Rückeroberung - Daniel Huhn - E-Book

Rückeroberung E-Book

Daniel Huhn

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Beschreibung

 Die wahre Geschichte einer unglaublichen Reise durch ein zerstörtes Land   Eine unglaubliche, wahre Geschichte: Direkt nach Kriegsende im Mai 1945 setzt sich an der Nordseeküste ein junger britischer Soldat in einen Jeep und fährt los: quer durch seine ehemalige Heimat, die jetzt in Trümmern liegt – um seine Eltern aus dem KZ Theresienstadt zu holen.   1938 beschließen Manfreds Eltern, dass das Leben für ihn als Juden in Deutschland nicht mehr sicher ist. Sie schicken ihren Sohn nach England, schaffen es selbst aber nicht mehr zu fliehen. Sieben Jahre später kehrt Manfred zurück: Als Teil der legendären "Three Troop"  landet er am D-Day in der Normandie. Kurz darauf steht er in den zerstörten Straßen seiner alten Heimat Borken in Westfalen. Er beginnt eine beschwerliche Reise, vorbei an fliehenden Deutschen, durch sowjetische Militärsperren hinein ins Niemandsland des Erzgebirges bis zum KZ Theresienstadt, wohin seine Eltern verbracht wurden.    Dieses Buch ist ein beispielloser Bericht über Deutschland unmittelbar nach der Kapitulation, eine lang verdrängte Lebensgeschichte und eine unerwartete Liebe.    

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Daniel Huhn

Rückeroberung

Die Geschichte von Manfred Gans, der im Mai 1945 Deutschland durchquerte, um seine Eltern aus dem KZ zu befreien

Hoffmann und Campe

Für meinen Vater

For while we have our eyes on the future,

history has its eyes on us.

Amanda Gorman – The Hill We Climb

Prolog

Der 29. Juli 2016 ist ein windiger Tag in Goes, einer niederländischen Kleinstadt. Der hoch aufragende Rathausturm und schmale rote Backsteinhäuschen umgrenzen den Marktplatz. Vor vielen Türen stehen Holzkübel, aus denen blühende Blumen ragen. Am Himmel über dem Stadtzentrum kreist ein Schwarm Möwen. Die Küste ist nicht weit. Die Straßen der beschaulichen Innenstadt sind allerdings menschenleer. Durchbrochen wird die morgendliche Ruhe nur von uns: einer Reisegruppe, die gut gelaunt und im Wirrwarr unterschiedlicher Sprachen durch die engen Gassen zieht, die an diesem Morgen wie eine Filmkulisse wirken – als ob sie eigens für uns Gäste aufgebaut wurden. Auf einem Parkplatz am Rande des Stadtzentrums wartet bereits ein Reisebus mit laufendem Motor und offenen Türen. Andy, unser Reiseleiter, steht an der vorderen Tür und mahnt zur Eile: Der Weg, der vor uns liege, sei weit und das Programm an den Zwischenstationen sehr umfangreich. Schnell verstauen die Letzten ihre Rollkoffer im Gepäckraum des Busses. Andy zählt durch. Alle sind da. Mit einem lauten Zischen schließt die Tür. Der Reisebus setzt sich in Bewegung. An Bord sind 18 Personen: die eine Hälfte der Gruppe stammt aus den USA, die andere Hälfte aus Israel. Sie sind Nachfahren der Familie Gans aus Borken im Münsterland und nun erstmals gemeinsam unterwegs, um sich auf die Spuren ihrer Familiengeschichte zu begeben. Hinten, in der letzten Reihe des Busses, nehmen Malte und ich Platz. Malte ist Historiker und im Auftrag der Stadt Borken dabei, um Recherchen zur Stadtgeschichte zu machen. Ich bin mit einer kleinen Filmausrüstung an Bord. Es geht los.

 

Dass ich mit im Bus sitze, habe ich dem Stadtarchivar Norbert Fasse aus Borken zu verdanken. Er rief mich nur wenige Wochen vor der Reise an und erzählte mir, dass er Ende des Monats die Nachfahren einer ehemals stadtbekannten jüdischen Familie erwarte. Er fragte, ob ich bei dieser Gelegenheit nicht einige Interviews mit ihnen führen wollen würde. Zu diesem Zeitpunkt war uns beiden noch unklar, was aus dem gesammelten Material der Reise entstehen könnte. Ich hatte zudem noch nie von Manfred, Theo und Karl, von Moritz und Else Gans gehört. Aber es bedurfte nur weniger Sätze, und ich wurde hellhörig – auch wenn mir damals die ganze Dimension dieser Geschichte noch nicht bewusst war.

Erst einen Tag vor der Abreise lernte ich die Familie Gans in einem Hotel in Amsterdam kennen: ein gemeinsames Abendessen, erste Gespräche in gemütlicher Atmosphäre, aber noch sind wir uns fremd und stecken die Themen vorsichtig ab. Ich habe unzählige Fragen, bin unsicher. Was kann ich fragen, was darf ich fragen, was muss ich fragen?

Am nächsten Morgen sitze ich dann inmitten der Großfamilie im Reisebus. Mehr als 1000 Kilometer liegen vor uns. Wir folgen den Spuren von Manfred Gans, der im Mai 1945 quer durch sein zerstörtes Heimatland fuhr, um seine Eltern zu suchen: von den Niederlanden quer durch Deutschland bis zum ehemaligen Ghetto Theresienstadt im heutigen Tschechien. Die Tage sind lang. Für die geplanten Interviews ist oft nur abends im Hotel Zeit – manchmal erst nach elf Uhr. Doch das Vertrauen wächst, und mit jedem Gespräch werden die Umrisse einer eindrücklichen Geschichte sichtbarer.

