Rückblende - Nadeschda A. Joffe - E-Book

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Nadeschda A. Joffe

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Beschreibung

Nadeschda A. Joffe ist die Tochter Adolf Abramowitsch Joffes, des Bolschewisten und Mitglieds der Linken Opposition, der sich im Jahr 1927 aus Protest gegen den Ausschluß Leo Trotzkis aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion das Leben nahm. Auf den ersten Seiten ihres bemerkenswerten Buches vermittelt Nadeschda Joffe, die 1906 geboren wurde, einen äußerst lebendigen Eindruck des Alltagslebens der sowjetischen Jugend, die unmittelbar nach der Revolution heranwuchs. Ihre Erinnerungen an ihren Vater, an Trotzki, Lenin, Mehring, Rakowski und Lunatscharski, und an das politische und kulturelle Leben im Moskau der frühen zwanziger Jahre sind einfach einzigartig. Vor allem jedoch schildert das Buch den Alptraum ihres Schicksals in den Händen der stalinistischen Bürokratie, die sie im Jahr 1929 erstmals als Oppositionelle verhaften und für mehrere Jahre nach Sibirien deportieren ließ. Ihre zweite Verhaftung und Deportation in die Region Kolima in Nordost-Sibirien, die 1936 erfolgte, leitete eine noch höllischere Periode ein. Angehörige der Linken Opposition, Intellektuelle, Arbeiter, Bauern zu Hunderttausenden starben sie in Kolima unter den elenden Bedingungen der Zwangsarbeit. Joffe hielt die Niederschrift dieser Erfahrungen, wie sie im Vorwort erklärt, für ihre Pflicht gegenüber jenen, die mit mir in den Gefängniszellen und Doppelkojen der Lager Kolimas waren. Erst 1956, nach zwei Jahrzehnten im Exil, konnte sie nach Moskau zurückkehren. Dieses eindrucksvolle Werk von einem der wenigen Mitglieder der Linken Opposition, die die dreißiger Jahre überlebten, ist ein Muß für jeden, der die größte Frage des zwanzigsten Jahrhunderts enträtseln will die Oktoberrevolution und ihre Degeneration.

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RückblendeMein Leben – Mein Schicksal – Meine EpocheDie Memoiren von Nadeschda A. Joffe

Inhalt

Vorwort der amerikanischen Ausgabe

Einführung

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Bildteil

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Nachwort

Impressum

Vorwort der amerikanischen Ausgabe

Von den Schreckensjahren der stalinistischen Verfolgung zeugt eine bedeutende Literaturgattung, der wir Werke wie die Memoiren Nadeschda Mandelstams, Ewgenia Ginsburgs, Margarete Buber-Neumanns und Anna Bucharinas verdanken. Und doch darf das vorliegende Werk in diesem berühmten Kreis eine Sonderstellung beanspruchen. Nicht, daß die anderen weniger erduldet hätten als Nadeschda Joffe oder den durchlittenen Terror weniger eindringlich schilderten. Nein, das historisch Einmalige an diesen Memoiren ist die politische Perspektive der Autorin. Nadeschda Joffe war schon vor ihrer ersten Verhaftung eine bewußte und politisch aktive Gegnerin des Stalinismus gewesen. Aus der Sowjetunion nach Stalin sind dies die einzigen je verfaßten Memoiren eines Mitglieds der Linken Opposition, die 1923 unter der Führung Leo Trotzkis gegründet worden war.

Es gäbe vielleicht weitaus mehr solche Werke, wenn Stalin und seine Henker nicht mit derart teuflischer Gründlichkeit alle marxistischen Gegner der Sowjetbürokratie vernichtet hätten. Der Vorwurf der »KRTD« – das russische Kürzel für »konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit« – bedeutete den sicheren Untergang. Wer lediglich der »KRD« – »konterrevolutionären Tätigkeit« – angeklagt war, der durfte hoffen, mit »nur« fünf Jahren Arbeitslager davonzukommen, was angesichts der Ungeheuerlichkeit des stalinistischen Terrors eine vergleichsweise milde Strafe war. Aber wenn die Anklage vermittels des »T« mit den Ideen von Stalins unversöhnlichstem Gegner in Verbindung gebracht worden war, dann durfte das Opfer keine Wiederkehr erwarten.

Ungezählte Tausende, die wegen KRTD verurteilt wurden, hatten in Wirklichkeit nicht das Geringste mit Leo Trotzki oder der Linken Opposition zu tun gehabt. Nicht so Nadeschda. Sie war die Tochter Adolf Abramowitsch Joffes, der zu Trotzkis engsten persönlichen Freunden und politischen Verbündeten zählte. Im November 1927 beging Joffe Selbstmord, um gegen Trotzkis Ausschluß aus der Kommunistischen Partei Rußlands zu protestieren. Damals war Nadeschda 21 Jahre alt und verfügte bereits über beachtliche politische Erfahrung in dem Kampf, den die Linke Opposition zu dieser Zeit gegen die Sowjetbürokratie führte. Im Gegensatz zu vielen anderen, die der Terror erfaßte, sah sich Nadeschda nicht als Opfer eines willkürlichen und unergründlichen Schicksals. Sie wußte, daß sie ein politischer Gegner des Regimes war, und sie verstand die politischen Motive hinter Stalins Verbrechen. Die meisten, die in die Arbeitslager geworfen wurden, konnten sich einfach nicht erklären, weshalb sie dort waren. Ein solches Opfer erinnerte sich später in seinen Memoiren, daß die Trotzkisten »uns gegenüber den ungeheuren Vorteil hatten, ein geschlossenes System zu vertreten, das geeignet war, den Stalinismus abzulösen, und an dem sie in der tiefen Not der verratenen Revolution Halt fanden«.[1]

Eine Einführung in den vorliegenden Band verlangt einen kurzen Abriß der politischen Laufbahn des Vaters der Autorin. Adolf Joffe wurde 1883 geboren. Obwohl aus einer sehr wohlhabenden Familie und von schwacher Gesundheit, trat er um die Jahrhundertwende der russischen revolutionären Bewegung bei. Wie viele andere seiner Generation mußte Joffe nach der Revolution von 1905 Rußland verlassen. Während seines Aufenthalts in Wien 1908 schloß er sich eng an Leo Trotzki an und half ihm bei der Herausgabe einer neuen russisch-sprachigen Zeitung, der »Prawda«. Damals gehörte Trotzki weder der bolschewistischen noch der menschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands an. Seine theoretische Analyse der Ereignisse von 1905 mit ihrer Schlußfolgerung, daß Rußland trotz seiner ökonomischen Rückständigkeit am Vorabend einer sozialistischen Revolution stehe, hatte ihn politisch isoliert. Selbst Lenin tat Trotzkis Theorie der »permanenten Revolution« als »absurd links« ab. Joffe gehörte zu den wenigen, die den vorausschauenden Charakter der Analyse Trotzkis erfaßten. Aber nicht nur gemeinsame politische Ansichten brachten die beiden Männer zusammen. Sie teilten auch ein breites Band kultureller und wissenschaftlicher Interessen. Durch Joffe, der sich bei dem berühmten Alfred Adler selbst einer Psychoanalyse unterzogen hatte, lernte Trotzki die Schriften Freuds kennen.

Joffe kehrte nach Rußland zurück, um den Wirkungskreis der »Prawda« zu erweitern. Er wurde in Odessa verhaftet, eingesperrt und schließlich nach Sibirien gebracht. Dort blieb er bis zu seiner Befreiung durch den Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft im Februar und März 1917. Als führendes Mitglied von Trotzkis einflußreicher Meschrajonzi-Gruppe kehrte er nach Petrograd zurück. Nachdem die Erfahrung des Weltkriegs und der erneute Ausbruch der Revolution in Rußland die alten Differenzen zwischen Lenin und Trotzki bereinigt hatten, unterstützte Joffe die Aufnahme der Meschrajonzi in die Bolschewistische Partei, in der er bald als einflußreiche Persönlichkeit galt. Er zählte zu den fünf Mitgliedern des militärischen Revolutionskomitees, das unter Trotzkis Führung den Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung und die Errichtung der Sowjetregierung im Oktober 1917 organisierte.

