Rotkäppchen - Werwolfjägerin - Sandra Bäumler - E-Book

Rotkäppchen - Werwolfjägerin E-Book

Sandra Bäumler

5,0

Beschreibung

Rotkäppchen ist erwachsen geworden. Einst töteten Werwölfe Elyras Eltern. Nun zieht sie durch die Lande, um die Bestien zu erschlagen. Als sie der geheimnisvolle und verflucht anziehende Jost zur Jagd anheuert, ist dies der Beginn eines Abenteuers, das Elyras Welt ins Wanken bringt. Ihr Jägerleben lang dachte sie, ihre Bestimmung wäre es, Werwölfe zu vernichten, doch es stellt sich heraus, ihr wahres Schicksal ist ein ganz anderes.

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Ich danke meinen total super Testlesern, ihr seid die Besten, und Anke, die ein scharfes Auge hat.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Prolog

Ach ja, ihr kennt also das Märchen vom Rotkäppchen? Nun, ich glaube nicht, dass das Märchen, das euch eure Eltern vor dem Einschlafen vorgelesen haben, wirklich die wahre Geschichte ist, denn dann hätten euch Alpträume den Schlaf geraubt. Wenn ihr nun bereit seid, will ich euch die wahre Geschichte erzählen.

Denn es ist meine Geschichte.

Kapitel 1

»Elyra, nimm endlich die Mütze ab und setz dich auf den Stuhl, damit ich dein Haar kämmen kann. Nach dem Essen ist Schlafenszeit«, sagte meine Mutter.

»Aber Mami, ein Fliegenpilz kann doch seine Kappe nicht absetzen, die ist festgewachsen«, widersprach ich, nahm trotzdem auf dem Stuhl vor ihr Platz.

»Dann wird aus dem Fliegenpilz eben wieder ein kleines Mädchen. Wenn du brav bist, erzähle ich dir das Märchen von Piroschka«, erwiderte Mutter vergnügt, zog mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch.

»Du hättest ihr dieses Ding niemals stricken dürfen, im ganzen Dorf heißt sie schon Rotkäppchen«, brummte mein Vater und warf ein Holzscheit in das Feuer unter dem Kessel, in dem Gersteneintopf schmorte. »Wenn der Fürst sieht, dass unsere Tochter mit so einer Kappe herumläuft, dann wird er wohl nicht sehr begeistert sein. Wie du weißt, ist die Farbe Rot nur dem Adel vorbehalten.«

»Ach, der soll sich nicht so haben. Elyra wollte wie ein schöner, roter Fliegenpilz aussehen und ich machte ihr die Freude. Sie ist doch noch ein Kind, und außerdem verirrt sich eh keiner dieser feinen Herren in unser Dorf mitten im Wald.« Mutter entflocht meine Zöpfe.

»Wenn man wie ein Fliegenpilz aussieht, sich bewegungslos zwischen die Bäume setzt, dann kommen die Elfen. Bestimmt trug Piroschka deshalb auch eine rote Kappe, als sie durch den Wald zu ihrer Großmutter ging. Nur vor der grünen Fee muss man sich in Acht nehmen, dieser Waldgeist führt meist nichts Gutes im Schilde«, raunte ich meinen Eltern zu, damit die scheuen Waldwesen mich nicht hörten und die List durchschauten. Bisher hatte ich zwar noch keine Elfe gesehen, aber es würde schon sehr bald passieren. Das wusste ich genau.

»Woher hat unser Kind nur diese ganze Fantasie?« Vater fuhr sich mit der Hand über den dunklen Bart und seufzte.

»Du bist etwas Besonderes, Kleines. Der Tag deiner Geburt war für mich der schönste meines Lebens.« Mutter strich über mit ihrer warmen Hand über meine Wange. »Jetzt sieh nach vorn, Rotkäppchen«, sagte sie, und ich drehte ihr den Rücken zu. Sanft glitt der Kamm durch mein Haar.

»Der Wastl hat mir das erzählt.« Ich wollte zu meinem Vater schauen, aber Mutter hielt mit sanfter Gewalt meinen Kopf fest.

»Ich sollte mal mit dem Schmied ein Wörtchen reden. Sein Sohn setzt dir immer solche Flausen in den Kopf. Morgen wirst du zu deiner Großmutter gehen. Dann kommst du auf andere Gedanken und Wastl kann dir nicht noch mehr Unsinn erzählen.« Vater rutschte auf die Bank gegenüber und entzündete seine Pfeife. Aromatischer Rauch zog durch die Stube. Ich mochte den Geruch von Lavendel. Das war der Duft von zuhause.

»Ich habe einen Korb zusammengepackt, den du mitnehmen musst. Oma freut sich schon auf dich«, sagte Mutter fröhlich.

»Ich freu mich auch schon«, erwiderte ich und kratzte nachdenklich meine Nase. »Sag mal, Mama, Oma hat braune Augen.«

»Ja, das stimmt Schatz«, bestätigte Mutter.

»Deine und Vaters sind auch braun. Wieso sind meine türkis?«

»Nun, wir haben auch dunkles Haar, du blondes. So ist das eben. Die Götter haben dich so gemacht«, erwiderte sie. Markerschütterndes Heulen durchbrach die nächtliche Ruhe des Dorfes.

»Was war das?«, flüsterte Mutter und hielt inne.

»Wahrscheinlich Wölfe.« Vater stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Ein noch grauenvolleres Heulen hallte durch die Nacht und dieses Mal stimmten weiter Tiere mit ein. Ich hielt die Luft an, eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Leib. So etwas Fürchterliches hatte ich noch nie in meinem Leben gehört.

»Ihr bleibt hier, ich schau mal nach.« Vater ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Mutter legte den Kamm auf den Tisch und machte ein paar Schritt in Richtung Tür. Erschrocken wich sie zurück, als diese nur Augenblicke später aufflog, gegen die Wand knallte und Vater hereinstürmte. Er sah aus, als hätte er etwas Furchtbares gesehen.

»Unser Dorf wird überfallen.« Hastig schlug er die Tür zu und schob den Riegel davor. Keinen Augenblick zu früh, denn jemand warf sich dagegen, das Holz stöhnte. Menschliche Schreie ließen mir das Blut in den Adern gefrieren, mein Herz sprang fast aus der Brust.

»Überfallen?«, wiederholte Mutter panisch und hob mich hoch. Ich schlang die Arme um ihren Hals, klammerte mich an sie. Wieder rumste jemand gegen die Tür, das Holz splitterte.

»Sie wird nicht mehr lange halten.« Vater rannte zur Truhe dem Bett gegenüber, räumte sie aus und warf den Inhalt achtlos daneben.

»Schnell, Elyra da rein«, befahl er und Mutter trug mich zu ihm.

»Nein, bitte, bitte nicht«, flehte ich, als sie mich hineinsetzen wollte, und hielt mich mit aller Macht an ihr fest.

»Sie wird dir hoffentlich Schutz bieten. Ich habe von Räubern gehört, die Kinder verschleppen. Wir suchen uns ein anderes Versteck, mein Kleines.« Vater zerrte mich von Mutter weg und setzte mich in die Kiste. Ich kauerte mich mit wild pochendem Herzen zusammen.

»Bitte, Elyra, du musst jetzt tapfer sein. Egal, was du hörst, sei leiser als ein kleines Mäuschen. Versprich mir das«, sagte er. Ich nickte, anschließend schlug er den Deckel zu. Nur Wimpernschläge später krachte es laut. Ein tiefes Knurren ließ mich das Atmen vergessen.

»Oh Gott, was bist du?«, rief mein Vater voller Panik und Mutter begann, laut zu beten. Ihre Worte wurden von Schluchzern der Verzweiflung verschluckt. Panik schnürte mir die Kehle zu. Doch mein Herz schlug mir nicht bis zum Halse, sondern wurde immer langsamer und mein Atem zunehmend ruhiger.

»Nein, nicht«, bettelte meine Mutter, während Vater schmerzerfüllt aufstöhnte. Die Schreie, die folgten, klangen nach Verzweiflung und Tod und ich erstarrte regelrecht.

