht viel mitbekam oder mitbekommen wollte.

Jedes Mal, wenn mir meine Großeltern die

>in deiner eigenen Scheiße< Geschichte erzählten, fühlte ich mich beschämt und schuldig. Dieses Gefühl wurde ich nie los in ihrer Gegenwart und leider bemerkten sie es auch nie über die Jahre.

Der Alkohol war ständiger Begleiter meiner Mutter.

Aber warum trinkt man? Manchmal hat man Sorgen oder man rutscht durch zu viele Feiern in die Alkoholsucht, was beides ganz gut auf meine Mutter zutrifft.

Ich wusste jedoch lange nicht, wie der Alkohol zu ihr gekommen war. Erst Scheidungsunterlagen, die ihr Einsamkeit und Vernachlässigung attestierten, erklärten mir dessen Einstieg in ihr Leben. Ich sollte vielleicht mehr Verständnis haben, denn meine Eltern wurden in den Krieg hineingeboren, jedoch kann ich keine Empathie aufbringen, wenn es um Kinder geht, die vernachlässigt werden. Es bei einem Kind zu versauen, ist eine Sache, aber bei drei Kindern, da ist ein Muster.

Sowohl meine Mutter als auch mein Vater waren durch den Krieg nicht oft in der Schule gewesen. Man könnte sie durchaus als einfach bis dumm bezeichnen, was den Umständen geschuldet war. Wenn ich bei meinen Eltern an das Gefühl von Liebe denke, kann ich mich in dieser Zeit an nichts erinnern, geschweige denn auf Erinnerungen zurückgreifen.

Vorschulzeit

Ich wuchs nach der Trennung meiner Eltern bis zur ersten Klasse bei meinem Vater auf.

Dessen Arbeit im Jugendclub als Hausmeister ist mir heute noch suspekt. Ich muss hin und wieder irgendwie in seine Arbeit oder in sein Freizeitvergnügen geraten sein. Ich erinnere mich daran, dass ich in einem großen Raum war und auf einmal völlig fasziniert auf etwas schaue, das an der Wand passiert. Um mich herum entdecke ich mir fremde Menschen, die wie ich auf die Wand blickten, wo sich eine afroamerikanische Frau völlig nackt, mit braun lackierten Fingernägeln, breitbeinig in den Schritt greift, um sich Lust zu verschaffen. Noch heute empfinde ich braune Fingernägel an Frauen als abstoßend. Vielleicht wegen solcher oder auch anderer Vorkommnisse sind wir wohl dann umgezogen.

Mitte der 70er war die Ehe meiner Eltern am Ende und beide reichten die Scheidung ein. Der Alkohol war ein fester Bestandteil dieser Ehe gewesen und so lebten mein Bruder und ich in Billstedt bei unserem Vater, meine Großeltern väterlicherseits eine Straße direkt überquerend gegenüber. Oft haben sie uns zugewunken, damit wir zu ihnen zum Essen kamen. Noch heute frage ich mich, wie ich es aus dieser Entfernung mitbekommen konnte.

Meine Schwester schien sich dem Drama bereits entzogen zu haben.

Wie sie mir Jahre später erzählte, tat sie, was in ihren Möglichkeiten stand. Mein Bruder und ich, teilten uns ein Zimmer mit einem Etagenbett bei unserem Vater, er schlief oben und ich unten. Hin und wieder gab es Streit, wer das Licht ausmachen sollte, meistens verlor ich und manchmal hatte ich auch Nasenbluten - Gerangel unter Geschwistern eben. Mein Bruder hatte trotz solcher Zwischenfälle zu dieser Zeit immer ein Auge auf mich und er passte, so gut es ihm eben möglich war, auf mich auf. Umso verletzender muss es für ihn gewesen sein, wenn ich ihn verpetzte und er eine ordentliche Tracht Prügel wegen mir bezog. Ich konnte nicht lügen, das kann ich heute immer noch nicht. Nichtsdestotrotz machte er Sachen, die mich bewusst verletzten. „Sailing“, ein Song von Rod Stewart, lief damals im Radio rauf und runter und mein Bruder erzählte mir dabei immer Geschichten zu diesem Song, die mich zum Weinen brachten. Auch er hatte etwas zu verarbeiten und meinte es wohl nicht böse, jedoch weinte ich bei vielen seiner Geschichten, denn er dichtete diesen Song um.