Als guter Menschenkenner erkannte Lenin in Joffe jene Qualitäten, die ihn zu dem herausragendsten Sowjetdiplomaten der ersten Revolutionsjahre werden ließen. Als Mitglied der sowjetischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk unternahm Joffe seinen ersten Ausflug in die heimtückischen Gewässer der internationalen Machtpolitik. Später vertrat er Sowjetrußland auf wichtigen Missionen in Deutschland, China und Japan. Joffes tadelloses Auftreten und seine hohe Bildung trieben die bürgerlichen Diplomaten zur Verzweiflung. Sie hätten sich nie träumen lassen, als Bevollmächtigten eines revolutionären Arbeiterstaats eine solche geistige Kapazität zu treffen. Ungeachtet seiner souveränen Meisterschaft der raffinierten diplomatischen Etikette war Joffe allerdings in erster Linie Revolutionär. Ein amerikanischer Reporter erinnerte sich später daran, daß Joffes Botschaft in Berlin »als Hauptquartier einer deutschen Revolution diente. Er kaufte den deutschen Beamten Geheiminformationen ab und reichte sie an die radikalen Führer weiter, damit diese sie in Reden und Artikeln gegen die Regierung verwenden konnten. Er kaufte Waffen für die Revolutionäre und zahlte ihnen 100 000 Mark aus. Schriften gegen den Kaiser wurden tonnenweise gedruckt und auf Kosten der sowjetischen Botschaft verteilt. ›Wir wollten den monarchistischen Staat zu Fall bringen und den Krieg beenden‹, sagte Joffe mir gegenüber. ›Präsident Wilson versuchte dasselbe auf seine Weise.‹ Beinahe jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit schlüpften Führer der unabhängigen linken Sozialisten in das Botschaftsgebäude Unter den Linden, um Joffes Rat zu Fragen der Taktik einzuholen. Er war ein erfahrener Verschwörer. Sie wollten von ihm Ratschläge, Führung und Geld.«[2]

Als die deutsche Regierung Joffe vorwarf, er habe 105 000 Mark für den Sturz des Staates ausgegeben, beklagte sich dieser gegenüber einem führenden Sozialisten über die schlechte Buchführung des Kaisers; in Wirklichkeit habe er mehrere hunderttausend Mark aufgewendet.

Insbesondere während seines Aufenthaltes in China 1922–1923 spielte Adolf Joffe auch eine wichtige Rolle, um dem sowjetischen Einfluß in Asien den Weg zu ebnen. Er besaß die erforderliche taktische Finesse, um heikle Verhandlungen mit Sun Yat-sen zu führen, während er gleichzeitig unter den chinesischen Intellektuellen und Studenten in der jungen Kommunistischen Partei Chinas, deren rasches Wachstum die konservativen bürgerlichen Nationalisten in der Kuomintang-Führung sehr beunruhigte, die Ideen des Marxismus verbreitete.

Joffes Berufung zum Diplomaten hielt ihn in einiger Entfernung vom täglichen Kampf der Linken Opposition. Stalin nutzte seine Stellung als Generalsekretär, die ihn zu Ernennungen bevollmächtigte, oftmals aus, um Anhänger Trotzkis mit Missionen außerhalb der Sowjetunion zu betrauen. Es stand jedoch außer Frage, daß Joffe mit Trotzkis Kritik an der Bürokratisierung der Sowjetregierung und an den Gefahren, die sie für den Fortbestand des Arbeiterstaats und für die Sache des internationalen Sozialismus mit sich brachte, von ganzem Herzen übereinstimmte. Manches deutet darauf hin, daß Joffe sogar früher noch als Trotzki zu dem Schluß gelangt war, daß Stalins Aufstieg den Beginn einer längeren Periode politischer Reaktion in der Sowjetunion ankündigte.

Joffes nüchterne Einschätzung der sich verschlechternden politischen Lage trug viel zu seinem Entschluß bei, sich Ende 1927, auf dem Höhepunkt des innerparteilichen Kampfes, das Leben zu nehmen. Nicht aus Demoralisierung entschied er sich für den Selbstmord als angemessenste Antwort auf die Verbannung Trotzkis. Joffe erkannte vielmehr, daß seine unheilbare Krankheit, deren ordentliche Behandlung ihm die stalinistische Fraktion vermittels ihrer Kontrolle über die Partei versagte, ihn jeder Möglichkeit zur wirksamen Teilnahme am politischen Kampf beraubte. Die Gründe für seinen Schritt legte er in einem Brief dar, den er nur wenige Stunden, bevor er sich das Leben nahm, an Trotzki schrieb. Der vollständige Text dieses Briefes wird in diesem Band zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht. Die politischen Abschnitte dieses Dokuments sind selbstredend von außerordentlichem Interesse. Aber der wichtigste Absatz ist vielleicht jener, in dem Joffe in ebenso beredten wie einfachen Worten sein moralisches Credo formuliert: »… wenn ich auf mein Leben zurückblicke …, darf ich – wie ich meine – mit Recht behaupten, daß ich mein ganzes bewußtes Leben meiner Philosophie treu blieb, d. h. ich verbrachte mein Leben auf sinnvolle Weise, in der Arbeit zum Wohle der Menschheit.«

Beinahe 70 Jahre nach dem tragischen Tod ihres Vaters erinnern die Memoiren Nadeschda Joffes an eine Geschichtsperiode, in der der Marxismus die geistige und moralische Triebkraft einer mächtigen, weltweiten Bewegung für die soziale Befreiung war. Nadeschdas Generation wuchs in den zwanziger Jahren heran, noch bevor der Stalinismus die Ideale und Träume der Jugend des Oktober unterdrückt hatte. Ihre Erinnerungen rufen den Geist dieser Generation wach: »Wir alle wollten nichts für uns selbst, wir wollten alle nur das eine: die Weltrevolution und Glück für alle. Und wenn wir dafür unser Leben hätten geben müssen, wir hätten es ohne Zögern getan.«

Die Kultur, die diese Ziele beförderte und nährte, wurde vom Stalinismus zerstört. Die Festigung der bürokratischen Herrschaft verlangte die Vernichtung all jener, die in der einen oder anderen Weise die Prinzipien und Traditionen des Oktober 1917 vertraten. Hierin lag das wesentliche Motiv für den politischen Völkermord an Sozialisten, den Stalin entfesselte. Hätte sich Nadeschdas Vater nicht selbst das Leben genommen, er wäre mit Sicherheit unter jenen gewesen, die zwischen 1936 und 1938 erschossen wurden. Aber auch der frühe Tod Adolf Joffes konnte seine Familie nicht vor dem stalinistischen Terror bewahren. Nadeschda wurde in Arbeitslager geschickt und ihr Ehemann Pawel ermordet.

Nadeschda Joffe überlebte, und ihre Memoiren schenken uns das Zeugnis eines Menschen, der mit einem hohen Maß an politischem Bewußtsein die tragischsten Ereignisse dieses Jahrhunderts miterlebte.

Die Sowjetunion existiert nicht mehr und es ist unter jenen, die noch vor kurzem recht einflußreiche Stellungen in ihrem bürokratischen Apparat innehatten, schick und vor allem lukrativ geworden, Lenin, dem Bolschewismus und dem Marxismus alle Verantwortung für die Verbrechen des stalinistischen Regimes zuzuschreiben. Auf diese Weise entheben sie sich der Verantwortung für ihr eigenes Handeln, mit dem sie viele Jahre lang zur Aufrechterhaltung des stalinistischen Systems beigetragen haben.

Nadeschda Joffes Memoiren sind eine moralische ebenso wie faktische Widerlegung dieser neuen, postsowjetischen Schule der stalinistischen Fälschung; denn sie erinnert jene, die es vielleicht vergessen haben, und erklärt jenen, denen man es wahrscheinlich nie gesagt hat, daß ungezählte Tausende im Kampf gegen den Stalinismus ihr Leben opferten, weil sie verstanden, »daß der Sozialismus, der in der Sowjetunion aufgebaut wurde, nicht der Sozialismus war, von dem die besten Denker der Menschheit geträumt hatten«.

David North, 13. September 1994

[1] Leopold Trepper, »Die Wahrheit«, München 1975, Seite 63.

[2] E. H. Carr, »The Bolshevik Revolution 1917–1923«, New York 1981, S. 76–77.