***

Lautes Gekicher riss mich aus meinen düsteren Erinnerungen. Ein junger Handwerksgeselle amüsierte sich mit einem der Freudenmädchen, die in der Schenke nach Freiern suchten. Sie saß auf seinem Schoß und er knabberte an ihrem Ohr, während sie kichernd mit ihrem wohlgerundeten Hinterteil hin und her rutschte. Bald würde sie den Kerl so weit haben, das war unübersehbar. Der süßliche Dunst von Hanf lag in der Luft, vermischte sich mit Schweiß und Alkohol.

»Du warst schon wieder ganz weit weg.« Lene stellte einen Krug Kräutermet vor mir auf den Tisch. »Waren es wenigstens schöne Gedanken?«, fragte sie und beugte sich zu mir, so dass ich gute Einblicke in ihr prall gefülltes Dekolleté bekam. Nicht, dass mich das sehr beeindruckte. Denn ich hatte selbst zwei Brüste, auch wenn sie nicht so üppig waren, und ich sie zudem noch mittels Bandagen an den Körper presste. Gerade im letzten Jahr hatte sich Lenes Leib extrem verändert. Aus dem dürren kleinen Mädchen war wirklich eine Frau geworden. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die sich ein reichhaltigeres Trinkgeld versprach, wenn sie mit ihren Reizen nicht geizte, wollte ich so wenig weiblich wie möglich erscheinen. Daher trug ich auch Hosen und ein Wams aus Leder über dem Hemd. Mein Haar war zu einem strengen flachsfarbenen Zopf geflochten und wurde meist von einer Kapuze versteckt, die direkt an die Lederweste genäht war. Allerdings bevorzugte ich jetzt in Sachen Kopfbedeckung nicht mehr Rot, sondern Schlammbraun. Es war eine gute Farbe, wenn man unauffällig bleiben wollte. Rotkäppchen nannte mich schon lange keiner mehr.

»Es waren nicht wirklich gute Gedanken, ganz im Gegenteil«, antwortete ich und nahm den Krug.

»Vielleicht solltest du dir einen anderen Beruf suchen. Bei dem, was du machst, muss man ja düster und grüblerisch werden«, meinte sie.

»He, Schankmaid«, brüllte jemand hinter ihr. Lene ignorierte ihn.

»Einer muss die Viecher zur Hölle schicken«, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck Met. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schaum vom Mund.

»Aber das ist so gefährlich.« Lene blicke mich sorgenvoll an. Obwohl wir nicht blutsverwandt waren, liebte ich sie wie eine Schwester.

»Schankmaid, bist du taub, beweg deinen Arsch hierher.«

»Was für ein Esel.« Lene verdrehte die Augen.

»Ich könnte ihm Manieren beibringen«, erwiderte ich und strich über die Halterung an meinen Schenkel, in dem ein Dolch steckte, dessen Zwilling meinen zweiten Schenkel zierte.

»Zur Hölle, muss ich mir meinen Met selber holen?«, pöbelte der Mann lautstark.

»Ich komme auf dein Angebot vielleicht zurück, Schwesterchen.« Damit verließ Lene den Tisch. »Du hast nach mir gerufen, oder vielmehr wie ein Ochse gebrüllt.« Sie blieb vor einem Mann stehen, der, seiner Kleidung nach zu urteilen, ein Söldner war. Wie von einer Schlange gebissen sprang er auf und packte sie an der Kehle. Die Anwesenden verstummten und die Musikanten hörten zu spielen auf. Nur seine drei Söldnerkumpane lachten.

»Wenn ich dich rufe, du Schlampe, hast du zu kommen«, zischte er. Lene versuchte röchelnd, seine Finger von ihrem Hals zu ziehen.

»Lass sie los«, rief ich laut. Wut kroch durch meine Adern, aber ich blieb ruhig. Eine der ersten Lektionen, die ich gelernt hatte, war, immer seine Emotionen zu beherrschen. Blinder Zorn führte nur dazu, dass man Fehler machte.

»Was hast du gesagt, Bürschchen?« Der Söldner verengte die Augen, blickte zu mir.

»Ich glaube, du bist taub«, erwiderte ich und stand langsam auf. Jetzt übernahm die Jägerin in mir vollends mein Handeln. Sämtliche Emotionen wurden ausgeblendet.

»Das ist ja ein Weib.« Er drehte sich lachend zu seinen Kumpanen um, die diese Tatsache ebenfalls sehr zu amüsieren schien.

»Zumindest bist du nicht blind«, sagte ich und durchquerte den Raum. »Jetzt lass Lene los.« Eine Armlänge entfernt blieb ich stehen. Der Mann schubste meine Schwester weg und drehte sich zu mir.

»Du siehst nicht übel aus. Mach die Beine für mich breit und ich will das hier vergessen«, schlug er vor. Worauf ich mein allerlieblichstes Lächeln aufsetzte.

»Na, dann wollen wir mal sehen, was du unter deiner Hose so zu bieten hast.« Blitzschnell zog ich die Dolche, setzte ein paar gezielte Schnitte, und der Mann zog blank. Sein Gürtel landete mitsamt Schwert auf dem Boden. Bevor er auch nur blinzeln konnte, war eine Klinge an seinem Hals und die Spitze des zweiten Dolches zeigte auf seine Juwelen. Er verharrte, wie eine Statue, traute sich nicht einmal, zu schlucken. Seine Begleiter sprangen auf, wollten ihm offensichtlich heroisch zur Hilfe eilen. Ich sah mit hochgezogenen Brauen zu ihnen.

»Na, na, na, soll euer Freund ab heute die hohen Töne im Chor singen? Setzen!«, befahl ich und sie nahmen zögerlich wieder Platz.

»Mit dem Winzling willst du mich beglücken? Da muss der Lümmel aber noch etwas wachsen.« Ich blickte wieder zu dem Pöbler, die Leute im Raum johlten. »Jetzt entschuldige dich für dein Benehmen.« Meine Dolchspitze berührte das zarte Bällchen. Er quietschte erschrocken auf.

»Tut mir leid«, fiepte er.

»Nicht bei mir, bei Lene«, fuhr ich ihn an.

»Verzeihung.« Er sah zu meiner Schwester.

»Nun sollten du und dein klitzekleiner Freund gehen«, sagte ich, nahm meine Dolche weg und wollte wieder zu meinem Platz zurück.

»Verfluchtes Miststück«, brüllte er. Auf dem Absatz drehte ich mich um. Ein Krug flog auf mich zu. Bevor das Gefäß auch nur in meine Nähe kam, rammte ich einen Dolch durch die Hand, die ihn hielt und dem Idioten gehörte. Der Krug krachte polternd auf den Boden. Ich nagelte die Hand an einer der Holzsäulen fest, die das Deckengebälk stützten. Der Mann schrie vor Schmerzen. »Vielleicht war das jetzt eine Lektion.« Ich zog meine Klinge wieder heraus. Blut quoll aus der Wunde. Die drei anderen Söldner griffen an. Einen beförderte ich mit einem gezielten Tritt auf die Bank zurück, die unter ihm mit lautem Getöse zusammenbrach. Katzenhaft ging ich in die Hocke, um einem Schwerthieb auszuweichen, und durchbohrte mit meinem Dolch das Bein des Angreifers, der wimmernd zusammensackte. Während ich wieder hochkam, rammte ich dem vierten Söldner einen Dolchknauf in sein Allerheiligstes, und als er sich heulend nach vorne beugte, das Knie ins Gesicht. Wie ein gefällter Baum fiel er um, wälzte sich jammernd auf den Dielen und hielt sich die blutende Nase. In der Zwischenzeit hatte sich der Kerl, dem die Bank zum Opfer gefallen war, wieder aufgerappelt. Brüllend stürmte er los. Ich holte aus, donnerte den Knauf des Dolches mit voller Wucht gegen sein Kinn, das hässlich knackte. Er torkelte zurück und brach bewusstlos zusammen. Die Zuschauer jubelten und klatschten. Ich hob die Geldkatze auf, die am Gürtel des Pöblers befestigt gewesen war und jetzt, ebenso wie der Gürtel, auf dem Boden lag.