 

Als ich 2016 auf diese Reise ging, wusste ich nur, wohin sie mich geographisch führen würde. Welche Gespräche und Begegnungen vor mir lagen, habe ich nicht erahnt. Nach unserer gemeinsamen Reise besuchte ich einzelne Familienmitglieder in den USA und Israel und sammelte immer mehr Materialien zur Familienhistorie. Je länger ich die Briefe, Fotoalben und Tagebücher durchstöberte, umso spannender und vielschichtiger wurde die Geschichte, die sich um Manfred Gans, seine Eltern und Brüder entfaltete. Aus den Beobachtungen und Interviews entstand ein erster Zeitungsartikel, danach ein Hörfunkfeature und ein Dokumentarfilm über die Reise, später ein sechsteiliger Podcast bei Audible und nun dieses Buch, das den Raum bietet, Manfred Gans’ bewegte und bewegende Lebensgeschichte zu erzählen.

 

Ein reicher Fundus an Briefen, Kalendernotizen und Tagebucheinträgen bildet die Grundlage dieses Buches und ermöglichte mir einen unmittelbaren Einblick in diese außergewöhnliche Biographie. Manfreds Spuren folgend, berührt die Erzählung viele große Themen jener Zeit: das Schicksal der deutschen Flüchtlinge in England, den D-Day und den weiteren Kriegsverlauf, die Umstände im Ghetto Theresienstadt, die Diskussionen um den Zufluchtsort Palästina, die gebrochene deutsche Nachkriegsgesellschaft. All das und noch viel mehr schildere ich weitestgehend durch die Augen und Worte von Manfred Gans, der Hauptfigur dieses Buches, der die Geschehnisse nicht nur durchlebt, sondern auch reflektiert hat. Um die Dimensionen seiner Welt einzuordnen, werden Orte und Ereignisse der Geschichte in kurzen Exkursen erläutert. Manfred Gans’ Lebensgeschichte eröffnet eine bemerkenswerte Perspektive auf eine Zeit, die, von einer ideologiegetriebenen Unmenschlichkeit geprägt, bis heute schwer begreiflich bleibt und zugleich auch Zeugnisse tiefer Menschlichkeit hervorgebracht hat; eine Zeit, die immer weiter in die Ferne rückt, doch die einem gerade in diesen Tagen gesellschaftlicher und politischer Umbrüche immer wieder überraschend nah erscheint.

Rückkehr zum Ursprung

Der 12. Mai 1945 ist ein sonniger Samstag, bereits am frühen Mittag zeigt das Thermometer knapp 30 °C. In Goes, im Südwesten der Niederlande, packt der britische Offizier Frederick Gray einige wenige Sachen zusammen: zwei Straßenkarten, eine Handfeuerwaffe, etwas Verpflegung und ein Begleitschreiben seines Vorgesetzten. Frederick Gray hat erst am Tag der Abreise das Einverständnis des befehlshabenden Majors im Hauptquartier erhalten, auf eigene Faust Richtung Osten aufzubrechen: »Ihm soll jede Unterstützung zuteilwerden, um sein Vorhaben umzusetzen«, heißt es in dem Schreiben. Unterstützung kann er in der Tat brauchen. Denn er will quer durch das zerstörte Deutsche Reich fahren, wo die Lage in diesen Tagen chaotisch und unberechenbar ist. Sein Ziel ist das Ghetto Theresienstadt nahe Prag. Er hofft inständig, seine Eltern dort noch lebend zu finden.

Nur wenige Tage vor der Abfahrt hat Frederick Gray in seinem Einsatzort Goes ein Brief mit der Nachricht über den Verbleib seiner Eltern erreicht. Er stammt von einer Verwandten, Tante Erna, von der er schon Jahre nichts mehr gehört hatte. Sie konnte in Erfahrung bringen, dass sich seine Eltern Moritz und Else noch kurz vor dem Kriegsende im Ghetto Theresienstadt befanden. Frederick Gray hat sie zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und fast ebenso lang nichts mehr von ihnen gehört.

 

Kurz vor der Abfahrt stellt Bob, sein Fahrer, fest, dass die Bremsen des Jeeps nicht richtig funktionieren. Gray verspricht, dass sie das unterwegs regeln werden. Er will keine Zeit verlieren; wenn er seine Eltern in Theresienstadt antreffen will, zählt jeder Tag. Vor ihnen liegen immerhin gut 1000 Kilometer und viele unbekannte Herausforderungen. Was er auf dieser Reise erlebt, wird er kurz nach seiner Rückkehr aufschreiben: Die eng mit Maschine beschriebenen Seiten sind bis heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington erhalten. Der Stil: knapp, protokollarisch, eher unsentimental.

»Endlich: Wir sind startklar. Der Fahrer weiß erst seit einer Viertelstunde von dem geplanten Trip. Er ist aber voll und ganz einverstanden. ›Glückspilz‹ rufen ihm einige zu. […] Das Wetter ist perfekt. Wir tragen kurzärmlige Hemden, verlassen GOES gegen zwölf Uhr mittags.«[1]

In Roosendaal nehmen die beiden britischen Soldaten zwei Kanadier mit, die gerade aus Brüssel kommen, wo sie den »VE-Day«, den Siegestag in Europa, gefeiert haben. Die Deutschen hatten vier Tage zuvor kapituliert. Nach sechs Jahren schwerster Kämpfe herrscht endlich Frieden in Europa. In London versammeln sich Hunderttausende am Trafalgar Square, in Paris schwenken die Menschen die Tricolore und tanzen in den Straßen, am Times Square in New York regnet es Konfetti. »Have we had a time!«, lassen die beiden Kanadier verlauten. Nun müssen sie zurück zu ihrer Einheit Richtung Bremen. Frederick und sein Fahrer beschließen, die beiden bis nach Münster mitzunehmen, wo sie am Abend Rast machen wollen. Doch kurze Zeit später, in Tilburg, müssen sie schon wieder anhalten. Die Bremse des Jeeps macht immer noch Probleme. Sie finden zwar eine Werkstatt, aber der Mechaniker lässt sich alle Zeit der Welt. Zeit, die Frederick Gray nicht hat. Er wird ungeduldig. Kurzentschlossen entscheidet er, dass sie mit dem defekten Jeep weiterfahren. Es ist schon spät am Nachmittag, als sie das Rheinufer bei Rees erreichen.

