Rücken Qi Gong - Helko Brunkhorst - E-Book

Rücken Qi Gong E-Book

Helko Brunkhorst

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Beschreibung

Das einzige Rücken Qi Gong-Buch für Therapeuten! Die 24 taoistischen Gesundheitsübungen für rücken- und stressgeplagte Patienten - mobilisieren die Gelenke und dehnen sanft die Muskeln, - kräftigen die Muskulatur, - verbessern die Koordination und das Gleichgewicht, - schulen die Körperwahrnehmung.

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Rücken Qi Gong

Helko Brunkhorst

380 Abbildungen

Vorwort

Seit etwa sechs Millionen Jahren übt sich der Mensch am aufrechten Gang, seit 10 000 Jahren wird er vom Ausdauerjäger zum sesshaften Ackerbauer und Viehzüchter, seit 400 Jahren sitzt er auf Stühlen, seit 20 Jahren arbeitet der Mensch in den entwickelten Industrienationen fast ausschließlich sitzend und seit 10 Jahren überwiegend am Computer. Die Lebensbedingungen verändern sich immer schneller. Die Biologie unseres Körpers und zunehmend auch unseres Geistes kann mit diesem Tempo schwer Schritt halten. Die Lebenserwartung steigt durch den medizinischen Fortschritt in den entwickelten Industrieländern stetig. Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen oder stressbedingte Probleme allerdings ebenso. Die Zunahme der sogenannten Zivilisationskrankheiten beweist eine Diskrepanz zwischen unserem Lebensstil und dem genetischen Code des Menschen.

Defizite, die durch einen ungünstigen Lebensstil verursacht werden, können allerdings durch eine Verbesserung desselben vermieden, vermindert oder sogar beseitigt werden. Immer mehr Menschen in den westlichen Industriestaaten öffnen sich für präventive und therapeutische Maßnahmen außerhalb der Schulmedizin. Vor allem die fernöstliche Medizin erfreut sich im Westen zunehmender Beliebtheit. Das liegt sicherlich an den selbst erfahrenen Grenzen einer zweifellos hochentwickelten, aber trotzdem überwiegend symptom-orientierten Schulmedizin. Ein weiterer Grund ist häufig eine gewisse Mystifizierung des Fremden, wie zum Beispiel der Chinesischen Medizin. Diese Medizin hat auch ihre Grenzen und ist bei bestimmten Erkrankungen der Schulmedizin deutlich unterlegen. Ihre Stärke liegt wohl vor allem in einer vorbeugenden und frühzeitigen Behandlung der Krankheitsursachen.

Das in diesem Buch beschriebene Rücken Qi Gong entstammt dieser Tradition der asiatischen Kultur und richtet sich an alle eigenverantwortlichen Menschen, die zuallererst an der Vermeidung von Krankheit interessiert sind. Das ist der gravierende Unterschied zum derzeit in Deutschland praktizierten und weiterhin geplanten Gesundheitssystem. Zur Zeit leben alle Leistungserbringer des Gesundheitssystems von einem nicht abbrechenden Patientenstrom. Mit Inkrafttreten des von der Politik beschlossenen Gesundheitsfonds 2009 erhalten Krankenkassen einen erheblichen Zuschuss für jeden chronisch Kranken. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Rücken Qi Gong ist durch die Kombination einer alten, fernöstlichen Bewegungskunst mit einer Aufbereitung für westlich geprägte Menschen eine interessante Bewegungs- und Entspannungsalternative zu bekannten Maßnahmen wie zum Beispiel Wirbelsäulengymnastik oder Autogenem Training. Das Wissen von Ost und West wird gebündelt und zusammengeführt. Rücken Qi Gong wird dadurch für Menschen, die zum Beispiel in Europa aufgewachsen sind, nachvollziehbar und relativ leicht erlernbar, ohne das wesentliche fernöstliche Prinzip der Ganzheitlichkeit zu vernachlässigen.