»Hier, unser Freund kommt für den Schaden auf.« Ich warf den Beutel Lene zu. Anschließend trat ich vor meinen neu gewonnenen Freund, der mit der unverletzten linken Hand die Hose festhielt, damit sie nicht mehr herunterrutschen konnte. Die verletzte Rechte presste er gegen sein Wams.

»Jetzt nimmst du diese verdammten Bastarde und ihr verschwindet auf Nimmerwiedersehen«, sagte ich und wischte die blutige Klinge an der Kleidung meines Gegenübers ab, um die Dolche anschließend in den Halterungen zu verstauen. Die Männer kamen ohne weitere Gegenwehr meiner Aufforderung nach, während die anderen Gäste lautstark im Chor »Verschwindet« riefen, bis die Kerle draußen waren. Dann setzte die Musik wieder ein und die Leute feierten fröhlich weiter.

»Ich danke dir, Schwester.« Lene rieb sich den Hals. Ich zog ihre Hand weg, musterte die geröteten Druckstellen.

»Verdammt, ich hätte dem Kerl die Eier abscheiden sollen«, sagte ich wütend.

»Der sah so aus, als hätte er seine Lektion gelernt«, erwiderte Lene. Auf ihrem Gesicht erschien ein schadenfrohes Grinsen.

»Geht’s dir wirklich gut?«, fragte ich besorgt.

»Klar, die Bestien haben mich damals nicht unterkriegen können, da schafft das ein dahergelaufener Bastard mit Sicherheit erst recht nicht.« Sie hob stolz ihr Kinn. Dafür bewunderte ich Lene, sie war so unglaublich stark.

»Könnte ich bitte etwas bestellen?«, fragte ein Herr äußerst höflich.

»Siehst du, der hat die Lektion ebenfalls verinnerlicht.« Sie deutete mit den Daumen in dessen Richtung und kicherte. »Jetzt muss ich aber wieder arbeiten.« Lene verdeckte die Male mittels ihrer roten Mähne, dann flitzte sie davon. Ich kehrte an meinen Tisch zurück und nahm Platz. Das heute war wieder einmal ein ganz normaler Abend in Großmutters Taverne gewesen. Eigentlich hieß die Inhaberin der Taverne Freyja und war ganz und gar nicht großmütterlich. Ich sah zur Feuerstelle in der Mitte des Gastraumes, beobachtete die Rauchschwaden, die zur Decke aufstiegen und durch das Strohdach entschwanden, erinnerte mich daran, wie Rauchgeruch in meine Kiste eindrang und ich aus dieser seltsamen Starre erwachte. Es herrschte Totenstille, ich konnte weder Vater noch Mutter hören. Die Bestien waren weg, das wusste ich ganz sicher. Mein Hals kratzte so fürchterlich und ich schnappte nach Luft, doch es wurde nur schlimmer. Mit angehaltenem Atem lauschte ich, ob ich meine Eltern da waren, aber von außen drang kein Laut zu mir, ich vernahm nur das Pochen meines aufgebrachten Herzens. Das ebenfalls aus der Starre erwacht war und jetzt in Panik ausbrach. Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer und ich nahm all meinen Mut zusammen. Drückte gegen den Deckel, doch ich konnte ihn keinen Fingerbreit heben, als läge ein Gewicht auf der Truhe.

»Hallo, ich bin noch hier drin«, rief ich. Keine Antwort kam, keine Schritte näherten sich. »Hallo«, schrie ich lauter. »Holt mich bitte raus.« Mein Rufen ging in Husten über. »Bitte, Vater«, flehte ich und schnappte keuchend nach Luft. »Mutter, hilf mir.« Ich klopfte gegen den Deckel. »Bitte.« Heiße Tränen kullerten über meine Wangen. Wie besessen hämmerte ich gegen das Holz, bis die Fingerknöchel schmerzten, hustete mir die Seele aus dem Leib, als eine Last vom Deckel geschoben und er geöffnet wurde. Doch nicht meine Eltern blickten mich an, sondern Jacob, der fahrende Händler. Ein Tuch verbarg seinen bartumrandeten Mund. Über mir war der Himmel und kein Dach mehr.

»Mein armes Kind, was ist hier passiert?«

Ich konnte ihm nicht antworten, Rauch verschluckte meine Worte und biss ohne Gnade in die Augen. Die Sicht verschwamm hinter einem Tränenschleier, ich senkte die Lider. Mir wurde fürchterlich schwindlig. Jacob hob mich aus der Truhe. »Sieh nicht hin, mein Kind«, hörte ich ihn noch sagen, dann verlor ich das Bewusstsein.

Ich kehrte aus meiner Erinnerung ins Hier und Jetzt zurück. Der Verlust meiner Eltern schmerzte auch nach fünfzehn Jahren noch wie damals. Daher jagte ich diese Bestien. Jeder einzelnen von ihnen wollte ich meine Dolche ins verfluchte Herz stoßen.

Kapitel 2

»Kaum bin ich weg, schon mischst du den Laden auf.« Freyja nahm mir gegenüber Platz, musterte mich mit ihren grauen Augen, die so hart wie gütig sein konnten. Sie trug heute keine Weste über ihrem Leinenhemd. Auch sie bevorzugte, wie ich, Männerkleidung. Ein Rock hätte zu Freyja auch gar nicht gepasst, denn sie war keine einfache Frau. In einem früheren Leben war sie eine Kriegerin gewesen. Von ihr hatte ich all das gelernt, was mir jetzt den Kampf gegen die Kreaturen ermöglichte.

»Hab nur ein paar Störenfrieden Manieren beigebracht«, erwiderte ich und trank von meinem Met.

»Du beschützt die deinen.« Sie legte die Unterarme mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. Ich stellte den Krug ab, berührte mit meinen Händen ihre.

»Wie du es mich gelehrt hast«, antwortete ich.

»Elyra, sieben Jahre bist du nun schon alleine auf Jagd, ohne jegliche Rückendeckung. Es grenzt fast an ein Wunder, dass du nach jedem Auftrag nahezu unversehrt zu uns zurückkehrst. Dazu kommt noch die Einsamkeit. Ich mach mir unglaubliche Sorgen um dich.« Sie runzelte die Stirn. Die Falte zwischen ihren einstmals blonden Brauen, die jetzt wie ihr Haar ergraut waren, wurde mit jedem Winter tiefer.

»Das musst du nicht. Ich bin zufrieden, wie es ist«, entgegnete ich. Vielleicht war zufrieden das falsche Wort. Ich hatte mich an das Alleinsein während der Jagden gewöhnt.

»Jedes Mal, wenn du gehst und ich hierbleibe, habe ich das Gefühl, dich in Stich zu lassen«, sagte Freyja.

»Nein, dazu besteht kein Grund. Du hast dir einen friedlichen Lebensabend wahrlich verdient und außerdem brauchen Lene und Isa dich.« Mein Blick verfing sich mit Freyjas, die leise seufzte.

»Schon bald werden sie ihrer eigenen Wege gehen«, wandte sie ein.

»Ich denke nicht, dass du die beiden so schnell loswirst.« Ich grinste Freyja an, aber sie verzog keine Miene.

»Bleib doch einfach hier. Die Taverne wirft inzwischen gutes Geld ab. Du hast schließlich auch dein Beutegeld hier hereingesteckt, sie gehört damit ebenso dir wie mir.«

»Nein, sie gehört dir ganz allein.« Ich umfasste Freyjas Hände, zog sie nach oben und verschränkte meine Finger mit ihren. »Das kann die Dankbarkeit, die ich für dich empfinde, bei Weitem nicht aufwiegen. Ohne dich hätte ich niemals meine Bestimmung gefunden.«

»Du bist mir keinen Dank schuldig. An dem Tag, als Jacob dich zu mir gebracht hat, bin ich Mutter geworden. Etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte, Tochter.« In den Augen der harten Kriegerin schimmerten tatsächlich Tränen.