 

Der Rhein war die letzte große Hürde auf dem Vormarsch der alliierten Truppen im Westen gewesen. Die Deutschen hatten in den letzten Kriegstagen alle noch unversehrten Rheinbrücken oberhalb von Bonn gesprengt. Nun führt eine provisorische Pontonbrücke über den Fluss, der im Frühjahr 1945 viel Wasser führt. Bob manövriert den britischen Militärjeep vorsichtig über die Schwimmbrücke. Dann sind sie auf der anderen Rheinseite.

Mit der Überquerung des Flusses nähert sich Frederick Gray vertrauten Regionen. Obwohl er in Eile ist, beschließt er, noch einen Umweg zu machen.

»CLEVE – EMMERICH – BOCHOLT, überall totale Zerstörung. Bob, mein Fahrer, hat so etwas noch nicht gesehen und kann es nicht fassen. Die Kanadier reißen Witze: ›Da steht noch ein heiles Haus, da wohnen verdammte Einheimische, viel zu gut für die!‹ Meine Karte ist ungenau, aber ich kenne mich hier aus. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand. Bocholt ist kaum noch zu erkennen, völlig zerstört. Ich erinnere mich an die schönen Tage, die Tage vor 1938.«[2]

Die »schönen Tage«, an die er sich erinnern mag, liegen für ihn schon weit zurück. Damals existierte noch kein Frederick Gray – damals hieß er noch Manfred Gans. Denn aufgewachsen ist der britische Offizier nicht in Großbritannien, sondern in der kleinen westfälischen Stadt Borken. Die Stadt hat er vor sieben Jahren verlassen, nun liegt sie nur noch 15 Minuten entfernt.

Als sie Borken erreichen, bittet Manfred seinen Fahrer, langsamer zu fahren. Er will nicht anhalten und auch nicht aussteigen, aber er will sich einen Eindruck verschaffen. Von vielen Häusern steht nur noch die wacklige Fassade, von anderen ist bloß ein großer Schutthaufen geblieben, vom Gymnasium bis zur Alten Post fast alles zerstört. Der britische Militärjeep biegt in die Bocholter Straße ein. Nach ein paar 100 Metern sieht Manfred schließlich hinter einem großen Baum stolz das Haus seiner Kindheit emporragen. Die hohe Backsteinmauer vorm Haus wurde abgetragen, und am Fahnenmast im Vorgarten weht nun die britische Flagge. Doch das Gebäude steht noch. Die alliierte Militärverwaltung hat hier erst wenige Tage zuvor ihr Hauptquartier eingerichtet. Es ist eines der wenigen Häuser in Borken, das unversehrt geblieben ist.

»Es sieht prächtig aus, das freut mich. Das wird den Jerries eine Lehre sein. Mit ihrem Hang zum Mystischen werden sie die Lektion schon verstehen.«[3]

Jugend in Borken

Borken ist eine Kleinstadt im westlichen Münsterland, nahe der niederländischen Grenze. Nicht weit vom Rhein, aber abseits der größeren Städte der Region gelegen. Landwirtschaft und Textilindustrie prägen die Stadt. Knapp 8000 Menschen leben in Borken in den zwanziger Jahren. Die meisten sind streng katholisch. Doch bereits seit über 600 Jahren leben auch Juden in der Stadt. Die Familie Gans gehört zu den bekannten Familien in Borken. Manfreds Großvater Carl Gans wanderte aus den Niederlanden ein. Mit Hilfe eines Heiratsvermittlers lernte er Amalia Windmüller kennen, die aus einer alteingesessenen Borkener Familie stammt. Entgegen dem damaligen Brauch, dass die Braut zur Familie ihres Mannes zieht, folgt Carl seiner Frau nach Borken, wo er einen Textilgroßhandel aufbaut. Das Paar bekommt zehn Kinder: fünf Jungen und fünf Mädchen. Der vierte in der Reihe ist Moritz, Manfreds Vater, ein lebhaftes und strebsames Kind. Im Alter von 16 Jahren, noch bevor er das Gymnasium beendet, geht Moritz für eine kaufmännische Ausbildung nach Frankfurt. Zurück in Borken übernimmt er schließlich zusammen mit seinen vier Brüdern die gut laufenden Geschäfte des Vaters.

Moritz bleibt seiner Heimatstadt eng verbunden, hat in Frankfurt aber auch das Großstadtleben schätzen gelernt. So zieht es ihn von Zeit zu Zeit nach Köln, um in einem der prächtigen Ballhäuser tanzen zu gehen, besonders zum Karneval. Dort lernt er kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Else Fraenkel kennen, eine attraktive und selbstbewusste junge Frau. Die beiden verloben sich schon bald. Doch der Krieg zerschlägt ihre Heiratspläne. Wie seine vier Brüder kämpft auch Moritz für das deutsche Kaiserreich an der Front. Erst nach Kriegsende, 1918, kehrt er nach Borken zurück – dekoriert mit dem Eisernen Kreuz, aber zugleich schwer gezeichnet. Deutschland hat den Krieg verloren, Moritz ein Bein und einen Lungenflügel. Doch die Verlobung hält. Ein Jahr nach Kriegsende heiraten Moritz und Else und lassen sich in Borken nieder. Moritz ist da bereits 33, Else 27 Jahre alt. Sechs Jahre haben sie aufeinander gewartet. Nun geht alles ganz schnell. Innerhalb kurzer Zeit werden ihre Söhne Karl, Manfred und Theo geboren. Zwischendrin gründen sie gemeinsam die Firma M. & E. Gans – En Gros Export. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation nach dem Ersten Weltkrieg florieren die Geschäfte. Moritz und Else vertreiben Textilien und Schneidereibedarf in ganz Europa.