„Räkeln im Park“ nannte einer meiner Teilnehmer diese geschmeidigen Bewegungen, die wir oftmals nur aus China kennen. In den Qi Gong-Bewegungen sind bei richtiger Ausführung viele Bewegungs- und Körperkonzepte der heutigen Zeit enthalten. Wir finden im Qi Gong viele Prinzipien aus dem Feldenkrais, der Spiraldynamik, der Alexandertechnik, dem Rolfing oder dem Pilates. Allerdings stecken viele Prinzipien dieser neueren westlichen Konzepte als gemeinsame Erkenntnisse in dieser uralten Bewegungskunst. Welche der heute bei uns entwickelten Bewegungsideen und deren Folgeerscheinungen werden wohl in 4000 Jahren noch existieren? Aerobic befindet sich bereits 40 Jahre nach seiner Entstehung wieder auf dem Rückzug. Qi Gong-Bewegungen haben die unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen überstanden und sind in unserem heutigen Alltag sinnvoller denn je.

Rücken Qi Gong – eine spezielle Art des Qi Gong – kann ohne Hilfsmittel an jedem Ort dieser Welt von Ihnen praktiziert werden. Mit diesem Buch bekommen Sie eine Anleitung für den Einstieg in diese Bewegungskunst.

Erfahren und erleben Sie durch das Üben die positiven Effekte, von denen mir meine Kursteilnehmer seit Jahren berichten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Überwindung eines der physikalischen Grundprinzipien auf diesem Planeten – dem Trägheitsgesetz – und viel Freude beim Praktizieren eines der faszinierendsten Bewegungs- und Entspannungskonzepte, das die Menschheit jemals entwickelt hat – dem traditionellen Qi Gong.

Um nicht nur den Bewegungen sondern auch dem Lesefluss Geschmeidigkeit zu verleihen, habe ich auf die weiblichen Endungen im Text verzichtet. Ich bitte alle Leserinnen um Verständnis.

Weitere Informationen rund um das Thema Rücken Qi Gong sowie Angebote für Übungsmaterial (z.B. Musik-CD, Übungsposter-A1) finden Sie unter www.thieme.de/shop/p/000000000284630101.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I Allgemeiner Teil

1 Der Mensch – ein Bewegungswunder

1.1 Die Leistungsfähigkeit des Menschen

1.2 Der Bewegungsapparat des Menschen

2 Die Entwicklung des Menschen in modernen Industrienationen

2.1 Ursachen für mangelnde Bewegung

2.1.1 Erfindungen und Lebensstil

2.1.2 Sitzen

2.2 Die Folgen

3 Die Anpassungsfähigkeit des Menschen

3.1 Gründe für Anpassung

3.2 Möglichkeiten der Anpassung

4 Rücken und Wirbelsäule

4.1 Einleitung

4.2 Statistik der Rückenbeschwerden

4.3 Aufbau und Funktion des Rückens

4.4 Ursachen von Rückenbeschwerden

4.5 Rückenschulen

5 Bewegung – das Beste für einen gesunden Rücken

5.1 Einleitung

5.2 Gymnastik, Turnen und Sport

5.3 Sport

5.4 Bewegung – aber kein Sport

5.5 Wie finden wir für uns das richtige Bewegungsangebot?

5.6 Bewegung gegen Rückenbeschwerden

5.6.1 Kraft

5.6.2 Beweglichkeit

5.6.3 Koordination

5.6.4 Körperwahrnehmung

6 Qi Gong

6.1 Einleitung

6.2 Die Chinesische Medizin

6.2.1 Gesundheit und Krankheit

6.2.2 Krankheitsursachen

6.2.3 Yin und Yang

6.2.4 Qi

6.3 Schreibweise

6.4 Begriffe

6.5 Geschichte

6.6 Qi Gong-Arten

6.6.1 Die konfuzianische Schule

6.6.2 Die daoistische Schule

6.6.3 Die buddhistische Schule

6.6.4 Die Schule der Kampfkunst

6.6.5 Die medizinische Schule

7 Rücken Qi Gong

7.1 Einleitung

7.2 Rücken Qi Gong gegen Rückenbeschwerden

7.2.1 Verbesserung der Kraft

7.2.2 Verbesserung der Beweglichkeit

7.2.3 Verbesserung der Koordination

7.2.4 Verbesserung der Körperwahrnehmung

7.3 Rücken Qi Gong – Übungen mit Tradition

7.4 Die Struktur der Rücken Qi Gong-Übungen

7.5 Rücken Qi Gong zwischen Ost und West

8 Allgemeine Übungshinweise

8.1 Einleitung

8.2 Übungshinweise zu den Dao-Yin-Übungen und ihre Interpretation

8.2.1 Übungshinweise von Sima Chengzhen (646–735 n. Chr.)