»Ich bin doch nicht deine einzige angenommene Tochter. Nach mir kamen noch Lene und Isa zu dir«, erwiderte ich. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir die beiden gefunden haben? Ihre Eltern hatten das Lager in jenem Wald aufgeschlagen, in dem wir gerade Werwölfe jagten. Die Biester kannten keine Gnade, richteten diese Menschen so grauenhaft zu, dass ihre Überreste kaum noch als menschliche Körper zu identifizieren waren. Die Mädchen überlebten nur, weil sie sich durch eine Erdspalte gequetscht hatten, die in eine Höhle führte, wo die Wölfe sie nicht erreichen konnten.«

»Wie könnte ich das jemals vergessen.« Freyja ließ mich los und lehnte sich zurück.

»Sie würden dich daher niemals verlassen, du brauchst mich hier also gar nicht.«

»Die beiden sind wundervolle und liebe Mädchen. Aber sie sind nicht wie du. Denn du ähnelst mir so sehr, dass ich manchmal glaube, du bist wirklich von meinem Blut«, erwiderte Freyja.

»Da draußen gibt es noch so viele Lenes und Isas, die auf Rettung hoffen, und denen gegenüber stehen nur wenige Jäger, die diese Bestien töten können. Versteh mich doch, ich kann mein Schwert noch nicht niederlegen.« Mit dem Daumen strich ich über das lederne Armband. Es verbarg das Mal der Kriegerin. In Freyjas Augen sah ich, dass sie mich verstand.

»Tut mir leid, ich störe nur ungern, aber da will jemand zu Elyra.« Isa spielte verlegen mit dem Rosenamulett, das an ihrer Lederkette hing, und sah von mir zu Freyja. Das Mädchen war das genaue Gegenteil der wohlproportionierten Lene, und ich hatte das Gefühl, sie würde auch so zierlich und schüchtern bleiben. Doch gerade wegen ihrer Zartheit war sie mir ebenso ans Herz gewachsen wie die freche Lene. Damals, als ich in Jacobs Wagen gelegen hatte und er mich von meiner Welt wegbrachte, die die Bestien zerstört hatten, konnte ich nur davon träumen, eine neue Familie zu finden. Jetzt hatte ich eine Mutter und zwei Schwestern. Egal, welch Grauen mich auf meinen Reisen erwartete, hier in Großmutters Taverne fand ich immer einen sicheren Hafen.

»Nun gut, dann widme ich mich wieder meiner Arbeit.« Freyja stand auf und ging zur Theke, während Isa einen Mann herbeiwinkte.

»Das ist Jost, er klopfte an die Hintertür der Küche und hat ein Anliegen«, sagte meine Schwester hastig mit hochrotem Kopf und verschwand. Männer machten Isa immer ein wenig Angst. Vor allem, wenn sie dazu auch noch so verflucht gut aussahen wie der Kerl, den sie mir eben vorgestellt hatte. Ich brauchte ihr gar nicht nachzublicken, um zu wissen, dass die Küche ihr Ziel war. Dort fühlte sie sich am wohlsten. Trotz ihrer Jugend war ihre Kochkunst bereits weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

»Nun, nimm Platz«, lud ich Jost ein.

»Ihr seid die Jägerin?« Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte offensichtlich etwas anderes erwartet. Aber dem Lächeln nach zu urteilen, das einen Herzschlag später seinen wohlgeschwungenen Mund umspielte, gefiel ihm, was er sah. Sein welliges Haar, das wie das Gefieder eines Raben glänzte, war teilweise im Nacken zusammengebunden und reichte dennoch weit über die Schultern.

»Herrin, mein Fürst schickt mich …«

»Die Höflichkeiten kannst du dir für deinen Fürsten aufheben. Wir sind hier alles einfache Leute, nenn mich Elyra«, unterbrach ich ihn. »Lene, einen Met für Jost«, rief ich, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. »Nun?«

»Wie schon gesagt, mein Fürst schickt mich. In seinen Dörfern geht der Tod um. Jeden Tag wird mehr grausam verstümmeltes Vieh gefunden. Die Bauern haben eh nicht viel, der Fürst muss dieser Plage unbedingt Herr werden. Falls noch mehr Vieh getötet wird, verlieren viele ihre Lebensgrundlage. Und wie lange wird es wohl noch dauern, bis der erste Mensch diesen Bestien zum Opfer fällt?«

»Nun, dein Fürst handelt wohl nicht so uneigennützig, wie du es darstellst. Er muss dieser Plage Herr werden, wenn er weiter seinen Zehnt von den Bauern erhalten möchte. So ist es doch? Wie kommt er überhaupt darauf, dass meine Dienste benötigt werden? Vielleicht sind ja nur profane Wölfe die Übeltäter? Er wird wohl genügend Jäger haben?« Ich musterte mein Gegenüber, das so ganz und gar nicht wie ein Lakai wirkte. Er hatte etwas seltsam Dominantes an sich.

»Hier, mein Hübscher, geht aufs Haus.« Lene stellte einen Krug Met vor Jost ab. »Wenn du ihn nicht mit auf die Kammer nimmst, Schwesterchen, dann krall ich ihn mir.« Sie blinzelte mir grinsend zu. Ich spürte Hitze in meine Wangen steigen. Oh, dieses Luder hatte es doch wieder einmal geschafft, mich verlegen zu machen. Schnell nahm ich meinen Krug und trank, um mich wieder in Griff zu bekommen. Die ganze Zeit hatte ich Josts goldschimmernde Bernsteinaugen ignoriert, die mich so intensiv anblickten, dass ich es fast körperlich spürte, und die von langen, dunklen Wimpern umrahmt wurden. Was seinen Blick noch fesselnder machte. Nein, das interessierte mich auf keinen Fall, denn ich war eine eiskalte Jägerin, kein dummes kleines Mädchen, das gleich ins Schwärmen geriet, wenn sie einem hübschen Jüngling gegenübersaß. Nun gut, er war nicht wirklich ein Jüngling, sondern ein ausgewachsener Mann im besten Alter. Somit viel zu alt für meine Schwester.

»Ich hätte den Kerl sein Werk zu Ende bringen lassen sollen«, zischte ich Lene zu, mein Blick glitt zu ihrem Hals, die Würgemale änderten die Farbe inzwischen von Rot zu Blau. Wahrscheinlich würden sie bis morgen in allen Nuancen schillern. Betont lässig stellte ich den Krug wieder auf Tisch, denn ich hatte Eis in den Adern. Na ja, ich versuchte vor Jost zumindest, so zu wirken.

»Das hättest du niemals, dafür liebst du mich zu sehr, Schwesterchen.« Sie beugte sich zu mir und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. Jost starrte uns an. Ich brauchte keine Gedanken lesen zu können, um zu wissen, was er sich in seinen Fantasien gerade ausmalte.

»Wir redeten über zerfleischte Tiere«, holte ich ihn barsch aus seinem Tagtraum zurück, und er grinste dreckig. Was für ein Idiot, ich verdrehte die Augen.

»Zerfleischte Tiere? Da bin ich weg.« Lene drehte sich um und steuerte einen Gast an, der mit seinem leeren Krug winkte.

»Also, wieso kommst du zu mir?«, wollte ich wissen und Jost zog etwas aus der Tasche an seinem Gürtel. Er legte ein kleines Leinentuchsäckchen auf den Tisch.

»Sag mir, ist das die Klaue eines profanen Wolfes?« Er schob das Säckchen über den Tisch zu mir. Ich wickelte den Inhalt aus und es kam wirklich zum Vorschein, was Jost angekündigt hatte. Eine schwarzglänzende Kralle, die um das Zehnfache größer war als die eines normalen Wolfes. Das war die Klaue eines Werwolfes. Sofort verdoppelte mein Puls den Schlag.

»Wo ist die her?« Ich nahm sie vorsichtig in die Hand. Denn so eine Kralle war schärfer als manche Klinge. Ich drehte sie hin und her. An ihrer Echtheit bestand kein Zweifel.