Nur ein paar 100 Meter vom Stadtzentrum entfernt, an der Bocholter Straße, kaufen Moritz und Else Mitte der zwanziger Jahre eine stattliche Villa. Zwei Säulen rahmen den Eingang, ein großer Balkon thront über einem üppigen Vorgarten. Familie Gans beschäftigt eine Haushaltskraft und einen Gärtner, und da Moritz nur ein Bein hat, stellt er auch einen Chauffeur ein, denn unter der Woche ist er auf Geschäftsreisen im In- und Ausland unterwegs. Zum Schabbat ist er aber stets zurück in Borken. Moritz Gans ist jüdisch-orthodox aufgewachsen. Ihm sind die religiösen Gebote wichtig. Im Hause Gans wird koscher gespeist und am Schabbat geruht. Aus Liebe zu ihrem Mann passt Else sich dem orthodoxen Lebensstil an, obwohl sie eigentlich aus einer jüdisch-säkularen Familie stammt.

© United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC sowie Daniel Gans und Aviva Gans-Rosenberg

Else Gans posiert im Garten, Borken 1931

Else wuchs in Völksen bei Hannover auf. Als junges Mädchen schickten die Eltern sie nach Brüssel auf ein Mädchenpensionat. Sie schwärmt für Musik. In den Briefen an ihre beiden Schwestern schreibt sie seitenweise und begeistert über die Aufführung einer Wagner-Oper oder von neuen Aufnahmen einer Mozart-Sonate. Else tritt weltgewandt, modern und locker auf. Im Sommer läuft sie gerne in Bademode durch den Garten, was nicht nur von den katholischen Nachbarn, sondern auch innerhalb der jüdischen Gemeinde kritisch beäugt wird. Für die Zeit ebenfalls eher ungewöhnlich ist, dass Else nicht bloß auf dem Briefbogen der Firma Gans steht, sondern als vollwertige Partnerin im Unternehmen agiert. Während ihr Mann durchs Land reist, übernimmt sie die Planungen im Büro und zieht nebenbei die Kinder groß, durchaus mit preußischer Strenge, aber auch mit viel Wärme.

Moritz Gans ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein engagierter Bürger der Stadt. Er übernimmt den Vorsitz des Verbands der Kriegsopfer im Kreis Borken. Wenn einem Kriegsgeschädigten seine Versehrtenrente gekürzt werden soll, greift er entschieden ein. Er nutzt für diese Anliegen nicht selten auch das Personal seines Firmenbüros und interveniert häufig erfolgreich. Sein Einsatz verschafft ihm Ansehen unter den Mitbürgern, und so wird Moritz 1929 für die SPD in den Rat der Stadt gewählt. Er ist damit der erste jüdische Stadtverordnete in Borken und einer von nur zwei Abgeordneten der SPD überhaupt.

Auch wenn (oder gerade weil) Moritz selbst vier Jahre an der Front gekämpft hat, entwickelt er sich im Laufe der zwanziger Jahre zu einem entschiedenen Kriegsgegner. Politisch hat er mit dem Militarismus und Nationalismus des Kaiserreichs längst gebrochen. Während viele Menschen in Deutschland zu Beginn der zwanziger Jahre noch vom Trauma des Ersten Weltkriegs und den politischen Umwälzungen der jungen Republik verunsichert sind, ist das Ehepaar Gans in Aufbruchstimmung.

 

Der Terminkalender von Moritz Gans kennt während dieser Zeit kaum noch Lücken. Neben seinem stetig wachsenden Betrieb und seinem politischen Engagement ist er – wie sollte es anders sein – auch in der jüdischen Gemeinde aktiv und wird ihr stellvertretender Vorsitzender. Die Gemeinde zählt gut 100 Mitglieder und verfügt über eine Synagoge und eine kleine jüdische Schule. Manfred und seine Brüder lernen dort rechnen und schreiben, ebenso Hebräisch, jüdische Gesänge und die Schriften der Tora. Nach der vierten Klasse wechseln sie dann auf das katholische Gymnasium. Nachmittags besuchen sie trotzdem weiterhin den Unterricht von Bezabel Jehuda Locker, einem universal gebildeten und zionistisch orientierten Lehrer, den die Gemeinde extra aus Polen nach Borken geholt hat. Wie bei den meisten jüdischen Familien in Borken genießt die Bildung auch im Hause Gans einen besonderen Stellenwert; mindestens ebenso wichtig ist der Familiensinn.

Karl, Manfred und Theo wachsen in einer behüteten Umgebung auf, eingebettet in eine große Familie. Mehr als 20 Familienmitglieder leben in Borken und viele weitere in den nahe gelegenen Niederlanden. Der Zusammenhalt und die Wärme der Großfamilie zeigen sich besonders am Geburtstag von Oma Amalie, der auf den Silvesterabend fällt. Jahr für Jahr nehmen an diesem Tag alle Familienmitglieder Urlaub und kommen in Borken zusammen: Amalies zehn Kinder, zweiundzwanzig Enkelsöhne und zwei Enkeltöchter.

© United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC sowie das Manfred Gans Estate

Moritz und Manfred Gans im Garten, Borken circa 1938

Ein Fotoalbum aus dieser Zeit dokumentiert den Alltag von Manfred und seinen Brüdern und ist gespickt mit kleinen ironischen Kommentaren. »Deutschland erwache« steht unter dem ersten Bild im Album, auf dem man die drei Jungs noch etwas verschlafen, aber bereits mit neugierigen Blicken nach dem Aufstehen sieht. Es ist dieselbe Parole, die zu dieser Zeit auf unzählige Standarten der SA und NSDAP gestickt ist.