8.2.2 Interpretation der Übungshinweise von Sima Chengzhen

8.3 Weitere wichtige Übungshinweise

8.3.1 Übungsintensität

8.3.2 Übungsdauer

8.3.3 Übungsort

8.3.4 Übungsbekleidung

8.3.5 Übungsverbot

9 Allgemeine Haltungs- und Bewegungsprinzipien

9.1 Individuelle Haltungs- und Bewegungsmuster

9.2 Haltungs- und Bewegungsprinzipien in Ost und West

9.3 Zehn wichtige Haltungs- und Bewegungsprinzipien

9.3.1 Aufrichtung (wie ein Baum)

9.3.2 Ausdehnung (wie ein Ball)

9.3.3 Schönheit (wie eine Perlenkette)

9.3.4 Leichtigkeit

9.3.5 Offenheit (in den Gelenken)

9.3.6 Atmung

9.3.7 Gleichzeitigkeit (der Extremitäten)

9.3.8 Bewegungsfluss

9.3.9 Langsamkeit

9.3.10 Geschmeidigkeit

10 Spezielle Haltungs- und Bewegungshinweise

10.1 Spezielle Bewegungshinweise – Wirbelsäule

10.2 Spezielle Bewegungshinweise – Schultern und Arme

10.3 Spezielle Bewegungshinweise – Becken und Beine

Teil II Die Rücken Qi Gong-Übungen in der Praxis

11 Beispiel für die Kombination von Übungen

12 Wirbelsäule

12.1 Zwei Drachen schwingen sich um die Säule

12.2 Der König des Himmels stützt seinen Rücken

12.3 Das Nashorn trinkt Wasser

12.4 Die Wassermühle dreht sich

12.5 Das Nashorn schaut zum Mond

12.6 Der fliegende Adler dreht seinen Kopf

12.7 Gleichmäßig schön

12.8 Die heilige Schildkröte paddelt

12.9 Die Augen schließen, um den Geist wiederzubeleben

13 Schultern und Arme

13.1 Öffnen und Schließen

13.2 Die fliegende Taube breitet ihre Flügel aus

13.3 Die Wellen der See kräuseln sich

13.4 Schmetterlinge fliegen in Paaren

13.5 Tanzen mit dem Regenbogen

13.6 Sich in der Form des Pa Qua drehen

13.7 Den Affen vertreiben

13.8 Wolkenhände

13.9 Die Augen schließen, um den Geist wiederzubeleben

14 Becken und Beine

14.1 Tai Chi Yin Yang

14.2 Der himmlische König Li stemmt die Pagode

14.3 Der goldene Affe reicht die Früchte

14.4 Himmel und Erde vereinen sich

14.5 Zunehmender und abnehmender Mond

14.6 Ausbreiten der Flügel nach rechts und links

14.7 Das Kind betet zu Kwan Yin

14.8 Alte Luft ausatmen und frische Luft einatmen

14.9 Die Augen schließen, um den Geist wiederzubeleben

15 Sitzen

15.1 Zwei Drachen schwingen sich um die Säule

15.2 Tai Chi Yin Yang

15.3 Der König des Himmels stützt seinen Rücken

15.4 Öffnen und Schließen

15.5 Der fliegende Adler dreht seinen Kopf

15.6 Schmetterlinge fliegen in Paaren

15.7 Den Affen vertreiben

15.8 Wolkenhände

15.9 Die Augen schließen, um den Geist wiederzubeleben

Teil III Anhang

16 Literaturverzeichnis

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Allgemeiner Teil

1  Der Mensch – ein Bewegungswunder

2  Die Entwicklung des Menschen in modernen Industrienationen

3  Die Anpassungsfähigkeit des Menschen

4  Rücken und Wirbelsäule

5  Bewegung – das Beste für einen gesunden Rücken

6  Qi Gong

7  Rücken Qi Gong

8  Allgemeine Übungshinweise

9  Allgemeine Haltungs- und Bewegungsprinzipien

10  Spezielle Haltungs- und Bewegungshinweise