»Sie steckte im Knochen einer Kuh, die als solche fast nicht mehr zu erkennen war«, erklärte Jost.

»Du hast recht, ihr habt ein Problem. Offensichtlich treiben widerliche Bestien in eurer Gegend ihr Unwesen.« Ich sah von der Kralle zu ihm.

»Du klingst ganz so, als wäre es nicht nur reine Arbeit für dich, diese Kreaturen zu jagen«, stellte er fest.

»Oh, ich hasse sie zutiefst. Es ist mir ein Anliegen, diese verfluchte Brut auszurotten. Doch wenn meine Arbeit bezahlt wird, ist sie noch erfüllender.« Ich lehnte mich zurück und lächelte.

»Der Fürst hat ein Beutegeld ausgelobt.« Wieder kramte Jost in seiner Tasche am Gürtel und zog einen Lederbeutel hervor. Als er ihn auf den Tisch warf, hörte ich Münzen klimpern. »Das sind fünfzig Dukaten. Wenn du die Bestie zur Strecke bringst, gibt es noch mal fünfzig. Wie sieht es aus?«

»Ich würde sagen, wir sind im Geschäft«, erwiderte ich und sah auf die Kralle. Dieser Werwolf musste ein Mordsvieh sein. Kampfeslust rauschte durch meine Adern, wie immer, wenn ich auf Jagd ging. Ich war schon beinahe euphorisch. »Lass uns darauf anstoßen«, sagte ich, legte die Kralle zurück auf das Leinentuch und nahm einen Krug. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr mir das Jagen in den vergangenen Wochen gefehlt hatte. Vielleicht war es zu verurteilen, dass ich für Münzen jagte. Ich sah es zwar als meine Aufgabe an, diese Kreaturen zu töten, aber man musste ja schließlich auch von irgendwas leben, und dieser Fürst würde schon nicht am Hungertuch nagen müssen, wenn ich mir eine erfolgreiche Jagd entlohnen ließ.

***

»Du bist doch gerade erst gekommen«, schimpfte Lene, die auf meinem Bett saß und mir dabei zusah, wie ich die Ärmel überstreifte. Mittels Schnallen befestigte ich die ledernen Stulpen an der Schulterpartie des Wamses. Ein Tuch versteckte die Würgemale an ihrem Hals. Noch immer kochte die Wut hoch, wenn ich nur daran dachte.

»Das stimmt so nicht, ich bin schon über einen Monat wieder zuhause«, erwiderte ich.

Lene schnaubte nur laut.

»Ach, Schwesterchen, versteh doch. Die Leute haben ein Problem, ich kann helfen.« Ich nahm den Gurt mit der Schwerthalterung, sah zu ihr. Sorge lag in ihrem Blick und ich ging vor ihr in die Hocke.

»Hey, mir passiert schon nichts.« Sanft strich ich ihr die feuerroten Strähnen aus dem Gesicht. »Sag mal, werden das auf deiner Nase immer mehr Sommersprossen?«, scherzte ich, doch Lene verzog keine Miene, sah mich nur traurig an.

»Und was ist mit der fürchterlichen Narbe an deiner Schulter oder der, die quer über deinen Bauch verläuft?«

»Och, das sind doch nur Kratzer.« Ich lächelte sie an.

»Du meinst den Kratzer am Bauch, wegen dem du fast verblutet wärst?«, fragte sie sarkastisch.

»Was soll ich sagen. Ich war damals noch jung und unerfahren, jetzt bin ich besser«, erwiderte ich, ließ den Gurt los und legte beide Hände an Lenes Kopf. Sanft zog ich sie zu mir, bis ihre Stirn die meine berührte. »Ich komme wieder, das verspreche ich«, flüsterte ich.

»Schwöre es«, forderte meine Schwester.

»Ich schwöre es, bei meinem Leben.«

»Bei deinem Leben? Das ist nicht witzig«, erwiderte Lene bissig.

»Ein wenig«, sagte ich mit einem schiefen Grinsen. »Jedes Mal, wenn ich weggehe, führen wir diese Diskussion, und noch immer bin ich wieder nach Hause gekommen.« Ich nahm den Gurt, stand auf und schnallte die Halterung auf den Rücken, um dann das Schwert zu holen, das gegenüber in der Truhe verstaut war. Damit war meine Bewaffnung komplett. Zu dem Schwert und den Dolchen an den Oberschenkeln kamen noch die Messer in jedem Stiefelschaft.

»Bitte, pass auf dich auf.« Lene erhob sich und trat zu mir. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung.

»Komm doch rein, Isa«, sagte ich, ohne meinen Blick von Lene zu nehmen.

»Ich will auch nicht, dass du gehst«, flüsterte meine jüngste Schwester, und ich streckte ihr den Arm entgegen. Hastig lief sie zu mir, ich drückte sie an mich. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und ich küsste sie sanft aufs Haar.

»Mmmmh, Isa, du riechst lecker. Ich hoffe, du hast mir etwas Schmalzgebäck in den Proviantsack gepackt«, murmelte ich an ihrem Kopf. Lene kam zu uns. Wir standen eng beieinander, hielten uns alle drei in den Armen. »Ich komme wieder, denn ich habe die besten Gründe, zurückzukehren, die man sich nur vorstellen kann: euch beide und Freyja«, sagte ich fest. Sanft hauchte ich erst Isa, dann Lene einen letzten Kuss auf die Stirn und ließ meine Schwestern los. Freyja lehnte im Türrahmen.

»Blume steht fertig, der Proviant ist schon am Sattel befestigt. Frieder hat sich darum gekümmert«, meinte sie. »Ich hab auch Heilsalben und Tinkturen mit eingepackt«, fügte sie hinzu.

»Freyja, du bist die Größte. Seht ihr, ich bin bestens mit Mutters fast magischen Heilmittelchen versorgt«, sagte ich zu meinen Schwestern, die mich nur schweigend mit ihren großen Augen ansahen. Es hatte den Anschein, als würden gleich Tränen fließen. Das war mein Stichwort. »Dann sollte ich Blume nicht länger warten lassen.« Ich packte den Beutel mit ein paar Habseligkeiten, der neben der Truhe wartete und auf die ich auch unterwegs nicht verzichten wollte. Nachdem ich ihn geschultert hatte, war ich fertig. Gefolgt von den Blicken meiner Schwestern schritt ich zur Tür. Als ich Freyja passierte, ergriff sie mein Handgelenk, drückte es kurz und gab mich frei. Sie brauchte zur Verabschiedung keine großen Worte.

»Eine Kriegerin bricht niemals ein gegebenes Versprechen«, sagte sie, als ich den Gang durchquert hatte und bereits an der Tür zum Gastraum stand. Ohne zurückzublicken, nickte ich, straffte die Schultern und betrat die Schenke. Ab jetzt war ich die Jägerin, kalt und effizient. Ich liebte meine Familie wirklich sehr und vermisste sie jetzt schon schmerzlich. Aber wenn ich genügend Abstand zu meinen Liebsten hatte, konnte ich meine Aufträge effektiver erledigen. Im Schankraum erwartete mich ein wahres Schnarchkonzert. Die Übernachtungsgäste schliefen hier im Raum verteilt auf Strohsäcken. Es war früh am Morgen, die Sonne kitzelte bereits die riedgedeckten Dächer. Ein paar Strahlen fanden ihren Weg durch die Frischluftöffnungen unter dem Dach ins Innere der Schenke. Jost konnte ich nirgendwo entdecken. Ich trat vor die Taverne, sog die frische Luft tief in meine Lungen. Ein sonniger Morgen versprach einen schönen Tag. Mein Blick schweifte über unseren von weitläufigen Wäldern umgebenen Weiler, der auf einer Landkarte so winzig und unbedeutend erschien, dass die Obrigkeit ihn ignorierte. Was den Menschen, die hier lebten, eine gewisse Freiheit gab. Während ich die Kapuze über den Kopf zog, steuerte ich die Stallungen an. Hühner waren bereits laut gackernd mit der Würmersuche beschäftigt, die Schweine quiekten nach Futter und die Ziegen knabberten an allem, was ihnen fressbar erschien. Vom Backhäuschen wehte das verführerische Aroma nach frischem Brot zu mir herüber. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Hoffentlich hatte Isa auch eines ihrer leckeren Brote mit eingepackt. Frieder, unser Junge für alles, verließ den Stall. Dort hielt er sich am liebsten auf.