Zum Frühstück gibt es eine Schale Haferbrei, dann geht es in die Schule. Karl trägt schon stolz die Schülermütze der höheren Schule, Manfred und Theo ziehen mit einfacher Filzmütze »in den Kampf« – so die Bildunterschrift. Mittags essen sie auf der großzügigen Terrasse, für die Hausaufgaben verteilen sie sich im geräumigen Bücherzimmer. Dann geht es »Auf zum D.J.K.«: Im katholischen Sportverein der Stadt spielen die drei Fußball.

© United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC sowie das Manfred Gans Estate

Theo, Manfred und Karl nach dem Aufstehen, Borken 1931

Noch erleben Manfred und seine Brüder nur vereinzelt Antisemitismus. Zwar besuchen sie nicht-jüdische Freunde selten zu Hause, um nicht versehentlich den Speisegeboten der Tora untreu zu werden, aber das Freizeitleben findet ohnehin eher auf der Straße statt. Den Abend verbringen die Brüder mit Büchern oder, noch lieber, am Radio. Gut geputzt stehen da bereits die Schuhe vor der Tür für den neuen Tag bereit.

Das katholische Borken steht den aufstrebenden Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre skeptisch gegenüber. Die Zentrumspartei behauptet in der Stadt während der Weimarer Republik stets die Mehrheit und behält diese auch noch, als die NSDAP in anderen Regionen schon die Oberhand gewinnt. Von außen betrachtet ist die jüdische Gemeinde Borkens mit ihrer Synagoge im Ortskern voll integriert. Jedenfalls lassen die Vertreter der Stadt und der Kirche kaum eine Gelegenheit aus, die gute Gemeinschaft mit den jüdischen Bürgern zu betonen. Mit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 ändert sich die Situation allerdings schlagartig – auch in Borken.

Zeitenwende

Der 30. Januar 1933 ist ein nasskalter Tag in Borken. Else sitzt mit ihren drei Kindern am Mittagstisch, das Radio läuft im Hintergrund. Plötzlich unterbricht der Nachrichtensprecher das laufende Programm. Der Ansager verkündet, dass ihm gerade eine Nachricht hereingereicht worden sei: Reichspräsident Hindenburg habe Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen. Für Familie Gans wie für viele Millionen Menschen im Land kommt die Nachricht nicht völlig überraschend. Dennoch ist Else wie versteinert. Manfred, damals zehn Jahre alt, versteht ihre plötzliche Untergangsstimmung noch nicht. Als er in den folgenden Tagen in der Schule jedoch erlebt, welchen Jubel die Ernennung Hitlers unter einigen seiner Klassenkameraden auslöst, ahnt er, dass ihm eine schwere Zeit bevorsteht. Einen ersten Eindruck davon bekommt er schon wenige Wochen später.

Nach wochenlangen Vorbereitungen schwärmen am 1. April 1933 um Punkt zehn Uhr im ganzen Land junge Männer der Sturmabteilung (SA) aus und positionieren sich und ihre Kampfparolen vor jüdischen Geschäften, Kanzleien und Arztpraxen: »Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« steht auf ihren Schildern. Auch wenn der Einkauf in den jüdischen Geschäften (noch) nicht verboten ist, versuchen die Nationalsozialisten durch sozialen Druck den Betrieb der jüdischen Geschäfte zu stören. Die Uniformierten mahnen, beschimpfen und bedrohen Kunden, die ihrem Aufruf nicht folgen wollen.

 

Schon im Kaiserreich und auch noch während der Weimarer Republik ließen Polizei und Justiz antisemitische Hetzer oft tatenlos gewähren. Nun aber sind die Aktionen vom Staat verordnet.

Die Presse in Großbritannien und den USA hat bereits seit der Machtübernahme Hitlers die Maßnahmen der Nationalsozialisten aufmerksam und kritisch verfolgt. Erste Stimmen, die den Deutschen mit Handelsboykotten drohen, wurden schon kurz nach der Machtübernahme laut. Hitler ist wütend und macht eine Verschwörung des internationalen Judentums dafür verantwortlich. Seine Vergeltung lässt nicht lange auf sich warten und mündet dann in jenen sogenannten Reichsboykotttag am 1. April 1933.

 

In Borken positionieren sich vor dem Kaufhaus der jüdischen Familie Heymans die Braunhemden der SA. Manfred ist an diesem Tag in der Schule. Obwohl er und seine Brüder orthodox leben, müssen sie auch am Samstag zum Unterricht. Ihre Bücher bringen sie schon am Vortag zur Schule, da sie am Schabbat selbst nichts tragen wollen. Ihre Lehrer gestehen ihnen sogar zu, dass sie am Schabbat nicht schreiben müssen. An diesem Tag aber kommt es anders. Um kurz nach elf Uhr steht plötzlich Manfreds Klassenlehrer Heinrich Tinnefeld in der Tür und bittet ihn und die drei weiteren jüdischen Mitschüler, kurz auf den Flur zu kommen. Dort verkündet er ihnen, dass sie die Schule unverzüglich verlassen sollen, da er nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. Also gehen Manfred, seine Brüder und die anderen jüdischen Mitschüler nach Hause, wo sie auf verblüffte Eltern treffen. Die Nachricht, dass man die Sicherheit der Schüler in der eigenen Schule nicht mehr gewähren könne, macht Manfreds Vater wütend. Er lässt seine guten Beziehungen spielen und ringt dem Schulleiter das Versprechen ab, dass die jüdischen Schüler zukünftig ohne Bedenken am Unterricht teilnehmen können. Manfred, Karl und Theo besuchen also wieder die Schule, wo sie nun jedoch endgültig zu Außenseitern geworden sind. Die drei Brüder und die verbliebenen sechs jüdischen Mitschüler fassen daher einen Entschluss: Fortan wollen sie sich konsequent von den nicht-jüdischen Schülern auf dem Schulhof fernhalten. Sie finden, dass die selbstbestimmte Abgrenzung leichter zu ertragen ist, als wenn sie bloß abwarten, bis die anderen Schüler sie ausgrenzen oder die Schule die Segregation gar anordnet.