1 Der Mensch – ein Bewegungswunder

„Wer die Welt bewegen will, sollte erst sich selbst bewegen.“

Sokrates

1.1 Die Leistungsfähigkeit des Menschen

Der Mensch ist ein Bewegungswunder, dessen Motorik sich in Millionen von Jahren entwickelt hat.

Entgegen anderslautender Meinungen sind wir allerdings mit unseren körperlichen Fähigkeiten nicht die Krone der Schöpfung. Es gibt viele Tiere, die wesentlich besser riechen, hören oder sehen können als der Mensch und uns auch motorisch weit voraus sind. Wir werden beispielsweise nie die Geschmeidigkeit einer Katze erreichen. Die Stärke des Menschen liegt eher in seiner Vielseitigkeit.

Der heutige Mensch erreicht zu Fuß nicht die Geschwindigkeit eines Gepards, dem schnellsten Tier des Festlandes. Er kann aber ohne Doping 100 Meter in zehn Sekunden zurücklegen. Der Gepard ist nach sechs Sekunden im Ziel. Riesenkängurus springen 13 Meter weit und vier Meter hoch. Der Homo sapiens muss sich mit derzeitigen 8,95 Metern in der Länge beziehungsweise 2,45 Metern in der Höhe nicht verstecken. Beim Springen ist allerdings der Floh das größte Wunder der Tierwelt. Ein Floh springt 30 Zentimeter weit und 40 Zentimeter hoch. Das ist das 200- bis 300-Fache seiner Körpergröße. Wir sind nicht so ausdauernd wie ein sibirischer Husky, der in zwei Tagen unter schwierigsten klimatischen Bedingungen einen Hundeschlitten 160 Kilometer weit zieht. Aber auch die Füße des Menschen tragen ihn, bei entsprechendem Training, in etwas mehr als zwei Stunden über 40 Kilometer.

Alle diese Leistungen entstammen dem männlich geprägten Hochleistungssport. Frauen erreichen durch den biologisch möglichen Anteil an Muskelmasse etwas geringere Werte. Der Einfluss spezieller, leistungssteigernder, meist verbotener Substanzen für diese Hochleistungen ist schwer bestimm- und nachweisbar. Allerdings ist der Mensch auch ohne ein extremes Hochleistungstraining und pharmazeutische Unterstützung allein durch die regelmäßige Nutzung seines Bewegungsapparates zu sehr beeindruckenden körperlichen Leistungen fähig.

Aus körperlicher Sicht ist vor allem unsere Ausdauerfähigkeit naturgegeben und -gewollt. Bis vor 10 000 Jahren lebten alle Menschen als Jäger und Sammler. Die Ausdauerjagd war unsere Spezialität. Die Menschen der damaligen Zeit verfolgten ihre oftmals viel schnellere Beute, bis diese vor Erschöpfung ein leichtes Ziel wurde. Dann wurden die Menschen durch die Kultivierung von Ackerbau und Viehzucht allmählich sesshaft. In Mitteleuropa vollzog sich dieser Wandel erst vor 7000 Jahren. Vor 5000 Jahren lebten noch 50 Prozent der Menschheit als Jäger und Sammler. Strecken von 10 bis 50 Kilometern wurden zu dieser Zeit täglich zu Fuß zurückgelegt.

„Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft“, antwortete Emil Zátopek, tschechischer Leichtathlet (1922–2000), 1948 und 1952 unter anderem Olympiasieger im Marathon, auf die Frage, warum er diesen Sport betreibe.

Abb. 1.1 Der Mensch – ein Langstreckenläufer.