»Ich habe Blume heute noch ein paar Extraäpfel gegeben«, sagte er. Der Junge mit den strubbeligen Haaren und den blauen Augen kratzte über sein bartschattiges Kinn. Keine Frage, der Knabe reifte langsam zum Manne. Er half schon seit Jahren in der Schenke mit, verdiente so etwas zum Unterhalt seiner großen Familie dazu.

»Du verwöhnst sie wirklich viel zu sehr«, erwiderte ich, klopfte ihm auf die Schulter und setzte dann meinen Weg fort.

»Alles ist gut, Brauner, es geht wieder nach Hause.« Jost war bereits im Stall. Er strich über die Nüstern seines Pferdes, das nervös im Verschlag herumtänzelte.

»Bereit?«, fragte ich, als ich auf ihn zulief.

»Wir können los, wann du willst.« Jost drehte sich zu mir. Sein Pferd war ebenfalls gesattelt, das Gepäck fest verzurrt. Also band ich noch den Reisesack am Sattel meiner Schimmelstute fest und führte sie vor dem Stall. Jost folgte mit seinem Fuchs.

»Du sagtest, die Ländereien deines Fürsten liegen im Lornetal?«, fragte ich, als ich aufstieg.

»Exakt.« Jost saß ebenfalls auf.

»Dann haben wir ein ganz schönes Stück Weg vor uns.« Ich trat Blume leicht in die Flanken und sie trabte los.

Kapitel 3

Den halben Tag waren wir unterwegs gewesen, als wir eine Gablung erreichten. Ich stoppte meine Stute, Jost lenkte sein Ross neben mich.

»Wenn wir nach rechts reiten, gelangen wir vor Einbruch der Nacht noch an eine Raststätte, links ist der Weg ins Lornetal erheblich kürzer, aber wir müssten einige Nächte im Freien verbringen«, erklärte ich Jost. Ohne mir zu antworten, trieb er sein Tier nach links und ich folgte ihm. Mir war dieser Weg recht, denn es machte mir nichts aus, im Freien zu übernachten.

Wir kamen gut voran und der Tag zog schnell vorüber. Langsam versank die Sonne hinter den Baumwipfeln. Jost war ein sehr schweigsamer Begleiter, was mir nur entgegenkam, denn ich schätzte die Stille. Einzig der Umstand, dass er mich intensiv musterte, wann immer er dachte, ich würde es nicht merken, trübte seine eigentlich angenehme Gesellschaft etwas.

»Wir sollten uns einen Platz zum Übernachten suchen«, unterbrach ich das Schweigen zwischen uns.

»Ich denke, du hast recht«, stimmte mir Jost mit Blick zum Himmel zu. Nicht mehr lange, und uns würde die Dunkelheit begrüßen. Am Wegesrand fanden wir eine geeignete Stelle. Jost stieg vom Pferd, befreite sein Tier von Gepäck und Sattel. Ich saß ebenfalls ab und band Blume an einem Baum fest. Nachdem ich ihr alles abgenommen hatte, rieb ich sie trocken. Auch Jost sorgte dafür, dass das Fell seines Fuchses nicht feucht blieb. Als die Tiere versorgt waren, kümmerten wir uns ums Feuer. Mittels eines Glutsteines entzündete ich Zunder, während Jost Äste brachte, die er über das Reisigfeuer schichtete. Sofort begannen die Flammen das trockene Geäst gierig zu verzehren. Zwar war der heutige Abend sehr mild, aber so ein Lagerfeuer hielt wilde Tier fern und selbst in der lauesten Nacht wurde es gegen Morgen meist ziemlich kühl. Zuerst legte ich mein Schwert griffbereit neben mich, dann machte ich es mir gemütlich, benutzte Sattel sowie den Reisesack als Rückenlehne, während ich den Proviantbeutel nach Isas Schmalzgebäck durchsuchte. Bei unseren über den Tag verteilten Rasten hatte ich nur Brot und dazu etwas Käse gegessen und mir ihre Leckereien aufgespart. Aber jetzt war so ein Kringel fällig.

»Wir kommen gut voran«, meinte Jost. Er saß mir gegenüber, sanft beleuchtete der Schein des Feuers sein Gesicht. Die Flammen spiegelten sich in diesen unglaublich bernsteinfarbenen Augen, die dadurch so wirkten, als würden sie leuchten. Auf keinen Fall war dieser Mann ein gewöhnlicher Lakai. Vielleicht war er ja in Wirklichkeit der Sohn des Fürsten und wollte unerkannt bleiben, da er um seine Sicherheit fürchtete? Er biss genussvoll in ein Stück Brot. Isa hatte ihm einen eigenen Proviantbeutel gepackt.

»Falls es so problemlos weitergeht, könnten wir das Lornetal in einem halben Mond erreichen«, meinte ich und zog mit einem breiten Grinsen einen Kringel aus meinem Beutel. Wenn ich den jetzt nicht gefunden hätte, wäre ich auf Blume gesprungen und zurückgeritten. Mit Wonne biss ich in die wolkenweiche Köstlichkeit.

»Hast du schon viele Werwölfe getötet?«, fragte Jost und unterbrach so meine wundervolle Begegnung mit Isas Meisterstück. Ich hielt inne, musterte ihn.

»Keine Ahnung, ein paar hundert«, antwortete ich und schluckte den Bissen hinunter. »Ich hab noch nicht so genau nachgerechnet.«

»Woher kommen diese Bestien?«

»Es sind nicht die Wölfe, die kommen, sondern die Krankheit. Sobald ein Mensch von einem Werwolf verletzt wurde und diese Begegnung überlebt, wird er selbst zu einer Bestie. Die meisten Menschen werden aber von diesen Monstern in ihrem Blutrausch so schrecklich zerfleischt, dass sie sofort tot sind. Oder die Wölfe reißen ihnen die Herzen aus der Brust, denn sie können dieser Leckerei einfach nicht widerstehen, und manchmal auch die Köpfe vom Leib. In all diesen Fällen haben die Menschen keine Chance, sich zu wandeln.« Ich zupfte ein Stück von meinem Gebäck ab.

»Fällt dir das Töten nicht schwer?«

»Wieso? Es sind mordgierige Bestien.« Ich legte den Kopf schief.

»Aber sie waren einmal Menschen. Hast du noch nie den Versuch unternommen, sie zu retten?« Jost trank einen Schluck Met aus einer Ziegenblase.

»Wenn sie infiziert und zu Wölfen geworden sind, sind sie keine Menschen mehr, nur noch blutlüsterne Ungeheuer, die sich nicht einmal mehr nach ihrem Tod zurückverwandeln.«

»Ist das wirklich immer so?«

»Nun ja, ich hörte davon, dass es welche gäbe, die sowohl menschliche als auch tierische Gestalt annehmen und das sogar steuern können. Das sind nur Ammenmärchen. Mir ist bisher in all den Jahren noch nie ein solcher Wolf begegnet und das sollte es doch, wenn sie wirklich existierten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich dennoch einmal auf so ein Exemplar träfe, würde auch dieses Vieh keinesfalls lange am Leben bleiben. Aber Fakt ist, die Menschen, die sich mit der Wolfskrankheit angesteckt haben, werden zu wilden Tieren, sind daher eine Gefahr für jede sterbliche Seele und müssen eliminiert werden«, erwiderte ich.

Josts dunkle Strähnen hingen ihm tief ins Gesicht. Die Spiegelungen der Flammen tanzten regelrecht in seinen Augen, seine Bernsteiniriden wirkten, als würden sie glühen, was ihm etwas Diabolisches gab. Meine feinen Härchen auf den Armen stellten sich auf. Seit wann reagierte ich auf einen Mann so? Das kannte ich gar nicht von mir und es verwirrte mich über die Maßen.