Einführung

Diese Erinnerungen, die wahre Geschichte meines Lebens, schrieb ich in den Zeiten der sogenannten »Stagnation« unter Breschnew. Ich schrieb fast ohne Hoffnung, sie jemals gedruckt zu sehen. Aber trotzdem, ich schrieb.

Ich wollte sie meinen Kindern hinterlassen, meinen Enkeln, meinen Urenkeln. Und ich hoffte, daß in jenen Zeiten wenigstens im Samisdat[1] auch andere Menschen meine Einnerungen lesen würden.

Sie zu schreiben hielt ich für meine Pflicht.

Meine Pflicht denen gegenüber, die mit mir in den Gefängniszellen und auf den Doppelpritschen der Lager für die Langzeithäftlinge in Kolyma saßen, die hinter den Gittern der Stolypinschen Waggons[2] reisten, denen, die neben mir in Reih und Glied marschieren mußten, begleitet von Hundegebell und der berühmten Anweisung für Gefangenentransporte: »Ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links – wir schießen ohne Warnung.«

Meine Pflicht jenen gegenüber, die nicht überlebten. Unter ihnen waren: Parteimitglieder (viele mit Parteierfahrung aus der vorrevolutionären Zeit), parteilose Sowjetbürger, Arbeiter, Ingenieure, Ärzte, Kolchosbauern, Schauspieler, Studenten.

Einige saßen wegen Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppierung, aber das waren nur wenige. Die Mehrheit wurde wegen des Ehemannes, des Bruders, des Freundes, wegen eines Gesprächs, eines Witzes, dafür, daß sie nicht dieses Buch gelesen, nicht jenes Lied gelobt hatten, eingesperrt.

Die große Mehrheit saß wegen überhaupt nichts. Ich gehörte zur Minderheit, ich saß wegen etwas.

Wenn es von solchen wie mir mehr gegeben hätte, wenn wir mehr Möglichkeiten gehabt hätten, vieles könnte heute anders sein.

Aber die Kräfte waren ungleich verteilt. Auf der Seite Stalins stand die gesamte Bürokratie und der Polizeiapparat, und auf unserer …

Wir waren jung und unerfahren und unsere älteren Genossen, die mit Lenin zusammengearbeitet hatten, die seinerzeit nicht auf seine Warnungen gehört hatten, unterschätzten diesen Meister »der Zubereitung scharfer Speisen«. Sie kämpften wie kultivierte Menschen, wie gebildete Marxisten – mit Methoden der innerparteilichen Diskussion, man könnte sagen mit parlamentarischen Methoden.

Und der, gegen den sie kämpften, war ein Mensch mit wenig elementaren menschlichen Empfindungen, wie z. B. Anstand, Respekt vor dem Alter, Mitleid mit Kindern. Aber dafür verfügte er über krankhaftes Mißtrauen, war voller Rachsucht und Hinterlist.

Außerdem unterstützten zu bestimmten Zeiten einige Leute Stalin, die sich in der Partei Autorität erworben hatten.

Anfangs waren dies Sinowjew und Kamenjew. Mit ihrer Hilfe rechnete er mit Trotzki ab. Für einige Zeit war Bucharin Stalins »Ideologe«. Und mit seiner »Hilfe« rechnete er mit Sinowjew und Kamenjew ab.

Und dann rechnete er selbst mit Bucharin ab.

Im übrigen halte ich es nicht für meine Aufgabe, mich in allen Einzelheiten mit der Persönlichkeit Stalins und seinen Methoden aufzuhalten. Darüber schreibt man bereits und wird man wahrscheinlich noch schreiben.

Ich wollte einfach die Geschichte meines Lebens aufschreiben. Aber mein Leben erwies sich als so eng mit der Geschichte meines Landes verbunden, daß es sich auf gewisse Weise selbst als ein Stück Geschichte herausstellte

[1] Eigenverlag, Anfang 1966 entstandener Begriff für private literarische und publizistische Produktion und Verbreitung in der Sowjetunion als Ersatz für eine der staatlichen Zensur unterliegende Buchveröffentlichung.

[2] P.A. Stolypin (1863–1911), russischer Staatsmann, ordnete den Bau verbesserter Eisenbahnwagen für den Gefangenentransport an.

Erster Teil

Kapitel 1

Um die Geschichte meines Lebens zu erzählen, muß ich zuallererst von meinem Vater berichten. Er spielte eine große Rolle in meiner Entwicklung, sowohl als Vater als auch als Persönlichkeit.

Adolf Abramowitsch Joffe war der zweite Sohn eines reichen Kaufmanns aus Simferopol. Sein Vater, mein Großvater, war als junger Bursche in kaputten Stiefeln und mit einem geborgten Jackett nach Simferopol gekommen. Innerhalb von zwanzig Jahren kontrollierte er alle Transportmittel und den gesamten Postdienst auf der Krim. Er hatte ein eigenes Haus in Moskau, den vererbbaren Rang eines Ehrenbürgers und gehörte zu den »Lieblingsjuden« des Ministers Witte.

Im landeskundlichen Museum der Krim, in Aluschte, findet man keinen Hinweis auf den Revolutionär Joffe (der das Pseudonym »von der Krim« hatte), dafür ist eine ganze Schautafel dem Kaufmann Joffe gewidmet, von den Anfängen bis zur Herrschaft über das gesamte Post- und Transportwesen der Krim. Fotografien von gefederten Kutschen, Kremsern und geschlossenen Kutschen; Fotografien der ersten Automobile, die wir heute in alten Stummfilmen sehen können, sind dort ausgestellt.

Von seinen zahlreichen Nachkommen wurde nur mein Vater Revolutionär.

Eines Tages fragte ich ihn, wie es kam, daß er unter solchen Umständen, in so einer Familie, bereits in den letzten Klassen des Gymnasiums illegale Schriften las und mit 19 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Rußlands wurde. Er dachte nach, dann lachte er und sagte: »Wahrscheinlich, weil ich als kleiner Junge sehr dick war.« Eingeschränkt durch seine Dickleibigkeit rannte er nicht, spielte keine lebhaften Spiele, ging nicht zum Tanzen, sondern saß und las Bücher. So wurde er sehr belesen.

Nach dem Gymnasium reiste er mit seiner Frau nach Deutschland, um seine Ausbildung fortzusetzen, und schrieb sich an der medizinischen Fakultät ein. Er heiratete sehr früh, aber sein Vater erhob keine Einwände. Bei diesem Sohn war er auf alles gefaßt, er hätte eine Putzfrau oder eine Prostituierte heiraten können. Aber er heiratete eine schöne anständige junge Frau aus einer intelligenten Familie. Ja, sie hatte keine Aussteuer, aber Großvater konnte sich diesen Luxus erlauben – er bekam eine Schwiegertochter zur Mitgift.

1906 erhielt mein Vater von der Partei den Auftrag, eine konspirative Wohnung in Berlin zu mieten. Nach dem Scheitern der Revolution von 1905 mußten viele ihrer Teilnehmer emigrieren. Darunter waren Menschen, die zum ersten Mal ins Ausland kamen, die Sprache nicht beherrschten und über keine finanziellen Mittel verfügten. Sie mußte man treffen, aufnehmen, irgendwie unterbringen und irgendwohin schicken. Das kostete Adolf Abramowitsch eine Menge Zeit und den größten Teil des Geldes, das ihm sein Vater schickte.

Während er selbst keine abgeschlossene Ausbildung hatte, träumte Großvater immer davon, daß seine Kinder Gelehrte würden. Er war sehr stolz, daß sein Sohn studierte, um »Doktor« zu werden. In dieser Zeit ärgerte ihn dessen revolutionäre Tätigkeit besonders. »Söhnchen«, sprach er, »wozu brauchst Du diese Revolution? Wenn Du Dein Medizinstudium abgeschlossen hast, kaufe ich Dir eine Praxis. Wenn Du willst, in Moskau auf der Twerskaja, wenn Du willst, in Petersburg auf dem Newski, wozu diese Revolution?«

Aufgrund seiner Tätigkeit wurde Vater von der deutschen Regierung als »unerwünschter Ausländer« ausgewiesen. Das war im Mai 1906. Wegfahren konnte er nicht, da seine Frau in wenigen Tagen ein Kind erwartete. Er beschloß, in die Illegalität zu gehen und in Berlin zu bleiben. Seine neugeborene Tochter, also mich, sah er zum ersten Mal, nachdem er seinen Bart abgenommen und dunkle Brillengläser aufgesetzt hatte.