(Marquardt M. Laufen und Laufanalyse. Stuttgart: Thieme; 2012)

1.2 Der Bewegungsapparat des Menschen

Bei der Betrachtung des Bewegungsapparates des Menschen und einem zugegebenermaßen hinkenden Vergleich zwischen Mensch und Auto wird unsere Bewegungskompetenz deutlich. Das Auto besitzt einen starren Rahmen (Metall, Carbon oder Ähnliches), der mit Blech verkleidet ist. Der Motor überträgt seine Kraft auf vier Füße – die Reifen. Der menschliche Bewegungsapparat besteht bereits aus einem beweglichen Rahmen – dem Skelett.

Die Analyse der möglichen Bewegungsvarianten unserer mehr als 200 Knochen zueinander nötigt Respekt vor der Evolution ab.

Wir können Körperteile:

abspreizen oder heranziehen,

einwärts oder auswärts drehen,

nach innen oder außen kanten,

beugen oder strecken,

heben oder senken,

und wir können diese Bewegungsmöglichkeiten miteinander kombinieren.

Wie filigran das Bewegungswunder Mensch von der Evolution ausgestattet wurde, ist vor allem an den Händen und Füßen zu erkennen. Die Hände und Füße besitzen mit mehr als 100 fast die Hälfte aller Knochen im menschlichen Körper. Feinste Motorik ist mit diesen Körperteilen möglich, die unsere Verbindung zur Außenwelt darstellen.

Damit die Knochen auch einzeln gegeneinander beweglich sind, verbinden über 100 Gelenke diese beweglichen Rahmenteile miteinander. Die Gelenke selbst sind für das Bewegen äußerst intelligent konstruiert. Das Kniegelenk beispielsweise ist für die Beugung und Streckung von Unter- und Oberschenkel vorgesehen. Deshalb sind die betreffenden Gelenkflächen auch als Scharniergelenk von der Natur geschaffen worden (▶ Abb. 1.2a). Den oberen Extremitäten wurden weitgreifende und weitreichende Aufgaben zugeteilt. Das Schultergelenk ist kein Scharnier-, sondern ein Kugelgelenk (▶ Abb. 1.2b). Vielfältige Bewegungsmöglichkeiten in den oberen Extremitäten sind die logische Konsequenz.

Abb. 1.2

(Schünke. Funktionelle Anatomie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2014)

Abb. 1.2a Scharnier-

Abb. 1.2b und Kugelgelenk.

Sattel- (zum Beispiel Daumengelenk), Ei- (zum Beispiel Kopfgelenk) oder Drehgelenke (zum Beispiel Gelenk zwischen den Unterarmknochen) sind andere zusätzliche Möglichkeiten einer Verbindung zwischen Knochen im menschlichen Körper.

Damit die Knochen eines Gelenkes nicht auseinanderdriften, werden sie von Bändern zusammengehalten. Diese Bänder sind genauso kurz oder lang, wie es ihre Funktion erfordert. Darüber hinaus sind die Gelenkflächen mit geschmeidigem Knorpel überzogen. Dieser Knorpel verhindert beim Bewegen eine Reibung der Knochen. Damit der Knorpel funktioniert, muss die Knorpelmasse mit Nährstoffen gut versorgt werden, was vor allem durch Bewegung im Gelenk erfolgt.

Die Knochen werden durch Muskeln bewegt, die über Sehnen fest mit den Knochen verbunden sind. Die Masse der Skelettmuskulatur beträgt beim gesunden Menschen etwa 40 Prozent der Gesamtkörpermasse. Sie ist damit das schwerste Organ des Körpers und beweist die eigentliche Kernkompetenz der menschlichen Bewegungsmaschine. Der Mensch besteht aus über 600 Muskeln. Die Muskulatur arbeitet statisch, wenn unser Körper aufrecht gehalten wird, und dynamisch, wenn unterschiedliche Bewegungen ausgeführt werden. Dafür hat uns die Natur mit einem erstaunlich schnellen Informationsweiterleitungssystem ausgestattet. Bewegungsimpulse des Gehirns werden in Sekundenbruchteilen durch das Zentralnervensystem bis in die entferntesten Muskeln gesendet.

Der gleichzeitige Einsatz verschiedener Muskeln für eine bestimmte Aufgabe heißt Koordination. In der Akrobatik oder beim Turnen beweist der Mensch sehr eindrucksvoll, wozu das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln bei höchsten Bewegungsgeschwindigkeiten in der Lage ist.