In seiner Version des Liedes ging es darum, dass unsere Mutter sterben würde und wir allein wären.

Mit sechs Jahren verkraftet man so etwas nicht so gut, aber auch er mit seinen zwölf Jahren wusste wahrscheinlich nicht, was er da sagte. Dennoch hat sich die Erinnerung in meinem Kopf festgebrannt. Jeder versuchte auf seine Weise, mit der Trennung unserer Eltern klarzukommen, vielleicht war das seine.

Noch heute höre ich den Song, obwohl er wirklich toll ist, mit einem bedrückenden Gefühl im Bauch.

Das Leben bei meinem Vater war kein Leichtes.

Manchmal wurde die Küche abgeschlossen, damit wir nicht ans Essen kamen. Als mein Bruder und ich trotzdem versuchten, sie zu öffnen, weil wir Hunger hatten, gab es Schläge. Ich hatte uns mal wieder verraten und mein Bruder musste das ausbaden.

So etwas wie Liebe spürte ich bei meinem Vater nie. Ich kann mich an keine väterliche Umarmung erinnern, an keinen Kuss auf die Wange oder an ein paar liebe Worte. Als ich als kleiner Knirps in einem unbeobachteten Moment mal seine Schallplatten aus dem Schrank kramte und zur Musik, die nur in meinem Kopf lief, direkt auf seinen Platten herumtanzte, flippte er völlig aus. Meine Oma erzählte mir, dass er mich schon da geschlagen hat, als er eindeckte, was ich da tat.

Mit sieben Jahren wurde ich eingeschult. Ich war furchtbar aufgeregt, dass ich endlich in die Schule durfte, also ging ich an dem Abend vor der Einschulung früh ins Bett. Mein Vater saß mit seiner Lebensgefährtin auf dem Balkon und ließ den Tag in der Abendsonne mit einem Bier ausklingen. Zu seiner Freundin hatten wir ein angespanntes Verhältnis. Wir hatten für sie schnell einen Spitznamen und dachten immer, sie kannte diesen nicht. Doch Jahre später erfuhren wir, dass sie ihn wusste.

Ich muss an dem Abend vor der Einschulung sofort eingeschlafen sein, obwohl es draußen noch hell war. Nach kurzer Zeit wurde ich wieder wach und glaubte, dass es der folgende Morgen sei. Aufgeregt und voller Erwartung sprang ich aus dem Bett. Ich rannte voller Elan ins Bad, machte mich fertig und suchte meinen Bruder und meinen Vater, jedoch fand ich niemanden vor. Ich ging in die Küche und ins Schlafzimmer meines Vaters, doch auch hier war niemand. Irgendwann schaute ich vom Wohnzimmer auf den Balkon und sah dort meinen Vater mit seiner Lebensgefährtin sitzen. Beide sahen mich und schauten mich ziemlich verdutzt an. Ich erklärte beiden, dass wir jetzt losmüssen, denn heute wäre doch meine Einschulung. Mein Vater stutzte und erklärte mir, dass ich erst vor einer halben Stunde ins Bett gegangen sei und wir noch nicht den nächsten Morgen hätten. Er schickte mich wieder zurück in mein Bett. Ich war enttäuscht. Jetzt noch mal schlafen und bis morgen warten, ich war überhaupt nicht müde. Doch der nächste Morgen kam und ich konnte endlich zur Schule gehen. Begeistert war ich aber nicht, denn ich hatte mir das alles völlig anders vorgestellt. Ich kann mich noch an das Gefühl erinnern, dass ich meine Lehrerin nicht mochte.

Sie war bestimmt sehr freundlich, aber ich hatte beschlossen, sie nicht zu mögen.