Zu dieser Zeit erschien in der Presse ein Artikel August Bebels, in dem er die deutsche Regierung beschuldigte, die russischen Emigranten grausam zu behandeln. Als Beispiel führte er die Geschichte meines Vaters an, der abgeschoben werden sollte, als seine Frau in den Wehen lag.

Nach der Rückkehr nach Rußland begann Vater sofort mit der Vorbereitung der Flucht Feldmanns, eines Teilnehmers des »Potemkin-Aufstands«, aus dem Militärgefängnis in Sewastopol. Er mußte dringend aus Sewastopol herausgeschafft und in Jalta auf einen Dampfer gebracht werden, der ins Ausland fuhr. Das war nicht so einfach, wenn man bedenkt, daß Jalta die Sommerresidenz der Zarenfamilie war, und auf jedem Kai manierliche Schutzmänner mit weißen Handschuhen standen. Man hätte vermuten können, daß man den Flüchtenden möglichst unbemerkt am späten Abend oder am frühen Morgen transportieren würde. Adolf Abramowitsch tat dies öffentlich, am hellichten Tag, unter den Augen Dutzender. Er nahm eine der Equipagen, die seinem Vater gehörten (ihm schlug man es natürlich nicht ab, ihm, dem Sohn des allmächtigen Hausherren), setzte den mit einem schönen Anzug bekleideten Feldmann hinein und meine Mutter neben ihn. Und so, in einer schönen Equipage, eine hübsche elegante Dame neben sich, fuhr er über die ganze Uferstraße und ging wohlbehalten an Bord des Dampfers.

Seine Ausbildung konnte Vater in Deutschland nicht fortsetzen. 1908 ließ er sich in Wien nieder. Dort schloß er die medizinische Fakultät ab und erhielt sein Arztdiplom. Sein Interesse galt auch weiterhin immer der Medizin, vor allem der Psychologie. Er war einer der Schüler und Anhänger Alfred Adlers.[1] Aber die revolutionäre Arbeit war immer sein eigentlicher Lebensinhalt.

In Wien nahm er unmittelbar an der Gründung der sozialdemokratischen Zeitung »Prawda« teil. Herausgegeben und redigiert wurde die wienerische »Prawda« hauptsächlich von der Vierergruppe: Parvus, Skobeljew, Trotzki und Joffe.

Parvus (dessen richtiger Name Helphand lautete) war ein talentierter Journalist, ein begeisterungsfähiger Mensch, der immer völlig in dem aufging, was er gerade tat. Vater erzählte, daß er sogar Schach so spielte, als hinge sein Leben von genau dieser Partie ab. Für die Herausgabe der Zeitung brauchte man Geld und Parvus nahm eine kommerzielle Tätigkeit an. Offensichtlich wurde diese Tätigkeit für Parvus immer wichtiger, er wurde sehr reich und wandte sich vom revolutionären Kampf ab.

Vorausgreifend erwähne ich, daß 1918, als sich mein Vater in seiner Eigenschaft als Botschafter Rußlands in Berlin aufhielt, Parvus versuchte ihn zu besuchen. Aber der Botschafter wünschte ihn nicht zu treffen. Zu dieser Zeit war Parvus ein reicher Mann, ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem, wie man sagte, nicht gerade tadellosem Ruf. Der sowjetische Botschafter konnte sich ein solches Treffen einfach nicht erlauben.

Matwej Iwanowitsch Skobeljew, später Arbeitsminister in der Kerenski-Regierung, emigrierte nach dem Oktoberumsturz und lebte in Paris. 1920 kehrte er auf Anraten unseres damaligen Botschafters in Frankreich, L. B. Krasin, nach Rußland zurück. Unauffällig arbeitete er bis 1937 auf einem unbedeutenden Posten. 1937 wurde er verhaftet und erschossen.

Trotzki und Joffe blieben Freunde und Gesinnungsgenossen bis zum Tode meines Vaters.

Als er nach Rußland zurückgekehrt war, setzte er seine illegale Arbeit fort. 1912 wurde Vater in Odessa zusammen mit der gesamten Parteiorganisation Odessas verhaftet. Offensichtlich hatte man keinen besonderen Beweis gegen ihn, und nachdem er einige Zeit in Einzelhaft abgesessen hatte, wurde er für vier Jahre ins Tobolsker Gouvernement verbannt. Die Verbannung verbüßte er im Dorf Demjanowsk. Ich erlaube mir, ein Zitat aus dem Buch eines Bauers dieses Dorfes, Ilja Doronin, anzubringen. Unter dem Einfluß der in Demjanowsk lebenden Verbannten wurde Doronin selbst Revolutionär. Sein Buch erschien 1964 in Swerdlowsk. Er schreibt folgendes: »Der reichste und, vor allem, der großzügigste unter den Verbannten war der Arzt A. A. Joffe, der Zugehörigkeit zur RSDRP in Odessa überführt und in die nördlichen Bezirke des Gouvernements Tobolsk verbannt. Adolf Abramowitsch war ein sehr fröhlicher, angenehmer Mensch. Er sorgte in der Obrigkeit von Demjanowsk für einige Unruhe. Sie verhafteten ihn wegen ›schlechten Einflusses auf die Schüler einer Schule, weil er bei der Lehrerin einzog‹.«

1913, in der Verbannung, wurde Vater wirklich inhaftiert, aber nicht wegen »schlechten Einflusses auf Schüler«. Zu dieser Zeit fand in Odessa ein wichtiger Prozeß gegen die Matrosen der Schwarzmeerflotte statt. Im Laufe der Untersuchung wurde die Zugehörigkeit Vaters zu dieser Organisation offenkundig. In der Verbannung wurde er inhaftiert, nach Odessa überführt und verurteilt. Er verlor alle Bürgerrechte und wurde auf Lebenszeit, diesmal nach Sibirien, verbannt.

In der Verbannung in Aban, ein Dorf im Kreis Krasnojarsk, übte er zum ersten und zum letzten Mal im Leben seinen ärztlichen Beruf praktisch aus. Er mietete eine Wohnung, eher ein Bauernhaus, von einer Familie, deren kleines Kind erkrankte. Sie zogen dem kleinen Jungen ein sauberes Hemd an und legten ihn »unter die Ikone«. »Was Gott gibt«. »Gott gibt« bedeutet, er wird gesund, »Gott gibt nicht« bedeutet »Gott nimmt«. Und so nahm Vater seine ärztliche Tätigkeit auf. Er bestellte aus der nächstgelegenen Stadt, aus Kansk, die notwendigen Medikamente und begann mit der Behandlung. Dies entging der örtlichen Obrigkeit nicht und man schickte ihn in offizieller Mission als Arzt in die Steinbrüche.

Von dort befreite ihn die Februarrevolution. Im April 1917 war er bereits in Petrograd. Im Sommer 1917 trat Vater zusammen mit der ganzen Gruppe der sogenannten »Meschrajonzi« der Partei der Bolschewiki bei und nahm aktiv am Oktoberaufstand teil.

Es ist seltsam. Ich sah Vater praktisch fünf Jahre nicht, von kurzen Zusammenkünften im Gefängnis von Odessa abgesehen. Auch in Petrograd konnte er mir nicht viel Aufmerksamkeit widmen. Jede Begegnung mit ihm war mir sehr wichtig. Ich erinnere mich, es war in der Datscha in Terioky (heute Komarowo), ich kam angerannt, war außer Atem, sehr durstig und bat das Stubenmädchen, mir etwas Wasser zu bringen. Vater hielt das Stubenmädchen an und sagte sehr sanft: »Nadjuscha, bitte, hol’ Dir selbst Wasser. Und überhaupt möchte ich, daß Du alles, was Du kannst, selbst erledigst.« Es schien eine einfache Bemerkung zu sein, aber für mich wurde es eins der wichtigsten Lebensprinzipien – alles, was du kannst, mußt du selbst tun und nicht auf jemand anderen schieben.