Diese beeindruckende, in sich bewegliche und äußerst variabel zu verwendende Muskel-Knochen-Karosserie wird von einem Motor (Herz) angetrieben, der mittlerweile 80 Jahre und länger funktionieren kann. Keine Maschine dieser Welt hat bei permanenter Benutzung eine ähnliche Lebensdauer.

Der Mensch ist ein echtes Bewegungswunder, möchte allerdings als solches auch gebraucht werden. Im folgenden Kapitel wird deutlich, was das zivilisierte Leben für den modernen Menschen und seinen Körper bedeuten kann.

2 Die Entwicklung des Menschen in modernen Industrienationen

„Der moderne Mensch leidet an Bewegungsmangel. Manche halten eine Wanderniere bereits für eine ausreichende körperliche Betätigung.“

Piet Vlanders

2.1 Ursachen für mangelnde Bewegung

2.1.1 Erfindungen und Lebensstil

Die kulturhistorische Dominanz der aristotelischen Lehre, wonach die Welt vor allem verstanden und nicht mehr erlebt werden soll, ist eine Hauptursache für den menschlichen Forschungsdrang. Wir verdanken ihm Entdeckungen und Entwicklungen wie zum Beispiel die Elektrizität, die Medizintechnik oder die Computertechnologie mit einer immer stärkeren Durchdringung des täglichen Lebens. Geistige Erkenntnisse bedeuten leider nicht, dass auch der menschliche Körper davon gleichzeitig profitiert. Gegenwärtig scheint der Körper sogar trotz einer beachtlichen Steigerung des Wissens immer mehr zu verkümmern.

Ein wichtiger Grund dafür ist die Erfindung von großartigen oder teilweise sinnlosen Geräten und Maschinen zur sogenannten Lebenserleichterung. Diese Erfindungen werden häufig anders gebraucht, als ursprünglich geplant war. Der Fahrstuhl ist nützlich, wenn der Mensch hohe Bauwerke erklimmen möchte. Allerdings wird er auch als Alternative zur Bewältigung nur weniger Treppenstufen verwendet. Autos ermöglichen der Menschheit eine vollkommen neue Dimension der Mobilität. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht im Sinne des Erfinders, damit die Brötchen vom Bäcker um die Ecke zu holen.

Die heutigen Menschen können – im Gegensatz zu den Tieren in freier Wildbahn – fast vollständig ohne großen Einsatz ihres Körpers überleben.

Das im Tierreich und bei früheren Menschen lebensnotwendige körperliche Leistungsniveau zur Verteidigung oder Nahrungsgewinnung ist in der heutigen Zeit nicht mehr zwingend erforderlich. Sind wir vor evolutionsbiologisch relativ kurzer Zeit noch weit gelaufen und haben schwer getragen, um die Nahrung in die Höhle zu transportieren, jagen wir heute unser Essen abgestützt auf rollenden Drahtgestellen. Mit größeren Blechwagen bringen wir die Beute möglichst dicht an unsere Behausung heran, um sie dann eventuell mit einem fahrenden Treppenersatz keuchend in unserer Höhle zu lagern. Neben der Nahrungsgewinnung, die nahezu ohne großen körperlichen Einsatz erfolgt, ist auch deren Zubereitung auf dem Feuer ohne mühsames Sammeln und Transportieren von Brennmaterial möglich.

Weitere Grundbedürfnisse können vollständig ohne eigenen Energieverbrauch befriedigt werden. Die Wärmeerzeugung in der Höhle war vor einigen Jahren wenigstens noch mit dem Tragen von Kohlen verbunden. Heute reicht eine minimale Rotation im Unterarm und demnächst das Eintreffen eines Smartphones mit dem dazugehörigen Besitzer in der volldigitalisierten Behausung.

Mittlerweile legen viele von uns durchschnittlich nur etwa 700 Meter Fußweg zurück und sitzen oftmals 12 bis 14 Stunden pro Tag.Wir mutieren vom Bewegungswunder zum dauersitzenden Denkwunder (▶ Abb. 2.1).