Ich verbrachte das erste Schuljahr noch bei meinem Vater, bis auch dieser von mir genug hatte und sein eigenes Leben führen wollte, in dem mein Bruder und ich keinen Platz mehr hatten. So kamen wir zu unserer Mutter, die viel Spaß mit ihrem Suff hatte, aber weniger mit uns.

Delirium

Unsere Mutter trank immer mehr und ich war zu klein, als dass ich das Ausmaß hätte überblicken können.

Der Alkohol gehörte zu meinem Alltag und ich wusste schon nicht mehr, wie ein anderes Leben hätte aussehen können.

Ich kann mich an keine Schulfreunde erinnern, was nicht verwunderlich ist, da mir aus dieser Zeit, was die Schule angeht, jegliche Erinnerung fehlt.

In der Schule war ich eher schlecht. Bedenkt man die Umstände, in denen ich aufgewachsen bin, ist es eigentlich ein Wunder, dass ich die Schule überhaupt geschafft habe.

Ich habe das meinem Bruder zu verdanken, denn er war es, der in seiner Jugend versuchte, mir ein Gefühl von Normalität zu geben.

Er sorgte für einen Ausgleich zwischen Schule und Freizeit.

Er und ich gingen oft auf einen Abenteuerspielplatz in Barmbek, den es heute wohl nicht mehr gibt. Es gab dort einiges, was man anstellen konnte. Ein richtiger Abenteuerspielplatz eben, mit Tischtennisplatte, Spielzeug und anderen Kindern in meinem Alter. Der Spielplatz war so beliebt, dass selbst die Bild-Zeitung damals darüber berichtete.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich fotografiert und auch tatsächlich in der Bildzeitung veröffentlicht wurde. Dieser Artikel hing kurze Zeit später bei mir in der Schule.

Er war mein ganzer Stolz, denn ich konnte endlich mal etwas anderes sein als das Kind, das sich mit Alkohol und Hunger beschäftigen musste.

Soweit ich mich erinnere, gab es niemanden an der Schule, der um unsere Situation zu Hause Bescheid wusste.

Natürlich war ich eher schlecht in der Schule. Ich war müde, wahrscheinlich auch mangelernährt und selten bei der Sache. Mein Bruder achtete auf unsere Mutter, damit diese irgendwie funktionierte und das Jugendamt nicht mitbekam, was bei uns los war. Gleichzeitig hatte er auch ein Auge auf mich.

An guten Tagen fanden wir eine Graupensuppe und frisch gewaschene Wäsche, an schlechten Tagen unsere Mutter betrunken vor.

Ab und an kam es vor, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte, sodass ich klingeln musste. An so einem Tag geschah es, dass unsere Mutter mir die Tür öffnete und fragte mich, was ich denn möchte. Ich erklärte ihr, dass ich meinen Schlüssel vergessen hätte. Sie fragte: „Wer sind Sie?“

Ich lachte und sagte:

„Ich bin es. Jan.“

„Ich kenne keinen Jan“, sagte sie mit ruhiger Stimme.

„Mama, ich bin es, bitte lass mich rein!“

Sie lächelte nur leicht und meinte, dass sie mich nicht kenne und schloss die Tür emotionslos zu, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Wieder klingelte ich, denn ich verstand nicht, was das sollte. Die Tür blieb verschlossen. Ich war in Sorge, denn ich hatte gesehen, wie leer ihr Blick war und wie abwesend sie wirkte.

Ich setzte mich auf die Treppe im Hausflur und weinte. So hatte ich sie noch nie gesehen und in mir kam das Gefühl der Überforderung auf. Handys gab es damals nicht. Da ich nicht wusste, wo mein Bruder war, blieb mir nichts anderes übrig, als erst einmal zu warten. Es vergingen circa zehn Minuten, bis ich mich erneut traute zu klingeln.

Ruckartig ging die Tür auf und meine Mutter bat mich herein, als hätten wir eben kein Gespräch geführt.

„Was war das eben?“, wollte ich von ihr wissen.

Abermals bekam ich keine Antwort von ihr.