Im Sommer des Jahres 1917, wir lebten in der Datscha, war ich mit Mutter oft in Petrograd. Mich interessierte alles: auf den Straßen drängelten sich Menschenmassen mit Fahnen, ohne Fahnen, an jeder Ecke fanden konspirative Treffen statt und ständig hielt jemand eine »Rede«. Und abends ging ich mit Mutter ins Kino. Ach, was waren das für Bilder: aus irgendeinem Grund wurden sie nach einigen damals populären Romanzen benannt: »Schweige, Leid, schweige!«, »Geschichte der teuren Liebe« usw. Und was für Schauspieler! Vera Cholodnaja, Maximow, Runitsch, Mosschuchin und Lysenko. Ach waren sie schön anzusehen und wie herrlich war ihre Liebe, die Leidenschaft zerriß sie förmlich! Die bezaubernde Vera Cholodnaja stürzt sich aus dem Fenster eines fünfstöckigen Hauses und liegt da unten, so bleich, so sauber, wie eine Puppe mit Perücke. Aber sie war eine hervorragende Schauspielerin.

Nach der Juli-Demonstration, die von der Übergangsregierung gewaltsam aufgelöst wurde, versteckten sich Lenin und Sinowjew, wie bekannt ist, am Finnischen Meerbusen, Trotzki saß im Kresty-Gefängnis und die Jungs, seine Söhne Lew und Serjoscha, brachte Natalja Iwanowna zu uns. Ich erinnere mich, wie wir bei der Datscha herumspazierten und uns eine Gruppe Matrosen aus Kronstadt begegnete. Ich weiß nicht, warum sie mit uns Kindern sprachen, erinnere mich aber, daß sie, als sie erkannten, wessen Jungs dies waren, ihnen auf die Schultern klopften und sagten: »Grämt Euch nicht, Kinder, bald befreien wir Euren Papi mit Bajonetten und Musik.« Uns gefiel dieses »mit Bajonetten und Musik« ungemein.

Auf dem VI. Parteitag im August 1917 kamen drei der Meschrajonzi ins Zentralkomitee: Trotzki und Uritzki als Mitglieder, Joffe als Kandidat. Von den 24 Mitgliedern dieses ZKs, die die Oktoberrevolution mitmachten, wurden elf erschossen, zwölf starben im Gefängnis. Trotzki wurde auf Anweisung Stalins getötet, Joffe nahm sich das Leben.

Eines Tages kam Vater im Morgengrauen nachhause, müde und glücklich, und sagte: »Es lebe unsere Regierung.« Wir gingen zum Smolny. Ich sah Trotzki, der sich mit größter Mühe vor Müdigkeit gerade noch auf den Beinen hielt. Ich erinnere mich, wie Vater lächelnd zu ihm sagte: »Ich gratuliere Ihnen, Lew Davidowitsch.« Dieser dachte offensichtlich, daß Vater die letzten Ereignisse meinte, und erwiderte: »Ich Ihnen auch.« Vater lächelte wieder und sagte: »Nein, Ihnen persönlich gratuliere ich, Lew Davidowitsch, zum Geburtstag.« Trotzki schaute ihn verwundert an, schlug sich mit der Hand an die Stirn, lachte und sagte: »Das habe ich ganz vergessen! Aber trotzdem habe ich meinen Geburtstag nicht schlecht gefeiert.«

Dort sah ich Lenin zum ersten Mal, hörte seine Rede in der Räteversammlung.

Vater wurde Mitglied des militärischen Revolutionskomitees. Er war sehr selten zuhause. Unterdessen wurde das Leben immer schwieriger. Meine Mutter, an Schwierigkeiten nicht gewöhnt, fuhr mit mir gegen den Willen meines Vaters zu ihrer Mutter nach Baku. Wir glaubten für ein bis zwei Monate. Aber in Baku kam es zu einem Aufstand, der Aserbaidschan von Rußland abtrennte, und wir blieben bis zum Frühjahr 1918, als die Bolschewiki an die Macht kamen. Zur wichtigsten Person in der Stadt wurde Stepan Schaumjan, einer der 26 später von den Engländern erschossenen Kommissare Bakus. Von ihm erfuhren wir, daß Vater sich weder in Petrograd noch in Moskau aufhielt, sondern in Berlin, und zwar als Botschafter der Sowjetunion. Schaumjan teilte uns mit, daß Vater uns bat, zu ihm zu kommen. Und wir machten uns auf nach Moskau und von dort nach Berlin.

[1] Alfred Adler – Schüler Freuds, Begründer der Individualpsychologie, übte großen Einfluß auf die sogenannten »Neofreudianer« aus.

Kapitel 2

Wir kamen in der Botschaft an. Ich hatte noch nie so ein Gebäude gesehen. Im Schlafzimmer stand ein Bett, quadratisch und so groß, daß zehn Personen Platz darauf gehabt hätten. Im Sitzungssaal konnte man von einem Ende zum anderen Fahrrad fahren und der Bankettsaal war noch größer.

In der Botschaft waren alle Mitarbeiter Russen und alle Bediensteten Deutsche, von den früheren Herrschaften zurückgelassen. Die wichtigste, die Hausvorsteherin, war Frau Marta. Sie begrüßte mich persönlich mit einer besonderen »Ansprache«, deren Inhalt darin bestand, daß »ein Kind die Sonne eines Hauses« sei. Sie erklärte mir, daß sie den früheren Botschafter »Exzellenz« (»Ihre Exzellenz«) genannt hatten und der jetzige Botschafter, d. h. mein Vater, es ihnen verboten habe, ihn so anzusprechen, und so nannten sie ihn »Herr Botschafter«.

Vater führte kein einfaches Leben. Die schwierigsten verantwortungsvollsten Arbeiten wurden ihm zugeteilt, von deren Erfolg in gewisser Weise das Schicksal des Landes abhing. Er war 35 Jahre alt, ausgebildeter Arzt, Revolutionär von Beruf. Er hatte keine diplomatischen Erfahrungen (von den Verhandlungen in Brest-Litowsk abgesehen) und er mußte sich neben den erfahrensten abgebrühtesten europäischen Diplomaten behaupten, sich sozusagen »nebenbei« die Regeln des diplomatischen Protokolls aneignen. So kam es bisweilen zu kuriosen Zwischenfällen. Eines Tages, er wollte gerade zu einem Empfang ins Außenministerium, sagte mein Vater zum Chauffeur, er solle sich angemessener kleiden – der Chauffeur erschien im grellgestreiften Seidenpyjama!

Da es in Berlin keine russische Schule gab, bekam ich einen Hauslehrer. Der Lehrer gefiel mir nicht, ich lernte schlecht. Zum Glück gab es in der Botschaft eine wunderbare Bibliothek. Niemand überwachte meine Lektüre und so las ich ein Buch nach dem anderen. Die Romane Dostojewskis genauso wie Unterhaltungsromane mit grellen Umschlägen. In der Botschaft, ich war das einzige Kind, waren alle sehr gut zu mir, am meisten aber liebte ich Leonid Borisowitsch Krasin. Was für ein wunderbarer Mensch; er war, klug, geistreich, herzlich.

Er hatte Rußland nach dem Scheitern der Revolution von 1905 verlassen, in der er eine herausragende Rolle sowohl als »Financier« der Partei, als auch als Anführer einer Kampftruppe gespielt hatte. Die letzten Jahre arbeitete er als Ingenieur in der elektrotechnischen Firma Siemens-Schuckert. Offensichtlich war er auch als Ingenieur außergewöhnlich, da er in dieser Firma das Amt des Generaldirektors inne hatte.

Sofort nach der Revolution 1917 kehrte er nach Rußland zurück und schaltete sich aktiv in die politische Arbeit ein. Er wurde von Lenin, der Hoffnungen auf seine persönliche Autorität in den Geschäftskreisen Westeuropas setzte, nach Berlin gesandt. Klar, daß er sich anfangs etwas deplaziert fühlte. Ich erinnere mich an seine Gespräche mit Vater. Wenn ihm etwas nicht gefiel, sagte er: »Warum wird das bei Euch so gemacht?« Vater korrigierte ihn mit einem Lächeln: »Bei uns, Leonid Borisowitsch, bei uns.« »Ja gut, bei uns.« Nach einiger Zeit wieder – »Ihr müßt das so machen«, Vater: »Wir, Leonid Borisowitsch, wir«. »Ja gut, wir, wir.«

Mit Vater verband ihn nicht nur die gemeinsame Arbeit, sondern auch Freundschaft. Als er einmal in Urlaub fuhr, nahm Leonid Borisowitsch mich mit. Seine Familie – seine Ehefrau und drei Töchter, ungefähr in meinem Alter, lebte damals in Schweden, in einem Kurort namens Bostad. Ich blieb die ganzen Ferien über ihr Gast. Er lachte über mich und nannte mich »Verführerin meiner armen Töchter«. Ich lehrte sie, nicht an Gott zu glauben und der Mutter nicht zu gehorchen, was damals mein »Lebensmotto« war.