Einen Monat später, am 1. Mai, organisiert der Ortsverband der NSDAP einen Aufmarsch in der Stadt. Während die Borkener katholischen Verbände den Nationalsozialisten noch zu Jahresbeginn voller Misstrauen gegenüberstanden, sind sie nun eifrig bemüht, im Zirkus der NSDAP mitzuspielen. So marschiert die katholische Jugend am »Tag der nationalen Arbeit« einträchtig neben der Borkener Hitler-Jugend. Manfred beobachtet die Parade vom Straßenrand aus. Plötzlich erkennt er inmitten der Menge ein bekanntes Gesicht: Sein Biologielehrer Peter Dahmen, den er eigentlich mag, trägt nun auch das Abzeichen der Partei.

 

Der Schulalltag im Nationalsozialismus wandelt sich nicht plötzlich, jedoch stetig. Im Deutschunterricht werden unliebsame Autoren aus dem Lehrplan gestrichen. Das Fach »Leibeserziehung« steht nun fast täglich auf dem Stundenplan und wandelt sich für die älteren Schüler zu einer vormilitärischen Ausbildung. Im Geschichtsunterricht wird den Schülern Ehrfurcht vor den Helden der deutschen Vergangenheit eingebläut und zugleich der deutsche Führungsanspruch in der Welt. Den wohl größten Umbruch erfährt das Fach Biologie, in dessen Mittelpunkt die sogenannte Rassenkunde rückt. Bereits in Mein Kampf proklamierte Hitler: »Es soll kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein.« In Borken übernimmt diese Aufgabe Biologielehrer Dahmen, der von nun an den Rassenkundeunterricht leitet. Gemäß Lehrplan vermittelt er die vermeintlich körperliche und seelische Überlegenheit der »nordischen Rasse« gegenüber anderen Volksgruppen, vor allem gegenüber den Juden. Manfreds Bruder Karl ist der Erste, der sich dieser Unterweisung aussetzen muss. Mit der zweibändigen Ausgabe Soziologie der Juden von Arthur Ruppin unter dem Arm zieht Karl in den Unterricht. Lehrer Dahmen trägt vor, warum Juden übermäßig oft verbrecherisch seien und sich kaum sozial engagieren würden. Zu jeder Behauptung, die sein Lehrer in den Raum wirft, liefert Karl Gegenargumente. Die Mitschüler genießen das Spektakel; wohl weniger, weil sie Karl solidarisch zur Seite stehen, sondern weil sie der offene Schlagabtausch zwischen Schüler und Lehrer, zwischen David und Goliath, amüsiert. Als für Manfred zwei Jahre später der Rassenkundeunterricht ansteht, tut er es seinem Bruder gleich. Dr. Dahmen kommt erneut auf die Judenfrage zu sprechen. Er will seinen Schülern weismachen, die Juden hätten eine Veranlagung zum »Handelsmann«, und wieder freuen sich die Mitschüler über den Schlagabtausch, allerdings ohne für Manfred Partei zu ergreifen. In seinem Notizbuch resümiert Manfred die Stunde: »Zum Schluss glauben wir uns gegenseitig nichts mehr. Die Klasse macht Risches – außer den Anständigen.« Risches ist das jiddische Wort für Antisemitismus.

Einige Lehrer im Kollegium stehen den jüdischen Schülern jedoch so gut es geht zur Seite. Als Manfreds Cousin Karl-Heinz Gans als letzter jüdischer Schüler 1934 sein Abitur ablegt, erlaubt sich der Pfarrer und Studienrat Dr. Engelbert Niebecker gar eine Spitze. Er lässt den Abiturienten in der mündlichen Hebräischprüfung einen Absatz aus dem Alten Testament übersetzen. Dieser endet mit dem Satz: »Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.« Den zwei uniformierten Nationalsozialisten im Prüfungsgremium, wohl eher ideologisch überzeugt als biblisch gebildet, bleibt der kleine Seitenhieb verborgen. Karl-Heinz Gans aber bekommt ein »Sehr gut« für die Prüfung und erinnert sich noch mehr als ein halbes Jahrhundert später an diesen kleinen Triumph.

Es ist jedoch unübersehbar, dass das NS-Regime seine Präsenz in den Schulen mit jedem Monat verstärkt. Bald schon hängen Hakenkreuzfahnen vor dem Gebäude und Porträts von Adolf Hitler in den Klassenzimmern. Schulfeiern werden nun mit dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied beschlossen. Um diese Schmach nicht über sich ergehen lassen zu müssen, haut Manfred vorher meist heimlich ab. Anfang 1937 verkündet Rektor Dr. Alex Hermandung stolz, dass vor dem Schulgebäude demnächst auch die Fahne der Hitler-Jugend wehen werde. Dies war keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Auszeichnung für die Schulen, die nachweisen konnten, dass mehr als 90 Prozent der Schülerschaft der Hitler-Jugend beigetreten waren; eine Quote, die das Borkener Gymnasium kurz zuvor erreicht hatte. Verglichen mit anderen Schulen war das eher spät.

© United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC sowie das Manfred Gans Estate

Manfred mit Schulmütze, Borken circa 1935

Manfred ist mittlerweile einer von drei verbliebenen jüdischen Schülern. Der Schulalltag wird für ihn immer unerträglicher. Einer der Lehrer nimmt die jüdischen Schüler im Unterricht gar nicht mehr dran, ein anderer gibt ihnen durchgehend die schlechtesten Noten – aus Prinzip.