Ich fühlte mich verunsichert und konnte das alles überhaupt nicht verstehen. Meine Mutter befand sich wieder im Delirium, was ich damals aber nicht wissen konnte. Der Alkohol hatte ihren Körper so sehr vergiftet, dass dieser nicht mehr funktionierte.

Wir saßen im Wohnzimmer und ich versuchte, die merkwürdige Stimmung in etwas Gutes zu verwandeln, indem ich ihr irgendetwas erzählte, was Achtjährige halt erleben.

Mitten in meinen Erzählungen unterbrach sie mich und sagte mir, dass wir aufs Dach müssten. Dort würden fliegende Autos sein, die sie gleich abholen kämen. Ich verstand nicht, was sie meinte und widersprach ihr, doch das schien sie überhaupt nicht zu erreichen.

Unruhig und fast weinend versuchte ich, ihren Gedanken zu folgen. Mit zittriger Stimme probierte ich, ihr zu erklären, dass es keine fliegenden Autos auf dem Dach gibt.

Sie schwankte in die Küche, nahm sich den Wäschekorb, der da schon eine Weile stand und ging zum Wäscheaufhängen auf den Dachboden, wo sie ihre fliegenden Autos erwartete. Während ich ihr vorsichtig folgte, plapperte sie lauter unsinniges Zeug vor sich her, von Kindern, die auf der Sonne wohnen und Autos, die jeden Tag dort oben wegfliegen.

Sie berichtete mir, dass die bereits alle an ihrem Fenster vorbeigeflogen seien und nun auf dem Dach warteten, um sie wegzubringen.

Jetzt brachen bei mir alle Dämme und ich weinte hemmungslos. Meine mir so vertraute Mutter wirkte wie eine Fremde auf mich.

Sie schaute mich liebevoll an und streichelte mir das Gesicht, als wüsste sie, wer ich bin und worüber wir uns unterhielten. Sie drehte sich um und ging in den Hausflur, zurück in unsere Wohnung.

Dort blieb sie am Eingang stehen, sah sich um, ging gleich ins Bad und schloss die Tür. Ich war erleichtert, dass sie in diesem Zustand nicht auf das Hausdach ging.

Selbst ich als Kind merkte, dass sie noch weniger sie selbst war als sonst. Ich überlegte, was ich tun konnte, als ich sie aus dem Bad rufen hörte. Ich rannte los und riss die Tür auf. Meine Mutter saß auf der Toilette, die Augen so weit verdreht, dass man fast nur noch das Weiße in ihren Augen sehen konnte. In ihrem Gesicht konnte ich ihre Panik sehen.

Ihr Gesicht und ihre Körperhaltung wirkten auf mich, als wäre sie geradewegs aus einem schlechten Horrorfilm gefallen, die ich damals schon als Kind sehen durfte. Dieser Anblick war furchtbar und zutiefst erschreckend für mich. Dieses Bild hat sich in meinem Kopf eingebrannt und ich werde es bis heute nicht mehr los.

Sie rief mir zu:

„Ich bin blind, ich kann nichts mehr sehen!“

Jetzt war auch ich in Panik. Ich schrie ihr entgegen, dass ich meinen Bruder holen würde.

Ich war gerade im Begriff, mich umzudrehen und loszurennen, als sie ihre Klarheit zurückerlangte.

In diesem Moment beruhigte sich meine Mutter wieder, stand von der Toilette auf und fragte mich, was denn gewesen sei. Anscheinend sah sie den Schrecken in meinem Gesicht.

Ich stand da und wusste nicht wirklich, was passiert war. Mir war nicht klar, was ich ihr darauf antworten sollte. Ich heulte und versuchte, das Geschehene irgendwie in Worte zu fassen.

Der Versuch, ihr alles zu erklären, scheiterte. Meine Mutter wiegelte ab und erklärte, dass ich mir das alles nur ausgedacht hätte.

Ich bemerkte schnell, dass all meine Erklärungsversuche für sie keinen Sinn machten, obwohl wir noch mitten in der Situation steckten.

Sie stritt alles ab und wirkte leicht gereizt.