Abb. 2.1 Die Entwicklung des Menschen.

2.1.2 Sitzen

Bereits unsere Vorfahren und alle Naturvölker haben sitzende Haltungen eingenommen, allerdings nicht annähernd so lange und so statisch. In vielen Ländern wurde und wird auch heute noch wesentlich mehr gekniet, gehockt, gekauert oder gelegen (▶ Abb. 2.2). Die japanische Art des Sitzens auf dem Boden beispielsweise ist in europäischen Ländern fast nur noch von kleinen Kindern nachzuvollziehen. Die meisten Erwachsenen in Europa würden sich bei diesen Positionen erheblich zerren, auskugeln, überdehnen oder anderweitig verletzen.

Abb. 2.2 Haltung in verschiedenen Kulturen.

Das Sitzen auf Stühlen ist etwas ganz Besonderes. Ursprünglich war dies nur den Königen, Kaisern und Kirchenoberen zur Machtdemonstration vorbehalten. Es entwickelte sich etwa 1500 n. Chr. in unserer Region eine gesellschaftsfähige Sitzkultur. Zu dieser Zeit wollte auch das Bürgertum an der kulturellen Errungenschaft des Stuhlsitzens teilhaben.

Die Grundidee für das Sitzen war neben der Machtdemonstration zu späterer Zeit eine Energiesparfunktion des Körpers. Geistige Ressourcen sollten durch körperliche Einsparungen frei werden. Diese Idee war bereits im 19. Jahrhundert in deutschen Schulen angekommen. „Was dabei dem körperlichen Bewegungsdrang vorenthalten wird, soll sich zu einem geistigen Bewegungsdrang, zu einer geistigen Freiheit weiten.“ (Eickhoff, H.)

Dauersitzen ist allein deshalb unökonomisch, weil auch das Gehirn Sauerstoff zum Arbeiten benötigt. Der Sauerstoff kommt aber nur im Gehirn an, wenn der Herzmuskel durch Muskelaktivität jenseits der Fingertipp- oder -schreibbewegung angeregt wird. Bewegtes Lernen in Grundschulen belegt eindrücklich diese These. Die Denkleistung verbessert sich durch Bewegungsangebote im Unterricht.

Der Beginn des Sitzzwangs bereits im frühesten Kindesalter ist erschreckend. In der Kita (Kindertagesstätte) befinden sich die Kinder in einem Alter, in dem viele motorische Grundlagen entwickelt werden müssen. In dieser entscheidenden Phase sitzen die Kinder durchschnittlich fünf bis sechs Stunden täglich. Diejenigen Kinder, deren natürlicher Bewegungs- und Entdeckungsdrang immer wieder das sozio-kulturell angepasste Verhalten zum dauerhaften Stillsitzen torpediert, werden nicht selten auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert und mit chemischen Substanzen ruhig gestellt. Das ADHS-Problem steigert sich erheblich, wenn der Sitzzwang mit Bildschirmmedien kombiniert wird.

Spätestens in der Schule müssen wir dann alle lernen, sitzend zu lernen.

Die Diskrepanz zwischen der Benutzung des Körpers im Verhältnis zum Gehirn wird in ▶ Tab. 2.1 deutlich:

Tab. 2.1

 Diskrepanz zwischen der Benutzung des Körpers im Verhältnis zum Gehirn

Bewegungsapparat

Gehirn

Knochen

Muskeln

Gewicht (70 kg schwerer, untrainierter Mann)

12,2 kg

30,6 kg

1,4 kg

Prozentualer Anteil am Gesamtgewicht

17,5 %

43,7 %

2.0 %

Durchschnittliche Stundenanzahl in deutschen Schulen (33 h)

3 h (Sport)

30 h

Prozentualer Anteil an der Gesamtstundenzahl

9 %

91 %

Zwei Prozent der Körpermasse – das Gehirn – sind in der Schule in 91 Prozent der Gesamtstundenzahl gefordert. 61 Prozent der Körpermasse – der Bewegungsapparat – verkümmern bei einer 9-prozentigen Nutzungsdauer.