Die Lokalzeitung ist da bereits längst gleichgeschaltet und preist die Schmähungen gegen Juden als Wohltaten. Lediglich die Presse aus den nahe gelegenen Niederlanden beobachtet die Entwicklung mit Sorge und berichtet regelmäßig über den Sittenverfall im Nachbarland, etwa als im Mai 1935SA-Männer am Schabbat die Tür zur Synagoge im Borkener Ortsteil Gemen aufstoßen und die Gemeindemitglieder mitten im Gebet beschimpfen, bespucken und mit Steinen bewerfen. Kurze Zeit später besiegeln die Nürnberger Gesetze die weitgehende Entrechtung der Juden. Die letzten Hemmungen fallen. Wer es weiterhin wagt, in einem jüdischen Geschäft einzukaufen, muss befürchten, kurze Zeit später am sogenannten Stürmer-Kasten bloßgestellt zu werden – so heißt der Aushang der antisemitischen Propagandazeitung Der Stürmer, die am Marktplatz im Ortszentrum von Borken ausgestellt ist.

 

Aufgrund der immer weitreichenderen wirtschaftlichen Einschränkungen müssen Moritz und Else Gans ihre Büroräume im Stadtzentrum aufgeben. Ihren Betrieb führen sie so gut es geht von zu Hause weiter. Es ist noch nicht lange her, da gehörten sie zu den wohlhabendsten Borkener Familien, nun ist ihnen die Grundlage jeder wirtschaftlichen Existenz genommen. Es wird immer klarer, dass nur die Auswanderung einen Ausweg bieten könne. Bereits 1934 hatte Moritz auch im niederländischen Utrecht ein Unternehmen aufgebaut. Nun nutzt er seinen Firmensitz dort sowie viele weitere geschäftliche Kontakte im Ausland, um Bekannte bei der Ausreise zu unterstützen. Zusammen mit seinem Schwager Alexander Moch beobachtet er die Situation aufmerksam. Gemeinsam loten die beiden verschiedene Fluchtoptionen aus. So reisen sie 1935 zusammen nach Palästina, um sich ein eigenes Bild von den jüdischen Siedlungen dort zu machen. Mit guten Neuigkeiten kehren sie zurück. Henny, Elses Schwester, war bereits kurz nach Hitlers Machtübernahme emigriert. Mit ihrem Mann hat sie sich inzwischen ein gutes Leben in Tel Aviv aufgebaut. Sie ist bereit, eines der Gans-Kinder aufzunehmen. Doch noch wollen Moritz und Else abwarten, denn je älter die Jungs, desto leichter wäre es, sie ziehen zu lassen. Nur ein Jahr später ist es dann aber so weit. Als Erster im Hause Gans ist Manfreds älterer Bruder Karl an der Reihe. Sein Vater begleitet ihn den weiten Weg bis nach Triest. Wenige Tage nach seinem 16. Geburtstag betritt Karl dort ein Schiff, das ihn nach Palästina bringt. Noch an Bord beschließt er, seinen jüdisch-orthodoxen Glauben und seinen deutschen Namen abzulegen. Weder mit dem Land, aus dem er stammt, noch mit den vielen religiösen Konventionen, die sein Leben bisher prägten, will er fortan zu tun haben. Beides empfand Karl schon länger bloß als eng und lästig. Unter dem Namen Gershon Kaddar immatrikuliert er sich auf der Mikwe Israel, einer führenden Landwirtschaftsschule. Unterkunft findet er bei seiner Tante Henny in Tel Aviv.

 

Wie es in Borken weitergeht, erfährt Gershon (für die Familie weiterhin Karl) aus den Briefen seines jüngeren Bruders Manfred. Dem gelingt es, sich trotz all der Einschränkungen und Ausgrenzungen einen abwechslungsreichen Alltag zu gestalten, auch weil die Familie noch einige finanzielle Rücklagen hat. Er erkundet mit dem Fahrrad die umliegenden Dörfer, baut aufwendig konstruierte Modellflugzeuge und unternimmt sogar kurze Reisen. Mit seinen Cousins fährt er für eine Woche nach Hamburg – mit vollem Programm. Regelmäßig geht er ins Kino und verpasst kaum einen Kassenschlager der boomenden Filmbranche. Er verschlingt die Bücher von Karl May, liest aber auch eifrig Romane und politische Literatur von Autoren, die längst verboten sind. Manfred musiziert und fotografiert. Vor allem aber organisiert er sich in einer Gruppe jüdischer Jugendlicher, die hitzig über kulturelle und politische Themen diskutiert. Alles dreht sich um die zentralen Fragen: Wie lange können sie noch bleiben, und wo werden sie eine Zuflucht und ihre Zukunft finden? Mit seinen Eltern beratschlagt Manfred verschiedene Optionen: Soll er seinem Bruder schon bald nach Palästina folgen? Oder sich zunächst in Deutschland auf die Auswanderung vorbereiten und eine der vielen jüngst aufgebauten jüdischen Landwirtschaftsschulen besuchen? Soll er sich lieber in den vermeintlich geschützten Raum eines jüdischen Internats begeben? Oder wäre es doch die bessere Option, Verwandten und Bekannten der Eltern nach England oder in die USA zu folgen?

Während im Hintergrund auf Hochtouren Auswanderungspläne geschmiedet werden, läuft der Alltag weiter. Im April 1938 muss Moritz Gans in der Borkener Zeitung lesen, dass er seinen verbliebenen Besitz fortan dem Finanzamt melden muss und dieses sich vorbehält, sein Vermögen »im Interesse der deutschen Wirtschaft« zu beschlagnahmen. Moritz, den zu dieser Zeit keine antijüdische Maßnahme mehr überraschen kann, ist weitsichtig genug gewesen, einen Teil seines Geldes noch rechtzeitig über die Grenze zu bringen. Ihren Geschäftsbetrieb in Borken müssen die Eheleute Gans aber bald einstellen. Fortan leben sie vom Ersparten.