»Wurdest du schon bei einer Jagd verletzt?«, wollte er wissen, und unwillkürlich legte ich meine Hand schützend auf den Bauch, den eine grässliche Narbe verunstaltete. Josts Blick folgte meiner Hand.

»Wieso bist du dann nicht infiziert worden?« Er hob den Kopf.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich harsch. Freyja hatte mir seit meiner Kindheit eingebläut, niemals über meine Fähigkeiten zu reden, und zudem ging mir diese Fragerei langsam gehörig auf den Geist. Als Jost noch geschwiegen hatte, war er mir wesentlich sympathischer gewesen.

»Warum hast du es dir zur Aufgabe gemacht, sie zu jagen? Eine hübsche Frau, wie du es bist, wird doch bestimmt einen Mann finden, der ihr ein gutes Leben bietet.«

»Wer sagt dir, dass ich nicht genau so leben will? Wie sieht denn so ein gutes Leben aus? Ein Stall voller Kinder, dazu ein Kerl, der mir sagt, was ich zu tun habe?«

»Nun, wenn ich dich so ansehe, denke ich, du könntest einen Mann sehr glücklich machen. Auch wenn du deine Reize zu verbergen versuchst. Also, warum ziehst du durch die Welt und tötest Bestien?« Sein Blick glitt über meinen Körper. Jost grinste süffisant. Ich verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.

»Das ist eine lange Geschichte und ich kenne dich nicht gut genug, um sie dir zu erzählen.« Wie ich es hasste, wenn mich jemand nervte und dazu noch verwirrte, wie Jost es tat. »Weißt du was, wir sollten schlafen«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich nicht wirklich Ruhe finden würde. Denn es war keinesfalls ratsam, in Gegenwart eines Fremden allzu tief in des Traumgottes Arme zu sinken.

»Keine üble Idee, ich bin wirklich müde«, meinte Jost, packte den Proviant ein und streckte sich aus. Den Kopf bettete auf seinen Reisebeutel. Mit einem herzhaften Gähnen schloss er die Augen. Ich musterte das Profil, dann betrachtete ich seinen Körper. Für einen Diener erschien er mir äußerst gut trainiert zu sein. Alles an ihm sagte Krieger, die Haltung, die geschmeidigen Bewegungen und auch die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte.

»Es ist unhöflich, Leute anzustarren«, brummte Jost, ohne die Lider zu heben.

»Was machst du eigentlich genau?«, fragte ich.

»Schlafen«, erwiderte er, die Augen waren noch immer geschlossen.

»Ich meine für den Fürsten. Du siehst nicht wie ein Diener aus«, wurde ich konkreter.

»Wie sieht denn ein Diener aus?« Jost legte die Hände unter den Kopf.

»Eben nicht so, als würde er täglich mit dem Schwert trainieren.«

Jost drehte sich zur Seite, stützte den Kopf auf seine Hand und sah mich an.

»Vielleicht war ich mal ein Krieger«, meinte er.

»Du trägst aber kein Schwert, nur diesen Dolch an deinem Gürtel, warum?«, fragte ich misstrauisch.

»Das ist eine lange Geschichte und ich kenne dich nicht gut genug, um sie dir zu erzählen«, haute er mir meine eigenen Worte um die Ohren, drehte sich wieder auf den Rücken und senkte die Lider. »Dann gute Nacht.«

Was für ein Bastard! Ich war darauf und dran, über das Feuer zu springen und ihn mit meinem Dolch zu kitzeln. Aber nicht, um ihn zum Lachen zu bringen. Tief holte ich Luft. Nein, ich hatte Eis in den Adern und so ein verfluchter Möchtegern würde es nicht zum Schmelzen bringen. Ich streckte mich nicht wie Jost aus, sondern behielt meine sitzende Position bei, das Schwert griffbereit. Diese Art zu ruhen war vielleicht nicht besonders komfortabel, aber sie gab mir das sichere Gefühl, auf eine Bedrohung schneller reagieren zu können. Als ich so zwischen den Bäumen saß und Jost beim Schlafen beobachtete, erinnerte ich mich daran, wie ich damals nach dem Überfall auf mein Dorf mit Jacob durch die Wälder gereist war.

***

»Wo fahren wir hin?«, fragte ich den alten Händler. Ich saß neben ihm auf dem Kutschbock, musste mich festklammern, denn der Wagen hüpfte über den Waldweg wie ein bockiges Pferd. Der alte Händler musterte mich mit seinen warmen braunen Augen.

»Zu einer guten Freundin«, meinte er und trieb seinen grauen Wallach an.

»Was ist mit meinen Eltern?« Diese Frage hatte ich ihm auf unserer Reise immer wieder gestellt.

»Sie sind jetzt an einem besseren Ort.« Das war die Antwort, die ich stets von ihm erhielt. Der Wagen rollte auf eine sonnendurchflutete Lichtung zu, in deren Mitte eine Hütte stand, und der Wallach wurde immer schneller, als erwartete ihn dort etwas ganz Besonderes. Was wahrscheinlich mit Futter zu tun hatte, denn der Graue war das verfressenste Pferd, das ich jemals kennengelernt hatte. Eine Frau trat aus der Hütte und beschirmte die Augen mit der Hand. Sie trug Männerkleidung. Mit offenem Mund starrte ich sie an. Noch niemals zuvor hatte ich eine Frau in Männersachen gesehen. Ich wusste gar nicht, dass Frauen sich überhaupt so kleiden durften. Ihr blondes Haar war zu einem strengen Zopf geflochten.

»Du hast dich ja schon ewig nicht mehr blicken lassen.« Sie lief uns entgegen.

»Dabei sind deine Salben und Tinkturen wahre Verkaufsschlager«, meinte Jacob.

»Und wen haben wir da?« Die Fremde sah zu mir.

»Das ist Elyra«, antwortete Jacob für mich und die Frau stutzte fassungslos. Einen winzigen Moment später, kehrte ihre gute Laune zurück.

»Was für ein schöner Name. Ich bin Freyja.« Sie war wirklich freundlich.

»Das ist die Kleine, von der ich dir schon oft berichtet habe.« Jacob kletterte vom Kutschbock und Freyja sah mich erneut so seltsam an, als hätte sie die grüne Fee gesehen. Nur einen Wimpernschlag später erschien ihr Lächeln wieder.

»Darf ich das vielleicht anschauen?«, fragte sie mich. Ich nickte und streckte den Arm aus. Sie schob den Ärmel zurück, nahm das Mal in Augenschein, das meine Haut zierte, seit ich denken konnte.

»Es ist ein Kreis mit einem Stern darin«, sagte ich.

»Es ist der volle Mond, der einen Stern in sich trägt. Das heißt, du bist etwas ganz Besonderes. Ich trage auch so ein Mal.« Sie strich mir über das Haar.

»Geh in die Hütte. Wenn ich den Grauen versorgt habe, komme ich nach.« Jacob hob mich vom Wagen und ich tat, was er verlangt hatte. Doch hinter der Tür blieb ich stehen, hielt die Luft an und hoffte, der Wind möge die Worte der beiden zu mir tragen, was er wirklich tat.

»Ihr Dorf ist überfallen worden und sie hat als einzige überlebt. Die Leichen sahen so grauenvoll aus, als hätten Raubtiere sie zerfleischt«, erklärte Jacob und sprach aus, was ich eigentlich die ganze Zeit schon gewusst hatte und nicht wahrhaben wollte. Meine Eltern waren tot. Heiße Tränen liefen über meine Wangen, mir wurde ganz schlecht. Trotzdem blieb ich an der Tür stehen, denn jetzt musste ich alles wissen.

»Das kann nicht sein. Die Wölfe haben noch nie das Eras-Gebirge überquert«, hörte ich Freyja sagen.

»Ich weiß nicht, ob es Wölfe gewesen sind. Aber eines weiß ich mit Sicherheit, die Kleine braucht ein Zuhause. Wir wissen beide, dass Elyra bei dir am besten aufgehoben ist.«

»Sie soll bei mir bleiben?«, fragte Freyja langsam.