Der Mutter nicht zu gehorchen lehrte mich meine zwölfjährige Lebenserfahrung, und ich hörte auf an Gott zu glauben, als er meine Erwartungen enttäuschte. Als mein Vater in Odessa im Gefängnis saß, in der Verbannung, lebte ich bei Verwandten in Simferopol. Ich liebte die Haut, die sich auf einem Kisel[2] bildet. Eines Tages schlich ich in die Vorratskammer und aß die Haut von einer ganzen Schüssel Kisel auf. Und ich betete so sehr: »Gott, zieh eine neue Haut über den Kisel«, aber er zog keine Haut darüber und ich wurde bestraft. Von da an beschloß ich, nicht mehr an ihn zu glauben.

Sehr unruhige Tage erlebte die Botschaft, als in Moskau der deutsche Botschafter Mirbach ermordet wurde.

Vater wurde über eine direkte Leitung informiert. Es wurde berichtet, daß der Mörder Sozialrevolutionär und Mitglied der Tscheka war. Damals waren die Sozialrevolutionäre gerade in die Regierung gekommen. Vater wurde davor gewarnt, irgendeine unbekannte Person allein zu empfangen oder ohne Begleitung auf die Straße zu gehen. Das war vernünftig, denn in der Botschaft tauchten anonyme Briefe auf: »Ihr habt einen von uns ermordet, wir werden einen von Euch töten.« Vater schenkte diesen Drohungen keine große Beachtung, aber all das komplizierte seine Beziehungen zu den Deutschen.

Seine Arbeit wurde viel schwieriger (nicht nur in dieser Zeit, sondern allgemein) durch den mangelnden Kontakt zu Tschitscherin, der damals Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten war. Wie ich jetzt glaube, lag das vor allem an der Unterschiedlichkeit der Charaktere, an den verschiedenen Arbeitsmethoden. Vater war ein sehr organisierter Mensch, vielleicht sogar ein Pedant. Er verspätete sich niemals. Oft erzählte er, daß, wenn er zu einer Sitzung komme, die auf sechs Uhr angesetzt war, die Uhr sechs schlug, wenn er den Raum betrat. Tschitscherin aber arbeitete hauptsächlich nachts und so war auch der gesamte Mitarbeiterstab gezwungen, nachts zu arbeiten. Er konnte über die direkte Leitung um fünf Uhr morgens anrufen, um irgendeine Auskunft zu verlangen, die man erst einige Stunden später vollständig erteilen konnte. Vater ärgerte dies sehr. Außerdem gingen ihre Meinungen in prinzipiellen Fragen oft auseinander.

Vater war ein Mensch mit sehr unabhängigen Ansichten, er führte das durch, was er für richtig hielt. Schließlich sagte man über ihn: »Er verlegte das Narkomindel (Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten) nach Berlin.«

In den gesammelten Briefen Lenins befindet sich unter anderem ein Brief Lenins an Joffe, geschrieben in dieser Zeit. Lenin machte Vater Vorwürfe wegen seines Unwillens, Kontakt mit Tschitscherin aufzunehmen. Er äußerte sich sehr positiv über Tschitscherin und schreibt: »… seine (Tschitscherins) Schwäche ist der Mangel an autoritärem Gehabe, aber das ist nicht schlimm, es gibt viele Menschen auf der Welt mit der umgekehrten Schwäche!«

Zu dieser Zeit schickte Lenin ein Telegramm mit dem Vermerk »geheim« an Leonid Borisowitsch Krasin. Offensichtlich hatte Krasin ihn gebeten, Vater in den Auseinandersetzungen mit Tschitscherin zu unterstützen.

Hier das Telegramm: »Ich schätze die Arbeit Joffes vollkommen und billige sie ohne Vorbehalt, aber ich fordere inständig, daß Joffe sich wie ein Botschafter benimmt, über dem das Narkom (Volkskommissariat) für auswärtige Angelegenheiten steht, daß er Anweisungen befolgt, ohne jemanden zu beschimpfen und schlecht zu behandeln, daß er das Narkom für auswärtige Angelegenheiten zu allem Wichtigen befragt. Nur dann kann und werde ich den Botschafter Joffe unterstützen. Ich zähle auf ihr Taktgefühl, wenn sie dies dem Botschafter Joffe anraten und erwarte ihre Antwort. Lenin.«

Im Oktober 1918 kam Karl Liebknecht in die Botschaft. Ich hatte den Eindruck, daß er direkt aus der Verbannung zu uns ge­kommen sei, weil sein Erscheinen von einer großen freundschaftlichen Demonstration vor dem Botschaftsgebäude begleitet wurde.

In der Botschaft wurde ein Bankett gegeben und ich wurde neben Mehring gesetzt. Er war der älteste der Anwesenden und ich die jüngste. (Mehring war einer der alten deutschen Sozialdemokraten, Spartakist. Er war damals wahrscheinlich über siebzig Jahre alt). Nach dieser offiziellen Angelegenheit kam Liebknecht öfters mit seiner Familie zu uns. Seine Frau war Russin, Sofia Borisowna, und sie hatten drei Kinder. Im Umgang war er ein sehr freundlicher wohlwollender Mensch. Er hatte damals noch wenige Wochen zu leben.

Neue und sehr interessante Menschen kamen in die Botschaft, Christian Georgewitsch Rakowski und Nikolai Iwanowitsch Bucharin.

Rakowski wurde in Bulgarien geboren, wuchs in Rumänien auf, erhielt seine Ausbildung in Frankreich und wurde russischer Revolutionär. Er sprach gleich gut rumänisch, bulgarisch, russisch und noch einige andere europäische Sprachen. Man weiß nicht, welches seine Muttersprache ist. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal fragte, in welcher Sprache er denke. Rakowski dachte nach und sagte: »Wahrscheinlich in der, in der ich gerade rede.«

Alle mochten Bucharin sofort und nannten ihn liebevoll »Buchartschik«, nicht umsonst bezeichnete Lenin ihn als Liebling der Partei. Meine zwölfjährige Einbildungskraft beflügelte er dadurch, daß er an seinem Geburtstag, während er Glückwünsche entgegennahm, auf einen langen Bankettisch sprang, bis zur Mitte lief und einen Kopfstand machte. Später hatte ich Gelegenheit, sowohl Bucharin als auch Rakowski zu treffen.

1919 trat ich dem Komsomol bei. Ich war dreizehn Jahre alt und nach den Regeln der RKSM (Russischer Kommunistischer Bund der Jugend) wurde man mit vierzehn Jahren aufgenommen, aber damals wollten nur wenige beitreten, so daß die Regeln in diesem Fall nicht so streng befolgt wurden. Ich hätte Nikolai Iwanowitsch wahrscheinlich nicht um eine Empfehlung gebeten, aber das Gespräch über den Komsomol wurde bei ihm geführt, und in seiner Gutmütigkeit schlug er mir dies selbst vor.

Rakowski spielte in meinem weiteren Leben eine wichtige Rolle. Das ist aber ein anderes Thema, auf das ich später zurückkomme.

Kurz nach dem Attentat von Kaplan auf Lenin, das für große Aufregung sorgte, kam eine neue Person in die Botschaft, groß, schlank, mit Spitzbärtchen, Familienname Damanski. Ich erinnere mich, wie verwundert ich war, als ich hörte, wie Vater zu ihm sagte: »Wie konnte das passieren? Wie konnten Sie das zulassen?« Ich konnte nicht verstehen, warum irgendein Damanski verantwortlich sein sollte für das Attentat auf Lenin. Das war Dserschinski. Er kam mit einem Sonderauftrag unter falschem Namen nach Berlin. Er blieb nur kurz bei uns. Ich erinnere mich, daß er sich oft mit unserem Generalkonsul, Menschinski, unterhielt.