Ich wusste nicht weiter und entschied, dass ich meinen Bruder suchen wollte. Auf die Schnelle fiel mir nur der Abenteuerspielplatz ein. Ich rannte die Treppe herunter und lief über die Straße zum Spielplatz, der keine zwei Minuten von unserem Zuhause entfernt war. Das Gelände war nicht gerade klein und ich hatte wenig Hoffnung, ihn zu finden. Alte Holzhütten und ein großes Gelände erleichterten mir die Suche nicht gerade.

Ich rannte in das kleine Häuschen für die Betreuer des Spielplatzes, in dem sie ihr Büro hatten.

Einer der Anwesenden erklärte mir, dass er ihn bei seinem besten Freund vermutete.

Ich wusste, wo dieser wohnte und wurde fündig.

Hektisch und völlig aufgelöst erklärte ich ihm, was passiert war. Auf dem Weg zu unserer Mutter versuchte ich, ihm das Erlebte unter Tränen zu erklären. Ich sah meinem Bruder an, dass alles, was ich ihm erzählte, ihn nicht überraschte. Seine beruhigende Art ließ auch mich ruhiger werden. Zu Hause angekommen, war alles wie immer. Unsere Mutter saß im Wohnzimmer, als wäre nie etwas passiert.

Mein Bruder sah, wie sie sich verhielt und fragte sie nur, ob es ihr gutginge, was sie bejahte.

Zurück in unserem Kinderzimmer erklärte er mir, dass ich ihn wieder sofort holen müsse, wenn so etwas noch einmal passieren sollte.

Er erklärte mir, dass auch er das schon gesehen hätte und es umso wichtiger sei, dass er darüber Bescheid wüsste.

Wir verbrachten den Rest des Tages miteinander und ich wich ihm nicht von der Seite. Ein paar Jahre später erzählte er mir, dass er damals in einer ähnlichen Situation war, dass unsere Mutter auch ihm wirre Sachen erzählte, was auf spastische Anfälle zurückzuführen war.

Ich kann mich nur an diesen einen Anfall erinnern, dafür aber recht deutlich.

Geschwister

Mein Opa war ein leidenschaftlicher Schwimmbadgänger, der auch gern mich und meinen Bruder mal dahin mitnahm. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, ich konnte noch nicht schwimmen und stand am Beckenrand. Ich schaute den Menschen und meinem Opa zu, als ich von hinten einen Stoß erhielt. Ohne dass mir klar wurde, was passiert war, landete ich im Schwimmbecken. Noch bevor ich realisieren konnte, was los war, sprang mein Bruder hinter mir her und fischte mich aus dem Becken, um sich anschließend den Schubser zur Brust zu nehmen. Ab jetzt trug ich immer meine Schwimmflügel, bevor ich in die Nähe des Wassers durfte. Trotz dieses Vorfalls liebte und liebe ich auch heute noch das Wasser und es ist mein liebstes Element.

Ich verbrachte immer mal wieder einige Zeit bei meiner Oma und meinem Opa, während wir bei meinem Vater lebten. Ich war gern bei ihnen, denn auch sie schienen sich zu freuen, wenn ich kam. Beide gaben mir Stabilität und es gab kaum Veränderungen. Mein Opa war für die „Bakkschaft“, den Abwasch, zuständig und meine Oma kochte. Mein Opa war früher zur See gefahren und erzählte gern von fernen Orten, die er besucht hatte.

Es wurde auf die Minute immer um zwölf Uhr gegessen. Ich weiß nicht, wie meine Oma es machte, doch um zwölf Uhr stand das Essen auf dem Tisch. Nach dem Abwasch las mein Opa noch ein wenig Zeitung auf der Couch und machte dann ein Nickerchen. Nachmittags gab es dann Kuchen oder ich bekam einen Teller mit Granny Smith Äpfeln in Zucker gewälzt und dazu etwas Schokolade. Ich liebte dieses Ritual. Ich saß in der Küche, aß meine Äpfel und hörte meinen Großeltern zu, wie sie sich unterhielten.