»Du wirst gut für sie sorgen. Es liegt in deiner Verantwortung, sie bei dir aufzunehmen«, erwiderte Jacob eindringlich.

»Nun, lass uns später darüber reden. Die Kleine hat bestimmt Hunger. Bring den Grauen in den Stall und komm nach.«

So schnell ich konnte, flitzte ich in den hinteren Teil der Hütte und nahm auf dem Bett Platz. Ich wischte mir hastig die Nässe vom Gesicht, bemühte mich, das Schluchzen zu unterdrücken. Freyja trat ein.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte sie und ich nickte nur. Sie nahm ein Holzschälchen aus einem Wandregal, anschließend steuerte sie den Kessel über dem Feuer an. »Ich hab nur Haferbrei. Ich hoffe, du magst das?« Mit einer Kelle schöpfte sie etwas Brei in die Schale. Wieder nickte ich. Ich wollte nicht sprechen, denn der Schmerz hatte mir die Stimme geraubt. Freyja blieb am Tisch stehen und schnitt Apfelstücke in den Brei, anschließend brachte sie die Schale mit einem Löffel zu mir. Sie ging vor mir in die Hocke.

»Vorsicht, es ist etwas heiß.« Damit reichte sie mir die hölzerne Schüssel. Sie musterte mich einen Augenblick, strich eine Strähne aus meinem Gesicht. »Du hast unser Gespräch belauscht?«, begann sie und ich sah sie nur an, wusste nicht, was ich antworten sollte. Jemanden zu belauschen, war ungezogen. »Ist schon gut, ich bin dir nicht böse«, meinte sie mit einem milden Lächeln.

»Hast du wirklich auch so ein Mal, das wie der volle Mond mit einem Stern aussieht?«, fragte ich. Freyja zog den Ärmel ihres Hemdes zurück und löste das lederne Armband, das ihr Handgelenk umschloss. Da war es, ein Mal, das meinem exakt glich.

»Was hat das zu bedeuten?« Ich blickte in ihre grauen Augen.

»In dir steckt eine Kriegerin«, antwortete Freyja.

»Bist du eine Kriegerin?«

»In einem früheren Leben bin ich eine gewesen.« Freyja seufzte leise.

»Kannst du mich zu einer Kriegerin machen?«

»Das Training ist sehr hart und das Leben hier einsam. Ich weiß nicht, ob …«

»Du sagtest, in mir steckt eine Kriegerin«, unterbrach ich sie hastig, spürte die Hitze des Eifers in meine Wangen steigen. »Ich will eine werden. Dann kann ich diejenigen töten, die mir meine Eltern genommen haben.«

Freyja betrachtete mich eine lange Weile, schien mein Gesicht zu erforschen. Ich verzog keine Miene, zuckte nicht einmal mit der Wimper und hielt ihrem eindringlichen Blick stand. »Nun gut, dann ist es entschieden. Du bleibst bei mir«, erwiderte sie schließlich. Ein neues, mächtiges Gefühl schob die Trauer in meinem Herzen zur Seite: der Durst nach Rache. Ein Gefühl, das anhielt und die Trauer bis heute verdrängte.

***

»Weißt du eigentlich, dass du im Schlaf redest?«, holte mich Josts Stimme aus meinem Traum. Er schenkte mir ein unverschämtes Grinsen, das ihm verdammt gut stand. Ach verflucht, was dachte ich da gerade? Es war egal, wie gut er aussah. Wirklich, ich hätte mich selbst in den Hintern treten können. Seit wann, bei allen Dämonen, driftete ich so tief ab, dass ich meine Umgebung nicht mehr wahrnahm? Vor allem, wenn ich mit einem völlig Fremden allein im Wald saß? Das durfte nicht wieder passieren. Nur einmal für einen Herzschlag unaufmerksam, und schon hat man sein Leben verloren, sagte Freyja immer.

»Ich habe geredet?«, stellte ich die Gegenfrage. Meine Stimme war ganz rau und ich räusperte mich.

»Ja, du sagtest, irgendwas sieht wie der volle Mond mit einem Stern aus. Was meintest du damit?« Mit unverhohlener Neugier beäugte er mich. Oh nein. Nicht nur, dass ich hier saß und sämtliche Sicherheitsregeln, die mir Freyja eingebläut hatte, in den Wind schlug. Jetzt plapperte ich auch noch über mein Mal.

»Keine Ahnung, kann mich nicht erinnern«, fuhr ich ihn an, obwohl ich eigentlich auf mich selbst wütend war.

»Bist du nach dem Aufwachen immer so schlecht gelaunt?«, foppte mich Jost. Worauf ich einem Schluck aus meiner Ziegenblase nahm, um ihm nicht die Gemeinheit an den Kopf zu werfen, die mir auf der Zunge lag. Schließlich trug er keine Schuld daran, dass ich eingeschlafen war und dabei offensichtlich mehr ausgeplaudert hatte als Lene, wenn sie zu häufig am Wein genippt hatte.

Kapitel 4

Als wir am nächsten Morgen weiterritten, hatte ich das Gefühl, ein Amboss wäre auf mich gefallen, dazu noch der Hammer und sämtliche weiteren Werkzeuge, die so in einer Schmiede herumlagen. Nach meinem redseligen Nickerchen hatte ich mich nicht einmal mehr getraut, mich in eine leichte Trance zu versetzen. Normalerweise ließ es die Kriegerin in mir nicht zu, mich außerhalb meiner sicheren Kammer, dazu noch in Gegenwart eines Fremden, überhaupt genug entspannen zu können, um tiefen Schlaf zu finden. Sie war, sobald ich die Taverne verlassen hatte, unentwegt in Alarmbereitschaft. Warum nur versagte sie in Josts Gesellschaft? Wie konnte das sein? Ich kannte ihn nicht, hatte ihn niemals zuvor gesehen, trotzdem war da dieses seltsame Zutrauen. Was mich, je länger ich mit ihm zusammen war, umso mehr irritierte. Als wäre ich eines dieser naiven Hühner, das sich von einem charmanten Verführer um den Finger wickeln ließ, nur weil er nett war. Nein, nicht mit mir. In meinen Adern floss kein Blut, sondern Eiswasser, und Jost sollte mit seinen Bernsteinaugen bleiben, wo die Waldfee heulte. Ein Knacken ließ mich aufhorchen. Es kam von rechts. Ich stoppte Blume, spähte in die Richtung. Da, zwischen den Bäumen ein Schatten. Meine Sinne schlugen nicht an, damit handelte es sich jedenfalls nicht um Wölfe. Langsam glitt ich vom Pferd, lauschte in den Wald. Wieder knackte Geäst. Hinter mir stieg Jost von seinem Ross. Er trat neben mich. Ich blickte zu ihm, in seinen Augen sah ich, dass er verstand. Wer auch immer um uns herumschlich, kam näher. Langsam zog ich mein Schwert, umfasste den Griff mit beiden Händen. Auch Jost machte sich kampfbereit und zückte den Dolch. Jetzt würde ich sehen, was in ihm steckte.

»Zeigt euch«, schrie ich, während ich mich von den Pferden entfernte. Jost tat es mir gleich. Jetzt raschelte das Gebüsch, eine Gestalt trat aus dem Unterholz. Es war mein Freund, der Söldner, die verletzte Hand war verbunden, und er hatte Kameraden mitgebracht, zwei davon kannte ich bereits, der Rest war neu. Die Söldner umzingelten uns. Wenn ich richtig gezählt hatte, waren es acht Männer. Der Bastard hatte sich also Verstärkung geholt. Blume trabte davon, denn sie wusste, was sie zu tun hatte. Josts Brauner folgte ihr.

»Das hier ist nicht deine Sache«, sagte ich zu Jost, ohne den Blick von meinem Gegenüber zu nehmen.

»Ich denke, die haben es zu meiner Sache gemacht«, erwiderte Jost.

»Du hast noch nicht genug?«, fragte ich den Söldner, worauf er breit grinste.