Nach der Rückkehr nach Moskau arbeitete Wjatscheslaw Rudolfowitsch Menschinski im WTschK (Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage), anfangs im Kollegium, seit 1923 als Stellvertreter Dserschinskis und nach dessen Tod bis zu seinem eigenem Tod im Jahre 1934 als Vorsitzender der OGPU. Das heißt, die schlimmsten Jahre der Repression erlebte er nicht mehr, aber die Massendeportationen älterer (und jüngerer) Mitglieder der Partei und des Komsomol in den Jahren 1928–29, der Einsatz politischer Isolationshaft bei Oppositionellen, das war bereits sein Denkmal, »wie Hände keins erheben«.[3]

Ich erinnere mich kaum an ihn. Er war schweigsam, eine finstere Gestalt und ungewöhnlich höflich, sogar mich siezte er.

In dieser Zeit begann ich mich für Politik zu interessieren. Ich las Zeitungen, russische, deutsche, stellte Vater alle möglichen Fragen. Ich muß erwähnen, daß er niemals zu mir sagte »das verstehst Du nicht«, »wenn Du groß wirst, wirst Du es verstehen« oder andere Phrasen verwendete, mit denen Erwachsene öfters maßlos neugierige Kinder und Heranwachsende abwimmeln. Nein, Vater beantwortete alle meine Fragen und mir schien, daß ich alles verstand. Mir schien überhaupt, daß ich alles verstand, sowohl in der Politik als auch im Leben.

Aber ich verstand das für mich entscheidende nicht: ich verstand nicht, daß dort, in diesem Haus, Unter den Linden, meine Kindheit endete. Danach war ich nicht mehr bei Papa und Mama. Ich war allein, wie Kiplings Katze.

[2] Süße Nachspeise u. a. aus Fruchtsaft und Kartoffelstärke.

[3] Aus einem Gedicht Puschkins von 1836: »Ein Denkmal baut’ ich mir, wie Hände keins erheben.« Der Hinweis auf die erhabene Schöpfung in Puschkins Gedicht ist ironisch gemeint.

Kapitel 3

Im November 1918, kurz vor der Revolution in Deutschland, wurde das Personal der sowjetischen Botschaft aus Deutschland ausgewiesen.

Wegen des Aufstands in Deutschland wurde unser Zug in Borisowa angehalten. Vater sprach über die direkte Leitung mit Berlin und auch mit Moskau, aber nach Deutschland kamen wir nicht mehr zurück.

In dieser Zeit trennten sich meine Eltern endgültig. Nach der Rückkehr nach Rußland blieben meine Mutter und ich in Moskau und Vater fuhr mit seiner zweiten Frau nach Petrograd, um dort zu leben und zu arbeiten. Im Sommer 1919 bekamen sie einen Sohn, Wladimir.

Über meinen Bruder werde ich noch schreiben.

Mutter und ich lebten im Ersten Haus der Sowjets (heute ist es das Hotel National). Unser Zimmer war ein gewöhnliches Hotelzimmer mit Standardmobiliar, einem Alkoven, zwei Betten und einer kaputten Badewanne. Unten gab es eine sehr große Gemeinschaftsküche, die aber niemand benutzte. Es gab einfach nichts, das man hätte kochen können und alle bekamen Restaurantgutscheine.

Der Winter 1918/19 in Moskau war sehr streng und es gab kaum etwas zu essen. Wir lebten ein bißchen besser als der Moskauer Durchschnitt. Schwarzes Brot mit etwas Zucker bestreut war ein seltener Leckerbissen, genau wie Kuchen. Ich erinnere mich, wie es Mutter einmal gelang ein Stückchen Fleisch aufzutreiben. Sie ging in die Gemeinschaftsküche, um es zu kochen. Als sie die Treppe hinaufging, stolperte sie und der Kochtopf fiel herunter. Sie kam lange nicht wieder und ich ging sie suchen. Sie saß auf den Stufen, hielt den Kochtopf in Händen und weinte. Und Mutter war niemals eine Heulsuse.

Aber mich berührte das wenig, mein Leben verlief im allgemeinen außerhalb des Hauses. Ich lernte in der Schule, genau gesagt lernte ich nicht, aber ich besuchte die Schule, weil wir uns nicht allzusehr mit Lernen belasteten, sondern uns hauptsächlich mit Politik beschäftigten. Die Schule, die ich besuchte, das ehemalige Privatgymnasium von Popow und Kirpitschnikow, war in Moskau als eine der liberalsten und fortschrittlichsten bekannt. Dort gab es auch schon vor der Revolution gemeinsame Schulklassen für Mädchen und Jungen. Viele Lehrer waren Sozialdemokraten. Unser Mathematiklehrer war sogar Mitglied des Moskauer Komitees der RSDAP (M) (Russische sozialdemokratische Arbeiterpartei, Menschewiki). In anderen älteren Gymnasien, die weder fortschrittlich noch liberal waren, saßen die Lehrer still da und hielten ihren Unterricht ab, so gut es ging. Unsere Lehrer dagegen interessierten sich genauso wie wir für Politik und stritten mit uns. Die Obrigkeit in Gestalt des Kommissariats für Bildung, der russischen Kommunistischen Partei usw., hielt letztendlich zu uns, weil wir uns aktiv für die Sowjetmacht einsetzten und unsere menschewistischen Lehrer dagegenhielten.

Zu Beginn des Jahres 1919 trat ich einer Organisation bei, die sich »Bund der Lernenden – Kommunisten« nannte. Im Sommer 1919 hörte diese Organisation zu bestehen auf und löste sich im Russischen Kommunistischen Bund der Jugend auf. In dieser Zeit wurde ich auch Komsomol-Mitglied. Ich arbeitete in der Schulabteilung, die sich mit dem Aufbau von Komsomol-Zellen in Schulen der zweiten Stufe beschäftigte. Die Mittelschule dauerte sieben Jahre. Die ersten drei Gruppen (Gruppen, nicht Klassen) wurden die erste Stufe genannt, die übrigen vier zweite Stufe. Wir gingen in die Schulen (die erst vor kurzem aufgehört hatten, Gymnasien zu sein), hielten Versammlungen ab und luden die Schüler (die bisherigen Gymnasiasten) ein, dem Bund der russischen kommunistischen Jugend beizutreten.

In unserer Schulabteilung war ich das einzige Mädchen und sie hetzten mich buchstäblich zu Tode. Wenn nämlich ein Junge als Agitator in das frühere Knabengymnasium kam, war es üblich, ihn ins »Dunkle« zu stoßen. Sie bedeckten ihn mit einem Mantel und schlugen ihn. Mädchen zu prügeln, gehörte sich entsprechend der gymnasiastischen Tradition nicht. So verließ ich öfters unter Pfiffen diese Versammlungen, wurde aber letztendlich nicht geschlagen.

Vater, der in Petrograd arbeitete, kam öfters nach Moskau. Eines Tages nahm er mich mit ins Theater. Man muß erwähnen, daß Vaters Geschmack, man könnte sagen, klassisch war: in der Prosa – Tolstoj, in der Lyrik – Puschkin. Gegenüber dem seinerzeit sehr populären Sewerjanin verhielt er sich ironisch, in der Verbannung verfaßte er sehr unterhaltsame Parodien auf ihn, die er mit »Adolfo Sibirjanin« unterzeichnete. Majakowski mochte er auch nicht. Von allen Theatern Moskaus bevorzugte er das »Maly«. Und so gingen wir, wie ich mich jetzt erinnere, in das »Maly«-Theater, um »Wölfe und Schafe« zu sehen.

Wir gingen in die Loge gegenüber der Bühne, die »Sownarkom« genannt wurde. Die Loge war sehr groß, ich weiß nicht, wie viele Menschen in ihr Platz hatten, wahrscheinlich dreißig. Als wir eintraten, war sie überfüllt. Vor allem junge Leute waren da, aber in den hinteren Reihen saß ein Mann, ungefähr in Vaters Alter, mit schwarzem Schnurrbart. Vater begrüßte ihn mit Handschlag. Der diensthabende Platzanweiser führte uns in die erste Reihe. Vater setzte sich, schaute sich um und sprach irritiert: »Weiß der Teufel, was das bedeuten soll! Dies soll die Regierungsloge sein. Sie setzen irgendwelche jungen Tippsen hinein und für ein ZK-Mitglied findet sich kein anständiger Platz.« Dieses ZK-Mitglied mit schwarzem Schnurrbart war Stalin.