Beide flogen gern nach Spanien und eines Tages hieß es auch für meinen Bruder und mich: ab in den Flieger.

Ich war furchtbar aufgeregt. Ich war noch nie geflogen. Zudem hatte ich Angst, im Flugzeug auf das Klo zu gehen, hatte mir meine Mutter doch erzählt, würde ich im Flieger auf die Toilette müssen, würde mich der Sog aus dem Flugzeug saugen. Keine schöne Vorstellung für ein kleines Kind, also mied ich das Klo bis auf Weiteres.

Ich war doch erleichtert, als ich im Flugzeug aufgeklärt wurde, dass dem nicht so war. Misstrauisch blieb ich trotzdem.

Mein Bruder und ich teilten uns in Spanien ein Zimmer. Ich glaube, in jenen Tagen in Spanien waren wir uns so nah, wie Brüder sich nur sein können. Der Urlaub war herrlich, wir schwammen und aßen und hatten dank unserer Großeltern eine tolle Zeit. Hätte ich gewusst, was mich die nächsten Jahre erwartet, wäre ich nie wieder in das Flugzeug zurück nach Deutschland gestiegen.

Dennoch endete der Urlaub viel zu schnell und wir traten die Heimreise an.

Das Leben bei unserer Mutter war nicht einfach, denn wir wussten nie, was der Alkohol mit ihr machte.

Mein Bruder entschied eines Tages, dass wir statt der Tapete in unserem Zimmer doch lieber Alufolie als Wandschmuck verwenden sollten und begann gleich, alles damit zu tapezieren. Es gab wirklich keine freie Stelle mehr - damals der absolute Schrei in Sachen Raumgestaltung bei Jugendlichen.

Als unsere Mutter entdeckte, was wir getan hatten, wurde sie wütend. Mein Bruder und ich bemerkten sofort, dass sie betrunken war. Noch bevor wir uns erklären konnten, lallte sie los und riss die Alufolie um uns herum wieder runter. Das war das erste Mal, dass ich meine Mutter wütend sah.

Mein Bruder und ich hatten einige schöne Momente. Es war Sommer, wir hatten kurze Hosen an und wollten raus. Er hatte die Idee, Speere zu schnitzen, um hiermit so eine Art Speerwerfen zu machen. Er schnitzte mir einen Speer und zeigte mir, wie ich damit werfen soll. Ich war hellauf begeistert und fast schon besessen von diesem Ding, also schnitzte er einen weiteren Speer für mich. Ich warf den Ersten los und mein Bruder rannte hinterher, um den Speer zurückzuholen. Ich griff jedoch gleich nach dem Zweiten, den er liegen gelassen hatte. Mit ordentlich Schwung warf ich diesen in die Richtung, wo mein Bruder sich gerade nach dem ersten Speer bückte und nicht sah, was hinter ihm passierte. Der zweite Speer flog los und landete in der Wade meines Bruders, der schreiend zu Boden fiel. Ich rannte ihm entgegen und sah nur noch, wie die Speerspitze aus der Wade kippte und wie ein Löffel bei einer Kiwi ein Stück Fleisch aus dem Bein meines Bruders herausriss. Er schrie vor Schmerzen und der „Spaß“ mit den Speeren war vorbei.

Einige Tage später sah man nur noch eine kleine Narbe.

Geblieben ist über die ganzen Jahre bis heute ein Brudergefühl, wenngleich auch nicht so intensiv, wie es hätte sein können, wären wir unter anderen Bedingungen aufgewachsen.

Meine Schwester war zwölf Jahre älter als ich. Ich habe wenige Erinnerungen an sie aus einer gemeinsamen Zeit, was ich bedauere.

Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind gern ihre blonden Haare bürstete. Es gibt einige Fotos von uns beiden, die mich bis heute berühren, weil sie ihre Liebe zu mir spiegeln.

Mutter

Alkoholiker kümmern sich immer gut um ihre Spirituosen, aber seltener um ihr Umfeld. Ich erinnere mich an Zeiten, da hatten mein Bruder und ich so großen Hunger, dass wir rüber auf den Abenteuerspielplatz gingen, um uns dort unser Essen zu klauen. Dort gab es, neben jeder Menge Freizeitaktivitäten, auch Hasen und Meerschweinchen, die in Ställen gehalten wurden.