 

Dennoch wird in dieser sorgenvollen Zeit noch einmal groß gefeiert. Im Mai 1938 ist das Haus der Familie Gans voller Menschen. Moritz und Else laden zur Bar-Mizwa ihres jüngsten Sohns Theo ein. Die lange Kaffeetafel reicht über drei Räume. Am stilvoll eingedeckten Tisch sitzen dicht beieinander knapp 30 Gäste. Frischer Spargel mit Zunge und Pökelbrust wird gereicht, dazu »Salat Modern«. Es wird der letzte Anlass sein, zu dem die Großfamilie zusammenkommt – und die letzte Bar-Mizwa, die in Borken begangen wird.

Obwohl fast alle in der Stadt Manfred, Theo und ihre Cousins kennen, will spätestens ab 1938 niemand mehr mit ihnen gesehen werden oder gar mit ihnen sprechen. Die Stimmung wird immer feindseliger. Einmal wird Manfred auf offener Straße schwer angerempelt. Ein anderes Mal bekommt er beim Boxtraining gewaltig Haue, weil er Jude ist. Welche Erlösung muss in dieser Situation wohl der Besuch von Familie Lamm gewesen sein, die sich für den Sommer angekündigt hat.

Besuch aus Berlin

Leo Lamm ist ein Bekannter von Moritz Gans. Beide haben gemeinsam in Frankfurt am Main eine kaufmännische Ausbildung durchlaufen. Auch als Moritz zurück nach Borken geht und Leo einen Betrieb in Berlin aufbaut, bleiben sie in engem Austausch.

Als Manfred vom Besuch der Lamms erfährt, wird er sich aber wohl weniger auf Leo und Margarete Lamm als vielmehr auf deren Tochter Anita gefreut haben.

Anita ist ein Berliner Mädchen, wie sie später immer wieder betonen wird. Sie ist ein Jahr jünger als Manfred. Ihr Vater Leo führt, ähnlich wie Moritz Gans, einen Textilgroßhandel mit dem eleganten Namen »Spitzen & Neuheiten«, prominent gelegen in der Berliner Friedrichstraße. Er ist von Modeschau zu Modeschau durch ganz Europa gereist. Die Mutter Margarete (Gretel) ist ausgebildete Pianistin. Ihre Welt ist die pulsierende Berliner Kulturszene der Goldenen Zwanziger. Auch die junge Anita und ihre ältere Schwester Lilo genießen das Großstadtleben. Lilo erinnert sich später, wie Anita und sie Anfang der dreißiger Jahre über den Kurfürstendamm flanierten, wie an jeder Ecke Wörter aus den unterschiedlichsten Sprachen schwirrten. Die beiden Schwestern beschließen, sich mindestens ebenso weltgewandt zu geben wie die Leute um sie herum. Weil sie jedoch noch keine Fremdsprache beherrschen, erfinden sie einen bunten »Mischmasch« aus fremd klingenden Kunstwörtern und exotisch anmutenden Akzenten. Groß gestikulierend ziehen sie an den Cafés, Kinos und Theatern vorbei, in der festen Hoffnung, für weitgereiste Damen aus Russland, Frankreich oder Italien gehalten zu werden. Von diesem kosmopolitischen Geist sind die beiden Schwestern umgeben – bis die Nationalsozialisten auch ihre Lebenswelt zersetzen.

© Leo Baeck Institute, New York

Anita in Berlin, circa 1937

Unter dem Eindruck der NS-Herrschaft werden im Hause Lamm, wie auch bei Familie Gans, bereits seit einiger Zeit Auswanderungspläne geschmiedet. Für Leo und Gretel Lamm ist klar: Sie wollen in die USA. Doch die Vereinigten Staaten begrenzen den Zuzug von Immigranten immer mehr. Bei einer Konferenz in Évian-les-Bains am Genfer See im Juli 1938 beraten Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Das Ergebnis ist ernüchternd. Mit Ausnahme der Dominikanischen Republik weigern sich alle Staaten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Die USA schreiben eine Obergrenze für Einwanderer aus Deutschland und Österreich fest. Nur noch knapp 30000 Flüchtlinge pro Jahr dürfen einreisen. Vor den Konsulaten in Berlin und Wien bilden sich lange Schlangen. Die Wartezeit auf ein Visum beträgt im Sommer 1938 bereits mehrere Monate. Ohnehin dürfen nur noch diejenigen einreisen, die sicherstellen können, dass sie dem amerikanischen Staat nicht zur Last fallen werden. Für ihren Weg in die Neue Welt benötigt Familie Lamm daher ein sogenanntes Affidavit, eine Bürgschaftserklärung, in der ihnen ein Bewohner in den USA garantiert, für ihren Unterhalt aufzukommen. Sie setzen all ihre Hoffnung in Herbert Piek, einen Cousin von Anitas Mutter, der in New York lebt und dort einen erfolgreichen Geschirr- und Porzellanhandel führt, somit also über die nötigen finanziellen Kapazitäten für das begehrte Affidavit verfügt. Ein reger Briefverkehr zwischen Berlin und New York setzt ein, und die Bitten haben schließlich Erfolg. Herbert Piek verbürgt sich beim amerikanischen Generalkonsul in Berlin, um Familie Lamm den Weg in die USA zu ermöglichen. Moritz Gans wiederum nutzt seine Kontakte, um für die befreundete Familie eine Schiffspassage zu organisieren. Im Juli 1938 ist es dann so weit. Mit gepackten Koffern verlassen Anita und ihre Eltern Berlin. Ihre Schwester Lilo war schon zuvor in die USA