Meine Komsomol-Tätigkeit endete in dieser Zeit ziemlich traurig.

Im Herbst 1919 wurde die »Frontwoche« eingeführt und die Komsomol-Mitglieder waren angehalten, in den Krankenhäusern der Roten Armee zu arbeiten. In die Flecktyphus-Krankenhäuser wurden nur Freiwillige geschickt, und ich war natürlich eine von ihnen. Wir mußten den Sanitätern helfen und im allgemeinen all das tun, was anfiel: Briefe für die Kranken schreiben, Veranstaltungen organisieren, Bettpfannen herumschleppen.

Es ist schwer vorstellbar, wie so ein Krankenhaus sogar in Moskau aussah. Die Menschen lagen auf dem Korridor, zu zweit auf einer Pritsche oder einfach auf dem Boden. Man konnte die Flöhe mit bloßem Auge erkennen. Meine karitative Tätigkeit endete damit, daß ich an einer sehr schweren Form von Typhus erkrankte. Zwei Wochen war ich ohne Bewußtsein, und die Ärzte sagten, daß mich vor dem Tod nur meine Jugend rettete, denn Kinder sterben selten an Typhus. In meinem fast ununterbrochenen zweiwöchigen Fieberwahn schien es mir, daß die Weißen Moskau eingenommen hätten und es mit irgendeinem Deckel bedeckten. Lenin ermordeten sie und ersetzten ihn durch zwei Attrappen mit Glatze.

Als ich mich ein wenig aufrappelte, erzählte einer unserer Bekannten, wahrscheinlich Worowski, Lenin, daß Joffes dreizehnjährige Tochter an Typhus erkrankt sei und einen solchen Fieberwahn gehabt habe. Er lachte sehr und bei einem Treffen fragte er: »Wie geht es diesem Mädchen, das einen solch markanten Fiebertraum hatte?«

Sobald ich auf die Beine kam, fuhren Mutter und ich nach Kislowodsk. Dort waren die Ferienheime und Sanatorien bereits geöffnet.

Mineralnye Vody war erst vor kurzem von den Weißen befreit worden und in der Umgebung von Kislowodsk trieben noch Reste von allen möglichen Banden ihr Unwesen.

Das örtliche Komsomol-Komitee organisierte eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung, eine Art Patrouille. Am Tag nach meiner Ankunft ging ich zum Komitee und erklärte, daß ich Mitglied der RKSM und dienstbereit sei. Aber ehrlich gesagt, sah ich schon furchtbar aus: grün, dünn, die Haare geschoren. Sie nahmen mich nicht in den Wachdienst auf.

Vielleicht ist all dies nicht von besonderem Interesse, aber ich wollte zumindest einen Eindruck von diesen Jahren vermitteln.

Wenn Vater nach Moskau kam, wohnte er in einem Haus der Sowjets. Eines Tages traf ich einen ungewöhnlichen Menschen bei ihm, Schaljapin. Er hatte Vater in Petrograd getroffen und kam nun nach Moskau, um ihn zu besuchen. Seine zweite Frau, Maria Walentinowa, war bei ihm, eine bereits verlebte Dame, und eine ältere Tochter aus erster Ehe, Irina, ein dünnes schwarzhaariges Mädchen von 18 Jahren.

Als er uns bekannt machte, sagte Schaljapin: »Meine Tochter Irina«, dachte nach und ergänzte »Fedeorowna«. »Meine Frau«, wieder dachte er nach, »Maschka«.

Ich hörte fast alle seine Opern und Konzerte. Wie er sang, das wissen alle. Aber wahrscheinlich wissen nicht alle, was für ein Erzähler er war. Oft versuchte ich den Inhalt seiner Erzählungen wiederzugeben. Aber da war nichts Interessantes. Es ging nicht darum, was er erzählte, sondern wie er erzählte. Und er war ein genialer Schauspieler, ein glänzender Dirigent, ein ungewöhnlicher Maler und Bildhauer. Wirklich, nur einmal in tausend Jahren wird ein solches Genie geboren. Jemand wie Michelangelo, der Bildhauer, Künstler, Architekt und Dichter. Vor fast fünf Jahrhunderten schrieb er:

»Welch ein Trost zu schlafen, welch ein Trost ein Stein zu sein.Nein, in diesem verrückten und schändlichen Zeitalter,nichts zu wissen, nichts zu spüren, ist ein beneidenswertes Schicksal.Faß mich nicht an. Wage es nicht, mich zu wecken.«

Fünf Jahrhunderte. Und so modern!

Nach der Rückkehr aus Kislowodsk nach Moskau ging ich zur Schule. Zu dieser Zeit ging der normale Unterricht begleitet von allen möglichen Experimenten weiter, wie z. B. der Brigadier-Methode, dem Dalton-Plan und irgendwelchen anderen Lehrmethoden. Geschichte als Unterrichtsfach gab es nicht mehr, die alte wurde abgeschafft, die neue war noch nicht geschrieben, also hatten wir Sozialkunde.

Es gefiel uns in unserer Schule, wir hatten wunderbare Lehrer. Geographie unterrichtete die frühere Direktorin des Gymnasiums von Popow und Kirpitschnikow, Polixana Nilowna Popow. Ungeachtet aller Methoden, Brigadier oder wie auch immer, waren ihre Unterrichtsstunden interessant. Ein hervorragender Mathematiker war unser Erzfeind, der Menschewik Wasili Alexejewitsch Efremow. Ihm ist es zu verdanken, daß wir trotz aller Experimente Mathematik beherrschten. Besonders gern erinnere ich mich an die Literaturlehrerin Anna Ewgenewna Petrow.

Absichtlich nenne ich sie mit Vornamen, Vatersnamen und Nachnamen. Mögen meine Erinnerungen ein Andenken an diese Menschen bewahren. Sie sind vielleicht weder etwas besonderes, noch bemerkenswert, aber in sehr schwierigen Zeiten taten sie ehrlich und gewissenhaft ihre Arbeit. Und wie nötig dies war, und wie viel sie uns gaben, das verstanden wir erst viele Jahre später.

Im Winter 1920 lud mich Vater zu sich nach Riga ein, wo er gerade Friedensverhandlungen mit Polen führte. Seine Frau war mit dem kleinen Jungen nach Petrograd gefahren, so daß wir alleine waren. Er war, wie immer, den ganzen Tag beschäftigt, nur am Abend konnten wir uns unterhalten. Wir litten beide an Schlaflosigkeit. Er nahm ein Schlafmittel und gab auch mir, natürlich eine kleinere Dosis, davon ab und trotzdem schliefen wir beide nicht. Aber dafür, was waren das für Gespräche!

Viele Jahre später gelang es mir, den Roman von Alexandra Brustein »Der Weg führt in die Ferne« zu lesen. Sie beschreibt, wie sie als Kind mit ihrem Vater zum Friedhof ging und fragte: »Papa, wirst Du auch einmal hier sein?« Und er sagte: »Ja, Tochter, und Du wirst mich besuchen. Du kommst und sagst: ›Papa, ich bin gekommen, Deine Tochter. Ich bin bereits erwachsen, ich lebe ehrlich, ich arbeite, gute Menschen schätzen mich.‹«

Wenn ich in kürzester Form beschreiben müßte, was Vater mir für mein zukünftiges Leben mitzugeben versuchte, dann ist es in diesen Worten ausgedrückt.

Unter den Gesandtschaftsmitgliedern für die diplomatischen Gespräche mit den Polen, die Vater leitete, waren interessante Menschen.

Vaters Stellvertreter war Leonid Leonidowitsch Obolenski, ein ehemaliger Fürst Obolenski, später Dekabrist und Bolschewik.

Sein Sohn, er hieß auch Leonid Leonidowitsch Obolenski, war ein verdienter Schauspieler. Er ist schon sehr alt, aber er spielt noch und immer, wenn ich ihn auf der Bühne sehe, muß ich an den älteren Leonid Leonidowitsch denken.