In einem unbeobachteten Moment griffen wir uns das Gemüse, welches für die Tiere gedacht war, damit wir etwas zu essen hatten und unsere Mägen aufhörten zu knurren. Natürlich litt nicht nur mein Bauch, sondern auch meine schulische Leistung unter dieser Situation. Wenn ich nicht mit der Suche nach Essen beschäftigt war, war meine Mutter das Problem. Sie hatte einen neuen Saufkumpanen gefunden, nicht der erste, aber der erste, an den ich mich erinnere. Das mit dem Alkohol wurde immer schlimmer für uns. Immer öfter mussten wir uns um sie kümmern. Manchmal marschierte sie einfach los und wir wussten, dass es ihr nicht gutging und folgten ihr heimlich. Sie ging auf die nächste Brücke, die sie fand und wollte sich hinunterstürzen. Sie meinte, sie müsse jemanden retten. Mein Bruder und ich hängten uns mit unserem ganzen Gewicht an unsere Mutter. Dieses Gefühl, sie so außer sich zu sehen, war immer schlimm. Ich war klein und ich hätte sie gebraucht. Stattdessen nahmen wir ihr den Alkohol weg und versuchten, ein normales Leben aufrechtzuerhalten, was natürlich nicht klappte. Mein Bruder wiederum versuchte, beide Elternteile zu ersetzen, da weder unsere Mutter noch unser Vater sich um uns kümmerten. Ich kann mir gar nicht die Überforderung vorstellen, die mein Bruder durchlebt haben muss.

Der Alkohol war allgegenwärtig.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal nachts durch das Wohnzimmer tobte, völlig überdreht von der Couch auf den Sessel sprang, weil sie zu später Stunde entschied, Saufen und Party in Einklang zu bringen. Es spielte keine Rolle, dass ich erst in die zweite Klasse ging und meinen Schlaf gebraucht hätte. Ich hüpfte und sprang über ihren Säuferbesuch drüber, bis mir der Kopf rot anlief und ich richtig Durst bekam. Meine Mutter reichte mir lachend ein großes Glas, ich dachte, es wäre Wasser und schüttete alles in mich hinein. Zu spät bemerkte ich, dass es Schnaps war.

Als ich alles wieder ausspuckte, was ich noch im Mund hatte, lachte sie und feierte weiter. Ich hatte das erste Mal einen sitzen.

Das Leben bei ihr war unruhig und unbeständig. An meine Schulzeit in der zweiten Klasse fehlen mir jegliche Erinnerungen. Ich habe ein Zeugnis, welches beweist, dass ich da war. Jedoch kann ich mich weder an Schulwege, Pausen oder Mitschüler erinnern. Hätte ich das Zeugnis nicht, würde ich behaupten, dass ich nicht zur Schule gegangen bin. Laut meinem Zeugnis habe ich nur sieben Tage gefehlt, also war es wohl mein Bruder, der für einen normalen Ablauf sorgte. Bei dem Zustand unserer Mutter kann ich mir kaum vorstellen, dass sie uns weckte.

Eine Querstraße weiter von unserem Zuhause lebte unsere andere Oma, Tikk Oma, wie wir sie nannten. Sie war schon sehr tüdelig, daher bekam sie diesen Namen. Hin und wieder fanden wir uns zum Mittagessen bei ihr ein und ich erinnere mich, dass ich aus ihrem Fenster hoch zu unserem sehen konnte.

Ich besuchte sie, so oft es ging, denn mit unserer Mutter ging es immer weiter bergab. Ich traf dort auch öfter auf meine Tante und meinen Onkel. Er war der Bruder meiner Mutter. Mein Bruder und ich übernachteten manchmal bei ihnen. Wir konnten sie beide auf den Tod nicht ausstehen. Doch ab und an schliefen wir da und waren froh, als wir da wieder wegkonnten.